Meine erste Schleichpatrouille
In jener verzweifelten Stimmung, die aus Langerweile und Lebensüberdruß zusammengesetzt ist und die ich Ihnen in meinem letzten Briefe vielleicht nur allzu ausführlich geschildert habe, schlenderte ich an einem der letzten Decembertage in le Vert galant herum, bereit, meine Seele dem Ersten zu verkaufen, der da kommen und mir nach so vielen reich bewegten Monaten auch zu
einem würdigen, wirklich interessanten Jahresschluß verhelfen würde. Zwar, daß sich wichtige Dinge vorbereiteten, die das ganze schläfrige Aussehen der Belagerung mit Einem Schlage in’s Gegentheil zu ändern vermöchten, das konnte ich auch in le Vert galant spüren – schon seit drei Tagen vernahm man das ununterbrochene, dumpfe Rollen des Kanonendonners von der Seite her: die Beschießung des Mont Avron aus sechsundsiebenzig deutschen Geschützen hatte begonnen und, wie man sich in le Vert galant erzählte, mit dem besten Erfolg, denn schon am zweiten Tage sollte das Feuer der deutschen Batterien dem Mont Avron die Lust zur „Gegenrede“ gründlich verleidet haben.
Das waren nun freilich Nachrichten, welche Einem die Langeweile [100] vertreiben und dafür die Haut prickeln machen konnten. Endlich! endlich! rief Einer dem Andern zu und man zählte die Tage, die von heute an bis zum Einzug in das stolze Paris noch hingehen konnten. Am liebsten wäre ich gleich heute zu dem Standort unserer Batterien geeilt – aber ich fand keine Fahrgelegenheit und so begrüßte ich denn eine Einladung des Hauptmann v. Friesen[1], ihn Abends auf Vorposten zu besuchen, mit tausend Freuden als ein Mittel, der mich nun bewegenden Unruhe wenigstens einigermaßen los zu werden; kam ich doch wenigstens in die Nähe des Avron.
Wenige Stunden schon nach empfangener Einladung zog ich mit der 3. Compagnie des Leibgrenadierregiments Nr. 100 hinaus auf die Feldwache 6A. Es war schon vier Uhr und der winterkalte Tag neigte sich rasch zum Ende. Die Sonne verschwand wie ein glührother Ball hinter einem Nebelschleier, leichte graue Dunststreifen zogen in geringer Entfernung von uns an niedrigen Gehölzen hin, und unter den Füßen der in der eisigen Kälte wacker vorschreitenden Mannschaft ächzte der festgefrorene Schnee. Die Luft um uns war klar und der endlose Himmel über uns bedeckte sich in kurzer Zeit mit seinen flimmernden und blitzenden Sternen.
Immer in munterem Geplauder, wenn auch der gleich an den Lippen zu Eis gefrierende Hauch die kriegerischen Bärte der Soldaten mit einer dichten weißen Kruste überzog, ging es auf der Metzer Straße hin durch Livry und dann in das Gehölz von Bondy, wo wir links auf hartgefrorenem, holprigem Waldweg nach dem sogenannten „Schlößchen“ abbogen. Auf der Karte steht es als „le village“ und stößt unmittelbar an den Park von Raincy, den Zielpunkt der meisten Granaten aus den Forts von Rosny, und Noissy. Als wir beim „Schlößchen“ ankamen, war es schon völlig Nacht geworden und damit die Zeit gekommen, die Posten abzulösen und neue auszustellen. Nachdem dies geschehen, machte Herr von Friesen seine Runde, auf der ich ihn begleiten durfte, prüfte die Zweckmäßigkeit der erwählten Standorte und empfahl seinen Leuten die äußerste Vorsicht, da das Terrain in der That für Vorpostendienst ein höchst ungünstiges war und jeder einzelne Mann die angestrengteste Aufmerksamkeit entwickeln mußte, wenn ihm von hier aus ein allenfallsiges Andringen des Feindes durch die stockfinstere Nacht nicht unbemerkt bleiben sollte. Als der Pflicht so genügt war und Herr von Friesen sein Commandantengewissen beruhigen zu können glaubte, kehrten wir zum „Schlößchen“ zurück, wo unser die beste aller Ueberraschungen in Gestalt eines Abendbrodes erwartete, das mich den Erfinder der „Liebesgaben“ von Herzen segnen ließ. Wer mochte wohl diese Magenwurst gesendet und welche zarte Hand mochte wohl diese Sardellenbutter in das Gefäß gefüllt haben, dessen irdener Stoff viel zu bescheiden erschien für seinen köstlichen Inhalt? Wie vortrefflich mundete dazu der Rothwein, den uns noch immer der feindliche „Boden“ liefert und der selbst bei künstlicher Bereitung nichts verlor, wie eine später kalt angesetzte Rothweinbowle zur Genüge bewies! Da plauderte sich’s denn munter und lebhaft genug, Scherz- und Ernstworte flogen hinüber, herüber, dazu prasselte das helllodernde Feuer im Kamin, die Fenster, von jenem feuchten Niederschlag bedeckt, der Einem das durchwärmte Zimmer noch heimlicher erscheinen läßt, „liefen an“ – zuletzt schien der ganze Krieg nur ein böser Traum und man kam sich vor wie mitten im Frieden eine Einquartierung, die ganz gastlich aufgenommen und der zufällig Nichts als der Hauswirth verloren gegangen war. Mochte er denn verloren bleiben, wir vermißten ihn nicht.
Dieser Friedenstraum sollte aber nicht allzu lange währen; die Heiterkeit der Gesellschaft – es waren an sechs Officiere, mehrere Einjährig-Freiwillige und ein Arzt zugegen – hatte den Höhepunkt erreicht, als der Befehl eintraf, noch in dieser Nacht einen Zug nach dem benachbarten Bondy zu machen, um zu sehen, ob das Dorf noch von den Franzosen besetzt sei. Gegen 11 Uhr lud mich Hauptmann von Friesen ein, bei der Partie zu sein und ihn zu begleiten. Das war mir lieb: hatte ich die lustige Gesellschaft von der heitern Seite gesehen, so machte ich mich auch gern wieder einmal mit ihrem Treiben bei ernster Sache bekannt.
Eine herrliche Sternennacht empfing uns, als wir, behaglich durchwärmt und in bester Stimmung, umdrängt von den zurückbleibenden Officieren, die Treppe herunter in den Hof des Schlößchens traten. Hier, durch ihre geschwätzige Munterkeit den besten Beweis ablegend, daß auch sie die letzten Stunden nicht in Entbehrungen zugebracht, standen bereits mit Sack und Pack die Leute der Compagnie, des Befehls harrend. Aber nur neun suchte der Hauptmann aus ihrer Mitte aus, die tüchtigsten und gewandtesten – ein kurzes Commandowort – „Marsch!“ und so ging der kleine Zug schweigend und in der größten Stille durch die Winternacht vorwärts.
Wir waren etwa eine Viertelstunde auf dem Waldweg hinmarschirt, als wir aus der Ferne Schritte vernahmen – wir standen lautlos, das Gewehr zum Schuß bereit, den Kopf vorgebeugt, die Dunkelheit mit unsern Blicken durchdringend. Da bog es um die Ecke – schwarze Gestalten wurden sichtbar und Gewehrläufe blinkten – noch ein paar Schritte ließ sie der Hauptmann vorkommen. Dann: „Halt! Wer da?“ Losungswort und Feldgeschrei wurden richtig abgegeben, es war eine kleinere Patrouille von den Unseren, die eben ihre Runde angetreten hatte und sich nun gerne unserm Unternehmen anschloß. An der Waldlisière passirten wir die Vorpostenlinien und betraten die schneebedeckte Ebene, die langgedehnt in tiefem Nachtschweigen vor uns lag. Es war, ich muß es wiederholen, eine herrliche Nacht – von der Kälte empfanden wir mitten in der Aufregung, welche das „Geschäft“ mit sich brachte, wenig oder nichts, hoch über uns glänzten die Sterne in vollendeter Pracht, mächtig leuchtete unter ihnen das schönste aller Sterngebilde, der Orion, hervor und etwas tiefer, nahe am Horizont, stand das erste Viertel des Mondes, matt die von leichtem Duft überzogene Schnee-Ebene beleuchtend, die wie endlos vor uns lag. Links ragten die dunklen Massen des Forts Noissy über den Horizont empor, gespenstisch und majestätisch zugleich; in gerader Linie vor uns lag das Ziel unserer Nachforschung, Dorf Bondy, nur durch einige Punkte kennbar, die sich schwarz aus dem Dunkelgrau ihrer Umgebung abhoben.
Schon in der Vorpostenlinie hatte unsere Schaar sich in drei Abtheilungen getheilt und ich mich natürlich der des Hauptmann von Friesen angeschlossen, welche aus sechs bis sieben Mann bestand. Auch war, bevor wir uns trennten, noch einmal der Befehl eingeschärft worden, sich durchaus auf kein Gefecht einzulassen, sondern im Falle eines feindlichen Grußes Deckung zu suchen und sich zurückzuziehen. Nunmehr schlugen wir die äußerste Richtung links ein und stießen bald auf einen Bahndamm, der an Bondy vorbei nach dem Fort Noissy führt und uns um so willkommener sein mußte, als es auf dem Schnee und im halben Mondlicht Mühe genug kostete, sich dem Feinde, wenn er da und wenn er aufmerksam war, unbemerkt zu halten.
An diesem Bahndamm krochen wir hin, bald in abgeschnittene Telegraphendrähte uns verwickelnd, bald durch niedriges Gesträuch stolpernd, dessen feine Ruthen uns scharf ins Gesicht schnitten, jetzt halb in die Höhe gerichtet, dann wieder auf allen Vieren kriechend, aber immer lauschend, immer horchend. Diese Anspannung ist das Peinlichste, was gedacht werden kann. Man sehnt sich nach einer Unterbrechung, man will um jeden Preis etwas sehen, will etwas hören, und doch, kein verdächtiger Laut regt sich; Alles zeigt die tiefste Ruhe. Schon lag Bondy nicht mehr weit von uns zur Seite und wir sahen, daß einzelne Fenster erleuchtet waren. Das Licht derselben fiel roth in die Nacht heraus und verlor sich dann im Dunstkreis. Da fiel ein Schuß vom Dorfe her. Wir standen wie festgebannt. Der Schuß hatte unserer Mittelpatrouille gegolten, wir hatten deutlich das Zischen der Kugel gehört und der hinter uns liegende Wald hatte das Echo des Schusses hallend wiedergegeben; sie waren also wachsam im Dorfe. Wir horchten fast athemlos – aber Alles war wieder still. Nunmehr ging’s ohne weiteres Besinnen halbrechts vorwärts, gegen unsere Mittelpatrouille hin, doch auch hier war Nichts zu entdecken, auch hier rührte sich Nichts, obwohl wir gewiß an zehn Minuten auf dem Bauche lagen, mitten im hartgefrorenen Schnee hingestreckt, nur den Kopf lauschend gehoben und den spähenden Blick zum Dorf hinüber gerichtet. Wir waren kaum zweihundert Schritte mehr von Bondy entfernt, dazwischen lag nur die Schneefläche, aus der rechts eine kahle Ulme ragte. Uns gerade gegenüber stand ein französischer Posten. Wir vernahmen es deutlich, wenn er sich räusperte; der Aermste mußte einen starken Katarrh haben,
[101][102] den zu heilen man ihn gewiß nicht hier heraus in’s freie Schneefeld gestellt hatte. Auf uns, die Lauschenden, aber machte es einen äußerst komischen Eindruck, wenn der geplagte Mann von dem heftigsten Hustenanfall gepackt wurde und sich dann, seiner Pflicht als Vorposten wohl bewußt, alle Mühe gab, den verrätherischen Laut zu unterdrücken und zu ersticken. Mein Nachbar konnte kaum der Begierde Herr werden, eine blaue Bohne zu dem hüstelnden Franzosen hinüber zu senden und ihn mit dieser für immer von Katarrh und Rheumatismus zu heilen. Ein paarmal hob er schon das Gewehr zum Anschlag, er zielte, lange und lange, aber immer wieder setzte er ab, im Stillen Verbot und Disciplin verwünschend, die hier beide seinem schönsten Vorsatz so hemmend in den Weg traten.
In der That, die Versuchung war groß, und so mochte es der wackere Soldat als eine Erlösung aus ihr ansehen, als nach zehn Minuten etwa der Befehl zum Rückzug gegeben wurde. Der Zweck des Unternehmens war erreicht: die Franzosen hielten Bondy noch besetzt.
Ebenso still, ebenso lautlos, wie wir gekommen waren, zogen wir durch die Nacht heimwärts; der Mond ging eben völlig unter und die schwarzen Umrisse des Fort Noissy hoben sich nur mehr unbestimmt und verschwommen vom Horizont ab. Bald passirten wir wieder unsere Vorpostenlinie und nun ging es durch das Dunkel des Waldes munter dem „Schlößchen“ zu, dort erwartete uns ein warmes Zimmer, dort erwarteten uns die Freunde, und von der Rothweinbowle war gewiß auch noch ein Glas für uns zurückgestellt. Für die Ruhe der übrigen Nachtstunden standen vortreffliche Matratzen bereit, und doch, das Allerbeste ahnten wir nicht – schon am nächsten Morgen sollten wir mit der Jubelnachricht geweckt werden, daß der gefürchtete Mont Avron nach so wenigen Tagen seiner Beschießung von den Franzosen geräumt und von den Sachsen besetzt worden sei.
- ↑ Dies wird wohl derselbe Hauptmann v. Friesen sein, unter dessen Leitung jüngst die dritte Compagnie vom obengenannten Regiment Nr. 100 und die zehnte Compagnie des Grenadierregiments Nr. 101 das kecke Soldatenstücklein lieferten, die Meierei Groslay im Walde von Bondy zu überfallen und fünf Officiere sammt zweihundert Mann Franzosen zu Gefangenen zu machen. In Begleitung des Herrn v. Friesen war noch der Lieutenant Westhof.D. Red.