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Mizerl

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Textdaten
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Autor: Vinzenz Chiavacci
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Titel: Mizerl
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 25, S. 794
Herausgeber: Adolf Kröner
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1898
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger G. m. b. H. in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Kurzbeschreibung:
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[794]

Mizerl.

Eine Wiener Geschichte von V. Chiavacci. Illustriert von V. Porsche und H. Schubert.
1.

I bitt’, kaufen S’ mir an’ Planeten[1] a’, ’s san drei Numero drauf, die in der nächsten Ziehung kommen.“ Ein kleines, kaum fünfjähriges Mädchen in dürftiger Kleidung, das blasse sympathische Gesichtchen mit den großen rehbraunen Augen in ein zerlumptes Tuch eingehüllt, ging mit diesen Worten von Tisch zu Tisch und bot mit den kleinen vom Frost geröteten Händchen ihre seltsame Ware aus. Wie ein Silberglöckchen drang seine Stimme durch den wüsten Wirtshauslärm. Manche von den Gästen griffen mechanisch in die Tasche und gaben der winzigen Verkäuferin eine kleine Münze, um sie los zu werden; andere ließen sie hart an oder hielten ihr moralische Strafpredigten über ihren frühzeitigen Müßiggang, wobei sie nicht verabsäumten, dem Kinde einzuschärfen, daß seine Eltern gewiß höchst liederliche und verkommene Menschen sein müßten, wenn sie es gestatteten, daß ihr Kind schon in diesem zarten Alter das Leben eines Taugenichtses führe. Wenn sie dann in ihrer Rede innehielten und in das unschuldige, für Frohsinn und Heiterkeit geschaffene Gesichtchen blickten, dessen Züge aber einen frühreifen Ernst zeigten, in dessen Augen ein rührend hilfloser flehender Ausdruck schimmerte, da konnten sie doch nicht weiter in ihren landläufigen Phrasen und sie blickten der Kleinen mitleidig nach, nachdem sie ihr eine Gabe gereicht. Die ganz Entrüsteten aber blieben zugeknöpft und erklärten, wie bei so vielen Gelegenheiten, wo es sich um ihre werkthätige Hilfe handelte, solchen Unfug „prinzipiell“ nicht unterstützen zu wollen.

An einem der Nachbartische war es darüber sogar zu einem lebhaften Meinungsaustausch gekommen. Eine blonde junge Frau hatte Mitleid mit dem Kinde gefühlt und ihm einen größeren Betrag als üblich geschenkt. Ihr Tischnachbar verzog das Gesicht zu einem höhnischen Lächeln und sagte: „Da sieht man wieder das ‚goldene Wiener Herz‘. Es giebt keinen Unfug und keine Bettelindustrie, von der es sich nicht rühren läßt. Und doch ist es von allgemeinem Interesse, diesem Bettlerunwesen mit Strenge entgegenzutreten, auf die Gefahr hin, hier und da einmal auch einen wirklich Dürftigen abzuweisen.“

„Da bin ich wieder ganz anderer Ansicht,“ entgegnete die Dame. „Ich weise lieber keinen zurück, der mich um eine [795] Gabe anfleht, bloß um der Gefahr auszuweichen, einen wahrhaft Dürftigen nicht unterstützt zu haben. Uebrigens, wenn das mein Thun in Ihren Augen entschuldigt, habe ich ja auch ein persönliches Interesse daran, dem armen Kind ein Almosen zu geben. Als ich das blasse abgehärmte Gesichtchen sah, die Wangengrübchen, aus denen noch ein Fünkchen Freude zu sprühen scheint, und dann die klagenden Augen, die von frühem Kummer zeugen, da fiel mir mein totes blondes Käthchen ein, das wie ein flüchtiger Frühlingssonnenstrahl durchs Leben huschte. Mein Liebling ist dahin und aller Jammer und alle Klagen können die arme Kleine mir nicht wiederbringen! Aber immer und immer lebt ihr Andenken heller in mir auf, wenn mir ein Kind entgegentritt im gleichen Alter wie sie. Und da hat mich doppelt schmerzlich der Gedanke ergriffen, wie weh es thun muß, ein solches Wesen zu besitzen und es nicht hegen und pflegen zu können mit aller Sorgfalt und Zärtlichkeit. Die zarte Menschenblüte verfolgt und gemartert zu sehen von den grimmigsten Feinden des Lebens: von Hunger, Frost und Elend! Und wir stehen dabei und lassen es geschehen! Die Gewöhnung hat uns so stumpfsinnig gemacht, daß uns der Anblick solchen Elends nicht einmal in unserem Behagen stört, daß das Lächeln auf unseren Lippen nicht erstirbt, das Auge nichts von seinem heiteren Glanz verliert, wenn es in ergreifendster und rührendster Gestalt vor uns hintritt! Ich begreife Ihre kühle Zweifelsucht nicht, denn ich halte Sie, Herr Walter, auch edler Regungen für fähig.“

„Danke für die gütige Meinung,“ antwortete der Nachbar, indem er sich lächelnd verbeugte.

„Sie würden sich nicht lange überlegen, ins Wasser zu springen, wenn Sie damit, selbst mit eigener Gefahr, einem Mitmenschen das Leben retten könnten. Und dabei würden Sie gar nicht fragen, ob der Gegenstand Ihres Mitleids desselben würdig oder ob er ein Trunkenbold und Taugenichts ist.“

„Verzeihen Sie, meine Gnädige,“ unterbrach sie Herr Walter, „aber zu diesen Untersuchungen hätte ich in dem gegebenen Falle wohl kaum die Zeit.“

„Ganz richtig,“ antwortete die Dame, „und darum thun Sie ungeprüft und instinktiv Ihre Menschenpflicht. Das unmittelbare Verderben Ihres Mitmenschen können Sie nicht sehen, ohne helfend beizuspringen; aber das viel ärgere chronische Siechtum der Not und des Elends rührt Sie nicht. Wo Sie nicht Zeit haben, sich von der Würdigkeit zu überzeugen, da helfen Sie, und wo Sie Zeit haben, dies mit aller Vorsicht zu thun, da verdammen Sie – aus Gewohnheit, aus Trägheit, aus Eigenliebe. Es kann ja ein anderer helfen; es sind ihrer zu viele, die mit den Wogen kämpfen, es sind auch solche darunter, die noch schwimmen können!“

„Dieses überfeinerte Empfinden für das Leid Ihrer Mitmenschen macht gewiß Ihrem Herzen Ehre, meine Gnädige,“ erwiderte Herr Walter; „aber wer sich stets das tausendfache Weh der Menschheit so lebhaft vor die Seele stellt, der vergiftet sich jeden Augenblick der Freude und macht sich selbst so elend wie diejenigen, die er bemitleidet. Ihr empfängliches Gemüt leidet unter solchen Vorstellungen mehr als der Gegenstand Ihres Mitleids; denn dieser ist meistens durch Gewohnheit stumpf und durch das tägliche Ringen mit der Not gegen diese abgehärtet. Ich wette mit Ihnen: wenn wir das Kind befragen, wird es uns dieselbe Geschichte erzählen, die ich schon hundertmal gehört: der Vater liegt seit Monaten krank, die Mutter geht ins Waschen; zu Hause vier oder fünf kleine Kinder, darunter ein Krüppel; der Hausherr hat ihnen die Wohnung gekündigt und die Möbel sind gepfändet!“

In diesem Augenblicke ging das Kind, welches den Anlaß zu dem Meinungsaustausch gegeben hatte, dem Ausgange zu und wurde, als es an dem Tische vorüberkam, von Herrn Walter angeredet: „Heda, Kleine, komm ein bißchen her!“

„Planeten g’fällig, mit der Zukunft und drei Numero, bitt’, kaufen S’mir an’ Planeten a’, daß i’ was verdien’,“ sagte das Kind, gedankenlos seine Formel ableiernd.

„Da!“ sagte Herr Walter und gab ihr ein Geldstück. „Behalte deine Planeten, aber sage mir, wer sind denn deine Eltern?“

„Der Vater is a Drechsler,“ antwortete die Kleine; „aber er is schon seit sechs Monat krank!“

„Was fehlt ihm denn?“

„Brustkrank is er.“

„Und die Mutter?“

„Die geht ins Waschen.“

Herr Walter streifte seine Nachbarin mit einem triumphierenden Blick. „Wie viel Geschwister seid ihr denn?“ fuhr er dann in seinem Verhöre fort.

„Drei. Die Agnes is erst a Jahr alt und der Pepi sechs Jahr’. Er liegt aber im Bett, weil er net gehn und net reden kann.“

„Das stimmt ja auffallend,“ sagte Herr Walter. „Ich hoffe, Sie haben sich jetzt selbst überzeugt,“ wandte er sich an seine Nachbarin. „Und wo wohnt ihr denn?“

„Im Ratzenstadl; aber mir müassen ausziag’n, der Hausherr hat uns aufg’sagt.“

„Na also, das auch noch! Ich denke, Sie sind jetzt bekehrt,“ sagte Herr Walter lachend zu seiner Nachbarin.

Diese zog statt einer Antwort die Kleine an sich, strich ihr die Haare aus der Stirne und blickte ihr lange mit thränenfeuchten Augen in das blasse Gesichtchen. „Du bist ja auch ein Käthchen,“ flüsterte sie dem Kinde zu; „du sollst nicht mehr hungern; ich werde zu euch kommen.“

Erstaunt blickte die Kleine in das Antlitz der schönen Frau, die so sanft und liebevoll zu ihr sprach, und sagte: „I haß’ net Käthchen; i haß Mariedl und mei Muatter nennt mi Mizerl.“

Als sich das Kind, nachdem es seine Adresse genannt, entfernt hatte, fragte Herr Walter: „Nun, was sagen Sie jetzt?“

„Ich sage,“ antwortete die Dame, „daß die Geschichte wahr ist, trotz Ihrer merkwürdigen Prophetengabe.“

„Unverbesserlich!“ sagte lachend Herr Walter.


2.

Acht Tage später. In einem überaus dürftig ausgestatteten Gemach, dessen kahle Wände nichts umschließen als ein paar Strohsäcke, einen Tisch, ein paar Stühle und ein kleines eisernes Oefchen, liegt auf einem der Strohsäcke ein Mann von ungefähr vierzig Jahren. Sein abgezehrter Leib, die tief liegenden unheimlich glänzenden Augen, der hohle Husten, der von Zeit zu Zeit die Brust krampfhaft erschüttert, zeugen von den verheerenden Wirkungen der furchtbaren Krankheit, die alljährlich ungezählte Opfer dahinrafft. An dem Tische sitzt sein Weib, den Kopf sorgenvoll auf beide Hände gestützt. Zwei Kinder schlummern auf elenden Lumpen in der Ecke des Zimmers, die dem erloschenen Ofen am nächsten ist. Niemand unterbricht das bange Schweigen. Was hätten sie sich auch zu sagen? Das Kapitel des Elends war schon längst von ihnen abgehandelt, die Hoffnung erloschen, die Klagen verstummt. Sie hatten jahrelang jedem Tage für sich und die Ihrigen des Lebens Notdurft abgerungen, so lange ihre Hände die Kraft dazu hatten. Als der Mann noch seiner Arbeit nachgehen konnte, gab es keinen Mangel, und obwohl sie stets von der Hand in den Mund gelebt hatten, war ihnen doch die Sorge um die Zukunft fremd. Sie empfanden es als nichts Schreckliches, dasselbe Los zu tragen wie die Tausende ihres Standes. Und auch die Furcht vor Krankheit, der ärgsten Heimsuchung des kleinen Mannes, kannten sie nicht. Das Recht zum Leben muß ja in jeder Woche aufs neue erstritten werden. Wohin kämen aber die Tausende, wenn sie sich ihren Lebensmut durch bange Sorgen um die Zukunft lähmen ließen? Die tägliche Arbeit nimmt ihr ganzes Denken und Sinnen in Anspruch und wenn dann doch das Verhängnis hereinbricht, so müssen sie es tragen wie all die vielen vor ihnen, die am Wege zusammengebrochen sind.

Nachdem der Kranke einen krampfhaften Hustenanfall überstanden hatte, sagte er, mehr für sich selbst sprechend, als um gehört zu werden: „Wär’s net am schönsten, wann wir alle miteinander einschlafen könnten und nimmer aufwacheten? Wär’ alles gut und a Ruh’ und a Frieden und ka Kummer. Ka Kält’n, ka Hunger, ka Sorg’ um’n Hausherrn sein’ Zins, ka Jammer, was aus die Kinder wird, wann mir nimmer san. Ma brauchet nur ’n Schuber von der Ofenröhr’n zuz’machen und sich hinz’leg’n und auf’n Erlöser z’warten.“

Die Frau sah zu ihrem Manne auf mit einem Blicke des Entsetzens. „Mann, was führst denn du für gottlose Reden! (5s geht mir durch Mark und Bein, wann du so red’st. Frevel’ net so, sonst ziagt der liebe Gott sei Hand noch ganz von uns ab!“

[796]

Ein bitteres Lächeln umspielte die blassen Lippen des Kranken. „Möcht’ wissen, was uns no Aerg’res passier’n könn’t“ sagte er dann mit finsterem Trotz. „Wie lang’ wird’s denn dauern, so trag’n s’ mi hinaus? Und wie soll i denn sterb’n, wann i net waß, was mit euch g’schiecht?“ Er schlug die Hände vors Gesicht und schluchzte: „Gott, Gott, hörst mi denn net? Was soll denn aus die Meinigen werd’n?“

Die Frau trat zu ihm hin, legte die Hand auf seine Schulter und versuchte, ihn zu trösten.

Da tönte aus der Ecke des Zimmers ein unartikulierter Laut: „Pa–pi–Pa–pi, Franzi Papi!“ Ein kleines krüppelhaftes Kind von etwa sechs Jahren mit einem unverhältnismäßig großen Kopfe lallte diese Worte mit weinerlicher Stimme und wiederholte sie ohne Unterlaß, ab und zu mit den Lippen schmatzend.

„Hörst ’n, hörst ’n?“ rief der Vater. „Er hat an’ Hunger und mir können ihm nix geb’n!“ Ein gurgelnder Schmerzenslaut drang aus seiner Kehle; er sank in sein Kissen zurück und stöhnte: „Himmlischer Vater, mach’ a End’! Das ertrag’ i net länger.“ „Sei schön brav, Franzi,“ sagte die Frau. „Die Mizerl kommt glei und bringt dir a Papi! Hörst, sie kommt schon!“

Die Thüre wurde geöffnet und Mizerl trat mit einem Körbchen auf dem Arme ein.

„Na, hast ’was ’kriegt?“ fragte die Mutter hastig.

„Der Holzmann hat mir die Kohl’n ’geb’n,“ antwortete das Kind.

„Und das andere?“ Die Mutter öffnete das Körbchen, und als sie nur ein Häufchen Kohlen gewahrte, senkte sie trostlos das Haupt und getraute sich nicht, zu ihrem Gatten aufzublicken.

„I hab’ das Brot und die Erdäpfeln schon im Körbel g’habt. Wie i aber g’sagt hab’: i bleib’s derweil schuldig, hat m’r s’ die Greislerin wieder aus’n Körbl g’nommen. Bis das andere zahlt is, hat s’ g’sagt – nachdem kriegst wieder ’was. Mir san selber arme Leut’, mir können nix borgen.“

Als der leidende Knabe in der Ecke das Körbchen sah, richtete er sich von seinem Lager auf und sah mit gierigen Blicken nach der vermeinten Nahrung. Eine kindische Freude leuchtete aus seinen Augen; er patschte die Hände zusammen und jauchzte: „Papi, Papi, Franzi auch Papi!“

Die Mutter richtete einen verzweifelten Blick nach dem Kinde und sagte, um es zu beruhigen und zum Einschlafen zu bringen: „Sei still, Franzi, glei kriegst a Papi; da schau, da stell’ i ’s schon an Herd. Mach’ derweil heidi – heidi!“ Sie stellte in der That ein Gefäß mit Wasser auf den Ofen, um das ungestüme Verlangen des Knaben zu besänftigen; dann machte sie mit dem Kohlenvorrat ein kleines Feuer an, um wenigstens die unerträgliche Kälte zu mildern.

Mizerl hockte sich indes zu dem armen Knaben und flüsterte ihm allerlei schöne Dinge zu, um ihn in einen wohligen Schlummer zu lullen. „Unten in der Einfahrt hab’ i ’s Christkinderl g’seg’n,“ sagte sie, „a schönes, schönes Kinderl mit an’ goldenen Flinserlg’wand und blaue Augen und ’krauste Haar. So a feine Stimm’ hat’s g’habt wie a Kanarivogel und Flügeln hat’s g’habt, so weiß wie die Tuchet, die bei der Hausfrau ihr’n Fenster in der Fruah immer heraushängt, und rundumadum san lauter Christbam’ g’standen mit hundert und hundert und tausend Lichtln und a Menge Spielerei war da, alles von Seiden und rot und lila: Wursteln und Gretln und Hutschenpferd’ und Bilderbüacher und Farb’nkasteln, soviel schön sag’ i dir! Und nachdem hat mi ’s Christkindl g’fragt mit seiner feinen Stimm’: ‚Is der Franzi a g’wiß brav? Verlangt er net immer Papi, macht er schön heidi heidi?‘ – ,A g’wiß,‘ hab’ i g’sagt, ,Euer Gnaden, Herr Christkindl, der Franzi is a g’scheiter Bua, der macht immer heidi heidi.‘ Drauf hat ’s Christkindl in a Butt’n griffen und hat g’sagt: ,Sixt, das kriagt alles der Franzi, wann er schön heidi heidi macht? Du, das war’n gute Sachen: Aepfel und Birn’ und Nuß – alle von Gold, und Kipfeln und Schokoladizeltln –“

Die Augen des Knaben glänzten wieder bei Aufzählung dieser Herrlichkeiten; dann aber schloß er sie zu, um davon zu träumen, und während er langsam einschlummerte, flüsterte ihm sein Schwesterchen die Namen all der Süßigkeiten zu, die sie wohl selbst nur vom Hören kannte. Endlich war er gänzlich eingeschlafen und machte im Schlafe die Bewegung des Essens; wahrscheinlich spendete ihm das Christkindlein im Traume alles das, was ihm das Leben versagte. Nachdem sich Mizerl überzeugt hatte, daß ihr Bruder schlief, drückte sie einen Kuß auf seine Stirne und suchte dann auch ihr ärmliches Lager in der Nähe des Fensters auf.

Während so die Kinderphantasie mit rosigen Bildern den Ernst des Lebens ausschmückte, saßen die Eltern in dumpfer Verzweiflung auf ihrem Lager. Wie sehr sie sich auch ihr Gehirn zermarterten, nirgends sahen sie einen Ausweg, nirgends zuckte ein Hoffnungsstrahl auf, der ihnen Rettung versprechen konnte. Ueberall grinste ihnen das Bild einer schrecklichen Zukunft entgegen: Obdachlosigkeit, Hunger, Verderben! Ruhelos wälzten sie sich auf ihrem Lager, seufzend und stöhnend. Endlich senkte sich der Schlummer auch auf die Lider der Frau und entrückte sie den qualvollen Sorgen des Lebens. [797] Nach einiger Zeit erhob sich der Mann von seinem Lager, horchte auf die gleichmäßigen Atemzüge seines Weibes, saß einige Minuten mit gefalteten Händen, wie im stillen Gebet, und ging dann von einem Kinde zum andern, jedes auf die Stirne küssend.

„Es muß sein, es muß sein,“ murmelte er, schwer aufseufzend, und schlich zum Ofen, in dem die Glut schon halb verglommen war. Er legte den Rest der Kohlen darauf, fachte das Feuer von neuem an und verschloß sodann die Klappe der Ofenröhre.

Still und ergeben hockte er sich hierauf in der Nähe des Ofens nieder und erwartete in dumpfem Brüten das Ende. – –

Mizerl hatte nicht umsonst ihre Phantasie mit den heiteren Bildern des Weihnachtsfestes angefüllt; der Traumgott spann sie weiter und gaukelte ihr Herrlichkeiten vor, die nur die märchenfreudige Gedankenwelt der Kindesseele zu schaffen vermag. Anfangs sah sie noch alle Schätze, von denen sie zu ihrem Brüderchen gesprochen. Ein Tannenbaum stand in ihrer armseligen Stube mit goldnen Aepfeln und Nüssen und brennenden Lichtern. Doch der Tannenbaum verbreitete einen starken betäubenden Harzgernch und der Duft der Wachskerzen beklemmte ihr den Atem. Immer kleiner brannten die Kerzen in dem Qualm und Brodem, den der Tannenbaum auszuströmen schien, und immer beängstigender legte es sich auf die Brust des Kindes, die Lichter erschienen nur mehr wie kleine blutrote Pünktchen in dem Nebel, der all die schönen Dinge umschleierte. Da faßte eine stille sanfte Frau mit blonden Haaren sie an der Hand und sagte: „Komm, mein Kind; dein Christbaum erlischt ja. Ich führe dich zu einem schöneren.“ Und während die Frau so sprach und sie durch enge finstere Gänge führte, da erkannte sie in ihr die Dame, die ihr vor kurzem im Wirtshause so liebevoll begegnet war. Sie schmiegte sich an die gütige Frau an; denn es wurde ihr immer banger und ängstlicher zu Mute. Sie stiegen eine endlose Treppe empor, die steiler und steiler und enger wurde, und endlich konnte sie nicht mehr vorwärts; denn die Wände schlossen sich rings um sie. Sie rang nach Atem und wollte schreien, brachte aber keinen Laut aus der Kehle. „Nur mutig vorwärts, noch einen Schritt und du hast’s überstanden!“ rief ihre Führerin ihr zu. Und plötzlich sah sie in einen herrlichen Raum, der von einer überirdischen Helle durchleuchtet war. Der Glanz strahlte von einem wunderbaren Christbaum aus, so groß wie die höchste Tanne des Waldes und reich beladen mit den kostbarsten Dingen. Um ihn lagen Spielsachen, die sie noch nie geschaut. Das Merkwürdigste aber war, daß diese Spielsachen alle lebten. Die schönen Puppen in herrlichen Seidengewändern gingen freundlich lächelnd auf sie zu und sprachen mit dünnen Silberstimmchen liebevoll zu ihr. Aus der Schachtel sprangen die Reiter, schwangen sich auf ihre winzigen Pferdchen und tummelten sich durch den Saal. Und die Engel schwebten um den Christbaum auf und nieder und sangen: „Ehre sei Gott in der Höhe!“ Und es flimmerte und leuchtete im blendenden Schein und alle Gestalten bewegten sich immer schneller und schneller im wirbelnden Reigen und sie selber fühlte sich so leicht und froh, daß sie sich in die Lüfte erhob und immer höher und höher stieg, dem Lichte zu, das im unendlichen Raume ausgegossen war. Und es war ihr, als ob sie selbst zerflatterte in eitel Licht und Funken. – –

Ein scharfer Luftzug wehte plötzlich um ihr Gesicht und sie hörte wie aus weiter Ferne eine Stimme, die in traurigem Tone sprach: „Alles vergebens. Dort ist jede Hilfe umsonst. Das größere Mädchen aber atmet. Es lag zum Glück in der Nähe des Fensters. Vielleicht können wir es noch retten.“ – Sie öffnete die Augen und sah in der Stube eine große Anzahl Menschen, die verstört und händeringend dastanden. Sie begriff von alledem nichts und fühlte nur eine große Kälte; denn die Fenster waren angelweit geöffnet und der kalte Luftstrom drang herein. Sie schloß die Augen und flüsterte lächelnd: „Ich will fliegen, fliegen!“ Dann schwanden ihr die Sinne.


3.

Frau Hilbert, die blonde Dame, welche der kleinen Mizerl so viel Mitleid gezeigt, saß mit ihrem Manne beim Morgenkaffee. Dieser las die Zeitung und berichtete seiner Gattin ab und zu die Neuigkeiten, die ihm geeignet schienen, sie zu interessieren. „Da ist wieder ein schauerliches Unglück durch Ausströmen von Kohlenoxydgas geschehen,“ fuhr er dann fort. „In einem Hause der Magdalenenstraße wurde der Drechsler Anton Friedl mit seiner Frau und zwei Kindern gestern morgens tot aufgefunden. Nur die fünfjährige Mizerl, die in der Nähe des schlecht verwahrten Fensters lag, konnte gerettet werden. Es ist nicht ausgeschlossen, daß hier Mord und Selbstmord vorliegen. Der schwer kranke Mann befand sich seit längerer Zeit mit seiner Familie in verzweifelten Verhältnissen. Dies und der Umstand, daß man den Vater in der Nähe des Ofens zusammengekauert fand, lassen die Annahme einer absichtlichen Tötung fast sicher erscheinen.“

Frau Hilbert war während dieses Berichtes bleich geworden und zitterte am ganzen Körper. „Mizerl Friedl, sagst du, in der Magdalenenstraße?“ stieß sie heftig hervor. „Gütiger Gott, das ist ja das kleine Wesen, das unserem Käthchen so ähnlich sieht! Erinnerst du dich? Ich habe ihm meinen Schutz zugesagt. Und nun ist es zu spät. Zu spät!“ fuhr sie fort und Thränen traten ihr in die Angen. „Und daran ist meine sträfliche Nachlässigkeit schuld. Ich nahm mir’s vor, jeden Tag, die Familie aufzusuchen, und die nichtigsten Kleinigkeiten, die eitelsten Dinge hielten mich immer wieder davon ab. Und wie habe ich mich ereifert, wie fühlte ich mich gehoben von meinen Phrasen von Mitleid und Menschenliebe, wie redete ich mich in heiligen Zorn gegen diesen Walter! Worte, nichts als Worte! O, es ist erbärmlich von mir; ich kann mir’s nicht verzeihen, daß ich den Tod dieser Leute mitverschuldet habe.“

„Sei doch vernünftig,“ sagte ihr Mann, „so steht die Sache nicht. Wie konntest du wissen, daß ihre Lage so gar trostlos war?“

[798] „Wie ich’s wissen könnte? Hätte man das Furchtbare gewußt, so hätte ja der Nächstbeste geholfen. Ich wollte aber helfen, wenn auch nicht das Aergste bevorstand, und ich that groß damit und schätzte mich besser als die andern.“

Sie stand auf und klingelte.

„Was willst du thun?“ fragte der Gatte.

„Ich muß zu dem Kinde. Ich will ihm helfen. Vielleicht kann ich an ihm zum Teile sühnen, was die Trägheit meines Mitgefühls verschuldet.“

Sie fuhr nach dem Unglückshause, vor dem noch jetzt eine Menge Gaffer stand. Sie fragte bei den Hausleuten nach, wo sich das kleine Mizerl befinde. Man konnte ihr keine Auskunft geben. Sie habe sich im Laufe des gestrigen Tages erholt, dann sei ein alter Herr gekommen, den niemand kannte, und habe das Kind fortgeführt. – Traurig und von Selbstvorwürfen gepeinigt, trat Frau Hilbert ihren Rückweg an.


4.

Es war ein prachtvoller Herbstmorgen. Wie ein heiteres Idyll lag das romantische Kahlenberger Dörfchen inmitten der üppigen Weingelände unweit des mächtigen Donaustromes gebettet. Glitzernd schimmerte der Tau auf den Blättern der Bäume, deren spärlich belaubte Kronen den ersten Frost bereits empfunden hatten, gleich einem Mahnboten an die Zeit, wo alles Leben unter der starren Winterdecke erstirbt. An solchen Abschiedstagen des Lebens schmückt sich die ersterbende Welt mit doppeltein Reiz. Die Luft ist klarer und durchsichtiger und das milde Sonnenlicht übergießt die tiefen Farbentöne des Herbstes mit seinem verklärenden Schimmer.

Auf der Landstraße von Nußdorf her kam ein offener Wagen, der vor dem schönsten Hause des Dorfes hielt. Dieses Haus mochte dereinst ein Jagdschlößchen gewesen sein, deren die lebensfrohe Kaiserin Maria Theresia in der Umgebung ihrer Residenz eine große Anzahl besaß. Der freundliche Bau sowohl wie manches charakteristische Beiwerk lassen auf eine solche Bestimmung schließen. Die meisten dieser Bauten, deren Jnnenräume manch schönes Geschichtchen von heiterer Pracht und fröhlicher Lebenslust erzählen können, dienen gegenwärtig sehr profanen Zwecken. Dieses Haus bildet jedoch eine Ausnahme und das edle Herz der großen Kaiserin würde freudiger pochen, könnte sie auf ihren einstmaligen Lustsitz herniederblicken: denn der geräumige Garten hallt den Tag über wieder von dem hellen Lachen fröhlicher Kinderstimmen. In den großen lichten und luftigen Zimmern sind mehr als ein halbes Hundert Kinder untergebracht. Alles glänzt und gleißt von peinlicher Sauberkeit. In den Schlafsälen stehen die Bettchen in kleinen Zwischenräumen gereiht. Der Speisesaal enthält lange, blank gescheuerte Tische und kleine zierliche Tischchen für die Kleinsten mit daran befestigten Bänken. Ein größerer Saal dient für die feierlichen Anlässe wie das Kaiserfest und die Christbescherung. Passende Bilder, häusliche Scenen und erbauliche Vorfälle des Lebens darstellend, hängen an den Wänden. Die Bildnisse des Kaiserpaares sowie des Kronprinzenpaares schmücken die Längswand. Auch die Bilder der Wohlthäter und Stifter des Hauses sind allenthalben an den Wänden angebracht. Die Schulräume enthalten in Glasschränken und an den Wänden mannigfachen Lehrstoff zum Anschauungsunterricht. Da und dort fällt der Blick auf breite Papierstreifen, die in großen, weithin sichtbaren Lettern mit goldenen Sprüchen des sittlichen Lebens, der Arbeit und Zufriedenheit bedruckt sind. In dem freundlichen Garten vor dem Hause bringen die Kinder an schönen Tagen ihre freie Zeit mit gesunden Leibesübungen, mit Gesang und heiteren Spielen hin.

So ist die Anstalt beschaffen, die der Verein „Humanitas“ vor mehr als zwanzig Jahren ins Leben gerufen hat und unter der Mitwirkung edler Menschenfreunde zum Segen armer verlassener Menschenkinder mit unermüdlicher Liebe und Werkthätigkeit leitet.

Der Wagen, dem ein freundlicher alter Herr und eine blonde Dame entsteigen, hat vor dem Gitterthore des Kinderasyls „Humanitas“ gehalten. Durch das Gitter schauen ein paar Dutzend fröhliche Kinder, und als sie den alten Herrn erblicken, rufen sie jubelnd: „Guten Tag, Papa!“

„Gott grüß’ euch Kinder, wie geht’s euch denn?“ sagt der alte Herr, der gleich von einem Rudel von Knaben und Mädchen umringt wird. Die einen hängen sich an seine Hände, die andern springen trällernd vor ihm her; auch die ganz Kleinen wackeln herzu und halten sich an seinen Rockschößen fest. Der Kreis wird immer dichter, da auch die übrigen Kinder die Ankunft des „Papas“ bemerkt haben und ihre Spielplätze verlassen, um ihren väterlichen Freund zu begrüßen.

Er kennt sie alle, seine Schützlinge, und nennt jeden beim Namen, fragt nach ihren kleinen Schmerzen, erkundigt sich über ihre Fortschritte und lobt ihr Aussehen. Vom sechzehnjährigen Mädchen, das, mit allen Fertigkeiten und Kenntnissen zu einem Leben der Arbeit ausgestattet, im Begriffe steht, die Anstalt zu verlassen, bis zum einjährigen Kleinen, das auf dem Arme der Mutter, wie man die Direktorin nennt, mit lachendem Gesicht und zappeligen Händchen herbeigetragen wird, kennen und lieben sie ihn alle, ihren guten Papa.

„Sehen Sie, gnädige Frau,“ sagte Herr Amsel zu der ihn begleitenden Dame, „das sind meine schönsten Stunden. Seit vielen Jahren bringe ich wöchentlich zwei- bis dreimal meine freie Zeit inmitten meiner kleinen Schutzbefohlenen zu. Und ich verdanke diesem Verkehr mehr innere Erhebung, mehr reine menschliche Freude, als mir der Umgang mit der besten Gesellschaft gewähren könnte. Blicken Sie um sich! Sie sehen lauter frohe zufriedene Gesichter, Gesundheit blüht auf ihren Wangen: mit Freuden lauschen sie den Lehren, die ihnen in der Schule zu teil werden, willig folgen sie den Weisungen ihrer mütterlichen Freundin. Man sieht selten eine Aufwallung des Zornes oder einen Akt der Störrigkeit und Bosheit. Und doch hat fast jedes dieser Kleinen eine gar traurige Vorgeschichte. Dem Elend und der Verkommenheit wurden sie entrückt, als sie in den sichern Hafen unseres Asyls gelangten, aber wir sehen zu unserm Troste aus ihren heiteren Mienen, daß jene Wunden vernarbt sind, daß die Erinnerung an schlimme Kindheitstage verklungen ist wie [799] ein böser Traum. Hier haben sie ihre Heimat, das ist ihr Vaterhaus. Und wenn sie die Altersgrenze erreicht haben, wo wir sie, ausgestattet mit allen Kenntnissen und Fertigkeiten, die wir ihnen beibringen konnten, in den Kamps des Lebens einführen, da ringen sie sich nur schmerzlich los von den Geschwistern, mit denen sie so viele Stunden der Arbeit, der Freude und der sorglosen Spiele verlebt haben. Denn Sie können sich denken, gnädige Frau, daß wir bestrebt sind, den armen Kleinen für die kummervollen Tage, die fast alle durchgemacht, einen Ersatz zu bieten durch kleine Vergnügungen und Feste. Es ist ja ein kostbares Strandgut, das der Wirbel der Großstadt ausgeworfen und das wir wieder einzufügen trachten, damit es zum nützlichen und widerstandsfähigen Gliede des großen Ganzen werde.“

Mittlerweile war der Oberlehrer der Dorfschule hinzugetreten, der den Gesangsunterricht im Asyl leitet. Herr Amsel stellte ihn der Dame vor und der Schullehrer bemerkte, indem er sich tief verneigte, daß er den Namen schon wiederholt unter den unermüdlichen Wohlthätern der Anstalt gelesen habe.

„Möchten Sie nicht die Freundlichkeit haben, mit den Kindern einige Gesänge vorzutragen?“ fragte Herr Amsel.

Der Oberlehrer gab ein Zeichen und die eben noch lärmende Kinderschar reihte sich lautlos im Halbkreise um ihn.

Die Mittagssonne brach durch die gelichteten Baumkronen und beschien mit ihren milden Strahlen die frohe Kinderschar, die jetzt mit hellen Silberstimmen ein Lied anhub von Frühlingspracht und Sonnenschein, von Waldeszauber und Wanderlust. Die Stimmen waren gut geschult und klangen gar fröhlich zusammen. Bewegt hörte die Dame die sinnigen Lieder und patriotischen Gesänge, die nun folgten, an und ihre Augen glänzten in stiller Wehmut.

Als die Kleinen geendet hatten, trat die Dame in ihren Kreis und wußte sie, die anfangs mit scheuer Bewunderung drein gesehen hatten, bald zutraulich zu machen. Sie hatte für jedes ein freundliches Wort und fragte teilnehmend nach hundert Dingen, die Kinder interessieren und die nur eine Frau zu fragen weiß. Bald erhob sich ein eifriges Geschnatter, daß man kein Wort verstehen konnte; denn alle hatten der guten Frau etwas anzuvertrauen. Zuletzt watschelte ein dreijähriges Mädchen mit wichtiger Miene herbei, legte ihr eine alte schadhafte Puppe in den Schoß und sagte: „Sie hat nur einen Fuß!“

„Ja, wo ist denn unser Mizerl,“ fragte Herr Amsel die Direktorin, „ist es etwa wieder krank?“

„Diesmal nicht,“ antwortete diese, „die Kleine ist im Küchengarten, wo sie mit großem Eifer an ihrem Blumenbeete arbeitet. Ich habe ihr versprechen müssen, daß sie die Blumen zu Allerseelen auf das Grab ihrer Eltern und Geschwister tragen darf, und seitdem ist sie jede freie Stunde mit der Pflege ihrer Lieblinge beschäftigt.“

„Sie ist unser Schmerzenskind,“ erklärte Herr Amsel der Dame. „Sie hat das traurigste Geschick von allen erlitten, die in dieser Anstalt sind. Eltern und Geschwister wurden ihr an einem Tage durch den Tod entrissen. Ob es ein böser Zufall oder eine furchtbare Verzweiflungsthat gewesen, ist heute noch nicht ganz klar.“

Die Dame war bei diesen Worten erbleicht und in sichtliche Aufregung geraten. Sie stand hastig auf und bat die Direktorin, sie zu dem Kinde zu führen. Sie traten in den Küchengarten und sahen die kleine Gestalt des Mädchens über das Gartenbeet gebeugt und eifrig beschäftigt, die Blumen zu begießen. Dazu sang es eine eintönige Weise, die es sich wohl selbst zusammengedacht hatte, und wiederholte dieselbe ohne Unterlaß:

„Zu den lieben Eltern mein
Brüderchen und Schwesterlein,
Bring’ ich diese Blümelein;
Möcht’ bei euch im Himmel sein!“

Ueber das blasse Gesichtchen der Kleinen, das noch zarter und schmäler geworden war, fielen die goldenen Löckchen und die Sonne goß einen verklärenden Schimmer um ihr Haupt. Als sie ihr Antlitz den Ankommenden zuwendete, durchzuckte die Dame – es war Frau Hilbert – ein jäher Schmerz. „Käthchen!“ entfuhr es ihren Lippen. Diese Ähnlichkeit! Als sie in die großen klagenden Augen blickte, die so seltsam leuchteten wie die verflackernde Seele aus einem leblosen Körper, da glaubte sie ihr totes Kind wiederzufinden. Sie stürzte auf das Kind zu, preßte es mit heißem Ungestüm an sich und bedeckte seinen Kopf mit Küssen. „Willst du mit mir kommen, Kind?“ schluchzte sie.

Verwundert und ängstlich blickte das Kind die Dame an. Es hatte sie schon irgendwo gesehen; dann war sie ihm im Traum erschienen – ja, ja, das war die ernste Führerin, die es emporgeleitet in jene lichtdurchglänzte Märchenwelt, von der es so selig geträumt hatte, bis es so grausam geweckt wurde. Und dennoch fühlte es eine sonderbare Scheu vor ihr, deren Blicke jetzt, wie um Gnade flehend, an seinen Lippen hingen. War es das leidenschaftliche Ungestüm der fremden Dame, war es der Gedanke einer Trennung von den lieben Genossen – es empfand Furcht und Scheu vor der zitternden Frau und flüchtete ängstlich zur Direktorin, klammerte sich an ihre Rockfalte und stammelte: „Na, na! I bleib’ bei der ,Mutter‘!“ Alles Zureden nützte nichts. Mizerl fing zu weinen an, vergrub ihr Gesicht in den Rockfalten der Direktorin und wiederholte unaufhörlich: „I bleib’ bei der Mutter! I bleib’ bei der Mutter!“

Als Frau Hilbert am nächsten Tage wiederkam, lag die kleine Mizerl zu Bette. Sie hatte sich von jenem furchtbaren Schlage nie recht erholt und zeitweilig überfiel sie eine Schwäche, die keine eigentliche Krankheitsursache hatte und dennoch Grund zu ernsten Besorgnissen gab. Sie ließ es ruhig geschehen, daß Frau Hilbert sich an ihrem Bette niederließ und eine Menge prächtiger Spielsachen vor ihr ausbreitete. Mit müdem Lächeln überflog sie die Herrlichkeiten, die einstmals den Inhalt ihrer schönsten Traumbilder ausgemacht hatten. Ruhig hörte sie die Schmeichelreden der seltsamen Frau an, vor der sie nun weniger Scheu empfand; aber so oft diese sie aufforderte, mit ihr zu gehen, griff sie nach der Hand der „Mutter“ und ein flehender Blick wiederholte den Wunsch, den sie das erste Mal geäußert.

Eines Tages erzählte ihr die Frau, die täglich an ihrem Bette saß, daß sie das Grab der Ihrigen besucht und mit Blumen geschmückt habe. Seit dieser Zeit lächelte Mizerl, wenn Frau Hilbert ins Krankenzimmer trat, und plauderte mit ihr über alles, was sie tagsüber beschäftigte. Sie erzählte ihr auch, daß meist, wenn sie allein sei, sich ein Vögelchen auf ihren Betttand setze und ihr mit leisem lieblichen Gezwitscher wunderschöne Lieder singe. Das mache sie so selig und glücklich und sie könne nicht aufhören, dem lieben Vogel zuzuhorchen. Sie meine immer, es sei ihr Hansi, der Kanarienvogel, der an demselben Tag wie die Ihrigen gestorben sei.

Am andern Tag kam Frau Hilbert wieder, und während Mizerl schlummerte, stellte sie einen Kanarienvogel in das Fenster. Der schmetterte bald sein lustiges Liedchen hinaus, daß das Kind aus dem Schlafe aufschreckte. Es zeigte indes keine große Freude, und als Frau Hilbert wiederkam, hatte es die Augen voll Thränen. „Jetzt singt er net mehr, mei Vogerl, seit der andere so viel schreit,“ schluchzte es. Kaum war der mitgebrachte Vogel entfernt, da verklärten sich Mizerls Züge; ihre Augen strahlten [800] vor Glück; sie hob den Finger, wie um zu lauschen, und flüsterte: „Hörn S’, jetzt singt er wieder! O, wie schön!“

Wochen waren so vergangen und die Werbungen der Frau Hilbert um die Liebe des Kindes hatten Erfolg. Es sehnte sich nach dem Erscheinen der guten sanften Frau, und wenn diese ihm mit bebenden Lippen erzählte, daß es, sobald es gesund sei, in einem schönen Wagen fahren dürfe und daß sie ihm herrliche Spielsachen zugedacht habe, da lächelte es selig vor sich hin und küßte die Hand seiner freundlichen Beschützerin. Freilich wurde das Gesichtchen immer blässer, die Augen immer größer und glänzender und die Aerzte, die Frau Hilbert in ihrer Seelenangst herbeirief, zuckten bedenklich die Achseln.

Eines Tages war Mizerl heiterer und frischer; die Direktorin teilte Frau Hilbert freudig mit, daß die Kleine sogar mit regem Appetit Nahrung zu sich genommen habe. Frau Hilbert atmete auf. Mit zitternder Hoffnung hing sie an den Augen des Kindes.

Durch die offenen Fenster leuchtete die Frühlingssonne und durchflutete mit ihren wärmenden Strahlen die Krankenstube. Das Kind legte die Aermchen um den Hals seiner Freundin und flüsterte ihr zu: „Morgen gehe ich mit Ihnen.“

„Mein liebes Kind, das hat noch Zeit, bis du ganz gesund bist,“ sagte lächelnd Frau Hilbert.

„I bin aber schon g’sund.“ Mizerl blickte ängstlich um sich und flüsterte Frau Hilbert geheimnisvoll zu:

„J kann ja nimmer da bleiben; das Vogerl singt net mehr!“

Frau Hilbert erblaßte. Ein jäher Schreck durchzuckte ihre Glieder. Das Kind aber blickte mit seinen großen Augen schwärmerisch hinaus in den blühenden Frühling und sagte wie im Selbstgespräch: „Fortg’flogen is’s und richt’ meine Grüße aus.“

„Wen hast du denn grüßen lassen?“ fragte Frau Hilbert.

„No, die Eltern und die Geschwister!“

Frau Hilbert besprach sich kurz darauf mit dem Arzte, der das Gemütsleiden des Kindes auf die Nervenerschütterung zurückführte, die es bei der furchtbaren Katastrophe erlitten hatte. Wenn es gelänge, die Bilder jener Schreckensnacht aus ihrer Kinderseele zu verdrängen und durch heitere Vorstellungen zu ersetzen, dann könnte auch ihr Körper wieder neue Kräfte gewinnen!

Frau Hilbert befolgte diesen Rat und versuchte all die Reizmittel, welche sonst auf die Kinderphantasie erheiternd einwirken. Sie veranstaltete Gartenfeste, sie fuhr mit ihr und einigen Altersgenossinnen ins Grüne, ließ sie an den Spielen der Kinder teilnehmen, doch alles blieb vergebens. Die stille Schwermut lagerte wie Mehltau über den Freudeblüten ihres kindlichen Gemüts.

Inmitten der fröhlichen Kinderschar blickte sie weltvergessen und teilnahmlos in die Ferne.

Verzweifelt sah ihr Frau Hilbert ins Antlitz. „Sag’, Mizerl, womit könnte ich dir denn eine Freude machen?“

Mizerl blickte auf und Thränen füllten ihre Augen.

„I möcht’ zu die Meinigen,“ schluchzte sie.

Am andern Tage fuhr Frau Hilbert mit ihrem Schützling nach dem Centralfriedhofe. Es war ein milder Frühlingstag. Die Kastanienbäume hatten ihre weißen Blütenkerzen aufgesteckt und alle Sträucher hauchten ihren Blütenduft aus. Warm und mild strich ein leiser Zephyr durch den Garten des ewigen Friedens und Vogelgezwitscher drang aus den blütenbeladenen Zweigen.

Vor einem blumengeschmückten Grabhügel blieb Frau Hilbert stehen. „Da ruhen sie, Vater und Mutter, Brüderchen und Schwesterchen,“ sagte sie zur Mizerl, „friedlich und schmerzlos liegen sie da und ihre Seelen blicken aus den Höhen herunter auf dich und sind betrübt, wenn sie deine Thränen sehen, und freuen sich, wenn du lachst.“

Mit Mizerl war indessen eine wundersame Verwandlung vor sich gegangen. Sie blickte um sich, sah den blühenden Garten ringsum und ein tiefer Seufzer der Erleichterung hob ihre Brust. Wie giftige Nebel flohen die Schreckbilder der Erinnerung vor diesem friedlich stillen Frühlingsweben. Mit leuchtenden Augen sah sie zu ihrer Beschützerin auf und: „Da, da, hören Sie nicht “ flüsterte sie ihr entzückt zu: „Das Vogerl singt!“

In den Zweigen einer Trauerweide saß ein Singvogel und schmetterte seine Liebesweisen, die ihm die warme Frühlingssonne in die Brust gesenkt, in die blütendurchhauchte Luft. Dann schwang er sich empor, immer höher und höher, tirillierend und jubelnd, dem Lichte zu, ein Bild des Lebens und der Daseinslust.

Entzückt folgten die Augen des Kindes seinem Fluge, bis er im Sonnenglast verschwand. „Den hab’n s’ mir geschickt in mein Zimmer, wie i krank war,“ sprudelte sie hervor, „und jetzt fliegt er hinauf in den Himmel – gelt – er bringt ihnen jetzt meine Grüß?“

Frau Hilbert bestätigte den frommen Wahn des Kindes.

Von diesem Tage an war der Bann der Schwermut von dem Kinde gewichen. Wenn es an die Seinen dachte, so stellte sich das freundliche Bild des blühenden Friedhofs vor seinen Augen ein und der gefiederte Vermittler, der ihr heitere Botschaften brachte aus dem Reiche des Lichts.

Allmählich sänftigten sich auch diese Empfindungen und das Kind schloß sich mit der ganzen Leidenschaft seiner liebedürstenden Seele an die gütige Frau an, die ihr eine zweite Mutter war.

Nach wenigen Monaten hatte Frau Hilbert die Freude, ein lebensfrohes, rotbackiges Mädchen mit blitzenden Augen und heller Stimme zu den fröhlichen Gefährten im Asylhause des Kahlenbergerdorfes – diesmal als Gast – führen zu können. Mit kindlicher Freude nahm Mizerl an ihren Spielen teil. Glückstrahlend folgte ihr Frau Hilbert mit den Blicken. Und als sie dann das blonde Lockenhaupt des Kindes in ihrem Schoße hielt, reichte sie Herrn Amsel die Hand und sagte: „Ihnen verdanke ich mein Glück; denn hätten Sie das arme Kind nicht in Ihrer Anstalt geschützt und gehegt, die zarte Blüte wäre dahingewelkt, ehe ich mich meiner Pflicht entsonnen hätte.“


  1. Kleine Zettel mit einer gedruckten Weissagung und drei Nummern.