Mitteilungen aus den Memoiren des Satan/Erster Teil/I
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„Betrogene Betrüger! Eure Ringe sind alle drei nicht
echt; der echte Ring vermutlich ging verloren.“
Lessing, „Nathan“, III, 7.
Alle Welt schreibt oder liest in dieser Zeit Memoiren; in den Salons der großen und kleinen Residenzen, in den Ressourcen und Kasinos der Mittelstädte, in den Tabagien und Kneipen der kleinen spricht man von Memoiren, urteilt nach Memoiren und erzählt nach Memoiren, ja es könnte scheinen, es sei seit zwölf Jahren nichts Merkwürdiges mehr auf der Erde als ihre Memoiren. Männer und Frauen ergreifen die Feder, um den Menschen schriftlich darzuthun, daß auch sie in einer merkwürdigen Zeit gelebt, daß auch sie sich einst in einer Sonnennähe bewegt haben, die ihrer sonst vielleicht gehaltlosen Person einen Nimbus von Bedeutsamkeit verliehen.
Gekrönte Häupter, nicht zufrieden, sich aus ihrer frühern Grandezza, wo sie, wie in der Bilderbibel, mit der Krone auf dem Haupt zu Bette gingen, erhoben zu haben; nicht zufrieden damit, daß sie auf Kurierreisen Europa von einem Ende bis zum andern durchfliegen, um sich gegenseitig von ihrer Freundschaft zu versichern, schreiben Memoiren für ihre Völker, erzählen ihnen ihre Schicksale, ihre Reisen. Die Mitwelt ist zur Nachwelt gemacht [214] worden, man hat ihr einen neuen Maßstab, wornach sie die Handlungen richte, in die Hände gegeben; es sind die Memoiren.
Große Generale, berühmte Marschälle, weit entfernt, das Beispiel jenes Römers[1] nachzuahmen, der in der Muße des Friedens die Thaten der Legionen unter seiner Führung der Nachwelt würdig zu überliefern glaubte, wenn er von sich nur immer in der dritten Person spräche, haben den bescheideneren Weg eingeschlagen, sprechen von sich, wie es Männern von solchem Gewichte ziemt als ich, bauen aus ihren Memoiren ein Odeon in verjüngtem Maßstabe und treten herzhaft vorne auf der Bühne auf. Mit Schlachtstücken im großen Stil dekorieren sie die Kulissen, Staatsmänner und berühmte Damen, die große Armee und ihre lorbeerbekränzten Adler, die ganze Mitwelt stellen sie im Hintergrund als Figuranten auf, sie selbst aber spielen ihre Sulla oder Brutus würdig des unsterblichen Talma[2].
Mundus vult decipi[3], d. i. die Leute lesen Memoiren; was hält mich ab, denselben auch ein solches Gericht „Gerngesehen“ vorzusetzen?
Man wendet vielleicht ein, „der Schuster bleibe bei seinem Leisten, der Satan hat sich nicht mit Memoirenschreiben abzugeben“. Ei! wirklich? Und wenn nun dieser Satan doch einen Beruf hätte, Memoiren in die Welt zu streuen, wenn er doch so viel oder noch mehr gesehen hätte als jene kriegerischen Diplomaten oder diplomatischen Krieger, welche die Welt mit ihrem litterarischen Ruhme anfüllen, nachdem die Bulletins ihrer Siege zu erwähnen aufgehört haben; wenn nun dieser arme Teufel einen Drang in sich fühlte, auch für einen homo literatus zu gelten?
Ja, ich gestehe es mit Erröten, je länger ich mich in meinem lieben Deutschland umhertreibe, desto unwiderstehlicher reißt es mich hin, zu schriftstellern; und wenn es den Damen erlaubt ist, [215] die Finger mit Tinte zu beschmutzen, so wird es doch dem Teufel auch noch erlaubt sein?
Und da komme ich auf einen zweiten Punkt; man sagt vielleicht gegen meine schriftstellerischen Versuche, ich sei kein Litteratus, kein Mann vom Gewerbe etc. Aber fürs erste habe ich soeben die Damen, welche, wenn sie noch so gelehrt, doch keine Gelehrte von Profession sind, anzuführen die Ehre gehabt; sodann berufe ich mich auf jene Söhne des Lagers, die unter Gefahren groß geworden, unter Strapazen ergraut, keine Zeit hatten Humaniora zu studieren, und dennoch so glänzende Memoiren schreiben; ich behaupte drittens, daß das Vorurteil, ich sei ein unstudierter Teufel, ganz falsch ist, denn ich bin in optima forma Doktor der Philosophie geworden, wie aus meinen Memoiren zu ersehen, und kann das Diplom schwarz auf weiß aufweisen.
Der Erzengel Gabriel, als ich ihn mit dem Plan meine Memoiren auszuarbeiten bekannt machte, warnte mich mit bedenklicher Miene vor den sogenannten Rezensenten. Er gab mir zu verstehen, daß ich übel wegkommen könnte, indem solche niemand schonen, ja sogar neuerdings selbst Doktoren der Theologie in Berlin, Halle und Leipzig hart mitgenommen haben. Ich erwiderte ihm nicht ohne Gelehrsamkeit, daß das Sprichwort clericus clericum non decimat[4] füglich auch auf mein Verhältnis zu den Rezensenten angewandt werden könne; werde ich ja doch schon im Alten Testament satán, adversarius, das ist Widersacher, genannt, was ganz auch auf jene passe; den schlagendsten Beweis nehme ich aber aus dem Neuen Testament; dort werde ich διάβολος oder Verleumder genannt, da nun διαβάλλειν[5] so viel sei als acerbe recensere, so müsse er, wenn er nur ein wenig Logik habe, den Schluß von selbst ziehen können.
Der Erzengel bekam, wie natürlich, nicht wenig Respekt vor meiner Gelehrsamkeit in Sprachen und meinte selbst, daß es mir auf diese Art nicht fehlen könne.
[216] Man wird bei Durchlesung dieser Mitteilungen aus meinen Memoiren vielleicht nicht jenes systematische, ruhige Fortschreiten der Rede finden, das den Werken tiefdenkender Geister so eigen zu sein pflegt. Man wird kürzere und längere Bruchstücke aus meinem Walten und Treiben auf der Erde finden und den innern Zusammenhang vermissen.
Man tadle mich nicht deswegen; es war ja meine Absicht nicht, ein Gemälde dieser Zeit zu entwerfen, man trifft deren genug in allen soliden Buchhandlungen Deutschlands.
Der Memoirenschreiber hat seinen Zweck erreicht, wenn er sich und seine Stellung zu der Zeit, welcher er angehört, darstellt und darüber reflektiert, wenn er Begebenheiten entwickelt, die entweder auf ihn oder die Mitwelt nähere oder entferntere Beziehungen haben, wenn er berühmte Zeitgenossen und seine Verhältnisse zu ihnen dem Auge vorführt. Und diese Forderungen glaube ich in meinen Memoiren erfüllt zu haben, sie sind es wenigstens, die mich bei meiner Arbeit leiteten, die meine Kühnheit vor mir rechtfertigen, vor einem gelehrten Publikum als Schriftsteller aufzutreten.[AU 1]
Über Persönlichkeit, über berühmte Abstammung oder glänzende Verhältnisse hat der Teufel nichts zu sagen. Was etwa darüber zu sagen sein könnte, habe ich in dem Abschnitt „Besuch bei Goethe“ ausgesprochen und verweise daher den Leser dahin.
Fleißige Leser, d. i. solche, die Bogen für Bogen in einer Viertelstunde durchfliegen, mögen daher doch diesen Abschnitt nicht überschlagen, da er sehr zu besserem Verständnis der übrigen eingerichtet ist; sittsamen und ordentlichen Lesern habe ich hierüber nichts zu sagen, als sie sollen das Buch weglegen, wenn sie sich langweilen.
Ehe sein Diener mit dem zweiten Bogen aus der Messe zurückkommt, hat der Unterzeichnete noch Zeit, einige Bemerkungen einzuflicken. Es scheint ihm nämlich, der Satan besitze eine ziemliche [217] Dosis Eitelkeit; man bemerke nur, wie wichtig er von jenem Abschnitt spricht, worin er über sich einige Bemerkungen macht; es wäre genug gewesen, wenn er nur angedeutet hätte, daß dies oder jenes darin zu finden sei, aber dem Leser zu empfehlen, er möchte doch den Abschnitt, in welchem jene enthalten sind, nicht überschlagen, ist sehr anmaßend.
Sodann die Unordnung, in welcher er alles vorbringt! Ein anderer, wie z. B. der Herausgeber hätte doch, wenn auch nicht mit dem Taufschein, was nun freilich beim Teufel nicht wohl möglich ist, doch wenigstens mit der Begebenheit angefangen, die der Chronologie nach die erste ist. Ich habe das Manuskript flüchtig durchblättert (zu lesen, ehe jeder Bogen hinlänglich geweiht, nehme ich mich wohl in acht) und fand, daß er mit Ereignissen anfängt, die der ganz neuen Zeit angehören, und nachher im bunten Gemische Menschen und ihre Thaten von zehn, zwanzig Jahren her auftreten läßt; man sieht wohl, daß er keine gute Schule gehabt haben muß.
Zu größerer Deutlichkeit, und daß der geneigte Leser trotz dem Teufel wählen kann, was er will, habe ich den Inhalt jedem einzelnen Kapitel vorangesetzt.
Deutschland hat mir von jeher besonders wohl gefallen, und ich gestehe es, es liegt diesem Geständnis ein kleiner Egoismus zu Grunde; man glaubt nämlich dort an mich wie an das Evangelium; jenen kühnen philosophischen Waghälsen, die auf die Gefahr hin, daß ich sie zu mir nehme, meine Existenz geleugnet und mich zu einem lächerlichen Phantom gemacht haben, ist es noch nicht gelungen, den glücklichen Kindersinn dieses Volkes zu zerstören, in dessen ungetrübter Phantasie ich noch immer schwarz wie ein Mohr, mit Hörnern und Klauen, mit Bocksfüßen und Schweif fortlebe, wie ihre Ahnen mich gekannt haben.
[218] Wenn andere Nationen durch die sogenannte Aufklärung so weit hinaufgeschraubt sind, daß sie, ich schweige von einem Gott, sogar an keinen Teufel mehr glauben, so sorgen hier unter diesem Volke sogar meine Erbfeinde, die Theologen, dafür, daß ich im Ansehen bleibe. Hand in Hand mit dem Glauben an die Gottheit schreitet bei ihnen der Glaube an mich, und wie oft habe ich das mir so süße Wort aus ihrem Munde gehört: „anathema sit, er glaubt an keinen Teufel.“
Ich kann mich daher recht ärgern, daß ich nicht schon früher auf den vernünftigen Gedanken gekommen bin, meine freie Zeit auf einer Universität zu verleben, um dort zu sehen, wie man mich von Semester zu Semester systematisch traktiert.
Ich konnte nebenbei noch manches profitieren. Alle Welt ist jetzt zivilisiert, fein, gesittet, belesen, gelehrt. Schon oft, wenn ich einen guten Schnitt zu machen gedachte, fand es sich, daß mir ein guter Schulsack, etwas Philosophie, alte Litteratur, ja sogar etwas Medizin fehle; zwar, als das Magnetisieren aufkam[6], habe ich auch einen Kursus bei Meßmer[7] genommen und nachher manche glückliche Kur gemacht. Aber damit ist es heutzutage nicht gethan; daher die elenden Sprichwörter, die in Deutschland kursieren: ein dummer Teufel, ein armer Teufel, ein unwissender Teufel, was offenbar auf meine vernachlässigte wissenschaftliche Bildung hindeuten soll.
Es ist noch kein Gelehrter vom Himmel gefallen, und ich bin vom Himmel gefallen, aber nicht als gelehrt; darum entschloß ich mich, zu studieren, und womöglich es in der Philosophie so weit zu bringen, daß ich ein ganz neues System erfände, wovon ich mir keinen geringen Erfolg versprach. Ich wählte …en, und zog im Herbst des Jahres 1819 daselbst auf.
Ich hatte, wie man sich denken kann, nicht versäumt, mich meinem neuen Stande gemäß zu kostümieren. Mein Name war von Barbe, meine Verhältnisse glänzend, das heißt, ich brachte [219] einen großen Wechsel mit, hatte viel bar Geld, gute Garderobe und hütete mich wohl, als Neuling oder, wie man sagt, als Fuchs aufzutreten, sondern ich hatte schon allenthalben studiert, mich in der Welt umgesehen.
Kein Wunder, daß ich schon den ersten Abend höfliche Gesellschafter, den nächsten Morgen vertraute Freunde und am zweiten Abend Brüder auf Leben und Tod am Arm hatte. Man denkt vielleicht, ich übertreibe? wäre ich Kavalier, so würde ich auf Ehre versichern und Holmichderteufel als Verstärkungspartikel dazu setzen (denn auf Ehre und Holmichderteufel verhalten sich zu einander wie der Spiritus lenis zum Spiritus asper)[8], in meiner Lage kann ich bloß meine Parole als Satan geben.
Es waren gute Jungen, die ich da fand. Es begab sich dies aber folgendermaßen: man kann sich denken, daß ich nicht unvorbereitet kam; wer die deutschen Universitäten nur entfernt kennt, weiß, daß ein an Sprache, Sitte, Kleidung und Denkungsart von der übrigen Welt ganz verschiedenes Volk dort wohnt. Ich las des unsterblichen Herrn von Schmalz[9] Werke über die Universitäten, Sands Aktenstücke[10], Haupt über Burschenschaften und Landsmannschaften[11] etc., ward aber noch nicht recht klug daraus und merkte, daß mir noch manches abging. Der Zufall half mir aus der Not. Ich nahm in F. einen Platz in einer Retourchaise; mein Gesellschafter war ein alter Student, der seit acht Jahren sich auf die Medizin legte. Er hatte das savoir vivre eines alten Burschen, und ich befliß mich in den sechs Stunden, die ich mit ihm der Musenstadt zufuhr, an ihm meine Rolle zu studieren.
Er war ein großer, wohlgewachsener Mann von 24–25 Jahren, sein Haar war dunkel und mochte früher nach heutiger Mode [220] zugeschnitten sein, hing aber, weil der Studiosus die Kosten scheute, es scheren zu lassen, unordentlich um den Kopf, doch bemühte er sich, solches oft mit fünf Fingern aus der Stirne zu frisieren. Sein Gesicht war schön, besonders Nase und Mund edel und fein geformt, das Auge hatte viel Ausdruck, aber welch sonderbaren Eindruck machte es: das Gesicht war von der Sonne rotbraun angelaufen, ein großer Bart wucherte von den Schläfen bis zum Kinn herab, und um die feinen Lippen hing ein vom Bier geröteter Henriquatre.
Sein Mienenspiel war schrecklich und lächerlich zugleich, die Augbrauen waren zusammengezogen und bildeten düstere Falten; das Auge blickte streng und stolz um sich her und maß jeden Gegenstand mit einer Hoheit und Würde, die eines Königsohnes würdig gewesen wäre.
Über die unteren Partien des Gesichtes, namentlich über das Kinn, konnte ich nicht recht klug werden, denn sie staken tief in der Krawatte. Diesem Kleidungsstück schien der junge Mann bei weitem mehr Sorgfalt gewidmet zu haben als dem übrigen Anzug; diese beiläufig einen halben Schuh Höhe messende Binde von schwarzer Seide zog sich, ohne ein Fältchen zu werfen, von dem Kinn inklusive bis auf das Brustbein exklusive und bildete auf diese Art ein feines Mauerwerk, auf welchem der Kopf ruhte; seine Kleidung bestand in einem weißgelben Rock, den er „Flaus“, in zärtlichen Augenblicken wohl auch „Gottfried“ nannte, und welchem er von Speisen und Getränken mitteilte; dieser Gottfried Flaus reichte bis eine Spanne über das Knie und schloß sich eng um den ganzen Leib; auf der Brust war er offen und zeigte, soviel die Krawatte sehen ließ, daß der Herr Studiosus mit Wäsche nicht gut versehen sein müsse.
Weite, wellenschlagende Beinkleider von schwarzem Samt schlossen sich an das Oberkleid an; die Stiefel waren zierlich geformt und dienten ungeheuern Sporen von poliertem Eisen zur Folie.
Auf dem Kopfe hatte der Studiosus ein Stückchen rotes Tuch in Form eines umgekehrten Blumenscherben gehängt, das er mit vieler Kunst gegen den Wind zu balancieren wußte; es sah komisch [221] aus, fast wie wenn man mit einem kleinen Trinkglas ein großes Kohlhaupt bedecken wollte.
Ich hatte Zachariäs[12] unsterblichen Renommisten zu gut studiert, um nicht zu wissen, daß, sobald ich mir eine Blöße gegen den Herrn Bruder gebe, sein Respekt vor mir auf ewig verloren sei; ich merkte ihm daher seine Augenbrauenfalten, sein ernstes, abmessendes Auge, soviel es ging, ab und hatte die Freude, daß er mich gleich nach der ersten Stunde auffallend vor dem „Philister und dem Florbesen“, auf deutsch einem alten Professor und seiner Tochter, welche unsere übrige Reisegesellschaft ausmachten, auszeichnete. In der zweiten Stunde hatte ich ihm schon gestanden, daß ich in Kiel studiert und mich schon einigemal mit Glück geschlagen habe, und ehe wir nach …gen einfuhren, hatte er mir versprochen, eine „fixe Kneipe“, das heißt eine anständige Wohnung, auszumitteln, wie auch mich unter die Leute zu bringen.
Der Herr Studiosus Würger, so hieß mein Gesellschafter, ließ an einem Wirtshaus vor der Stadt anhalten und lud mich ein, seinem Beispiele zu folgen und hier auf die Beschwerden der Reise ein Glas zu trinken. Die ganze Fensterreihe des Wirtshauses war mit roten und schwarzen Mützen bedeckt, es war nämlich eine gute Anzahl der Herren Studiosi hier versammelt, um die neuen Ankömmlinge, die gewöhnlich am Anfang des Semesters einzutreffen pflegen, nach gewohnter Weise zu empfangen. Würger, der alte „längst bemooste“ Bursche, hatte sich schon unterwegs mit dem Gedanken gekitzelt, daß seine Kameraden uns für „Füchse“ halten werden, und wirklich traf seine Vermutung ein.
Ein Chorus von wenigstens 30 Bässen scholl von den Fenstern herab, sie sangen ein berühmtes Lied, das anfängt:
„Was kommt dort von der Höh’!“
Während des Gesanges entstieg mein Gefährte majestätisch der Chaise, und kaum hatte er den Boden berührt, so erhob er sein furchtbares Haupt und schrie zu den Fenstern empor:
„Was schlagt ihr für einen Randal auf, Kamele! Seht ihr [222] nicht, daß zwei alte Häuser aus diesem Philisterkarren gestiegen kommen?“ (auf deutsch: lärmt doch nicht so sehr, meine Herren, Sie sehen ja, daß zwei alte Studenten aus dem Wagen steigen).
Der allgemeine Jubel unterbrach den erhitzten Redner: „Würger! du altes fideles Haus!“ schrien die Musensöhne und stürzten die Treppen herab in seine Arme; die Raucher vergaßen, ihre langen Pfeifen wegzulegen, die Billardspieler hielten noch ihre Queues in der Hand. Sie bildeten eine Leibwache von sonderbarer Bewaffnung um den Angekommenen.
Doch der Edelmütige vergaß in seiner Glorie auch meiner nicht, der ich bescheiden auf der Seite stand, er stellte mich den ältesten und angesehensten Männern der Gesellschaft vor, und ich wurde mit herzlichem Handschlag von ihnen begrüßt. Man führte uns in wildem Tumult die Treppe hinan, man setzte mich zwischen zwei bemooste Häuser an den Ehrenplatz, gab mir ein großes Paßglas voll Bier, und ein Fuchs mußte dem neuen Ankömmling seine Pfeife abtreten.
So war ich denn in …en als Student eingeführt, und ich gestehe, es gefiel mir so übel nicht unter diesem Völkchen. Es herrschte ein offener, zutraulicher Ton, man brauchte sich nicht in den Fesseln der Konvenienz, die gewiß dem Teufel am lästigsten sind, umherzuschleppen, man sprach und dachte, wie es einem gerade gefiel. Wenn man bedenkt, daß ich gerade im Herbst 1819 dorthin kam, so wird man sich nicht wundern, daß ich mich von Anfang gar nicht recht in die Konversation zu finden wußte. Denn einmal machten mir jene Kunstwörter (termini technici), von welchen ich oben schon eine kleine Probe gegeben habe, viel zu schaffen; ich verwechselte oft „Sau“, das Glück, mit „Pech“, was Unglück bedeutet, wie auch „Holzen“, mit einem Stock schlagen, mit „Pauken“, mit andern Waffen sich schlagen.
Aber auch etwas anderes fiel mir schwer; wenn nämlich nicht von Hunden, Paukereien, Besen oder dergleichen gesprochen wurde, so fiel man hinter dem Bierglas in ungemein transcendentale Untersuchungen, von welchen ich anfangs wenig oder gar nichts verstand, ich merkte mir aber die Hauptworte, welche vorkamen, und wenn ich auch in die Konversation gezogen wurde, so antwortete [223] ich mit ernster Miene: „Freiheit, Vaterland, Deutschtum, Volkstümlichkeit.“
Da ich nun überdies ein großer Turner war und eigentlich „teufelmäßige“ Sprünge machen konnte, da ich mir überdies nach und nach ein langes Haar wachsen ließ, solches fein scheitelte und kämmte, einen zierlich ausgeschnittenen Kragen über den deutschen Rock herauslegte, mich auch auf die Klinge nicht übel verstand, so war es kein Wunder, daß ich bald in großes Ansehen unter diesem Volke kam. Ich benutzte diesen Einfluß soviel als möglich, um die Leute nach meinen Ansichten zu leiten und zu erziehen und sie „für die Welt zu gewinnen“.
Es hatte sich nämlich unter einem großen Teil meiner Kommilitionen ein gewisser frömmelnder Ton eingeschlichen, der mir nur gar nicht behagte und nach meiner Meinung sich auch nicht für junge Leute schickte. Wenn ich an die jungen Herren in London und Paris, in Berlin, Wien, Frankfurt etc. dachte, an die vergnügten Stunden, die ich in ihrem Kreise zubrachte, wenn ich diese Leute dagegenhielt, die ich ihren schönen hohen Wuchs, ihre kräftigen Arme, ihren gesunden Verstand, ihre nicht geringen Kenntnisse nur auf dem Turnplatz, nicht im Tanzsaal, nur zu überschwenglichen Ideen und Idealen, nicht zu lebhaftem Witz, zu feinem Spott, der das Leben würzt und aufregt, anwenden sah, wenn ich sie, statt schönen Mädchen nachzufliegen, in die Kirche schleichen sah, um einen ihrer orthodoxen Professoren anzuhören, so konnte ich ein widriges Gefühl in mir nicht unterdrücken.
Sobald ich daher festen Fuß gefaßt hatte, zog ich einige lustige Brüder an mich, lehrte sie neue Kartenspiele, sang ihnen ergötzliche Lieder vor, wußte sie durch Witz und dergleichen so zu unterhalten, daß sich bald mehrere anschlossen. Jetzt machte ich kühnere Angriffe. Ich stellte mich Sonntags mit meinen Gesellen vor die Kirchthüre, musterte mit geübtem Auge die vorübergehenden Damen, zog dann, wenn die Schäflein innen waren und der Küster den Stall zumachte, mit den Meinigen in ein Wirtshaus der Kirche gegenüber und bot alles auf, die Gäste besser zu unterhalten als der Dr. N. oder der Professor N. in der Kirche seine Zuhörer.
[224] Ehe drei Wochen vergingen, hatte ich die größere Partie auf meiner Seite. Die Frömmeren schrieen von Anfang über den rohen Geist, der einreiße, gaben zu bemerken, daß wir christliche Bursche seien; aber es half nichts, meine Persiflagen hatten so gute Wirkung gethan, daß sie sich am Ende selbst schämten, in der Kirche gesehen zu werden, und es gehörte zum guten Ton, jeden Sonntag vor der Kirchthür zu sein, aber bis hieher und nicht weiter. Die Wirtshäuser waren gefüllter als je, es wurde viel getrunken, ja es riß die Sitte ein, Wettkämpfe im Trinken zu halten, und man wird es kaum glauben, es gab sogar eigentliche Kunsttrinker!
Es predigte zwar mancher gegen das einreißende Verderben, aber die Altdeutschen trösteten sich damit, daß ihre „Altvordern“ auch durch Trinken exzelliert haben; die Frömmsten ließen sich große Humpen verfertigen und zwangen und mühten sich so lange, bis sie wie Götz von Berlichingen oder gar wie Hermann der Cherusker schlucken konnten. Den Feineren, Gebildeteren war es natürlich vom Anfang auch ein Greuel; ich verwies sie aber auf eine Stelle bei Jean Paul. Er sagt nämlich in seinem unübertrefflichen „Quintus Fixlein“:
„Jerusalem bemerkt schön, daß die Barbarei, die oft hart hinter dem schönsten, buntesten Flor der Wissenschaften aufsteigt, eine Art von stärkendem Schlammbad sei, um die Überfeinerung abzuwenden, mit der jener Flor bedrohe, ich glaube, daß einer, der erwägt, wie weit die Wissenschaften bei einem Studierenden steigen, dem Musensohne ein gewisses barbarisches Mittelalter – das sogenannte Burschenleben – gönnen werde, das ihn wieder so stählt, daß die Verfeinerung nicht über die Grenze geht.“
Wenn ein Meister wie Jean Paul, dem ich hiemit für diese Stelle meinen herzlichen Dank öffentlich sage, also sich ausspricht, was konnten die Kleinmeister und Jünger dagegen? Sie setzten sich auch in die schwarzgerauchte Kneipe, „verschlammten“ sich recht tüchtig in dem „barbarischen Mittelalter“ und hatten kraft ihres inwohnenden Genies meine älteren Zöglinge bald überholt.
[225]
Indessen ich auf die beschriebene Weise praktisch lebte und leben machte, vergaß ich auch das dic cur hic nicht und legte mich mit Ernst aufs Theoretische. Ich hörte die Philosophen und Theologen, und hospitierte nicht unfleißig bei den Juristen und Medizinern. Ich hatte, um zuerst über die Philosophen zu reden, von einem der hellsten Lichter jener Universität, wenn in der Ferne von ihm die Rede war, oft sagen hören, der Kerl hat den Teufel im Leib. Eine solche geheimnisvolle Tiefe, wollte man behaupten, solche überschwengliche Gedanken, solche Gedrungenheit des Stils, eine so hinreißende Beredsamkeit sei noch nicht gefunden worden in Israel. Ich habe ihn gehört und verwahre mich feierlich vor jenem Urteil, als ob ich in ihm gesessen wäre. Ich habe schon viel ausgestanden in der Welt, ich bin sogar Ev. Matthäi am 8., 31 und 32 in die Säue gefahren, aber in einen solchen Philosophen? – Nein, da wollte ich mich doch bedankt haben.
Was der gute Mann in seinem schläfrigen, unangenehmen Ton vorbrachte, war für seine Zuhörer so gut als französisch für einen Eskimo. Man mußte alles gehörig ins Deutsche übersetzen, ehe man darüber ins klare kam, daß er ebensowenig fliegen könne wie ein anderer Mensch auch. Er aber machte sich groß, weil er aus seinen Schlüssen sich eine himmelhohe Jakobsleiter gezimmert und solche mit mystischem Firnis angepinselt hatte; auf dieser kletterte er nun zum blauen Äther hinan, versprach aus seiner Sonnenhöhe herabzurufen, was er geschaut habe, er stieg und stieg, bis er den Kopf durch die Wolken stieß, blickte hinein in das reine Blau des Himmels, das sich auf dem grünen Grasboden noch viel hübscher ausnimmt als oben, und sah wie Sancho Pansa, als er auf dem hölzernen Pferd zur Sonne ritt, unter sich die Erde so groß wie ein Senfkorn und die Menschen wie Mücken, über sich – nichts.
Sie kommen mir vor, die guten Leute dieser Art, wie die Männer von Babel, die einen großen Leuchtturm bauen wollten [226] für alles Volk, damit sich keines verlaufe in der Wüste, und siehe da, der Herr verwirrte ihre Sprache, daß weder Meister noch Gesellen einander mehr verstanden.
Da lobe ich mir einen andern der dortigen Philosophen; er las über die Logik und deduzierte jahrein jahraus, daß zweimal zwei vier sei, und die Herren Studiosi schrieben ganze Stöße von Heften, daß zweimal zwei vier sei. Dieser Mann blieb doch ordentlich im Blachfeld und wanderte seinem Ziele mit größerer Gelassenheit zu als seine illustren Kollegen, die, wenn ein anderer ihr Gewäsche nicht Evangelium nannte, Antikritiken und Metakritiken der Antikritiken in alle Welt aussandten.
Ich gestehe redlich, der Teufel amüsiert sich schlecht bei so bewandten Dingen. Ich schlug den Weg zu einem andern Hörsaal ein, wo man über die Seele des Menschen dozierte. Gerechter Himmel! wenn ich so viel Umstände machen müßte, um eine lüderliche Seele in mein Fegefeuer zu deduzieren! Der Mensch auf dem Katheder malte die Seele auf eine große, schwarze Tafel und sagte, „so ist sie, meine Herren“, damit war er aber nicht zufrieden, er behauptete, sie sitze oben in der Zirbeldrüse.
Ich quittierte die Philosophen und besuchte die Theologen. Um meine Leute näher kennen zu lernen, beschloß ich, an einem Sonntag nach der Kirche einem oder dem andern meine Visite abzustatten. Ich kleidete mich ganz schwarz, daß ich ein ziemlich theologisches Air hatte, und trat meinen Marsch an; man hatte mir vorhergesagt, ich sollte keinen zu voreiligen Schluß auf den reinen und frommen Charakter dieser Männer machen, sie seien etwas nach dem alttestamentarischen Kostüm, vernachlässigen äußere Bildung und fallen dadurch leicht ins Linkische.
Mein Herz mit Geduld gewaffnet, trat ich in das Zimmer des ersten Theologen. Aus einer bläulichen Rauchwolke erhob sich ein dicker, ältlicher Mann in einem großgeblümten Schlafrock, eine ganz schwarze Meerschaumpfeife in der Hand. Er machte einen kurzen Knix mit dem Kopf und sah mich dann ungeduldig und fragend an. Ich setzte ihm auseinander, wie mich die Philosophie gar nicht befriedige, und daß ich gesonnen sei, einige theologische Kollegien zu besuchen. Er murmelte einige unverständliche, [227] aber, wie es schien, gelehrte Bemerkungen, verzog beifällig lächelnd den Mund und schritt im Zimmer auf und ab.
Ich setzte die Einladung, ihn auf seinem Spaziergang zu begleiten, voraus und schritt in ebenso gravitätischen Schritten neben ihm her, indem ich aufmerksam lauschte, was sein gelehrter Mund weiter vorbringen werde. Vergebens! Er grinzte hie und da noch etwas weniges, sprach aber kein Wort weiter, wenigstens verstand ich nichts als die Worte: „Pfeife rauchen?“ ich merkte, daß er mir höflich eine Pfeife anbiete, konnte aber keinen Gebrauch davon machen, denn er rauchte wahrhaftig eine gar zu schlechte Nummer.
Ich habe mir schon lange abgewöhnt, über irgend etwas in Verlegenheit zu geraten, sonst hätte dieses absurde Schweigen des Professors mich gänzlich außer Fassung gebracht. So aber ging ich gemächlich neben ihm her, kehrte um, wenn er umkehrte, und zählte die Schritte, die sein Zimmer in der Länge maß. Nachdem ich das alte Ameublement, die verschiedenen Kleider- und Wäscherudera, die auf den Stühlen umherlagen, das wunderliche Chaos seines Arbeitstisches gemustert hatte, wagte ich meine prüfenden Blicke an den Professor selbst. Sein Aussehen war höchst sonderbar. Die Haare hingen ihm dünn und lang um die Glatze, die gestrickte Schlafmütze hielt er unter dem Arm. Der Schlafrock war an den Ellbogen zerrissen und hatte verschiedene Löcher, die durch Unvorsichtigkeit hineingebrannt schienen. Das eine Bein war mit einem schwarzseidenen Strumpf und der Fuß mit einem Schnallenschuh bekleidet, der andere stak in einem weiten, abgelaufenen Filzpantoffel, und um das halbentblößte Bein hing ein gelblicher Socken. Ehe ich noch während dem unbegreiflichen Stillschweigen des Theologen meine Bemerkungen weiter fortsetzen konnte, wurde die Thüre aufgerissen, eine große dürre Frau mit der Röte des Zorns auf den schmalen Wangen, stürzte herein.
„Nein, das ist doch zu arg, Blasius!“ schrie sie, „der Küster ist da und sucht dich zum Abendmahl; der Dekan steht schon vor dem Altar und du steckst noch im Schlafrock?“
„Weiß Gott, meine Liebe“, antwortete der Doktor gelassen, „das habe ich häßlich vergessen! doch sieh’, einen Fuß hatte ich [228] schon zum Dienste des Herrn gerüstet, als mir ein Gedanke einfiel, der den Doktor Paulus[13] weidlich schlagen muß.“
Ohne darauf zu achten, daß er sich beinahe der letzten Hülle beraube, wollte er eilfertig den Schlafrock herunterreißen, um auch sein übriges Kadaver zum Dienst des Herrn zu schmücken; sein Eheweib aber stellte sich mit einer schnellen Wendung vor ihn hin und zog die weiten Falten ihrer Kleider auseinander, daß vom Professor nichts mehr sichtbar war.
„Sie verzeihen, Herr Kandidat“, sprach sie, ihre Wut kaum unterdrückend; „er ist so im Amtseifer, daß Sie ihn entschuldigen werden. Schenken Sie uns ein andermal das Vergnügen. Er muß jetzt in die Kirche.“
Ich ging schweigend nach meinem Hut und ließ den Ehemann unter den Händen seiner liebenswürdigen Xantippe. „Ein schöner Anfang in der Theologie!“ dachte ich, und die Lust, die übrigen geistlichen Männer zu besuchen, war mir gänzlich vergangen; doch beschloß ich, einige Vorlesungen mit anzuhören, was ich auch den Tag nachher ausführte.
Man denke sich einen weiten, niedrigen Saal, vollgepfropft mit jungen Leuten in den abenteuerlichsten Gestalten; Mützen von allen Farben und Formen, lange herabwallende, kurze emporsteigende Haare, Bärte, an welchen sich ein Sappeur[14] der alten Garde nicht hätte schämen dürfen, und kleine zierliche Stutzbärtchen, galante Fracks und hohe Krawatten neben deutschen Röcken und ellenbreiten Hemdkrägen; so saßen die jungen geistlichen Herren im Kollegium; vor sich hatte jeder seine Mappe, einen Stoß Papier, Tinte und Feder, um die Worte der Weisheit gleich ad notam zu nehmen. „O Platon und Sokrates“, dachte ich, „hätten eure Studiosen und Akademiker nachgeschrieben, wie manches Wort tiefer, heiliger Weisheit wäre nicht umsonst verrauscht; wie majestätisch müßten sich die Folianten von Socratis opera in mancher Bibliothek ausnehmen!“
Jetzt wurden alle Häupter entblößt, eine kurze, dicke Gestalt drängte sich durch die Reihen der jungen Herren dem Katheder [229] zu, es war der Doktor Schnatterer, den ich gestern besucht hatte; mit Wonnegefühl schien er die Versammlung zu überschauen, hustete dann etwas weniges und begann:
„Hochachtbare, hochansehnliche (damit meinte er die, welche sechs Thaler Honorar zahlten)!
Wertgeschätzte (die, welche das gewöhnliche Honorar zahlten)!
Meine Herren (das waren die, welche nur die Hälfte oder aus Armut gar nichts entrichteten)!“ und nun hob er seinen Sermon an, die Federn rasselten, das Papier knirschte, er aber schaute herab wie der Mond aus Regenwolken.
Ich hätte zu keiner gelegeneren Zeit diese Vorlesungen besuchen können, denn der Doktor behandelte gerade den Abschnitt „de angelis malis“, worin ich vorzüglich traktiert zu werden hoffen durfte. Wahrhaftig, er ließ mich nicht lange warten: „Der Teufel“, sagte er, „überredete die ersten Menschen zur Sünde und ist noch immer gegen das ganze Menschengeschlecht feindlich gesinnt.“ Nach diesem Satz hoffte ich nun eine philosophische Würdigung dieses Teufelsglaubens zu hören; aber weit gefehlt. Er blieb bei dem ersten Wort Teufel stehen, und daß mich die Juden „Beelzebub“ geheißen hätten. Mit einem Aufwand von Gelehrsamkeit, wie ich sie hinter dem armen Schlafrock nicht gesucht hätte, warf er nun das Wort Beelzebub dreiviertel Stunden lang hin und her. Er behauptete, die einen erklären, es bedeute einen „Fliegenmeister“, der die Mücken aus dem Lande treiben solle, andere nehmen das „Sephub“ nicht von den Mücken, sondern als „Anklage“ wie die Chaldäer und Syrier. Andere erklären „Sephul“ als Grab, Sepulcrum; die Federn schwirrten und flogen, so tiefe Gelehrsamkeit hört man nicht alle Tage. Zu jenen paar Erklärungen hatte er aber volle Dreiviertel Stunden verwendet, denn die Citaten aus heiligen und profanen Skribenten nahmen kein Ende. Von Anfang hatte es mir vielen Spaß gemacht, die Dogmatik auf solche Weise getrieben und namentlich den Satan so gründlich anatomiert zu sehen; aber endlich machte es mir doch Langeweile, und ich wollte schon meinen Platz verlassen, um dem unendlichen Gewäsch zu entfliehen, da ruhte der Doktor einen Augenblick aus, die Schnupftücher wurden gebraucht, die Füße [230] wurden in eine andere Lage gebracht, die Federn ausgespritzt und neu beschnitten – alles deutete darauf hin, daß jetzt ein Hauptschlag geschehen werde.
Und es war so; der große Theologe, nachdem er die Meinungen anderer aufgeführt und gehörig gewürdigt hatte, begann jetzt mit Salbung und Würde seine eigene Meinung zu entwickeln.
Er sagte, daß alle diese Erklärungen nichts taugen, indem sie keinen passenden Sinn geben; er wisse eine ganz andere und glaube sich in diesem Stück noch über Michaelis[15] und Döderlein[16] stellen zu dürfen. Er lese nämlich Saephael, und das bedeute Kot, Mist und dergleichen. Der Teufel oder Beelzebub würde also hier der „Herr im Dreck“, „der unreinliche“, „Τὸ πνεῦμα ἀκάζαρτον“[17], „der Stinker“ genannt, wie denn auch im Volksglauben mit den Erscheinungen des Satans ein gewisser unanständiger Geruch verbunden sei.
Ich traute meinen Ohren kaum; eine solche Sottise war mir noch nie vorgekommen; ich war im Begriff, den orthodoxen Exegeten mit dem nämlichen Mittel zu bedienen, das einst Doktor Luther, welcher gar keinen Spaß verstand, an mir probierte, ihm nämlich das nächste beste Tintenfaß an den Kopf zu werfen; aber es fiel mir bei, wie ich mich noch besser an ihm rächen könnte, ich bezähmte meinen Zorn und schob meine Rache auf.
Der Doktor aber schlug im Bewußtsein seiner Würde das Heft zu, stand auf, bückte sich nach allen Seiten und schritt nach der Thüre; die tiefe Stille, welche im Saal geherrscht hatte, löste sich in ein dumpfes Gemurmel des Beifalls auf.
„Welch ein gelehrter Mann, welch tiefer Denker, welche Fülle der tiefsten Gelehrsamkeit!“ murmelten die Schüler des großen Exegeten. Emsig verglichen sie untereinander ihre Hefte, ob ihnen auch kein Wörtchen von seinen schlagenden Beweisen, von seinen [231] kühnen Behauptungen entgangen sei; und wie glücklich waren sie, wenn auch kein Jota fehlte, wenn sie hoffen durften, ein dickes, reinliches, vollständiges Heft zu bekommen.
Sobald sie aber die teuren Blätter in den Mappen hatten, waren sie die Alten wieder; man stopfte sich die ellenlangen Pfeifen, man setzte die Mütze kühn auf das Ohr, zog singend oder den großen Hunden pfeifend ab, und wer hätte den Jünglingen, die im Sturmschritt dem nächsten Bierhaus zuzogen, angesehen, daß sie die Stammhalter der Orthodoxie seien und recta via von der kühnsten Konjektur des großen Dogmatikers herkommen?
So schloß sich mein erster theologischer Unterricht, ich war, wenn nicht an Weisheit und Einsicht, doch um einen Begriff meiner selbst, an den ich nie gedacht hätte, reicher geworden.
Ich schwor mir selbst mit den heiligsten Schwüren, keinen Theologen dieser finstern Schule mehr zu hören. Denn wenn der Oberste unter ihnen solche krasse Begriffe zu Markt brachte, was durfte ich von den übrigen hoffen? Aber der orthodoxen Saephael oder Dr–ck-Seele hatte ich Rache geschworen, und ich war Manns genug dazu, sie auszuführen.
Indessen ereignete sich etwas anderes, das ich hier nicht übergehen darf, weil es als ein Kommentar zu den Sitten des wunderlichen Volkes, unter welchem ich lebte, dienen kann. Ich hatte schon seit einiger Zeit fleißig die Anatomie besucht, um auch die Ärzte kennen zu lernen, da geschah es eines Tages, daß ich mit mehreren Freunden um ein Kadaver beschäftigt war, indem ich ihnen durch Zergliederung der Organe des Hirns, des Herzens etc. die Nichtigkeit des Glaubens an Unsterblichkeit darzuthun suchte.
Auf einmal höre ich hinter mir eine Stimme: „Pfui Teufel, wie riecht’s hier!“
Ich wandte mich rasch um und erblickte einen jungen Theologen, der mich schon in jener dogmatischen Vorlesung durch den [232] Eifer und das Wohlbehagen, mit welchem er die unsinnige Konjektur des Professors niederschrieb, gegen sich aufgebracht hatte. Als ich nun diese Äußerung „Pfui Teufel, wie riecht’s hier!“ die ich in jenem Augenblick aus des Theologen Munde nur auf mich, als den „Herrn im Kot“, bezog, hörte, sagte ich ihm ziemlich stark, daß ich mir solche Gemeinheiten und Anzüglichkeiten verbitte.
Nach dem uralten heiligen Gesetzbuche der „Burschen“, das man Komment heißt, war dies eine Beschimpfung, die nur mit Blut abgewaschen werden konnte. Der Theologe, ein tüchtiger Raufer, ließ mich daher am andern Tage sogleich fordern. Ein solcher Spaß war mir erwünscht, denn wer sein Ansehen unter seinen Kommilitonen behaupten wollte, mußte sich damals geschlagen haben, obgleich das Duell an sich von meinen Freunden als etwas Unvernünftiges, Unnatürliches angesehen wurde. Ich hatte meinen Gegner bestimmen lassen, die Sache in einem Vergnügungsort, eine Stunde vor der Stadt, auszumachen, und beide Partien erschienen zur bestimmten Zeit an Ort und Stelle.
Feierlich wurde jeder einzelne in ein Zimmer geführt, der Oberrock ihm ausgezogen und der „Paukwichs“, das heißt die Rüstung, in welcher das Duell vor sich gehen sollte, angelegt. Diese Rüstung oder der Paukwichs bestand in einem Hut mit breiter Krempe, die dem Gesicht hinlänglichen Schutz verlieh, einer ungeheuern, fußbreiten Binde, die über den Bauch geschnallt wurde; sie war von Leder, gepolstert und mit der Farbe der Verbindung, zu welcher man gehörte, ausgeschmückt; eine ungeheure Krawatte, wogegen Herrn Studiosus Würgers ein Groschenstrick war, stand steif um die Gegend des Halses und schützte Kinn, Kehle, einen Teil der Schultern und den obern Teil der Brust. Den Arm vom Ellbogen bis zur Hand bedeckte ein aus alten seidenen Strümpfen verfertigtes Rüstzeug, Handschuh genannt. Ich gestehe, die Figur, in diese sonderbare Rüstung gepreßt, nahm sich komisch genug aus, doch gewährte sie große Sicherheit, denn nur ein Teil des Gesichtes, der Oberarm und ein Teil der Brust war für die Klinge des Gegners zugänglich. Ich konnte mich daher des Lachens nicht enthalten, wenn ich im Spiegel meinen sonderbaren Habit betrachtete; „der Satan in einem solchen Aufzuge [233] und im Begriff, sich wegen des schlechten Geruchs auf der Anatomie zu schlagen!“
Meine Genossen aber nahmen dieses Lachen für einen Ausbruch der Kühnheit und des Muts, gedachten, es sei jetzt der rechte Augenblick gekommen, und führten mich in einen großen Saal, wo man mit Kreide die gegenseitige feindliche Stellung auf dem Boden markiert hatte. Ein Fuchs rechnete es sich zur hohen Ehre, mir den „Schläger“ vorantragen zu dürfen, wie man den alten Kaisern Schwert und Zepter vorantrug. Jener war eine aus poliertem Stahl schön gearbeitete Waffe mit großem, schützendem Korb und scharf geschliffen wie ein Schermesser.
Wir standen endlich einander gegenüber; der Theologe machte ein grimmiges Gesicht und blickte mit einem Hohn auf mich, der mich nur noch mehr in dem Vorsatz bestärkte, ihn tüchtig zu zeichnen.
Wir legten uns nach alter Fechterweise aus, die Klingen waren gebunden, die Sekundanten schrien „los“, und unsere Schläger schwirrten in der Luft und fielen rasselnd auf die Körbe. Ich verhielt mich meistens parierend gegen die wirklich schönen und mit großer Kunst ausgeführten Angriffe des Gegners, denn mein Ruhm war größer, wenn ich mich von Anfang nur verteidigte, und erst im vierten, fünften Gang ihm eine Schlappe gab.
Allgemeine Bewunderung folgte jedem Gang; man hatte noch nie so kühn und schnell angreifen, noch nie mit so vieler Ruhe und Kaltblütigkeit sich verteidigen sehen. Meine Fechtkunst wurde von den ältesten „Häusern“ bis in den Himmel erhoben, und man war nun gespannt und begierig, bis ich selbst angreifen würde; doch wagte es keiner, mich dazu aufzumuntern.
Vier Gänge waren vorüber, ohne daß irgendwo ein Hieb blutig gewesen wäre. Ehe ich zum fünften aufmarschierte, zeigte ich meinen Kameraden die Stelle auf der rechten Wange, wohin ich meinen Theologen treffen wolle. Dieser mochte es mir ansehen, daß ich jetzt selbst angreifen werde, er legte sich so gedeckt als möglich aus und hütete sich, selbst einen Angriff zu machen. Ich begann mit einer herrlichen Finte, der ein allgemeines Ah! folgte, schlug dann einige regelmäßige Hiebe, und klapp! saß ihm mein Schläger in der Wange.
[234] Der gute Theologe wußte nicht, wie ihm geschah, mein Sekundant und Zeuge sprangen mit einem Zollstab hinzu, maßen die Wunde und sagten mit feierlicher Stimme: „Es ist mehr als ein Zoll, klafft und blutet, also Ansch–ß“; das hieß soviel als: weil ich dem guten Jungen ein zolllanges Loch ins Fleisch gemacht hatte, war seiner Ehre genug geschehen.
Jetzt stürzten meine Freunde herzu, die Ältesten faßten meine Hände, die jüngeren betrachteten ehrfurchtsvoll die Waffe, mit welcher die in der Geschichte einzige und unerhörte That geschehen war; denn wer, seit des großen Renommisten Zeiten durfte sich rühmen, vorher die Stelle, die er treffen wollte, angezeigt und mit so vieler Genauigkeit getroffen zu haben?
Ernsten Blickes trat der Sekundant meines Gegners herein und bot mir in dessen Namen Versöhnung an. Ich ging zu dem Verwundeten, dem man gerade mit Nadel und Faden seine Wunde zunähte, und versöhnte mich mit ihm.
„Ich bin Ihnen Dank schuldig“, sagte er zu mir, „daß Sie mich so gezeichnet haben. Ich wurde ganz gegen meinen Willen gezwungen, Theologie zu studieren; mein Vater ist Landpfarrer, meine Mutter eine fromme Frau, die ihren Sohn gerne einmal im Chorrock sehen möchte. Sie haben mit einemmal entschieden, denn mit einer Schmarre vom Ohr bis zum Mund darf ich keine Kanzel mehr besteigen.“
Die Burschen sahen teilnehmend auf den wackern Theologen, der wohl mit geheimer Wehmut an den Schmerz des alten Pastors, an den Jammer der frommen Mama denken mochte, wenn die Nachricht von diesem Unfall anlangte; ich aber hielt es für das größte Glück des Jünglings, durch eine so kurze Operation der Welt wieder geschenkt zu sein. Ich fragte ihn, was er jetzt anzufangen gedenke, und er gestand offen, daß der Stand eines Kavalleristen oder eines Schauspielers ihn von jeher am meisten angezogen hätte.
Ich hätte ihm um den Hals fallen mögen für diesen vernünftigen Gedanken, denn gerade unter diesen beiden Ständen zähle ich die meisten Freunde und Anhänger; ich riet ihm daher aufs ernstlichste, dem Trieb der Natur zu folgen, indem ich ihm die [235] besten Empfehlungsbriefe an bedeutende Generale und an die vorzüglichsten Bühnen versprach.
Dem ganzen Personale aber, das dem merkwürdigen Duell angewohnt hatte, gab ich einen trefflichen Schmaus, wobei auch mein Gegner und seine Gesellen nicht vergessen wurden. Dem ehemaligen Theologen zahlte ich nachher in der Stille seine Schulden und versah ihn, als er genesen war, mit Geld und Briefen, die ihm eine fröhliche, glänzende Laufbahn eröffneten.
Meine geheime Wohlthätigkeit war so wenig als der glänzende Ausgang meiner Affaire ein Geheimnis geblieben. Man sah mich von jetzt wie ein höheres Wesen an, und ich kannte manche junge Dame, die sogar über meine großmütigen Sentiments Thränen vergoß.
Die Mediziner aber ließen mir durch eine Deputation einen prachtvollen Schläger überreichen, weil ich mich, wie sie sich ausdrückten, „für den guten Geruch ihrer Anatomie geschlagen habe“.
Die Welt bleibt unter allen Gestalten die nämliche, die sie von Anfang war. Dem Bösen, selbst dem Unvernünftigen huldigt sie gerne, wenn es sich nur in einem glänzenden Gewande zeigt; die gute, ehrliche Tugend mit ihren rauhen Manieren und ihrem ungeschliffenen, rohen Aussehen wird höchstens Achtung, niemals Beifall erlangen.
Als ich sah, wieweit die Philosophie und Theologie in …en hinter meinen Vorstellungen, die ich mir zuvor gemacht hatte, zurückbleibe, legte ich mich mit Eifer auf Ästhetik, Rhetorik, namentlich aber auf die schöne Litteratur. Man wende mir nicht ein, ich habe auf diese Art meine Zeit unnütz angewendet. Ich besuchte ja jene berühmte Schule nicht, um ein Brotstudium zu treiben, das einmal einen Mann mit Weib und Kind ernähren könnte, sondern das „dic cur hic“, das ich recht oft in meine Seele [236] zurückrief, sagte mir immer, ich solle suchen, von jeder Wissenschaft einen kleinen Hieb zu bekommen, mich aber so sehr als möglich in jenen Künsten zu vervollkommnen, die heutzutage einem Mann von Bildung unentbehrlich sind.
Bei Gelegenheit eine Stelle aus einem Dichter zu citieren, über die Schönheit eines Gemäldes kunstgerecht mitzusprechen, eine Statue nach allen Regeln für erbärmlich zu erklären, für die Männer einige theologische Litteratur, einige juridische Phrasen, einige neue medizinische Entdeckungen, einige exorbitante philosophische Behauptungen in petto zu haben, hielt ich für unumgänglich notwendig, um mich mit Anstand in der modernen Welt bewegen zu können, und ohne mir selbst ein Kompliment machen zu wollen, darf ich sagen, ich habe in den paar Monaten in …en hinlänglich gelernt.
Ich habe mir nach dem Beispiel meiner großen Vorbilder im Memoirenschreiben vorgenommen, auch die geringfügigsten Ereignisse aufzuführen, wenn sie lehrreich oder merkwürdig sind, wenn sie Stoff zum Nachdenken oder zum Lachen enthalten. Ich darf daher nicht versäumen, meine Rache am Doktor Schnatterer zu erzählen.
Besagter Doktor hatte die löbliche Gewohnheit, Sonntag nachmittags mit mehreren andern Professoren in ein Wirtshaus ein halbes Stündchen vor der Stadt zu spazieren. Dort pflegte man, um die steif gesessenen Glieder wieder auszurenken, Kegel zu schieben und allerlei sonstigen Kurzweil zu treiben, wie es sich für ehrbare Männer geziemt; man spielte wohl auch bei verschlossenen Thüren ein Whistchen oder Pikett und trank manchmal ein Gläschen über Durst, was wenigstens die böse Welt daraus ersehen wollte, daß sich die Herren abends in der Chaise des Wirtes zur Stadt bringen ließen.
Der ehrwürdige Theologe aber pflegte immer lang vor Sonnenuntergang heimzukehren, man sagt, weil die Frau Doktorin ihm keine längere Frist erlaubt hatte; er ging dann bedächtlichen Schrittes seinen Weg, vermied aber die breite Chaussee und schlug den Wiesenpfad ein, der dreißig Schritte seitwärts neben jener hinlief; der Grund war, weil der breite Weg am schönen Sonntag [237] Abend mit Fußgängern besäet war, der Doktor aber die höhere Röte seines Gesichtes und den etwas unsichern Gang nicht den Augen der Welt zeigen wollte.
So erklärten sich die Bösen den einsamen Gang Schnatterers; die Frommen aber blieben stehen, schauten ihm nach und sprachen: „Siehe, er geht nicht auf dem breiten Weg der Gottlosen, der fromme Herr Doktor, sondern den schmalen Pfad, welcher zum Leben führt.“
Auf diese Gewohnheit des Doktors hatte ich meinen Racheplan gebaut. Ich paßte ihm an einem schönen Sonntag Abend, der alle Welt ins Freie gelockt hatte, auf, und er trat noch bei guter Tageszeit aus dem Wirtshaus. Mit demütigem Bückling nahte ich mich ihm und fragte, ob ich ihn auf seinem Heimweg begleiten dürfe, der Abend scheine mir in seiner gelehrten Nähe noch einmal so schön.
Der Herr Doktor schien einen kordialen Hieb zu haben; er legte zutraulich meinen Arm in den seinigen und begann mit mir über die Tiefen der Wissenschaften zu perorieren. Aber ich schlug sein Auge mit Blindheit, und indem ich als ehrbarer Studiosus neben ihm zu gehen schien, verwandelte ich meine Gestalt und erschien den verwunderten Blicken der Spaziergänger als die „schöne Luisel“, die berüchtigste Dirne der Stadt. – Ach! daß Hogarth[18] an jenem Abend unter den spazierengehenden Christen auf dem breiten Wege gewandelt wäre! Welch herrliche Originale für frommen Unwillen, starres Erstaunen, hämische Schadenfreude hätte er in sein Skizzenbuch niederlegen können.
Die vordersten blieben stehen, als sie das seltsame Paar auf dem Wiesenpfad wandeln sahen, sie kehrten um, uns zu folgen, und rissen die Nachkommenden mit. Wie ein ungeheurer Strom wälzte sich uns die erstaunte Menge nach, wie ein Lauffeuer flog das unglaubliche Gerücht: „Der Doktor Schnatterer mit der schönen Luisel!“ von Mund zu Mund der Stadt zu.
[238] „Wehe dem, durch den Ärgernis kommet!“ riefen die Frommen; „hat man das je erlebt von einem christlichen Prediger?“
„Ei, ei, wer hätte das hinter dem Ehrsamen gesucht?“ sprachen mit Achselzucken die Halbfrommen, „wenn der Skandal nur nicht auf öffentlicher Promenade –!“
„Der Herr Doktor machen sich’s bequem!“ lachten die Weltkinder, „er predigt gegen das Unrecht und geht mit der Sünde spazieren.“
So hallte es vom Felde bis in die Stadt, Bürger und Studenten, Mägde und Straßenjungen erzählten es in Kneipen, am Brunnen und an allen Ecken; und „Doktor Schnatterer“ und „Schön-Luisel“ war das Feldgeschrei und die Parole für diesen Abend und manchen folgenden Tag.
An einer Krümmung des Wegs machte ich mich unbemerkt aus dem Staube und schloß mich als Studiosus meinen Kameraden an, die mir die Neuigkeit ganz warm auftischten. Der gute Doktor aber zog ruhig seines Weges, bemerkte, in seine tiefen Meditationen versenkt, nicht das Drängen der Menge, die sich um seinen Anblick schlug, nicht das wiehernde Gelächter, das seinen Schritten folgte. Es war zu erwarten, daß einige fromme Weiber seiner zärtlichen Ehehälfte die Geschichte beigebracht hatten, ehe noch der Theologe an der Hausglocke zog; denn auf der Straße hörte man deutlich die fürchterliche Stimme des Gerichtsengels, der ihn in Empfang nahm, und das Klatschen, welches man hie und da vernahm, war viel zu volltönend, als daß man hätte denken können, die Frau Doktorin habe die Wangen ihres Gemahls mit dem Munde berührt.
Wie ich mir aber dachte, so geschah es. Nach einer halben Stunde schickte die Frau Doktorin zu mir und ließ mich holen. Ich traf den Doktor mit hoch aufgelaufenen Wangen, niedergeschlagen in einem Lehnstuhl sitzend. Die Frau schritt auf mich zu und schrie, indem sie die Augen auf den Doktor hinüberblitzen ließ: „Dieser Mensch dort behauptet, heute abend mit Ihnen vom Wirtshaus hereingegangen zu sein; sagen Sie, ob es wahr ist, sagen Sie!“
Ich bückte mich geziemend und versicherte, daß ich mir habe [239] nie träumen lassen, die Ehre zu genießen; ich sei den ganzen Abend zu Haus gewesen.
Wie vom Donner gerührt, sprang der Doktor auf, der Schrecken schien seine Zunge gelähmt zu haben: „Zu Haus gewesen?“ lallte er, „nicht mit mir gegangen, o mit wem soll ich denn gegangen sein, als mit Ihnen, Wertester?“
„Was weiß ich, mit wem der Herr Doktor gegangen sind?“ gab ich lächelnd zur Antwort. „Mit mir auf keinen Fall!“
„Ach, Sie sind nur zu nobel, Herr Studiosus“, heulte die wütende Frau, „was sollten Sie nicht wissen, was die ganze Stadt weiß; der alte Sünder, der Schandenmensch! Man weiß seine Schliche wohl; mit der schönen Luisel hat er scharmuziert!“
„Das hat mir der böse Feind angethan“, raste der Doktor und rannte im Zimmer umher; „der Böse, der Beelzebub, nach meiner Konjektur der Stinker.“
„Der Rausch hat dir’s angethan, du Lump“, schrie die Zärtliche, riß ihren breit getretenen Pantoffel ab und rannte ihm nach; ich aber schlich mich die Treppe hinab und zum Haus hinaus und dachte bei mir, dem Doktor ist ganz recht geschehen, man soll den Teufel nicht an die Wand malen, sonst kömmt er.
Der Doktor Schnatterer wurde von da an in seinen Kollegien ausgepocht und konnte, selbst mit den kühnsten Konjekturen, den Eifer nicht mehr erwecken, der vor seiner Fatalität unter der studierenden Jugend geherrscht hatte. Die Kollegiengelder erreichten nicht mehr jene Summe, welche die Frau Professorin als allgemeinen Maßstab angenommen hatte, und der Professor lebte daher in ewigem Hader mit der Unversöhnlichen. Diesem hatte sozusagen der Teufel ein Ei in die Wirtschaft gelegt.
Um diese Zeit hörte man in Deutschland viel von Demagogen, Umtrieben, Verhaftungen und Untersuchungen. Man lachte darüber, weil es schien, man betrachte alles durch das Vergrößerungsglas, [240] welches Angst und böses Gewissen vorhielten. Übrigens mochte es an manchen Orten doch nicht ganz geheuer gewesen sein; selbst in dem sonst so ruhigen …en spukte es in manchen Köpfen seltsam.
Ich will einen kurzen Umriß von dem Stand der Dinge geben. Wenn man unbefangen unter den „Burschen“ umherwandelte und ihren Gelagen beiwohnte, so drängte sich von selbst die Bemerkung auf, daß viele unter ihnen von etwas anderem angeregt seien, als gerade von dem nächsten Zweck ihres Brotstudiums; wie einige großes Interesse daran fanden, sich morgens mit ihren Gläubigern und deren Noten (Philister mit Pumpregistern) herumzuzanken, nachher den Hund zu baden und ihn schöne Künste zu lehren, sodann Fensterparade vor ihren Schönen zu machen u. s. w., so hatten sich andere, und zwar kein geringer Teil, auf Idealeres geworfen. Ich hatte zwar dadurch, daß ich sie zum Studium des Trinkens anhielt, dafür gesorgt, daß die Herren sich nicht gar zu sehr der Welt entziehen möchten; aber es blieb doch immer ein geheimnisvolles Walten, aus welchem ich nicht recht klug werden konnte.
Besonders aber äußerte sich dies, wenn die Köpfe erleuchtet waren; da sprach man viel von Volksbildung, von frommer deutscher Art, manche sprudelten auch über und schrien von der Not des Vaterlandes, von –. Doch das ist jetzt gleichgültig, von was gesprochen wurde, es genügt zu sagen, daß es schien, als hätte eine große Idee viele Herzen ergriffen, sie zu Einem Streben vereinigt. Mir behagte die Sache an sich nicht übel; sollte es auf etwas Unruhiges ausgehen, so war ich gleich dabei, denn Revolutionen waren von jeher mein Element; nur sollte nach meiner Meinung das Ganze einen eleganteren, leichteren Anstrich haben.
Es gab zwar Leute unter ihnen, die mit der Gewandtheit eines Staatsmannes die Menge zu leiten wußten, die sich eine Eleganz des Stils, eine Leichtigkeit des Umgangs angeeignet hatten, wie sie in den diplomatischen Salons mit Mühe erlernt und kaum mit so viel Anstand ausgeführt wird; aber die meisten waren in ein phantastisches Dunkel geraten, munkelten viel von dem Dreiklang in der Einheit, von der Idee, die ihnen aufgegangen sei, und [241] hatten Vergangenheit und Zukunft, Mittelalter und das Chaos der jetzigen Zeit so ineinander geknetet, daß kein Theseus sich aus diesen Labyrinthen herausgefunden hätte.
Ich merkte oft, daß einer oder der andere der Koryphäen in einer traulichen Stunde mir gerne etwas anvertraut hätte; ich zeigte Verstand, Weltbildung, Geld und große Konnexionen, Eigenschaften, die nicht zu verachten sind, und die man immer ins Mittel zu ziehen sucht. Aber immer, wenn sie im Begriff waren, die dunkle Pforte des Geheimnisses vor meinen Augen aufzuschließen, schien sie, ich weiß nicht was, zurückzuhalten; sie behaupteten, ich habe kein Gemüt, denn dieses edle Seelenvermögen schienen sie als Probierstein zu gebrauchen.
Mochte ich aber aussehen wie ein verkappter Jakobiner, mochte ich durch meinen Einfluß auf die Menge Verdacht erregt haben? Eines Morgens trat der Pedell mit einigen Schnurren[19] in mein Zimmer und nahm mich im Namen Seiner Magnifizenz gefangen. Der Universitätssekretär folgte, um meine Papiere zu ordnen und zu versiegeln, und gab mir zu verstehen, daß ich als Demagoge verhaftet sei.
Man gab mir ein anständiges Zimmer im Universitätsgebäude, sorgte eifrig für jede Bequemlichkeit, und als der hohe Rat beisammen war, wurde ich in den Saal geführt, um über meine politischen Verbrechen vernommen zu werden.
Die Dekane der vier Fakultäten, der Rektor Magnifikus, ein Mediziner, und der Universitätssekretär saßen um einen grünbehängten Tisch in feierlichem Ornat; die tiefe Stille, welche in dem Saal herrschte, die steife Haltung der gelehrten Richter, ihre wichtigen Mienen nötigten mir unwillkürlich ein Lächeln ab.
Magnifikus zeigte auf einen Stuhl ihm gegenüber am Ende der Tafel, Delinquent setzte sich, Magnifikus winkte wieder, und der Pedell trat ab.
Noch immer tiefe Stille; der Sekretär legt das Papier zum Protokoll zurecht und schneidet Federn; ein alter Professor läßt seine ungeheure Dose herumgehen. Jeder der Herren nimmt eine [242] Prise bedächtlich und mit Beugung des Hauptes; Doktor Saper, mein nächster Nachbar, schnupft und präsentiert mir die Dose, läßt aber das teure Magazin, von einem abwehrenden Blick Magnifici erschreckt, mit polterndem Geräusch zu Boden fallen.
„Alle Hagel, Herr Doktor“, schrie der alte Professor, alle Achtung beiseite setzend.
„O Jerum“, ächzte der Sekretär und warf das Federmesser weg, denn er hatte sich aus Schrecken in den Finger geschnitten.
„Bitte unterthänigst!“ stammelte der erschrockene Doktor Saper.
Diese alle sprachen auf einmal durcheinander, und der letztere kniete auf den Boden nieder und wollte mit der Papierschere, die er in der Eile ergriffen hatte, den verschütteten Tabak aufschaufeln.
Magnifikus aber ergriff die große Glocke und schellte dreimal; der Pedell trat eilig und bestürzt herein und fragte, was zu Befehl sei, und Magnifikus mit einem verbindlichen Lächeln zu Doktor Saper hinüber sprach: „Lassen Sie es gut sein, Lieber, er taugt doch nichts mehr; da wir aber in dieser Sitzung einiges Tabaks benötigt sein werden, glaube ich dafür stimmen zu müssen, daß frischer ad locum gebracht werde.“
Doktor Saper zog schnell sein Beutelein, reichte dem Pedell einige Groschen und befahl ihm, eilends drei Lot Schnupftabak zu bringen. Dieser enteilte dem Saal; vor dem Haus fand er, wie ich nachher erfuhr, die halbe Universität versammelt, denn meine Verhaftung war schnell bekannt geworden, und alles drängte sich zu, um das Nähere zu erfahren. Man kann sich daher die Spannung der Gemüter denken, als man den Pedell aus der Thüre stürzen sah; die vordersten hielten ihn fest und fragten und drängten ihn, wohin er so eilig versendet werde, und kaum konnte man sich in seine Beteurung finden, daß er eilends drei Lot Schnupftabak holen müsse.
Aber im Saal war nach der Entfernung des Götterboten die vorige, anständige Stille eingetreten. Magnifikus faßte mich mit einem Blick voll Hoheit und begann:
„Es ist uns von einer höchstpreuslichen Zentral-Untersuchungs-Kommission der Auftrag zugekommen, auf gewisse geheime [243] Umtriebe und Verbindungen, so sich auf unserer Universität seit einiger Zeit entsponnen haben sollen, unser Augenmerk zu richten. Wir sind nun nach reiflicher Prüfung der Umstände vollkommen darüber einverstanden, daß Sie, Herr von Barbe, sich höchst verdächtig gemacht haben, solche Verhältnisse unter unserer akademischen Jugend dahier herbeigeführt und angesponnen zu haben. Hm! Was sagen Sie dazu, Herr von Barbe?“
„Was ich dazu sage? Bis jetzt noch nichts, ich erwarte geziemend die Beweise, die mein Leben und Betragen einer solchen Beschuldigung verdächtig machen.“
„Die Beweise?“ antwortete erstaunt der Rektor, „Sie verlangen Beweise? Ist das der Respekt vor einem akademischen Senate? Man führe selbst den Beweis, daß man nicht im sträflichen Verdacht der Demagogie ist.“
„Mit gütiger Erlaubnis, Euer Magnifizenz“, entgegnete der Dekan der Juristen, „Inquisit kann, wenn er eines Verdachtes angeklagt ist, in alle Wege verlangen, daß ihm die Gründe des Verdachtes genannt werden.“
Dem medizinischen Rektor stand der Angstschweiß auf der Stirne; man sah ihm an, daß er mit Mühe die Beweisgründe in seinem Haupte hin- und herwälze. Wie ein Bote vom Himmel erschien ihm daher der Pedell mit der Dose und berichtete zugleich mit ängstlicher Stimme, daß die Studierenden in großer Anzahl sich vor dem Universitätsgebäude zusammengerottet haben und ein verdächtiges Gemurmel durch die Reihen laufe, das mit einem Pereat oder Scheibeneinwerfen zu bedrohen scheine.
Kaum hatte er ausgesprochen, so stürzte eine Magd herein und richtete von der Frau Magnifikussin an den Herrn Magnifikus ein Kompliment aus, und er möchte doch sich nach Haus salvieren, weil die Studenten allerhand verdächtige Bewegungen machen.
„Ist das nicht der klarste Beweis gegen Ihre geheimen Umtriebe, lieber Herr von Barbe?“ sprach die Magnifizenz in kläglichem Tone. „Aber der Aufruhr steigt, videant Consules ne quid detrimenti[WS 1] – man nehme seine Maßregeln; – daß auch der Teufel gerade in meine Amtsführung alle fatalen Händel [244] bringen muß! – Domine Collega, Herr Doktor Pfeffer, was stimmen Sie?“
„Es ist eigentlich noch kein Votum zur Abstimmung vorgebracht und zur Reife gediehen, ich rate aber, Herrn von Barbe bis auf weiteres zu entlassen, und ihm –“
„Richtig, gut“, rief der Rektor, „Sie können abtreten, wertgeschätzter junger Freund, beruhigen Sie Ihre Kameraden, Sie sehen selbst, wie glimpflich wir mit Ihnen verfahren sind, und zu einer gelegeneren Stunde werden wir uns wieder die Ehre ausbitten; damit aber die Sache kein solches Aufsehen mehr erregt – weiß Gott, der Aufruhr steigt, ich höre pereat – so kommen Sie morgen abend alle zum Thee zu mir, Sie auch, lieber Barbe, da denn die Sachen weiter besprochen werden können.“
Ich konnte mich kaum enthalten, den ängstlichen Herren ins Gesicht zu lachen. Sie saßen da, wie von Gott verlassen und wünschten sich in Abrahams Schoß, das heißt in den ruhigen Hafen ihres weiten Lehnstuhls.
„Was steht nicht von einer erhitzten Jugend zu erwarten?“ klagten sie; „seitdem etzliche Lehrer von den Kathedern gestiegen sind und sich unter diese himmelstürmende Kyklopen gemischt haben, ist keine Ehrfurcht, kein Respekt mehr da. Man muß befürchten, wie schlechte Schauspieler ausgepfiffen oder am hellen Tage insultiert zu werden.“
„Vom Erstechen will ich gar nicht reden“, sagte ein anderer, „es sollte eigentlich jeder Litteratus, der nicht alle Wege ein gut Gewissen hat, einen Brustharnisch unter dem Kamisol tragen.“
Indessen die Philister also klagten, dankte ich meinen Kommilitonen für ihre Aufmerksamkeit für mich, sagte ihnen, daß sie nachts viel bessere Gelegenheit zum Fenstereinwerfen haben, und bewog sie durch Bitten und Vorstellungen, daß sie abzogen. Sie marschierten in geschlossenen Reihen durch das erschreckte Städtchen und sangen ihr „Ça ira, ça ira“[20], nämlich: „Die Burschen-Freiheit lebe“ und das erhabene „Rautsch, rautsch, rautschitschi, Revolution!“
[245] Ich ging wieder in den Saal zurück und sagte den noch versammelten Herren, daß sie gar nichts zu befürchten haben, weil ich die Herrn Studiosen vermocht habe, nach Hause zu gehen. Beschämung und Zorn rötete jetzt die bleichen Gesichter, und mein bißchen Psychologie mußte mich ganz getäuscht haben, wenn mich die Herren nicht ihre Angst entgelten ließen. Und gewiß! meine Ahnung hatte mich nicht betrogen. Magnifikus ging ans Fenster, um sich selbst zu überzeugen, daß die Aufrührer abgezogen seien; dann wendete er sich mit erhabener Miene zu mir, und er, der noch vor einer Viertelstunde „mein wertgeschätzter Freund“ zu mir sagte, herrschte mir jetzt zu: „Wir können das Verhör weiter fortführen, Delinquent mag sich setzen!“
So sind die Menschen; nichts vergißt der Höhere so leicht, als daß der Niedere ihm in der Stunde der Not zu Hülfe eilte, nichts sucht er sogar eifriger zu vergessen, als jene Not, wenn er sich dabei eine Blöße gegeben, deren er sich zu schämen hat.
Nach der Miene des Magnifikus richteten sich auch die seiner Kollegen. Sie behandelten mich grob und mürrisch. Der Rektor entwickelte mit großer Gelehrsamkeit den ersten Anklagepunkt.
„Demagog kömmt her von δημος und ἀγειν. Das eine heißt Volk, das andere führen oder verführen. Wer ist nach diesem Begriff mehr Demagog, als Sie? Haben wir nicht in Erfahrung gebracht, daß Sie die jungen Leute zum Trinken verleiteten? Daß Sie neue Lieder und Kartenspiele hieher verpflanzten? Auch von andern Orten werden diese Sachen als die sichersten Symptome der Demagogie angeführt; folglich sind Sie ein Demagog.“
Mit triumphierendem Lächeln wandte er sich zu seinen Kollegen; „Habe ich nicht recht, Doktor Pfeffer? Nicht recht, Herr Professor Saper?“ – „Vollkommen, Euer Magnifizenz“, versicherten jene und schnupften.
„Zweitens, jetzt kommt der andere Punkt“, fuhr der Mediziner fort; „das Turnen ist eine Erfindung des Teufels und der Demagogen, es ist, um mich so auszudrücken, eine vaterlandsverräterische Ausbildung der körperlichen Kräfte. Da nun die Turnplätze eigentlich die Tierparks und Salzlecken des demagogischen Wildes, Sie aber, wie wir in Erfahrung gebracht haben, [246] einer der eminentesten Turner sind: so haben Sie sich durch Ihre Saltus mortales und Ihre übrigen Künste als einen kleinen Jahn[21], einen offenbaren Demagogen gezeigt. Habe ich nicht recht, Herr Doktor Bruttler? Sage ich nicht die Wahrheit, Herr Doktor Schrag?“
„Vollkommen, Euer Magnifizenz!“ versicherten diese und schnupften.
„Demagogen“, fuhr er fort, „Demagogen schleichen sich ohne bestimmten äußern Zweck ins Land und suchen da Feuer einzulegen; sie sind unstäte Leute, denen man ihre Verdächtigkeit gleich ansieht; der Herr Studiosus von Barbe ist ohne bestimmten Zweck hier, denn er läuft in allen Kollegien und Wissenschaften umher, ohne sie für immer zu frequentieren oder gar nachzuschreiben; was folgt? Er hat sich der Demagogie sehr verdächtig gemacht; ich füge gleich den vierten Grund bei: man hat bemerkt, daß Demagogen, vielleicht von geheimen Bünden ausgerüstet, viel Geld zeigen und die Leute an sich locken; wer hat sich in diesem Punkt der Anklage würdiger gemacht, als Delinquent? Habe ich nicht recht, meine Herren?“
„Sehr scharfsinnig, vollkommen!“ antworteten die Aufgerufenen unisono und ließen die Dose herumgehen.
Mit Majestät richtete sich Magnifikus auf: „Wir glauben hinlänglich bewiesen zu haben, daß Sie, Herr Studiosus Friedrich von Barbe, in dem Verdacht geheimer Umtriebe stecken; wir sind aber weit entfernt, ohne den Beklagten anzuhören, ein Urteil zu fällen, darum verteidigen Sie sich. – Aber mein Gott! wie die Zeit herumgeht, da läutet es schon zu Mittag; ich denke, der Herr kann seine Verteidigung im Karcer schriftlich abfassen; somit wäre die Sitzung aufgehoben; wünsche gesegnete Mahlzeit, meine Herren.“
So schloß sich mein merkwürdiges Verhör. Im Karcer entwarf ich eine Verteidigung, die den Herren einleuchten mochte. Wahrscheinlicher aber ist mir, daß sie sich scheuten, einen jungen [247] Mann, der so viel Geld ausgab, aus ihrer guten Stadt zu verbannen. Sie gaben mir daher den Bescheid, daß man mich aus besonderer Rücksicht diesmal noch mit dem Konzilium verschonen wolle, und setzten mich wieder auf freien Fuß.
Als Demagog eingekerkert zu sein, als Märtyrer der guten Sache gelitten zu haben, zog einen neuen Nimbus um meinen Scheitel, und im Triumph wurde ich aus dem Karcer nach Haus begleitet; aber die Freude sollte nicht lange dauern. Ich hatte jetzt so ziemlich meinen Zweck, der mich in jene Stadt geführt hatte, erreicht und gedachte weiter zu gehen. Ich hatte mir aber vorgenommen, vorher noch den Titel eines Doktors der Philosophie auf gerechtem Wege zu erringen. Ich schrieb daher eine gelehrte Dissertation, und zwar über ein Thema, das mir am nächsten lag, de rebus diabolicis, ließ sie drucken und verteidigte sie öffentlich; wie ich meine Gegner und Opponenten tüchtig zusammengehauen, erzähle ich nicht aus Bescheidenheit; einen Auszug aus meiner Dissertation habe ich übrigens dem geneigten Leser beigelegt.[AU 2]
Post exantlata oder nachdem ich den Doktorhut errungen hatte, gab ich einen ungeheuern Schmaus, wobei manche Seele auf ewig mein wurde. Solange noch die guten Jungen meinen Champagner und Burgunder mit schwerer Zunge prüften, ließ ich meine Rappen vorführen und sagte der lieben Musenstadt Valet. Die Rechnung des Doktorschmauses aber überbrachte der Wirt am Morgen den erstaunten Gästen, und manches Pochen des ungestümen Gläubigers, das sie aus den süßen Morgenträumen weckte, mancher bedeutende Abzug am Wechsel erinnerte sie auch in spätern Zeiten an den berühmten Doktorschmaus und an ihren guten Freund, den Satan.
- ↑ Gemeint ist Gajus Julius Cäsar (100–44 v. Chr.), der in den Werken „Commentarii de bello Gallico“ und „De bello civili“ seine Feldzüge und Beobachtungen beschreibt.
- ↑ François Jos. Talma (1763–1826), großer tragischer Schauspieler am Théâtre Français zu Paris.
- ↑ D. h. „Die Welt will betrogen sein“.
- ↑ D. h. „Ein Geistlicher nimmt von einem andern Geistlichen keinen Zehnten“, in der Bedeutung des Sprichwortes: „Eine Krähe hackt der andern die Augen nicht aus.“
- ↑ διαβάλλω, d. h. verleumden, verlästern.
- ↑ Besonders seit Meßmers Versuchen in Wien 1773.
- ↑ Friedr. Anton Meßmer (1734–1815) war Arzt; von phantastischen Ideen erfüllt, suchte er auf Grund grober Selbsttäuschung mittels des sogen. tierischen Magnetismus allerlei Heilungen vorzunehmen, welche die medizinische Wissenschaft als Betrügereien verwarf.
- ↑ Griechische Schriftzeichen.
- ↑ Theod. Ant. Heinr. Schmalz (1760–1831), Professor der Rechte, hetzte in seiner Schrift „Berichtigung einer Stelle in der Veturinischen Chronik für das Jahr 1806“ (Berlin 1815) gegen den Tugendbund und den liberalen Geist der Zeit.
- ↑ Gemeint sind die Aktenstücke über den Prozeß gegen Karl Ludwig Sand (geb. 1795), der am 23. März 1819 den verhaßten Feind der freien akademischen Jugend, den russischen Staatsrat von Kotzebue, ermordet hatte und dafür am 20. Mai 1820 hingerichtet wurde.
- ↑ Haupts Buch „Landsmannschaften und Burschenschaft“ (Leipzig 1820).
- ↑ Just. Friedr. Wilh. Zachariä (1726–77), Dichter komischer Epopöen, besonders des Heldengedichtes „Der Renommist“ (1744).
- ↑ H. E. G. Paulus (1761–1851), rationalistischer Theolog, Prof. in Heidelberg.
- ↑ D. i. ein besonders für das Auswerfen von Laufgräben bestimmter Pionier.
- ↑ Joh. David Michaelis (1717–91), namhafter protestantischer Theolog und Begründer der historisch-kritischen Erklärung des Alten Testaments.
- ↑ Joh. Christoph Döderlein (1745–92), hervorragender protestantischer Theolog; von besonderer Bedeutung sind seine Schriften: „Curae criticae et exegeticae in quaedam Veteris Testamenti oracula“, Altdorf 1770, und „Institutio theologiae christianae“, Altdorf 1780.
- ↑ D. h. unreine Luft.
- ↑ William Hogarth (1697–1764), engl. Zeichner, Maler und Kupferstecher, besonders bekannt durch seine humoristischen und satirischen Genrebilder, in denen er Albernheiten und Laster des gesellschaftlichen Lebens verspottet; so in den Bildern: das Leben einer Buhlerin, das Leben eines Liederlichen u. s. w.
- ↑ Gehilfen des Pedells, Art Unterpedelle.
- ↑ Bekanntes französisches Revolutionslied (carillon national) von 1789 mit dem Refrain: „Ah! ça ira, ça ira, ça ira! Les aristocrats à la lanterne!“
- ↑ Der sogen. „Turnvater“ Friedr. Ludw. Jahn (1778–1852) wurde 1819 als Demagog verhaftet und 1824 zu zweijähriger Festungshaft verurteilt, 1825 aber freigesprochen.
Anmerkungen des Autors
Anmerkungen (Wikisource)
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