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Melpomene/Band 1/029 Bei der Leiche eines Brudermörders

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aus: Melpomene
Seite: Band 1, S. 124-135
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[124]

29. Bei der Leiche eines Brudermörders.

Melod. I.

1. Hier schloß ein armer Sünder sein
Verfluchtes Lasterleben,
Der, wie der Brudermörder Kain,
Dem Neide sich ergeben;
Er schlug, dem göttlichen Geboth
Zuwider, seinen Bruder todt,
Und noch dazu ein Mädchen.

2. Er war der erstgebohrne Sohn
Von seiner Eltern Liebe,
Und voll, als kleiner Bube schon,
Von manchem bösen Triebe.
[125] Die Eltern übersahen blind
Dem kleinen Böswicht jede Sünd,
Anstatt ihn zu bestrafen.

3. Sie liessen seiner Leidenschaft
Die nöthigen Zügel fehlen;
Er durfte also ungestraft
Die armen Thiere quälen,
Und sich in wilder Grausamkeit,
Und mitleidloser Schadenfreud
An ihrem Tod ergötzen.

4. So wuchsen Habsucht, Stoltz und Neid,
Und Lust bei andrer Schmerzen,
Und ungezähmte Lüsternheit
In seinem jungen Herzen,
Und zügellose Zorneswuth,
Mit einem heissen Durst nach Blut,
Und einer blinden Rachsucht.

5. Die Eltern selbst erschracken zwar
Vor seinen bösen Thaten,
Und vor der schrecklichen Gefahr,
Worein ihr Sohn gerathen,
Und hatten ihn durch strenge Zucht
Derselben zu entziehn gesucht;
Doch Alles war vergebens.

6. Der Vater suchte manchesmal
Zu bessern ihn mit Schlägen,
Allein er war durch keine Qual
Zur Bessrung zu bewegen,
[126] Auch kam er allemal in Streit
Mit seines Weibes Zärtlichkeit,
Die ihren Liebling schützte.

7. Sie schmeichelte dem bösen Sohn
Durch mitleidvolle Zähren,
Und bath in sanftem Klageton:
»Ei Büble! laß dirs wehren!
Du weißt, der Vater ist so bös,
Und ach! am Ende könnte es
Dir noch weit schlimmer gehen;

8. Vermeide doch die böse Welt;
Das können wir nicht dulden.«
So sagte sie, und gab ihm Gelt,
Und tilgte seine Schulden,
Und hoffte, daß durch Schmeichelei
Ihr Liebling noch zu bessern sey;
Allein er ward nur schlimmer.

9. Der Vater legte sich vor Gram
Aufs frühe Sterbebette
Durch seinen frühen Tod bekam
Des Sohnes Lasterkette
Noch freyern Lauf und größre Kraft,
Daß seine wilde Leidenschaft
Die höchste Stuff erreichte.

10. Die Mutter hauste ein’ge Zeit
Mit ihren beiden Söhnen,
Und suchte ihren Haß und Neid
Durch Bitten zu versöhnen;
[127] Allein der ältre Sohn war taub,
Und seine Seele blieb ein Raub
Der wilden Leidenschaften.

11. Am Ende drohte sie sogar:
Sie wolle ihn enterben,
Weil all ihr Flehn verloren war,
Und noch vor ihrem Sterben
Dem immer guten jüngern Sohn,
Zum wohlverdienten Tugendlohn,
Die Heimath übergeben.

12. Bey dieser Drohung stieg der Neid
Bei ihm zur höchsten Stuffe;
Er hatte voll Verwegenheit,
Trotz dem Gewissensrufe;
Der ihm den Brudermord verboth,
Wie Kain, den eignen Bruder todt,
Zu schlagen sich entschlossen.

13. Gedacht, gethan! — Er lockte ihn
Hinaus auf eine Wiese,
Durch die man einen Graben ziehn,
Und sie verzäunen müße,
Trat heimlich hinter ihn zurück,
Und schlug ihn plötzlich ins Genick
Mit umgekehrter Axte.

14. Der Bruder fiel, als wie ein Stier
Vom Schlächterbeil getroffen,
Und rief im Fall! Was thust du mir?
O laß mich Gnade hoffen!
[128] Und schlage mich doch nicht zu todt!
Ich bitte dich beim lieben Gott
Um Gnade und Erbarmen!

15. Allein er brüllte: »hin mußt seyn,
Du Räuber meines Gutes!« —
Und jener sprach: »Es sey ja dein!
Nur schone meines Blutes!
Laß leben mich, ich schenk es dir
Ja ganz, und will ja nichts dafür,
Als nur mein armes Leben.«

16. Allein des Brudermörders Herz
War nicht mehr zu erweichen,
Er schwang das Mordbeil himmelwerts
Zu wiederholten Streichen,
Bis seines armen Bruders Haupt
Zerschmettert war, und er beraubt
Des Lebens ihn erblickte.

17. Dann kehrte er nach Haus zurück. —
Da sprach zu ihm die Mutter:
»Warum ist doch so scheu dein Blick?
Wo hast du deinen Bruder?
Warum doch kommt er nicht mit dir?
Vermuthlich habt, wie öfter, ihr
Gestritten miteinander!«

18. »Ich weiß nicht, wo mein Bruder ist,
Ich bin ja nicht sein Hüter;
Er ist ja, wie ihr selber wißt,
Besitzer unsrer Güter;
[129] Er wird schon kommen, sorget nicht.«
So sprach der kühne Bösewicht
Zur ganz bestürtzten Mutter.

19. Indessen schrie des Bruders Blut
Zum Himmel auf um Rache,
Und machte schon der Reue Wuth
In seinem Mörder wache,
Daß er in ungesäumter Flucht
Der Strafe zu entgehn gesucht,
Die auf dem Fuß ihm folgte.

20. Da wuchs der schrecklichste Verdacht
Im Herzen seiner Mutter:
Der Flüchtling habe umgebracht
Den ausgebliebnen Bruder;
Sie zeigte, banger Ahnung voll,
Die Sache an, und bath: man soll
Die beiden Brüder suchen.

21. So wurde bald, noch lebenswarm,
Der jüngre Sohn gefunden;
Allein es war im Todesarm
Sein Leben schon verschwunden,
Vollendet schon sein Todeskampf,
Und seines Blutes warmer Dampf
Schon himmelwerts gestiegen.

22. Die blut’ge Leiche wurde heim
Ins Mutterhaus getragen,
Und nicht gesäumt, die Sache beim
Gerichte anzusagen.
[130] Der Mörder ward in kurzer Zeit
[Denn selten kömmt ein Mörder weit,]
Bei Ravensburg ergriffen.

23. Das Blut an seinem Kleide war
Des Brudermords Verräther,
Und machte, wie die Sonne, klar:
Er sei der wahre Thäter.
Er konnte also seine That,
Bei diesem blutigen Verrath,
Auf keine Weise läugnen.

24. Indessen lag der Mutter Herz
In der Verzweiflung Armen,
Sie rief in jammervollem Schmerz
Zum Himmel um Erbarmen
Für ihrer Söhne Seelenheil;
Denn ach! es lag ein großer Theil
Der Schuld auf ihrem Herzen.

25. Sie hatte bei der Kinderzucht
Zu vieles übersehen,
Und sah daher die böse Frucht
Am bösen Baum entstehen:
Gemordet ihren zweiten Sohn
Durch ihren ersten, welchen schon
Des Rächers Hand ergriffen.

26. Und dennoch war das Sündenmaaß
Des schrecklichen Verbrechers
Nicht voll genug, und er vergaß
Des allerhöchsten Rächers,
[131] Und hatte noch in eitler Flucht
Der Strafe zu entgehn gesucht
Durch eine neue Mordthat.

27. Er wußte sich von Fuß und Hand
Mit ausgesuchten Mitteln,
Im Kerker, wo er sich befand,
Die Ketten abzuschütteln,
Und hatte sich vertraut gemacht,
Damit von weitem kein Verdacht
Von seiner Flucht entstünde.

28. Nun ward der Kerkermeister krank;
Und dieser Umstand machte,
Daß ihm indessen Speis und Trank
Die Magd desselben brachte.
Sie öffnete daher die Thür
Zum zweitenmal; da trat er ihr,
Von Banden frey, entgegen.

29. Sie wollte schreckenvoll sogleich
Entfliehn, und wieder schliessen;
Allein sie lag mit einem Streich
Entseelt zu seinen Füssen:
Er schlug ihr nemlich an der Wand,
Den Schedel ein mit starker Hand,
Und war im Nu verschwunden.

30. Jedoch er ward im Augenblick
Der kühnen Flucht ergriffen,
Gebunden fest mit einem Strick,
Trotz allen seinen Kniffen.
[132] Und in des tiefsten Kerkers Nacht
Die Flucht unmöglich ihm gemacht,
Und bald gefällt sein Urtheil.

31. Es hieß: »weil er sich kühn erfrecht
Den Bruder todt zu schlagen,
Und zu der Flucht von Straf und Recht
Noch einen Mord zu wagen,
Und diesen wirklich sich erlaubt:
So falle sein verfluchtes Haupt
Durchs Henkerschwerdt vom Rumpfe.«

32. Und wirklich steht der Bösewicht
Schon auf erhabner Bühne,
Und wendet sich zum Volk, und spricht,
Mit todesblasser Miene,
Voll Reue über seine That,
[Doch seine Reue kam zu spat]
Die schaudervollen Worte:

33. »Ich hab mit allem Vorbedacht,
Und höchster Schadenfreude
Den eignen Bruder umgebracht
Aus ungezähmten Neide
Um das für ihn bestimmte Gut,
Und so sein unschuldvolles Blut
Mit Grausamkeit vergossen.

34. Er krümmte sich als wie ein Wurm,
Und bath mich um sein Leben,
Doch dieses war bei mir im Sturm
Der Leidenschaft vergeben. —
[133] Ich hab es schmerzlich zwar bereut;
Allein vorüber ist die Zeit,
Geschehen bleibt geschehen.

35. Das Mädchen hab ich nicht gesucht
Des Lebens zu berauben;
Sie sollte nur zur kühnen Flucht
Den Ausgang mir erlauben,
Und weil sie mir im Wege stand,
So hab ich nur mit rascher Hand
Bei Seite sie geschleudert.

36. Allein das Blut der Unschuld schrie
Um Rache nicht Vergeben!
Schon trift sie mich, ich sehe sie
Ob meinem Haupte schweben,
Und fühle ihre ganze Wuth:
Wer Blut vergiesset, dessen Blut
Wird auch vergossen werden.

37. Hier steh ich vor dem Blutgericht
Mit Zittern Angst und Beben,
Und schliesse als ein Bösewicht
Mein lasterhaftes Leben;
Denn Gott ist heilig und gerecht,
Bestraft daher den Lasterknecht
Hienieden schon und jenseits.

38. Allein er ist barmherzig auch,
Will nicht den Tod der Sünder,
Und nimmt in seinem Gnadenhauch
Sie wieder an als Kinder,
[134] Wenn sie bereuen ihre Schuld,
Und zur Versöhnung mit Geduld
Die Todesstrafe leiden.

39. Drum hütet euch vor Haß und Neid
Und allen andern Sünden,
Und laßt in der Begierlichkeit
Sie keine Nahrung finden;
Denn wer die böse Neigung nährt,
Und nicht auf sein Gewissen hört,
Geht hier und dort verloren.

40. O lasst euch durch mein Beispiel doch
Vor Sünd und Lastern warnen,
Und widerstehet ihnen noch
Bevor sie euch umgarnen;
Denn sicher wird kein Lastersklav
Entgehn der wohlverdienten Straf
Für seine Frevelthaten.

41. So wird hier der Gerechtigkeit
Mein Haupt zum Opfer fallen!
Wohlan! es sey! ich bin bereit!
Nach Gottes Wohlgefallen!!
O möchte den gerechten Gott
Mein wohlverdienter Opfertod
Für meine Schuld versöhnen!

42. O nehmt an meinem Schicksal Theil,
Und bethet für mich Armen
Zu meinem wahren Seelenheil
Um Gnade und Erbarmen! —
[135] Bekehre dich, o Lasterknecht!
Und du, Gerechter! bleib gerecht,
Und werde noch gerechter.« —

43. Nun wurden von des Henkers Hand
Die Augen ihm verbunden,
Und eh ein Augenblick verschwand,
War schon sein Hauch verschwunden
Aus dem vom Schwerdt durchhauten Hals,
Und so sein Haupt gefallen als
Ein Opfer der Versöhnung.

44. Nun laßt uns dem Unglücklichen
Noch eine Thräne weihen,
Und mitleidvoll zum Höchsten flehn:
Er möchte ihm verzeihen,
Was er gethan aus Leidenschaft,
Wofür in vollster Lebenskraft
Er hingerichtet wurde.

45. Wer aber steht, der sehe zu
Daß er nicht wank und falle,
Und immer zur Gewissensruh
Die Bahn der Tugend walle;
Dann führt ihn einst des Todes Hand
Ins einzig wahre Vaterland
Der Seligkeit hinüber.

Anmerkungen (Wikisource)

Jungs Errata (Bd. 2, S. 293) wurden in den Text eingearbeitet.