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Menschliche Erbschaften aus dem Thierreiche

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Textdaten
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Autor: Carus Sterne
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Titel: Menschliche Erbschaften aus dem Thierreiche
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 16, S. 266–268
Herausgeber: Ernst Keil
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1875
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Originaltitel:
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Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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[266]
Menschliche Erbschaften aus dem Thierreiche.


„Weh Dir, daß Du ein Enkel bist!“ so rief der Dichter, der unter allen seinen Brüdern in Apollo den tiefsten Blick in die Natur gethan, seinen Mitmenschen zu, und wir Alle hätten Ursache, ihm das mit einem tiefen Seufzer nachzusprechen. Denn wenn wir, ohne etliche sehr ungeschlachte Ahnen zu bemühen, geraden Wegs aus der Hand eines allweisen Schöpfers hervorgegangen wären, so hätten wir ohne Zweifel einen vollkommeneren Körper erlangt, als derjenige ist, mit dem wir uns behelfen müssen, so gut es eben angeht. Während ich diese lästerlichen Worte niederschreibe, glaube ich von ferne die Töne des Chores eines classischen Oratoriums: „Steiniget ihn! Steiniget ihn!“ auf mich eindringen zu hören, denn die Vermessenheit, den Wunderbau des menschlichen Körpers zu leugnen, scheint sehr Vielen die passendste Gelegenheit für Anbringung eines augenblicklichen Strafgerichts an Stelle des unbegreiflicher Weise ausbleibenden Schlaganfalls oder Donnerkeils. Beruhiget Euch, Ihr Herren im schwarzen Gewande! Der Schreiber dieser Zeilen hat sicherlich die bewunderungswürdige und weise Organisation des menschlichen Körpers öfter und andächtiger studirt, als die Meisten von Euch, und wenn er das Werk der Hand eines schrankenlos schaffenden Demiurgos nicht völlig würdig findet, so erscheint es ihm doch wie ein stolzer Hymnus, ein Triumphgesang auf die Erfolge einer begrenzten, an Naturgesetze und deren Nothwendigkeiten gebundenen Schöpfermacht.

Wenn du, der Verkünder einer gedankenlosen Schöpfungsmythe, einmal von den Südabhängen der Alpen in die Paradiese der alten Welt hinabgestiegen bist, so hast du vielleicht vor den Thüren der Bauernhäuser einen thierartig verkommenen Menschenschlag mit langen Wülsten und Beuteln am Halse hocken sehen, so grauenhaft häßlich und gottunähnlich, daß es nie ein Maler wagt, ihn zu malen, und daß dich schaudert, nur daran erinnert zu werden. Jener Auswuchs ist eine Wucherung der sogenannten Schilddrüse am Kehlkopfe, die nur dazu da zu sein scheint, arme Menschen zu verunzieren und zu ihrer Verthierung beizutragen, denn weiter hat das Ding keinen Zweck und Niemand hat bis jetzt einen Nutzen von derselben verspürt. Der Volksmund nennt die Hervorragung Adamsapfel und behauptet, gestützt auf den Umstand, daß sie beim Manne etwas stärker hervortritt, Adam habe den Apfel nicht willig nehmen wollen, da habe ihn Eva ihm mit Gewalt in den Schlund gestopft und schließlich sei das Kernhaus stecken geblieben. Nun, etwas Wahrheit ist in der Volksdichtung gewöhnlich verborgen, und etwas Erbsünde ist diesmal wirklich im Spiele; das Organ gehört nämlich zu den unnützen Erbschaften, die der Mensch von einigen Urahnen überkommen hat, welche die Anlage desselben beim Ernährungsprocesse sehr nothwendig gebrauchten.

Gar häufig bleibt dem Meisterwerke in jener kritischen Halsgegend wirklich ein Speiserest stecken, wenn er in die sogenannte „unrechte Kehle“, das heißt in die Luftröhre statt in die Speiseröhre, gerathen ist, und wenn dann die Natur sich nicht schleunigst selber hilft, kann der Herr der Schöpfung in wenigen Minuten das Opfer seines Wunderbaues geworden sein. Sehr zweckmäßig kann die Einrichtung, welche solche Verirrungen eines unbehülflichen Bissens möglich macht, kaum genannt werden, aber Denen, die da wissen, daß sich die Athmungsorgane der höheren Thiere durch allmähliche Umbildung eines oberen Theiles des Speiserohrs der niederen Thiere entwickelt haben, ist sie sehr begreiflich. Auch wenn die Speise glücklich den Magen passirt hat, sind nicht alle Gefahren überstanden. Wir haben als Anhängsel des Dickdarms eine kleine Sackgasse, den sogenannten Blinddarm, ererbt, der unserm pflanzenfressenden Vorfahren, als er noch in unverkümmerter Größe erschien, gewiß beim Verdauungsgeschäfte sehr nützlich war, dem Menschen aber nicht nur nie etwas nützt, sondern zuweilen Tod und Verderben bringt, wenn sich in dieser engen Sackgasse irgend ein harter Speiserest, ein Rosinenkern oder dergleichen, verrennt.

Ich könnte noch lange fortfahren in der Aufzählung solcher unnützen Erbstücke, die, wie wir sagen, oft wahre Danaergeschenke sind, aber ich ziehe vor, dieses Capitel mit der Erwähnung eines harmloseren Andenkens an den thierischen Ursprung, der menschlichen Ohrmuskeln, zu beschließen. Nach der gewöhnlichen Redeweise der Völker spitzen wir allerdings noch zuweilen die Ohren, in Wirklichkeit haben wir uns aber diese Gymnastik, in welcher die meisten Säugethiere so geübt sind, und das edle Pferd die ganze Scala seiner Seelenzustände ausprägt, völlig abgewöhnt. Aber die Muskeln dazu besitzen wir noch, und der Schreiber dieser Zeilen erfreute sich eines Schulcameraden, der sich dieses Besitzes sehr bewußt war und manchmal Prügel dafür bekommen hat. Er hatte die Fähigkeit, seine Ohren ohne Mithülfe des Stirnmuskels lebhaft hin und her zu bewegen, durch Uebung zu einem erstaunlichen Grade herausgebildet, und oft, wenn wir trostlos in langweiliger Schulstunde dasaßen, begann er wie der Hase im Kohlbeete seine Männchen zu machen, so daß es mit aller Andacht vorbei war. Auch ihm brachte das Erbstück nichts als Schaden, denn er konnte nicht von seinen Productionen lassen, und wenn der gestrenge Herr Lehrer auch die ersten Male mitlachte, so gab es doch später harte Hiebe und zuletzt wurde der fähige Junge auf die letzte Bank verwiesen, damit ihn Keiner sehen konnte.

Indessen diese unnützen Organe des menschlichen Wunderbaues haben trotz alledem einen großen Nutzen: sie bringen den vorurtheilsfreien Kopf zum Nachsinnen und die Zweckmäßigkeits-Riecher, das heißt die Leute, welche in der ganzen Welt nur planmäßige Schöpfungsideen verwirklicht sehen möchten, zur Verzweiflung. Wenn etwas damit auszurichten wäre, würden sie den Teufel zu Hülfe rufen, um ihm wie die Erschaffung der Schlangen, Fliegen und des schädlichen Gewürms, auch die Kropfdrüse, die Schwanz-Rudimente des Menschen, sammt ihren auf Wartegeld gesetzten Bewegungsmuskeln, den Blinddarm und ähnliche Anhängsel aufzuheften. Diese neuerdings aufgekommene Disciplin der Dysteleologie oder Unzweckmäßigkeitslehre ist, wie gesagt, ein rechtes Martergebiet und Kreuz für Teleologen, denen dabei nichts übrig bleibt, als sich auf ihre Unwissenheit zu berufen, indem sie vorgeben: man könne nicht wissen, wozu die [267] Kretindrüse, der Blinddarm etc. im Geheimen vielleicht dennoch gut seien. Ein bekannter Professor hat sie jüngst für überzählige Lappen beim Zuschnitt der Naturwesen erklärt, Partieen, wo mehr Zeug vorhanden war, als der betreffende Embryo braucht. Schon oben deuteten wir an, daß alle diese Unzweckmäßigkeiten sich ohne Schwierigkeiten verstehen lassen, wenn man sie als Rückbildungen ererbter und für die Vorfahren unentbehrlicher Organe auffaßt, weshalb sie, wie z. B. das Haarkleid und das Schwänzchen des Menschen, in seiner jüngsten Daseinsperiode viel auffälliger hervortreten, als später.

„Erkenne dich selbst!“ stand im Delphischen Tempel als Mahnspruch angeschrieben, und der griechische Philosoph Protagoras erinnerte daran, daß das eigentliche Studium des Menschen der Mensch selbst sein müsse. Diese so nahe liegenden Forderungen verhallten lange in den Lüften, und nachdem es lange Zeit für sündlich gegolten, den todten Menschenkörper zu zerschneiden, scheint man es später für überflüssig gehalten zu haben, ihn und seine Entwickelung genauer zu beobachten. Nur so konnte die wahnwitzige Hypothese zur Herrschaft gelangen, daß es gar keine wahre Entwickelung und Neubildung in der Natur gäbe, und daß mit dem Leibe der Eva bereits alle ihre Nachkommen in kleinster mikroskopischer Gestalt vorgebildet und in einander geschachtelt worden seien, für die Schöpfungsgläubigen freilich die einzig consequente und seligmachende Auffassungsweise. Man war so glücklich im Besitze dieses Auskunftsmittels, welches alle Wesen, Pflanzen und Thiere zu eigenhändigen Werken des Schöpfers erhob, daß man gar nicht davon Notiz nahm, als Caspar Friedrich Wolff in Halle vor mehr als hundert Jahren darauf hinwies, daß jedes Naturwesen eine Neubildung sei, deren Theile, wie Jeder mit seinen Augen sehen könne, nacheinander entstünden und zum Theil vielfachen Umwandelungen unterlägen, ehe sie ihre endgültige Gestalt erlangen, daß also von einer Vorbildung (Präformation) keine Rede sein könne. Allein seine Worte verhallten bei den Zeitgenossen vollständig, und erst als Carl Ernst Baer in der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts seine epochemachenden Untersuchungen zur Entwickelungsgeschichte der Thiere vollendet hatte, wurde die Bedeutung der Entwickelungsgeschichte für die vergleichende Anatomie und die Philosophie der Zoologie anerkannt.

Diese von Lamarck begründete, durch Geoffroy de St. Hilaire am meisten geförderte Wissenschaft konnte indessen doch erst einen eigentlichen Halt gewinnen und den rechten Nutzen von dem Studium der Entwickelungsgeschichte ziehen, nachdem Darwin seine grundlegenden Forschungsresultate veröffentlicht und die Abstammungslehre wissenschaftlich begründet hatte. Die Darwin’sche Lehre setzt sich aus einer Reihe von Hypothesen und Schlüssen zusammen, die den menschlichen Geist durch ihre Einfachheit und Folgerichtigkeit überzeugen, aber sich doch nicht geradezu durch Thatsachen beweisen lassen, da die Umwandlungen der organischen Wesen, deren Ursachen sie so klar erörtert, ungeheure Zeiträume zu ihrer Verwirklichung und damit auch zu ihrer directen Beobachtung voraussetzen. Die Vorwesenkunde trägt zwar in allen ihren Errungenschaften wesentlich dazu bei, jene mechanische Weltanschauung, die sich auf Darwin’schen Lehren aufbaut, zu stützen, allein diese Wissenschaft ist selber sehr lückenhaft und hypothesenreich. Da traten nun Huxley und Häckel in’s Mittel und verwiesen mit Nachdruck auf die Entwickelungsgeschichte und die Beweiskraft der vor unsern Augen am Individuum vor sich gehenden Veränderungen.

Der größte Theil von Häckel’s rastloser Thätigkeit ist seither der Begründung des entwickelungsgeschichtlichen Grundgesetzes gewidmet gewesen, welches lautet: Die Entwicklungsgeschichte jedes Lebewesens ist eine abgekürzte Wiederholung seiner Stammesgeschichte, die im Unwesentlichen ungenau sein kann, in den allgemeinen Umrissen aber, auf die es ankommt, getreu ist. Oder mit andern Worten: Jedes Wesen muß den Hauptstadien nach bei seiner Entwicklung denselben Weg einschlagen, den seine Vorfahren allmählich zurückgelegt haben, wobei es, Schlängelpfade vermeidend, wohl mitunter auch querfeldein gehen, im Wesentlichen aber die gebahnten und vorgeschrittenen Wege nicht verlassen kann. Im Grunde ist dieses Gesetz so wunderbar einfach, so natürlich und „gar nicht anders denkbar“, daß man sich schämen sollte, so spät darauf gekommen zu sein. Zahllose Naturforscher haben verfolgt, wie der Froschkeim in jedem Frühjahr aus niederer Stufe sich zum Fische entwickelte, ehe er als Frosch an’s Land sprang, aber die Wenigsten haben eine Ahnung davon gehabt, daß er damit nur den Sprung wiederholte, den einer seiner Urväter zum ersten Male gethan. Millionen beobachteten an ihren eigenen Nachkommen das herrliche Mysterium von der Entwicklung der Kindesseele, ohne zu fühlen, daß sich hier nur schnell wiederholt, was im Urmenschen unvergleichlich langsamer vor sich gegangen sein muß. Hier und nirgends sonst ist die Lösung des Delphischen Wahrspruches, die alle Fragen der Philosophie in sich begreift, zu finden und höhere Weisheit zu schöpfen, als der Talmud und die ganze Bibliothek der Kirchenväter mit all ihren Geheimnissen und scholastischen Spitzfindigkeiten zusammengenommen enthalten.

Darum muß es als eine folgenschwere Geistesthat bezeichnet werden, daß sich Häckel, alle Bedenken, die das Thema mit sich bringt, niederkämpfend, entschlossen hat, seinen anderen entwicklungsgeschichtlichen Werken eine Anthropogenie oder Entwicklungsgeschichte des Menschen,[1] die in allgemein verständlicher Sprache geschrieben ist, folgen zu lassen. Denn hier stehen wir nicht mehr vor einem luftigen Gebäude von Hypothesen, sondern vor einer Reihe thatsächlicher Erscheinungen, die selten eine doppelte Deutung zulassen. Da der Mensch, wenn nicht als Inbegriff der gesammten thierischen Schöpfung, so doch als die Krone des Hauptstammes derselben betrachtet werden muß, so erhalten wir in seiner speciellen Entwicklungsgeschichte eine abgekürzte Duodezausgabe der Geschichte des ganzen Stammes. Wie die alten Hofmagier den Fürsten die Reihe ihrer Nachfolger in einem Spiegel zu zeigen pflegten, so geht in den verschiedenen Embryonalzuständen des Fürsten der Schöpfung seine Ahnengalerie in mehr oder weniger getreuen Portraits vor unserem Auge vorüber. Nicht aller Portraits, denn einzelne, besonders die der frühesten Zeiten, sind verdunkelt oder verloren gegangen. Aber die meisten dieser Lücken lassen sich ergänzen, denn jene vermißten Portraits finden sich noch in den Jugendzuständen von Thieren, die einzelnen frühen Vorfahren des Menschen nahe stehen. Eine kurze Heerschau über die von Häckel charakterisirten directen Vorfahren des Menschen möge hier, mit Erwähnung der Erbschaften, die wir ihnen verdanken, eingeschaltet werden.

Der Anfang ist jener Urschleim, von dem schon die alten Philosophen phantasirten, den aber erst die neuere Forschung wirklich aus dem Grunde der Gewässer emporgebracht, eine gestaltlose Gallerte, die umher kriecht, indem sie Schleimfäden ausstreckt, sich nährt und durch Theilung fortpflanzt. Wenn sich in dieser beweglichen Materie ein fester Mittelpunkt, ein Kern abgesondert hat, so haben wir in dieser zweiten Stufe bereits die Urzelle, das individuelle Grundelement, aus dem sich noch heute durch Theilung die gesammte Pflanzen- und Thierwelt aufbaut. Nachdem sie sich zu einem Klümpchen durch wiederholte Theilung vermehrt (dritte Stufe: Maulbeerthier), dann zu einer Kugelflächenschicht (Blasenthier) angeordnet, beginnt die Vertheilung der verschiedenen Lebensfunctionen, die sonst jede Zelle insgesammt verrichtete, auf einzelne derselben, nach dem für die Weiterentwicklung im Zellenstaate, wie in der menschlichen Gesellschaft gleichwichtigen Princip der Arbeitstheilung. Aus der einen Zellenschicht sind dann zwei geworden, von denen die eine als Oberhaut die Vermittlung mit der Außenwelt übernimmt, während der andern die ernährenden Thätigkeiten zufallen, nachdem sich diese Doppelschicht zu einem eiförmigen Sack ausgestülpt hat. Ein schwimmender Magen wäre dieses Thier zu nennen, welches von allen wünschenswerthen Organen zunächst das Darmrohr, als das für sein Gedeihen wichtigste, ausgebildet hat.

Obwohl dieses von Häckel Gasträa benannte Unthier, mit dem die Herrschaft des Magens in der Welt begann, nur noch in der Entwickelungsgeschichte einiger dem Menschenstamme nahestehenden Würmer und Urwirbelthiere vorkommt,[2] in derjenigen der Menschen aber nur andeutungsweise noch erkannt werden kann, verdanken wir ihm die Sonderung in Oberhaut und Magen, die sich noch jetzt in dem vorläufigen Auftreten zweier Keimblätter bei den Embryonen aller höheren Thiere zu erkennen [268] giebt. Auf die Gasträa folgten Urwürmer, denen wir die Anfänge eines Nerven- und Muskel-Apparates verdanken. Die Rückverfolgung dieser Bildungen erklärt oft sehr leicht, was uns bei dem ererbten Zustande höchst merkwürdig vorkommen müßte. So entwickelt sich beispielsweise der Sinnen- und Nerven-Apparat auch der höheren Thiere nicht aus denjenigen Theilen der jungen Anlage, die anderen inneren Theilen zur Grundlage dienen, sondern aus denselben, welche das Fell, die Oberhaut bilden. Allein bei den niedersten Thieren war die Oberhaut eben Universal-Sinnesorgan, Tast-, Gesichts- und Gehörs-Apparat zugleich, und nur aus Theilen der Oberhaut konnten die äußeren Einwirkungen Organe, wie z. B. die Sonnenstrahlen das Auge, bilden. Von diesen Oberhautorganen gingen aber selbstverständlich die ersten Nerven aus, und so ist ihre für den ersten Augenblick überraschende Entstehungsweise aus dem Hautblatte eigentlich nur einfach logisch. Bei den höheren Weichwürmern bildete sich bereits Blutumlauf und ein Gefäßsystem aus, und bei den ältesten Sackwürmern entstand die erste Anlage eines Kiemen-Apparates und der Wirbelsäule. Ehe die Bildung des Thierkörpers so weit vorgeschritten war, hatten sich formenreiche Nebenäste wirbelloser Thiere, die größtentheils statt des inneren Skeletes ein äußeres Schalengehäuse entwickelten, um den Muskeln feste Stützpunkte zu bieten, von dem Hauptstamme abgezweigt, die Ahnen der Weichthiere, Strahlthiere, Insecten etc.

In dem Wachsthume des Hauptstammes, bei dem wir mithin diesen Thieren nicht weiter begegnen, ist insbesondere der Zeitpunkt interessant, wo aus dem Wurm ein Wirbelthier geworden ist. Wir würden diese dem christlichen Demuthsgefühle gewiß mehr als die Affen-Abstammung zusagende Verwandtschaft mit den Würmern kaum geahnt haben, wenn nicht glücklicherweise ein später Abkömmling der zahlreichen Sippschaft der Urwirbelthiere im sogenannten Lanzetfischchen bis auf unsere Zeiten gekommen wäre. Dieses gehirnlose Rückenmarksthier, welches im Sande der meisten Meere lebt, verdient vollkommen jene ehrfurchtsvolle Betrachtung, die man Häckel so verübelt hat, denn wenn dieser letzte Mohikaner sich nicht der vergleichenden Untersuchung aufgespart hätte, würden wir schwerlich jemals zur Kenntniß der directen Ahnenreihe des Wirbelthierstammes und also auch des Menschen gelangt sein.

Der nächst höheren Abtheilung von Urwirbelthieren, von denen die Neunaugen späte Abkömmlinge sind, verdanken wir die Sonderung der äußeren Sinnesorgane und die Anfänge des Gehirns; den Urfischen, von denen ebenfalls noch einige Vertreter leben, die Bildung der äußeren Gliedmaßen. In der That, bei den Fischen gewahren wir zuerst ein Urbild unserer Körpergestalt mit den beiden vorderen und den beiden hinteren Extremitäten, die aber vorläufig noch vielgliederig sind. Die Verminderung der Endgliedmaßen auf fünf, die Grundlage der Decimalrechnung und die Ursache, daß wir hundertjährige Jubiläen feiern, trat zuerst bei Festlandthieren, den Ur-Amphibien auf, bei denen auch die Umwandlung des Kiemenapparates in Schädeltheile und der Schwimmblase in eine Lunge vollendet wurde. Wir zählen die zehn Mittelglieder zwischen Urfisch und Mensch, die Häckel anführt, nur einfach auf, es sind: Molchfisch, Kiemenlurch, Schwanzlurch, Uramniot, Stammsäuger, Beutelthier, Halbaffe, Schwanzaffe, Menschenaffe, Affenmensch, wobei wir von den vielen Seitenzweigen nur einen der heute artenreichsten, das Vogelreich, nennen, welches sich unmittelbar von den Schwanzlurchen ableitet.

Alle diese Vorstufen muß das höhere Wirbelthier, wie gesagt, bei seiner individuellen Entwickelung durchmachen, und dabei jedesmal von der einfachen kernlosen Zelle anfangen. Es muß in gewisser Beziehung gehirnloser Wurm, Fisch etc. werden und in derselben Reihenfolge wie der Stamm selber Muskel-, Nerven- und Gefäßsystem ausbilden, wobei um so weniger Unterschiede zwischen den einzelnen Wirbelthieren merkbar sind, je jünger die Entwickelungsstufen sind, die man vergleicht. Es giebt Augenblicke im Leben des noch ungeborenen Menschen, wo er von den allerniedrigsten Thieren, und solche, wo er von den Anfängen eines Fisches nicht zu unterscheiden ist. Zwischen Affen und Mensch sind auch in den letzten Entwickelungsstadien kaum irgend welche anatomische Unterschiede nachweisbar. Den gefühlvollen Seelen, die sich am meisten vor ihren nächsten Verwandten im Thierreiche scheuen, geben wir gern die beruhigende Versicherung, daß wir keine unserer heute lebenden Affenarten als Eltern zu ehren brauchen. Es sind ungeschliffene, verkommene Vettern, deren wir uns wirklich mitunter schämen müssen. Unsere Ureltern mögen wir uns als stille manierliche Waldmenschen vorstellen. Jedenfalls dürfen wir stolz darauf sein, es ihnen gegenüber so erklecklich vorwärts gebracht zu haben, und uns erinnern, daß diese Erkenntniß uns dazu stählen muß, dem Fortschritte als dem höchsten Gesetze der Natur und als einer Art von Religion zu huldigen. Besser, sich von einem unvernünftigen Thiere zu dem über seine Abkunft philosophirenden Menschen aufgestiegen zu wissen, als sich von dem göttergleichen Adam zu einem abergläubischen Fetischanbeter herabzuwürdigen. Weit entfernt, daß die sich vorbereitende Weltanschauung den Menschen verthieren und edleren Regungen abhold machen könnte, wird sie alle in ihm noch schlummernden Keime zu entfalten streben, denn ein Fortschreiten zum Vollkommneren ist ja ihr Grundgedanke.

Carus Sterne.

Anmerkungen

  1. Mit 12 Tafeln, 210 Holzschnitten und 36 genetischen Tabellen. Zweite Auflage. Leipzig, Wilhelm Engelmann 1875.
  2. Es ist, seit dieser Aufsatz geschrieben wurde, von Dr. Rauber in Leipzig auch bei höheren Wirbelthieren entdeckt worden.