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Mirax

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Autor: Kurd Laßwitz
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Titel: Mirax
Untertitel: Träume eines modernen Geistersehers, erläutert durch Träume moderner Metaphysik.
aus: Seifenblasen. Moderne Märchen. S. 178–208.
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Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1890
Verlag: Leopold Voß
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Erscheinungsort: Hamburg und Leipzig
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Quelle: UB Düsseldorf, Deutsches Textarchiv und Commons
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[178]

Mirax.


Träume eines modernen Geistersehers, erläutert durch Träume moderner Metaphysik.




Heino Mirax hatte eben in der Zeitschrift „Mysterium“, Organ für übersinnliche Weltanschauung und Experimental-Metaphysik, einen seiner tiefsinnigsten Artikel veröffentlicht: „Über die Anwendung der Entwickelungstheorie auf die künstliche Züchtung der Weltseele.“

Man fand denselben epochemachend überall, wo man überzeugt war, daß die moderne Wissenschaft auf dem Holzwege sei. Daß sie sich in der That auf dem Holzwege befindet und umkehren muß, ergiebt sich für einen Kopf, der nicht durch gelehrte Studien gründlich verdorben ist, äußerst einfach. Es ist nämlich ungemein schwer, den gesamten Gedankenvorrat richtig zu verdauen, welchen die Geistesarbeit von Generationen unter dem Namen der Wissenschaft angehäuft hat. Der Mensch möchte doch aber gern etwas vom tiefsten Wesen der Welt verstehen, ohne ein halbes Leben lang darüber zu studieren. Da es nun nicht mehr möglich ist, beim Zeitungslesen nebenbei zur Wissenschaft zu gelangen, so muß die Wissenschaft zum Menschen kommen, der so beschränkt [179] in seiner Zeit ist; das heißt, sie muß umkehren, sie muß wieder einfach werden, so einfach, daß ein jeder sie versteht, der nur hin und wieder einen Blick in ein Journal wirft.

Es ist eines der gelehrten Vorurteile, welche endlich ausgerottet werden müssen, daß es schwierig sei, eine Wissenschaft zu reformieren. Man braucht dazu weiter nichts als einige Principien und eine Methode. Heino Mirax hatte beides.

Als Principien nahm er irgend welche beliebigen Sätze aus dem täglichen Leben, aus dem Sprichwörter- oder Märchenschatze der Völker oder aus einer der umzukehrenden Wissenschaften, vorausgesetzt nur, daß sie niemand bezweifeln konnte. So z. B.: „Man muß das Eisen schmieden, so lange es heiß ist“, oder: „Ein Tischlein-deck-dich wäre eine schöne Sache“, oder auch den ziemlich feststehenden Satz: „Die lebenden Wesen sind in einem allmählichen Vervollkommnungsprozesse begriffen.“

Seine Methode bestand darin, daß er diese Sätze auf ein beliebiges fremdes Gebiet anwandte, nur mit der Vorsicht, daß man auf keine Art nachweisen konnte, ob sie dort auch anwendbar wären. Darin lag eben das Neue, wodurch er die schwierigsten Rätsel des Daseins mit Leichtigkeit löste. So bewies er z. B., daß es auf der Sonne Bewohner gäbe, welche sich von Meteorsteinen nährten. Denn da man das Eisen schmieden muß, so lange es heiß ist, da aber die Spektralanalyse nachweist, daß es auf der Sonne glühende Eisendämpfe giebt, so muß es auch Wesen auf der [180] Sonne geben, welche das Eisen schmieden; und da ein „Tischlein-deck’-dich“ eine hübsche Sache ist, so steht zu vermuten, daß jene Wesen auch gern vom Himmel gefallene Speisen haben möchten. Nun fallen aber die Meteorsteine vom Himmel und bestehen aus Eisen — folglich sind sie die Lieblingsspeise der Sonnenbewohner. Da endlich wir Menschen noch nicht Eisen verdauen können, die lebenden Wesen jedoch in einer Fortentwickelung begriffen sind, und endlich die Sonne älter ist als die Erde, so folgt daraus: 1) Die Sonnenbewohner sind höher organisierte Wesen als die Menschen; 2) die Menschen werden später dazu kommen, Eisen zu verdauen; 3) in einer — allerdings noch weit entfernten — Zukunft wird man zum Nachtisch den Gästen Granaten in den Mund schießen. Es muß freilich hinzugefügt werden, daß die letzte Folgerung nicht von allen Anhängern des Heino Mirax zugegeben wurde, und daß sie auch in der That nicht ganz unbedenklich ist; die Neu-Miraxianer, welche dieselbe leugnen, haben vielleicht recht. Aber auf Grund der beiden ersten Sätze hatte sich Mirax eine zuverlässige Schule geschaffen, welche alle umfaßte, die das Bedürfnis hatten, etwas bisher gänzlich Unbekanntes durch eine unbefangenere Logik zu erfahren. Sie erklärten Heino Mirax für einen der tiefsinnigsten und zugleich klarsten Denker aller Zeiten. Er auch.

Aber Mirax führte nicht nur die Naturforschung neue Wege, er brachte auch die Philosophie in erstaunlichen Schwung. Es ist unleugbar, daß ein Faß Wein nicht ausläuft, wenn man nur ein einziges kleines Loch [181] hineinbohrt; daß dagegen der ganze Inhalt ausströmt, wenn man dem Fasse den Boden ausschlägt. Auch muß zugegeben werden, daß das Gedächtnis gewissermaßen das Gefäß ist, welches das Gesamtwissen der Menschheit zusammenhält. Mirax berief sich in dieser Hinsicht auf Kant und Goethe, und man weiß, daß Mirax ein Kenner dieser nicht unbedeutenden Schriftsteller ist. Das lächerliche Geschrei einiger Professoren, daß sich ein solcher Ausspruch weder bei Kant noch bei Goethe finde, noch auch nach der ganzen Eigenart dieser Geister bei ihnen sich finden könne, ist als lediglich dem Brotneid entstammend kurzer Hand zurückzuweisen. Man darf zuversichtlich erwarten, daß kein Miraxianer die Schriften jener Männer selbst nachlesen wird. Mit Hilfe der beiden obigen Prinzipien schloß Mirax, daß, wenn man nur in das Gedächtnis der Menschheit ein genügend großes Loch schlagen könnte, sofort der gesamte Wissensinhalt auslaufen würde. Man müßte denselben alsdann auffangen und auf Flaschen ziehen. Darauf wollte er seine neue Pädagogik gründen und so die Erziehung der Menschheit endlich in Ordnung bringen. Die Zeitschrift „Mysterium“ veröffentlichte eine Reihe von Artikeln, worin mit Repliken und Dupliken heftig gekämpft wurde, welche Gestalt die anzuwendenden Geistflaschen haben sollten; es ist bedauerlich, daß darüber Streit entstehen konnte, da die altdeutsche Form des „Nürnberger Trichters“ zweifellos die einzige ist, welche der nationalen Würde entspricht. Hoffentlich nimmt der Staat bald die Sache in die Hand.

[182] Nicht zufrieden mit seinen bisherigen Erfolgen gedachte Heino Mirax nunmehr die Weltentwickelung überhaupt in beschleunigtere Gangart zu versetzen. Längst hatte er erkannt, daß die Schwäche der modernen Naturwissenschaft in ihrer Beschränkung auf die Gesetze der stofflichen Welt bestehe. Mit dem Ausmessen und Berechnen der Sternenbahnen, der Erforschung von Land und Meer, dem Abwägen von Kohlenstoff und Sauerstoff, mit der Beobachtung der Nervenprozesse, der Zellenbildung, der organischen Fortpflanzung — mit alledem flickt man ja doch nur an dem äußeren Gewande der Natur herum. Man mag dadurch die materielle Welt beherrschen, aber man lenkt sie nur künstlich wie ein Pferd am Zügel, nicht durch die Anfeuerung des inneren Triebes. Mirax ging tiefer; er beschloß, die Weltseele selbst zu züchten.

Es ist einleuchtend, daß die gesamte Natur ebenso gut wie der Mensch ein inneres Bewußtsein, ein Gefühl ihrer selbst besitzt. Die alten Griechen bis Plato waren darüber nicht im Zweifel gewesen; erst die moderne Wissenschaft seit Descartes und Galilei hatte es vergessen. Nicht so Mirax; er griff der Natur in den Busen, von innen heraus wollte er sie fördern. Man sage nicht, daß eben der Körper das Einzige sei, wodurch der Geist zugänglich und anderen vermittelt werde. Die Experimente über den körperlosen Verkehr der Geister haben diese Ansicht widerlegt; das Hellsehen und der Spiritismus bilden von nun ab die Mittel, der Natur nicht mehr auf den Leib, sondern direkt auf die Seele [183] zu rücken. „Der Darwinismus muß spirituell werden!“ Mirax sprach das große Wort gelassen aus. Noch mehr! Die Weltseele muß künstlich gezüchtet werden! Nicht mehr die Naturkräfte — Licht und Wärme — und die Naturerscheinungen — Sternenhimmel, Atmosphäre, Erdrinde — dürfen das Objekt der Wissenschaft bilden, sondern die Naturseelen, die Geister, welche die Innenseite dieser Kräfte und Erscheinungen repräsentieren. Unmittelbar auf die Elementargeister sollte man wirken, in ihnen den Trieb nach Vervollkommnung wecken, und durch künstliche Auslese, Zuchtwahl und Vererbung — denn warum sollen nicht auch die Geister sich fortpflanzen? — sie zu einer gedeihlicheren Entfaltung ihrer Kräfte bringen. Man braucht dann nicht mehr die Gesetze der Elektricität mühsam zu studieren; man ruft den Geist derselben — nennen wir ihn Elektra — und veranlaßt ihn, uns ohne Draht und Batterie zu dienen. Schon Faust hatte etwas Ähnliches gewollt, als er seine Geister beschwor; aber in jenem dunklen Zeitalter fehlten ihm noch die Mittel zur richtigen Durchführung, und deshalb hätte Goethe auch besser gethan, den Faust nicht zu schreiben. Mirax wußte die Sache methodischer anzufassen. Das Darwinsche Grundgesetz von der fortschreitenden Entwickelung der Organismen steht fest. Beruht nun diese Entwickelung auf dem mechanischen Einflusse der Naturkräfte? Da hat Häckel offenbar vorbeigeschossen; das Bewußtsein selbst ist es, welches zu entfalten ist! Mirax wandte das Entwickelungsgesetz auf die Elementarseelen an. Der [184] Erdball hat eine Seele. Sie befindet sich noch in einem unvollkommenen Zustande des Bewußtseins. Wenn es nun gelänge, die Erdseele zu erziehen, zu entwickeln von innen heraus, welche Fülle von irdischem Fortschritt müßte sich ergeben! Was nützt das Herumgraben und Analysieren in der gravitierenden Masse, die man Materie nennt! Das Ursprüngliche ist der psychische Zustand, das Bewußtsein, und diese Erde ist nur eine niedere Form, eine untergeordnete Seinsart des Geistes. Mirax zog die Konsequenz der neuesten Entdeckungen, indem er Spiritismus und Darwinismus zum metaphysischen Monismus oder sogenannten Mystotranscendentalismus verband. Wir Menschen sind die höchste Stufe der Wesensreihe, weil wir es bis zur Entwickelung des Selbstbewußtseins gebracht haben, zum Unterschiede von Ich und Welt, der wir gegenüberstehen. Jene niederen Geister, wie z. B. der Erdgeist, den die Geologen Erdrinde oder Lithosphäros nennen, sind noch nicht so weit. Sie haben ebenfalls Bewußtsein, aber sie sind bloßes Subject; sie erleben alles nur als wechselnde Zustände, ohne zu wissen, daß sie selbst es erleben, daß sie etwas sind und etwas vermögen. Wenn der Erdrindengeist z. B. es dazu brächte, Selbstbewußtsein zu erlangen, so würde er dem Menschen ebenbürtig, ja durch die Größe und Mannigfaltigkeit seines Körperbaues — der Erdrinde — ihm vielleicht überlegen sein. Und wenn auch die Menschheit darüber zu Grunde ginge, ihr Wesen selbst, die höhere Stufe des geistigen Seins, würde als Idee in dem zum Selbstbewußtsein [185] gekommenen Erdgeiste fortleben; er würde den Weltprozeß dort weiter denken, wo die Menschheit ihn abgebrochen hat.

Das ungefähr war der Gedankengang, welchen Heino Mirax in seinem Artikel „Über die Anwendung der Entwickelungstheorie auf die künstliche Züchtung der Weltseele“ durchgeführt hatte. Jetzt kam es nur noch darauf an, einen Elementargeist, also etwa den Geist der Erdrinde, zu veranlassen, daß er sich selbst über seine vielversprechende Zukunft aufkläre. Hätte er erst einmal eingesehen, daß ihm bloß das Selbstbewußtsein fehle, um in die höhere, ja die höchste Stufe des Geisterreichs einzurücken, so würde er sicher alles daran setzen, um zum Selbstbewußtsein zu gelangen. Welcher Erfolg, wenn Mirax diese künstliche Züchtung einer Seele der Natur zu Stande brächte!

Sollte es nicht genügen, daß der Erdgeist Gelegenheit bekäme die Abhandlung unseres Denkers zu lesen? Daß er ein niederer Geist ist, der vielleicht garnicht lesen kann, macht dabei nichts aus. Denn die Elementargeister sind, wie Mirax zweifellos festgestellt hat, nicht niedere Geister in dem Sinne, wie z. B. die Hunde es sind, welche im allgemeinen das Lesen nie lernen; sondern niedere Geister sind sie nur im mystotranscendentalen, nicht im organischen Sinne, sie sind ganz menschlicher Art, wie die Spirits, nur daß sie eben kein Selbstbewußtsein besitzen. Das ist gerade das Feine am Miraxianismus, daß er den bisher nur bekannten organischen durch den mystotranscendentalen Unterschied [186] ersetzt hat, und wer das nicht versteht, der ist nicht wert, daß die Wissenschaft um seinetwillen umkehre.

Um sich seiner Sache zu vergewissern, ließ Mirax noch den Geist des großen Theophrastus Bombastus Paracelsus von Hohenheim citieren, der sogleich erschien und ihm eröffnete, daß in der That der Erdrindengeist Lithosphäros ein Freund guter Lektüre sei. Die Einwirkung durch die Presse sei nicht nur für die politische Volksbildung, sondern auch für die mystotranscendentalentwickelungstheoretische Erziehung der Elementargeister der passendste und wirksamste Weg. Darum habe er auch seiner Zeit deutsch geschrieben. Aber die Adresse des Erdgeistes wußte er ihm nicht anzugeben. Das Sicherste sei, wenn Mirax mehrere Separatabzüge seiner Abhandlung in die tiefsten Bohrlöcher der Erdoberfläche hinabwerfen lasse. Heino Mirax fand zwar dieses Mittel etwas materialistisch; aber da es ein Experiment an wertlosen Objekten war, so konnte er es ja einmal probieren.




Der Erdgeist stand gerade in seinem Kasino auf der Kegelbahn und hatte soeben eine Kugel geschoben, daß sämtliche Porzellantassen in Mitteleuropa klapperten und die Geologen nach ihren Seismographen liefen, um zu sehen, ob es auch wirklich gebebt habe. Es waren da bei ihm noch einige außer Dienst gestellte Elementargeister, nämlich die pensionierten griechischen Götter Poseidon und Hephästos, welche aus Ärger über ihre Verbannung [187] von den Menschen jetzt dem Erdgeist im Kasino das Bier abgewannen; ferner ein abgestorbener Geisir aus Island und ein alter ausrangierter Gletscher, der mit der Zeit nicht mehr fortkommen konnte und deswegen zurückgegangen war. Diese Herren bildeten das Kegelkränzchen des Erdrindenkasinos, und es war recht gemütlich dort; denn sie sprachen alle nicht viel. Die Götter schwiegen, weil sie nicht deutsch verstanden und die anderen nicht griechisch. Der Geisir war heiser, denn seine Luftröhre saß ihm voll Kiselsinter; und der Gletscher hatte Schmerzen in seiner Stirnmoräne, woraus durch Mißverständnis des Geologischen der Name Migräne entstanden ist. Der Erdgeist sagte auch nichts, weil ihm nichts einfiel; aber er bezahlte, so oft er verlor, und das war die Hauptsache.

Als sich der Erdgeist aus seiner Keglerstellung wieder aufrichtete, stieß er mit dem Kopfe an eine stählerne Röhre, die inzwischen aus der Decke hervorgedrungen war.

„Potz Glimmer!“ schrie er, indem er die Spitze des Hohlbohrers abbrach. „Was sich nur da oben für ein Gesindel breit macht, das einem aller Ecken und Enden die Haut durchsticht!“

„Das ist vielleicht so ein Kabel,“ sagte der Gletscher, „wie sie es dem Vetter Meergreis um den Leib gelegt haben. Es soll gut gegen Rheumatismus sein.“

„Der Meergreis ist ein Esel,“ murmelte Poseidon. Aber weil er auf griechisch murmelte, so meinten die andern, es wäre etwas sehr Schönes und gaben ihm ganz Recht.

[188] „Ich bin mit einem Seehund befreundet,“ krächzte der Geisir; „der ist dort oben wohl bewandert; man sagt sogar, er sei ein Organismus, und als solcher —“

„Was ist denn das, ein Organismus?“ fragte der Erdgeist.

„Das weiß ich nicht genau, aber jedenfalls etwas sehr Vornehmes; denn er hat Verkehr mit den Zweibeinern, welche Sie in die Haut gestochen haben.“

„Wenn das ist,“ sagte der Erdgeist, und sah den Geisir wegen seiner hohen Bekanntschaft mit Interesse an, „so fragen Sie ihn nur einmal, was sich gegen das Krabbeln und Stechen in meine Rinde thun läßt.“

Dabei betrachtete er das abgebrochene Stück des Bohrers näher und bemerkte ein Papier in der Höhlung. Er zog es hervor und entfaltete die Abhandlung von Heino Mirax mit der Widmung: „Herrn Erdrindengeist Lithosphäros hochachtungsvoll der Verfasser.“ Das gefiel ihm, und er setzte sich sogleich auf sein Sopha, zündete ein Petroleumlager an und las, während die andern weiterkegelten.

Mirax hatte die schöne Eigenschaft so zu schreiben, daß sich jeder bei der Lektüre seiner Aufsätze etwas dachte, und zwar allemal das, was ihm gerade in sein Behagen paßte; das war eben die neue Methode der reformierten Wissenschaft und ihr verdankte er seine Beliebtheit. So dachte sich auch der Erdgeist das Seine und schmunzelte. Er las die Abhandlung zu Ende, legte sie dann unter seine Steinkohlenpresse und sagte:

[189] „Selbstbewußtsein also ist’s, was mir fehlt! Es ist mir nur lieb, daß ich das weiß; es war mir schon immer klar, daß ich noch zu etwas Höherem bestimmt sei. Ich brauche mir also nur das Selbstbewußtsein zu verschaffen. Wenn ich doch auch das noch wüßte, was das Selbstbewußtsein ist und wie man’s bekommt! Meine Herren, weiß keiner von Ihnen, was das Selbstbewußtsein ist?“

„Wenn Sie mir nicht sagen können, wie das auf griechisch heißt, so kann ich Ihnen nicht helfen,“ meinte Poseidon.

„Wenn mir nur meine Stirnmoräne nicht so weh thäte,“ rief der Gletscher, „dann würde ich’s gewiß wissen.“

„Ich bin mit einem Seehunde befreundet,“ grunzte der Geisir, „der ist sogar ein Organismus —“

„Das ist wahr,“ schrie der Erdgeist erfreut, „kommen Sie mit, wir wollen Ihren Seehund fragen. So ein Organismus muß das doch wissen.“

„Und er hat auch Verkehr mit den Zweibeinern,“ setzte der Geisir hinzu.

Sie kamen zu dem Seehund; der hatte sich gerade gewaschen, lag auf einer Eisscholle und philosophierte, d. h. die ganze Welt kam ihm als angenehme psychische Thatsache vor.

„Das ist hier der Herr Lithosphäros, Geist der Erdrinde,“ stellte der Geisir vor. „Sie würden, lieber Freund, mich sehr verbinden, wenn Sie ihm sagen wollten, was Selbstbewußtsein ist. Da Sie doch ein Organismus sind —“

[190] „Was, Organismus?“ unterbrach ihn der Seehund unwillig. „Ich bin sogar ein Wirbeltier, und ich würde, wenn nicht die klimatischen Verhältnisse so ungünstig wären, ohne Zweifel schon längst zur Menschenwürde avanciert sein. Ich habe, wie Sie wissen, Umgang mit —“

„Entschuldigen Sie vielmals,“ sprach der Erdgeist, „wir wissen wohl, daß Sie mit Zweibeinern verkehren. Sie können mir daher gewiß sagen, was Selbstbewußtsein ist und wie man es bekommen kann; Sie haben es vielleicht sogar selbst?“

„Selbstbewußtsein? Man ist sich nicht ganz klar darüber, ob ich es habe; sollte ich es aber haben, so würde ich es Ihnen gern zur Verfügung stellen, falls Sie nicht etwa mein Fell damit meinen. Fragen Sie indes doch meinen Freund, den Eskimo.“

„Der Herr Seehund meint den Menschen,“ erklärte der Geisir. „Aber warum wollen Sie ihn nicht selbst fragen?“

„Ja, sehen Sie, unser Verkehr — nun natürlich, wir verkehren mit einander, das versteht sich von selbst — aber, der Verkehr ist etwas einseitig, wir verstehen uns nicht immer. Natürlich nur eine kleine Verschnupfung, bei diesem Klima erklärlich.“

„Und worin besteht Ihr Verkehr, wenn ich fragen darf?“

„Er sticht nach mir mit seinem Spieße, und meine Familie liefert ihm dafür den Thran. Grüßen Sie ihn nur von mir.“ [191] Damit schlüpfte der Seehund ins Wasser.

Der Erdgeist begab sich nun zum Eskimo, und der Geisir fragte diesen, was Selbstbewußtsein wäre. Der Eskimo meinte, davon wüßte er nichts. Aber der Geisir setzte ihm auseinander, daß er es ganz bestimmt besäße, denn er sei ja ein Mensch; und das Selbstbewußtsein sei eben das, was den Menschen auszeichne, und es sei das Beste an ihm.

Da lachte der Eskimo und meinte, das hätte er ihm nur gleich sagen sollen; wenn es das Beste an ihm sei, so wolle er es ihm gern zeigen; er meine jedenfalls seinen Thranvorrat. Aber geben könne er ihm nichts davon. Wenn er indessen seine Frau mitnehmen wolle, so könnten sie sich eher einigen.

Der Erdgeist sah ein, daß er hier nicht an den Rechten gekommen war, und beschloß, die Menschen aufzusuchen, welche Bohrlöcher machen und Abhandlungen schreiben. Er reiste also nach Süden. Der Geisir jedoch blieb zurück; er erklärte, es werde ihm dort zu warm, und außerdem würde ihm sein Freund, der Seehund, das übel nehmen.

Kaum war der Erdgeist nach Deutschland gekommen, als er alle Leute, die ihm begegneten, fragte, was Selbstbewußtsein sei und wie man es bekomme. Sie schüttelten aber den Kopf und verstanden nicht, was er meinte. Endlich sagte ihm einer:

„Selbstbewußtsein? Das ist nämlich, wenn man sich was einbildet. So was können Sie bei uns überall finden. Gehen Sie man ruhig nach Berlin, das [192] kenn’ ich, weil ich dort gedient habe, und fragen Sie da, wo die eingebildetsten Leute sind.“

Sofort reiste der Erdgeist nach Berlin und fragte den Portier in seinem Hotel, wo die eingebildetsten Leute seien.

Der Portier konnte sich natürlich nicht denken, daß Jemand die eingebildetsten Leute suche; er glaubte sich verhört zu haben, jedenfalls sei er nach den feingebildetsten Leuten gefragt worden. Daher sagte er:

„Die feingebildetsten Leute, mein Herr, sind die Herren Oberkellner der großen Hotels. Sie sprechen sämtliche Sprachen, machen die feinsten Verbeugungen und haben die neuesten Fräcke. Die gebildetsten Leute sind nächstdem die Herren Redakteure und Journalisten. Sie wissen alles und müssen auch alles wissen, und wenn sie etwas nicht wissen, so brauchen sie sich bloß hinzusetzen, um darüber zu schreiben, alsdann weiß es jedenfalls bald das Publikum. Recht gebildete Leute findet man übrigens auch zuweilen unter den Herren Geheimräten, Professoren, Kommerzienräten und geborenen Baronen.“

Der Erdgeist staunte über diese ungeheuere Menge von Leuten, welche, wie er meinte, sich über den Begriff des Selbstbewußtseins klar seien. Sein Respekt vor dem Menschengeschlechte stieg, seine Begierde nach dem Selbstbewußtsein wurde noch heftiger. Er ging zunächst zu dem Oberkellner und fragte ihn, was Selbstbewußtsein sei.

Der Oberkellner sah ihn von oben bis unten [193] an, und da er ihm etwas schäbig vorkam, so näselte er:

„Selbstbewußtsein ist, wenn man nicht unter fünf Mark Trinkgeld nimmt.“

„Können Sie mir nicht etwas davon ablassen?“ fragte der Erdgeist.

„Nun, weil Sie es sind,“ sagte der Oberkellner, „so will ich ausnahmsweise auch vier Mark annehmen.“

Da aber der Erdgeist keine Miene machte in die Tasche zu greifen, so begleitete ihn der Oberkellner an die Thür.

Der Erdgeist ging auf das nächste Redaktionsbureau. Der Redakteur für das Feuilleton schwitzte gerade über seiner Sonntagsplauderei. Als er die seltsame Erscheinung des Erdgeistes sah, hoffte er auf einen interessanten Stoff und empfing ihn sehr höflich.

Gleich bei der stereotypen Frage des Erdgeistes erkannte der Redakteur, daß er es mit einem Original zu thun habe, glaubte aber, der Erdgeist wolle ihm einen Artikel anbieten. Er sagte daher:

„Selbstbewußtsein, mein Herr, ist ein philosophischer Begriff. Man hat darüber verschiedene Theorien, welche Sie im Konversationslexikon angedeutet finden. Sie müssen wissen, daß ich mich außerordentlich für Philosophie interessiere, ich beschäftige mich selbst damit in meinen Mußestunden. Aber schreiben Sie um Himmelswillen nicht darüber! Ich zwar, für meine Person, würde Ihren Artikel mit Vergnügen lesen. Jedoch das Publikum! Ich bitte Sie, wie können wir unserem Publikum so [194] etwas bieten! Die Zeitung verlöre sämtliche Abonnenten. Nur nichts Philosophisches! Das Publikum mag davon nichts wissen. Nur nichts, was ernste Aufmerksamkeit erfordert! Höchstens noch ein paar Gespenstergeschichten, wie sie Mirax erzählt; aber mit ein paar Skataufgaben wäre mir besser gedient.“

Da der Erdgeist sah, daß er auch hier nicht zu seinem Ziele kommen würde, so verabschiedete er sich und beschloß sich nunmehr an die Herren Geheimräte zu wenden. Aber wie viele er auch fragte, über das Selbstbewußtsein konnte er keine Auskunft erlangen.

Ein Geheimer Medizinalrat hörte ihn aufmerksam an, befühlte seinen Kopf, sah ihm in die Augen und ließ sich die Zunge herausstrecken. Dann sagte er:

„Das Selbstbewußtsein beruht vermutlich auf der Thätigkeit der Großhirnrinde. Es scheint, daß Sie kein normal entwickeltes Großhirn besitzen. Wenn es Ihnen gelänge, durch sorgfältige Kopfmassage die Hirnthätigkeit zu stärken, so wäre es möglich, daß Ihre geistige Organisation sich vervollkommnete. Auf jeden Fall sind Sie von meinen Kollegen falsch behandelt worden; sie verstehen sämtlich nichts. Im Übrigen rate ich Ihnen zu dem von mir empfohlenen Kraftleguminosen-Extrakt. Mit den philosophischen Begriffen aber quälen Sie sich nicht weiter ab; das ist alles dummes Zeug. Was uns nicht in den Organen wächst, das kann uns auch nichts helfen. Die Konsultation kostet fünfzig Mark, die mein Diener in Empfang nimmt. Adieu!“ [195] Endlich trat der Geist in das Kontor eines Kommerzienrates. Das war ein leutseliger Herr, der ihn zum Frühstück einlud, als er merkte, daß er ihn nicht anpumpen wollte. Als sie ein paar Gläschen Wein getrunken hatten, klopfte er ihm auf die Schulter und sagte:

„Lieber Herr, sehen Sie, ich bin ein Mann von allgemeinen Interessen, ein Mann, der ein Herz hat für sein Volk und sein Vaterland, und ich bin ein praktischer Mann. Man weiß das, und man wendet sich an mich. Ich gebe immer, wo es heißt, für Kunst und Wissenschaft etwas zu thun. Entrieren Sie ein wissenschaftliches Unternehmen, das Geld kostet, es soll an mir nicht fehlen. Veranstalten Sie eine Polarexpedition, eine Tiefbohrung, einen Explosivstoffversuch — aber mit Selbstbewußtsein und Bewußtsein und dem philosophischen Zeug bleiben Sie mir vom Leibe! Ich habe noch nie gehört, daß man für die Philosophie Geld verlangt oder ausgegeben hätte, folglich kann sie auch nichts wert sein. Ich versichere Sie — und Sie können mir das glauben, weil ich mitten im Leben stehe und die Welt kenne —: kein Mensch mag heutzutage von Philosophie etwas wissen.“

„Aber ich habe doch gelesen,“ bemerkte der Erdgeist schüchtern, der durch seinen Umgang mit Menschen schon einigermaßen gebildet geworden war und sich jetzt an einige Sätze aus der Abhandlung von Mirax erinnerte, „das eigentliche Wesen der Welt ist der Geist, und wer sich auf eine höhere Stufe des Geistes erheben könnte, [196] der würde dadurch den Weltprozeß selbst wesentlich fördern.“

„Ob Sie den Weltprozeß damit fördern,“ erwiderte der Kommerzienrat, „das verstehe ich nicht; aber ich rate Ihnen, fördern Sie lieber Steinkohlen oder Strontianit, das wird Sie selbst mehr fördern. Ich habe da einen Neffen, der hat Philosophie studiert und schreibt den ganzen Tag, aber ich glaube nicht, daß ihm jemand etwas für seine Bücher giebt.“

„Ein Philosoph, der Bücher schreibt?“ rief der Erdgeist in der frohen Erwartung, endlich sein Ziel gefunden zu haben. „Das ist vielleicht Heino Mirax?“

„O! Mirax? Der berühmte Mirax? Ja, wenn er der wäre! Der versteht es! Sehen Sie, der Mann macht Geld, der schreibt in alle unsere großen Revüen, und seine Bücher haben viele Auflagen. Das lasse ich mir gefallen! Aber mein Neffe meint, das sei überhaupt keine Philosophie, sondern Schwindel! Nun, sehen Sie, im Vertrauen gesagt, ich kann es nicht beurteilen. Ich lese Mirax, weil es Mode ist, und man kann sich etwas dabei denken. Es kitzelt uns. Der Mann enthüllt die tiefsten Geheimnisse der Welt, wie unsereiner sein Pult aufschließt; es macht ihm gar keine Mühe. Was geht es mich an, ob er dabei flunkert? Das ist nicht mein Fach; wenn er eine Anleihe aufnehmen will, werde ich ihn mir näher ansehen. Aber seine Bücher lese ich wie einen Roman; da freut es unsereinen, wenn man so schön sieht, wie sich der Geist entwickelt und wie der [197] Mensch später aussehen und speisen wird, und wie es unserer verstorbenen Urgroßmutter geht.“

„So sehen Sie doch, daß das Publikum an der Philosophie Anteil nimmt.“

„Ja, wenn Sie es so meinen — aber es ist doch eigentlich nur des Spaßes halber; ich glaube nicht, daß sich einer im Ernste darauf verläßt. Man macht es eben mit, bis wieder einmal ein anderer kommt. Und dann, wie gesagt, mein Neffe hält nichts davon, und ich dachte, Sie meinten mit Philosophie die Beschäftigung meines Neffen. Und das, was dieser treibt, soviel kann ich Sie versichern, das versteht einer nicht so leicht. Aber wenn Sie es einmal versuchen wollen — dort drüben wohnt er.“

Der Erdgeist ging zu dem Philosophen. Auf dem Wege dachte er, daß es doch eine bedenkliche Geschichte sein müsse mit dem Selbstbewußtsein, wenn die Menschen sich so wenig darum kümmerten und nichts damit anzufangen wüßten. Und die Philosophie! Die eine Art wurde nicht respektiert, weil sie bloß zur Befriedigung der Neugier dient, und die andere Art mochte überhaupt niemand näher ansehen. Sollte er nicht lieber ohne Selbstbewußtsein bleiben? Aber nun wollte er doch wenigstens noch einen Versuch machen.

Er war ungeduldig und ärgerlich geworden, und als er bei dem Philosophen eintrat, donnerte er ein wenig mit der Thür und rief ihn in seiner Erdgeistmanier an:

„Wie gelange ich zum Selbstbewußtsein?“

Der Philosoph sah ihn bedächtig an und sagte:

[198] „Wollen Sie nicht erst eine Cigarre nehmen? Bitte, hier. Und nun, womit kann ich dienen?“

„Ich bin der Erdgeist Lithosphäros,“ sprach der Geist etwas besänftigter, „und möchte wissen, was das Selbstbewußtsein ist, und wie man dazu gelangt.“

Der Philosoph lächelte ein wenig und sagte, indem er sich selbst eine Cigarre anzündete:

„Das Selbstbewußtsein ist die synthetische Einheit der Apperception, durch welche das Ich aus dem Zustande des lediglich subjektiven Erlebnisses heraustritt, indem es sich seinem Bewußtseinsinhalte als dem ihm gegebenen Objekte gegenübersetzt. Das selbstbewußte Bewußtsein unterscheidet sich von der bloßen Bewußtheit dadurch, daß es ein Verhältnis zu seinem Erlebnis besitzt. Somit wissen Sie, was das Selbstbewußtsein ist. Aber wie man dazu gelangen kann, wenn man es nicht besitzt, das ist eine Frage, die niemand beantworten kann, weil sie über die Grenzen der Erfahrung hinausgeht. Wir können nur analysieren, was in unserem Bewußtsein gegeben ist; wie es hineinkommt, das ist eine unzulässige Frage, und sie zu diskutieren ist unwissenschaftlich.“

Mit diesen Worten wandte sich der Philosoph wieder zu seinen Büchern.

Der Erdgeist stand sehr niedergeschlagen da und sagte:

„Lieber Herr Philosoph, nehmen Sie es mir nicht übel, aber ich habe noch nicht recht verstanden, was Sie meinen. Könnten Sie mir die Sache nicht etwas populärer darstellen?“

[199] „Nein,“ entgegnete der Philosoph kurz, „das kann ich nicht; das wäre unter meiner Würde und würde mich als Gelehrten diskreditieren.“

„Aber giebt es denn wirklich keinen Weg zum Selbstbewußtsein zu gelangen?“

„Ich sage Ihnen ja, daß man hier nichts wissen kann. Der menschliche Verstand reicht nicht über seine Grenzen; wer Ihnen mehr verspricht, der phantasiert. Wenn Sie aber kein Selbstbewußtsein haben, so seien Sie froh, alsdann kann Sie die ganze Frage nichts kümmern. Die Rätsel des Daseins beginnen erst mit dem Augenblicke, wo Sie sich als Ich gegenüber der Welt erkennen; bleiben Sie in dem glücklichen Zustande, in welchem es nichts giebt als das unbesorgte Spiel Ihres eigenen Gemüts!“

„Aber Herr Mirax hat doch geschrieben —“

„Herr Mirax?“ rief der Philosoph und lachte laut. „Ja, wenn Sie Mirax gelesen haben, der weiß es freilich; der konstruiert Ihnen die Welt auf Bestellung und sieht überall Geister; der wird Ihnen auch sagen können, wie Sie zum Selbstbewußtsein kommen. Aber da müssen Sie sich schon zu ihm selbst bemühen. Ich empfehle mich Ihnen.“

Und so fragte sich denn der Erdgeist glücklich bis zu Heino Mirax hindurch. Da er ihm imponieren wollte, so erschien er ihm in seiner natürlichen Gestalt, wie er im Erdrindenkasino zu kegeln pflegte. Aber Mirax war an Geistererscheinungen gewöhnt, und so erregte Lithosphäros bei ihm wenig Schrecken. Als der Erdgeist seinen [200] Namen nannte, flog ein stolzes Lächeln über Mirax’ Züge. Sein großer Plan war gelungen, er hatte den Erdgeist beschworen, und jetzt sollte die Erziehung des Elementargeistes zum Vernunftwesen beginnen!

Nachdem Mirax dem Erdgeiste nochmals kurz die Grundzüge des Mystotranscendentalismus gepredigt hatte, ermahnte er ihn eindringlich, sich nunmehr um das Selbstbewußtsein zu bemühen, indem er ein Verhältnis zu sich selbst zu gewinnen strebe.

„Wenn Sie erst begreifen,“ sagte er, „daß Ihr ganzes Leben von Ihnen selbst erlebt wird; wenn Sie merken, daß Sie selbst etwas Anderes sind als das, was Ihnen begegnet; wenn Sie sich als Zuschauer Ihres eigenen Seins fühlen — dann haben Sie Selbstbewußtsein. Suchen Sie den Gegensatz von Ich und Welt zu erzwingen.“

„Und was kann ich dazu thun?“ fragte der Erdgeist etwas enttäuscht.

„Setzen Sie sich als Subjekt einem Objekt gegenüber. Haben Sie sich schon einmal verliebt?“

„Nein,“ sagte der Erdgeist beschämt.

„Nun, so versuchen Sie es,“ ermunterte ihn Mirax. „Wenn Sie etwas finden, von dem Sie fühlen, daß es zu Ihnen gehört, während es Ihnen doch nicht erreichbar ist, so hat die Spaltung des Bewußtseins begonnen. Dann werden Sie bald die Erscheinung der Erdoberfläche als Ihr äußeres Gewand erkennen, und Sie werden durch den Fortschritt Ihres Geistes im Stande sein, die Natur zu ungeahnter Vervollkommnung [201] zu bringen. Sie werden dann z. B. einsehen, daß es gut wäre, den Magen der Menschen zum Verdauen unmittelbar mineralischer Nahrung einzurichten, um uns den Sonnenbewohnern zu nähern; oder Sie könnten den Isthmus von Panama durchbrechen oder sonst eine Kulturaufgabe lösen. Derartige Leistungen erwarte ich von Ihnen, sobald Sie aus Ihrem elementaren Traumleben in das Reich der selbstbewußten Geister getreten sind. Nun versuchen Sie Ihr Heil und geben Sie mir bald wieder Nachricht, damit ich einen Artikel über Sie schreiben kann.“

„Wie?“ rief der Erdgeist unwillig. „Nur darum soll ich das Selbstbewußtsein erwerben, damit ich mich in den Dienst Eurer Kultur stelle? Damit ich Eure Arbeit auf meine Schultern nehme? Oder damit Sie einen Artikel schreiben können? Das will ich mir doch noch überlegen!“

Mit diesen Worten stampfte er auf den Boden, der ihn verschlang, während eine furchtbare Schwefelwasserstoffexhalation Heino Mirax’ Studierzimmer erfüllte.




Mit den Menschen freilich wollte der Erdgeist nun nichts mehr zu thun haben, nachdem er erkannt hatte, wie es um sie stand. Um das höchste ihrer Güter, das Selbstbewußtsein, kümmerten sie sich nicht; und ihm wollten sie nur davon mitteilen, um sich selbst das Leben zu erleichtern. Aber der Gedanke, ob er nicht zum [202] Selbstbewußtsein gelangen könne, ließ ihm doch keine Ruhe; er konnte ja dann immer noch thun und lassen, was er wollte. So suchte er nach einem Objekt, dem er sich gegenübersetzen könnte.

Sobald er etwas bemerkte, was ihm gefiel, machte er sogleich den Versuch, ob es ihm erreichbar sei. Der Geisir besaß eine schöne Tabakspfeife, denn er rauchte noch immer stark; aber kaum hatte der Erdgeist den Wunsch danach ausgesprochen, so wurde sie ihm schon dediciert. Und so ging es ihm mit Allem. Es gab wohl vielerlei, was er nicht erlangen konnte, so z. B. das Selbstbewußtsein; aber er fühlte nicht, daß diese Dinge zu ihm gehörten, und so nützten sie ihm nichts zur Spaltung des Bewußtseins. Was aber zu ihm gehörte, die eisigen Spitzen des Himalaya und die Glutbäche des Erdinnern, das gehorchte seiner Gewalt, und die Spiele seiner Geisterlaune waren die Gesetze der Natur.

Eines Tages ging er höchst verdrießlich auf Grönland spazieren, wo er eben den Seehund besucht hatte. Da sah er lichte Strahlen emporzucken, in bunten Feuern erglänzte das Firmament, ein herrliches Nordlicht enthüllte seine Pracht den staunenden Blicken des Erdgeistes. Er fühlte, daß diese Erscheinung zu ihm, zu seinem Erdleben gehöre, und er wünschte die Strahlenkrone auf sein Haupt zu setzen. Doch wie er die Hand danach ausstreckte, wich sie zurück; von ihm fort flohen die Nordlichtgluten, vergebens befahl und drohte, vergebens bat er und flehte — unerreichbar in der Höhe [203] des äußersten Luftkreises, unerreichbar dem schwerfälligen Geiste der Erdrinde flatterte die flüchtige Lichtgestalt einher. Da erfüllte unendliche Sehnsucht sein Herz, und zum ersten Male rief er die Zauberformel: „Ich bin Dein!“

Der Erdgeist hatte sich in das Nordlicht verliebt. Wie es nicht anders sein konnte, erfüllte sich die Vorhersagung des Miraxianismus. Die Spaltung seines Bewußtseins war in demselben Augenblicke vollzogen; weit klafften die beiden Hälften als Ich und Du auseinander. Ein seltsamer Schimmer erhellte sein Gemüt.

Von den Polen zuckten die Nordlichtstrahlen in das Erdinnere; das Dunkel wich zurück, und klar erleuchtet sah Lithosphäros plötzlich rings um sich eine Welt. Wie verändert war alles auf einmal! Er sah den Wirbeltanz der Welten im All, sah die Sonnen in ihren Bahnen gehen und erkannte die großen Fügungen, welche das Universum zusammenhalten. Aber nun erkannte er auch sich selbst und fand, daß er garnicht mehr der Erdgeist war, dem es auf seiner Kegelbahn so wohl behagt hatte. Poseidon und Hephäst schienen ihm alte Märchen, welche er selbst gedichtet, und der Geisir und der Gletscher waren tote Trümmerhaufen, über die er beim Spazierengehen stolperte; denn die Erde war jetzt für ihn ein äußerer Gegenstand. Und zu seinem Schrecken sah er sich an die Sonne gefesselt, zu ihr gezogen, um sie geschwungen, und er begriff, daß es mit all der Pracht einmal ein Ende haben müsse.

Da blickte er wieder auf das Nordlicht, das schwebte [204] jetzt in all seinem Liebreiz zu ihm herab und umschlang ihn mit seinen Strahlenarmen. Er fühlte, wie seine Elementargewalt ihm verloren ging, und wußte nicht, ob das am Selbstbewußtsein läge oder vielleicht daran, daß er verheiratet war. Und er wollte noch klarer blicken, durch die leuchtenden Banden und Fesseln des Nordrots hindurch, bis ans Ende der Welt. Dort im Grunde der Dinge sah er ein Riesenweib sitzen, das fing Sonnen mit ihren Händen und warf sie in den Raum, daß sie sprühend verzischten.

Das ist gewiß das Objekt, dachte er, ich will mich ihm gegenübersetzen.

Da sprach das Weib: „Was willst Du, Erdgeist? Ich bin die Endlichkeit; und wer mich schaut, dem springt das Weltleid aus dem Haupte. Hebe Dich fort von mir!“

Er aber warf sich ihr zu Füßen und rief: „Sei mein Objekt, laß mich Dein Subjekt sein.“

Da zuckte es gewaltig um ihn rechts und links, daß sein Kopf in loderndem Feuer stand: starke elektrische Schläge durchschütterten ihn, und das Nordlicht rief:

„Was fällt Dir ein, vorwitziger Erdgeist? Mir hast Du Liebe geschworen und willst Dich hier zu diesem Objekt als Subjekt setzen? Ich bin Dein Objekt, und Du, armseliges Subjekt, gehörst zu mir. Jetzt hast Du Selbstbewußtsein, bist verantwortlich für Dein Ich und gebunden an Dein Du! Je höher im Geisterreiche man steigt, um so enger sind die Fesseln, die uns binden; [205] wer ein Objekt hat, dem ist die Freiheit des Subjekts verloren. Gleich mache Dich an die Arbeit und grabe einen hübschen Kanal durch das Polareis, damit die Menschen ihre nächste Sommerfrische am Nordpol zubringen können.“

Da empörte sich im Erdgeist das alte Titanenblut der Elemente. Wild donnerte er gegen den Nordpol, daß der gesamte Erdmagnetismus außer Rand und Band geriet, und das Nordlicht furchtsam in den Weltraum floh, wo es schon längst mit einem Kometen kokettiert hatte. Lithosphäros aber verfluchte das Selbstbewußtsein und alle Objekte und erschien mit glühendem Haupte im Studierzimmer des Heino Mirax.

„Unseliger,“ donnerte er ihn an, „wie konntest Du es wagen, die Kräfte der Natur mit Deinem naseweisen Rate zu stören? Beleuchte mit dem Lämpchen Deiner Vernunft die Irrwege Deines Eintagsgeschlechtes; spiegle ihm vor, daß Deine Phantasien reale Mächte seien, welche die Welt regieren, und dichte Deine Puppenspiele für die großen Kinder, die daran glauben. Aber versuche nie wieder die Geister zu berufen, welche nichts wissen wollen von Eueren Sorgen und Mühen! Ich werde mich hüten, den Weltprozeß zu Ende zu denken; dafür magst Du hübsch allein sorgen!“

Wieder erschütterte ein Erdbeben das Haus, und der Erdgeist fuhr hinab ins Erdrindenkasino, wo er sich bald mit seinen Freunden zum gemütlichen Kegelspiel gesellte. Mirax aber fiel in eine Betäubung.




[206] Als Mirax aus seiner Ohnmacht erwachte, sah er zu seinem Vergnügen, daß das Erdbeben weiter keinen Schaden in seinem Zimmer angerichtet hatte. Nur die beiden Büsten Kants und Goethes waren von ihren Postamenten gestürzt, und auf seinem eigenen Haupte fand er die beiden Kränze vereint, welche sie getragen hatten. Dies war ein schöner Beweis für die Existenz und Zurechnungsfähigkeit des Erdgeistes.

Mirax beeilte sich, einen Artikel über sein psychisches Experiment mit dem Erdgeiste zu schreiben. Diese Abhandlung machte ungeheures Aufsehen und begründete den Miraxianismus felsenfest. Denn wenn man auch zugeben mußte, daß der Versuch, dem Erdgeiste das Selbstbewußtsein zu verschaffen und dadurch die Natur mit einem Schlage zu einer höheren Daseinsstufe zu führen, nur teilweise gelungen war, so konnte man doch von einem ersten Versuche nicht mehr erwarten. Nur Unverstand oder Mißgunst können glauben, daß die Elementargeister sofort den ganzen Wert der ihnen verliehenen Gabe begreifen werden; auch sie würden erst zum Selbstbewußtsein erzogen werden müssen, und man muß auf andere Wege denken, um ihnen das Selbstbewußtsein vorsichtiger beizubringen und die Weltseele nach und nach zu züchten. Die Möglichkeit dieser direkten Einwirkung auf die Natur durch die pädagogische Behandlung der Elementargeister aber ist durch Mirax und sein Experiment mit dem Erdgeist ein für alle mal bewiesen. Künftighin wird man sich nicht auf den Verkehr mit den Geistern verstorbener Menschen beschränken, [207] sondern man wird die Geister der Natur berufen und leiten. An Stelle endloser Experimente mit den toten Stoffen des Laboratoriums oder grausamer Vivisektionen wird die Interpellation der Weltseele und die Unterhaltung mit den Geistern der Erde, des Wassers und der Luft treten. Gegenüber dem Ausblicke in diese herrliche Errungenschaft des Miraxianismus kann es nur kleinlich und albern erscheinen, wenn boshafte Gegner das Erlebnis mit dem Erdgeiste für einen bloßen Traum erklären wollen, den Heino Mirax während eines nervösen Anfalls gehabt habe. Derartige Insinuationen richten sich selbst.

Wenn nicht schon die innere Wahrscheinlichkeit der Lehre und die unzweifelhafte Ehrlichkeit eines Mirax Beweis genug wären, so fehlte es auch nicht an einem sinnlichen Zeichen für den Besuch des Erdgeistes. Mit den Büsten Kants und Goethes war auch ein Buch aus Mirax’ Bibliothek herabgestürzt, nämlich Kants „Träume eines Geistersehers, erläutert durch Träume der Metaphysik,“ und es war folgender Satz dieses Buches vom Erdgeist stark und deutlich angestrichen:

„Die anschauende Kenntnis der andern Welt kann allhier nur erlangt werden, indem man etwas von demjenigen Verstande einbüßt, welchen man für die gegenwärtige nötig hat.“

Die Gegner des Miraxianismus, welche leugnen, daß es eine Geisterwelt hinter der Natur gebe und daß dem Menschen die Erkenntnis dieser Geisterwelt möglich sei, diese kurzsichtigen Anhänger eines blöden Sinnlichkeitsphantoms, [208] sie mögen sich die Mahnung des Erdgeistes zu Herzen nehmen, die er ihnen durch den Mund des von ihnen so vergötterten Kant gab! Es ist wahrlich Zeit, daß sie etwas von demjenigen Verstande einbüßen, mit welchem sie sich brüsten, Wissenschaft von der Natur zu errichten; es ist Zeit, daß sie wieder in den Zustand kindlicher Ahnung einer Geisterwelt zurückkehren, in welchem sie mit uns rufen:

„Es lebe Heino Mirax, der Umkehrer der Wissenschaft!“