Martha und Maria
Unter den europäischen Culturvölkern haben nur die Russen, insofern man sie dazu zählen darf, einen richtigen Begriff von ländlicher Einsamkeit. Um sie als solche zu empfinden, darf man natürlich nicht ein Bauer sein oder irgend einem Berufe angehören, der außerhalb der Städte erfüllt wird; denn ländliche Einsamkeit empfindet nur, wer früher ihr Gegentheil, den Glanz der gebildeten Geselligkeit in großen Städten, kennen gelernt hat.
In allen Culturländern schlingt sich ein Rest dieses Glanzes, ein Widerschein städtischer Lebensformen in die ländliche Einsamkeit des kleinsten Dorfes mit hinein. Nur in Rußland, mit seinen unendlich weiten, unwegsamen Straßen und seinen eingegrenzten Standesverhältnissen, kann die ländliche Einsamkeit mitunter eine Welt für sich allein werden, mit eigenen, ihr ausschließlich angehörenden Lebensbedingungen, eine Abgeschiedenheit, die über Alles hinausreicht, was ein halbwegs gebildeter Gesellschaftsmensch in dieser Beziehung jemals geschaut und empfunden hat.
Sergey Iwanowitsch Nikrachewsky war aber keineswegs ein blos halbwegs gebildeter Mensch. Er hatte bis zum Jahre 1856 alle kriegerischen Affairen seines Vaterlandes in Asien wie in Europa als Officier mitgemacht. Wenn ihm diese Aufgabe auch nicht gestattet hatte, seine Liebe zur Naturforschung und zur Philosophie gründlich zu befriedigen, so hatte er seinem Beruf doch stets die Zeit und die Ruhe zur Selbsteinweihung in die Wissenschaften abzuzwingen gewußt. Da übrigens wahre Bildung nicht aus der unfruchtbaren Anhäufung von Kenntnissen besteht, sondern sehr wörtlich als etwas, das sich auf Grund der erworbenen Kenntnisse selbstständig im Menschen gebildet hat, folglich als eine Weltanschauung aufzufassen ist, so war Sergey Iwanowitsch Nikrachewsky, als er fünfunddreißig Lebensjahre zählte, in diesem Sinne ein gebildeter Mann.
Er war von Natur aus zur Melancholie angelegt, hatte jedoch eine stark ausgeprägte Neigung, alles Thun und Lassen sittlich zu begründen, sodaß er sich einem Hang zu müßiger, gedankenloser Trübseligkeit, zu andauernder Verdrießlichkeit nicht überließ. Schamhaft verhüllte er vielmehr die in seinem Gemüthe wurzelnde Melancholie wie einen Fehler, wie eine Schuld und gewann seinen wissenschaftlichen Ueberzeugungen einen Gleichmuth ab, der als ruhige Heiterkeit erschien.
Die wahre Beschaffenheit seines Innern hätte nur der errathen können, welcher seinen allgemeinen Aeußerungen besondere Aufmerksamkeit geschenkt haben würde. So sprach er zum Beispiel gern und viel über das Verhältniß des Glaubens zum Wissen, und weil einem ernsthaften und nicht frivolen Ungenügen am Glauben stets ein inniges Verlangen nach dessen Tröstungen, ein hingebendes Versenken in die heiligen Schriften vorhergehen muß, so war er ein bibelfester Philosoph. Oft äußerte er in verschiedenartiger Gesprächsform, das wahre Martyrium des Heilandes wäre nicht gewesen, daß er an's Kreuz genagelt wurde, sondern daß er wieder auferstehen mußte.
In solcher Lebensstimmung war es natürlich, daß er die Erbschaft eines kleinen Gutes im nordöstlich von Moskau gelegenen Gouvernement Kostroma mit dem Entschlusse antrat, die eigene Scholle nicht mehr zu verlassen und ein Gegengewicht zum beständigen Widerwillen, womit ihn das Treiben der Welt, besonders in Gestalt der politischen Zustände seines Vaterlandes, erfüllte, in der Abkehr von ihr, in der Einsamkeit zu suchen. Wer sich ausschließlich landwirthschaftlichen Beschäftigungen widmet, ohne einen raffinirten, einen andern als den von selbst sich ergebenden Gewinn daraus ziehen zu wollen und folglich ohne zu einem vielgestaltigen Menschenverkehr genöthigt zu sein, der befreit sich gewissermaßen vom politischen Charakter seines Landes und gehört nur noch dem Naturleben in der allgemeinen menschlichen Bedeutung desselben an.
So einsam nun auch Sergey dahinlebte, er gab auch dieser Lebensform so wenig wie seiner Melancholie einen fanatischen Anstrich. Bereitwillig unterbrach er vielmehr seine Einsamkeit, wenn dies von einem Interesse des Gemüths oder einer sittlichen Pflichterfüllung erheischt wurde. Die Beziehung zu seinem Freunde Nikolai Alexandrowitsch Towaroff schloß solches Interesse und solche Pflicht mit ein.
Towaroff war zehn Jahre älter als Sergey und war dessen Vorgesetzter im Militärstande gewesen. Beide Männer waren von früh an durch ein starkes Freundschaftsgefühl verbunden, ohne daß sie sich über dasselbe jemals ausgesprochen hätten. Ihre Gespräche waren im Gegentheil ein beständiges feindselig scheinendes Streiten. Denn obgleich Towaroff nicht wie Nikrachewsky eine fertige Gedankenwelt in sich trug und überhaupt dem Nachdenken nicht zugethan war, bildete doch seine Auffassung der Dinge einen vollständigen Contrast zur Weltanschauung des Freundes. Towaroff war mit der Beschaffenheit der Welt vollkommen zufrieden und behauptete oft, er wäre der glücklichste Mensch in dieser Welt, wenn die äußeren Umstände seine gute Laune nur einigermaßen unterstützt, ihm nur ein wenig die Last der Sorgen erleichtert hätten. Denn wie die Disposition der Gemüther, war auch das Schicksal der Freunde entgegengesetzter Art. Sergey Iwanowitsch [286] Nikrachewsky besaß mehr, als seine wesentlichsten Bedürfnisse erheischten; Nikolai Alexandrowitsch Towaroff weniger, als selbst die Nothwendigkeit erforderte. In jungen Jahren hatte er viel vergeudet und zwei Jahre nach seiner Mündigkeit ein armes Mädchen geheirathet.
Wäre es aus Liebe geschehen, der Bund wäre ihm vielleicht zum Segen gereicht, das Seelenglück hätte ihn in Bezug auf andere Besitzthümer genügsamer gemacht. Es war aber nicht aus Liebe geschehen, sondern aus – guter Laune, aus jenem holden Leichtsinn, der sich von wüster Tollheit durch das Edle der Absichten unterscheidet. Das Mädchen hatte ihm in dem Grade gefallen, daß er keine Verführungskünste anwenden mochte, aber es hatte ihm nicht in dem Maße gefallen, daß er auf dasselbe nicht, ohne zu verzweifeln, hätte verzichten können.
Er fand bald keine Freude mehr an seinem Hause, obgleich es niemals zu offenen Conflicten zwischen dem gutmüthig lebensfrohen Manne und der still demüthigen Frau gekommen war. Die Geburt einer Tochter beglückte ihn nur in bescheidenem Maße, weil sich seine Phantasie vom Besitz eines Sohnes besonders erfreuliche Vorstellungen gebildet hatte, und als auch das zweite Kind weiblichen Geschlechtes war, schickte er die Mutter sammt den kleinen Mädchen auf sein Gut im Gouvernement Wladimir.
Das Gut stammte von einem seiner mütterlichen Verwandten, Andreeff, und führte darum noch immer den Namen Andrejewo. Es bildete so ziemlich den Inbegriff seiner letzten Habe, war aber auch schon bis über die Schornsteine des Herrenhauses mit Schulden belastet. Alle heilige Zeit einmal besuchte dort Nikolai Alexandrowitsch seine Familie. Als seine Gattin starb, war es für ihn gerade an der Zeit, den Abschied vom Militär zu nehmen. Er fand zu Hause am Sarge seiner Frau zwei halberwachsene Töchter, Matrjona und Milinka, deren weitere Pflege und sorgsame Erziehung fortan allein zu übernehmen der hell durchsichtige Vorwand war, weshalb er nicht mehr nach Moskau oder Petersburg zurückkehrte, sondern von jetzt an ununterbrochen die erzwungene „Ruhe mit Würde“ genoß.
Die ältere Tochter, Matrjona, hatte schwarze Haare und in derselben Farbe funkelnde Augen; sie hatte sich gleich nach dem Tode der Mutter bereit und geschickt gezeigt, die Geschäfte der Haushaltung auf sich zu nehmen. All die kleinen Kunststücke, um die würdige Repräsentation des Hauses und zugleich einen wenn auch nur mäßigen Comfort auf dem Wege äußerster Sparsamkeit zu erreichen, hatte Matrjona der Mutter treu abgelernt.
Die jüngere Tochter hingegen, eine zarte blauäugige Blondine, verrieth einigen Widerstand gegen Beschäftigungen, welche sie mit dem Namen Prosa belegte, und befand sich außerordentlich wohl, wenn sie ungestört den schönen Künsten, namentlich aber der Lectüre sich hingeben durfte.
Matrjona's Vorliebe für haushälterische Obliegenheiten hatte zur Folge, daß das Mädchen fast ausschließlich mit ihnen betraut war, wobei die um ein Jahr jüngere Schwester sie nur wenig unterstützte. Indessen ward Matrjona deshalb doch nicht der Pflicht enthoben, an dem Unterricht in wissenschaftlichen Gegenständen ausgiebig theilzunehmen. In der Kindheit hatte diesen Unterricht eine Bonne besorgt, die später Gouvernante und, als die Mädchen dem zwanzigsten Lebensjahre nahe kamen, Gesellschafterin genannt wurde. Ernsthaft aber und in strenger Form ertheilte den Unterricht ein Deutscher, der in der nahen Kreisstadt als Sprachmeister lebte und schon bei Lebzeiten der Mutter, da die Mädchen in das Backfischalter getreten waren, jede Woche für zwei Tage nach Andrejewo kam. Die Sommerferien und die Weihnachtswoche brachte er dort stets als Gast zu, jedesmal mit zwei schweren Kisten ankommend, die seine Bücher enthielten, und ein Päckchen mit seiner Wäsche unter dem Arme tragend.
Er führte den Namen Hesekiel Nazarus und ließ sich Doctor tituliren, eine Gefälligkeit, die man ihm auch ohne weitere Prüfung des Thatbestandes gern erwies. Da er niemals lachte und beständig rauchte, so hatte er den Mädchen keine sympathische Erscheinung sein können, und der Vater, Nikolai Alexandrowitsch, ließ, so oft er des Sprachmeisters ansichtig geworden war, den stereotypen Witz vernehmen:
„Der Doctor Nazarus steht im Geruch der Gelehrsamkeit und des Tabaks.“
Trotzdem widmete Milinka ihrem Lehrer in deutscher Sprache und Literatur sowie in Geographie und Geschichte einen unbegrenzten Respect, eine bis zur Demuth gehende Hochachtung vor seinen Kenntnissen, während Matrjona in die gebotene Ehrerbietung einen leisen Zug von Spott und Verachtung zu mischen nicht unterlassen konnte.
Wenn man sie darüber zur Rede stellte, so erwiderte sie lachend: „Ich würde dem Doctor Nazarus gewiß sehr gut sein, wenn ich ihn nur immer, noch bevor ich ihn zu sehen bekomme, erst waschen könnte.“
Hesekiel Nazarus hatte für Rußland, das er bereits seit dreißig Jahren bewohnte, große Vorliebe. Den Grund wußte Niemand, aber es kümmerte sich auch Niemand darum. Die Thatsache genügte, um ihn sowohl beim Gutsherrn wie bei den dienenden Hausgenossen in unwandelbare Gunst zu setzen. Stets hatte er ein Lob für russische Eigenthümlichkeiten auf den Lippen, und eine Entschuldigung vorkommender Ungeheuerlichkeiten drückten wenigstens seine Mienen aus.
Er pflegte gewohnheitsmäßig und ohne weiteres Nachdenken dasjenige, was er vor einem Menschenalter, bevor er Deutschland verlassen, an Büchern und Schriften kennen gelernt hatte, für die neueste deutsche Literatur zu halten. So sagte er in den fünfziger Jahren: „Soeben ist eine neue Erzählung von H. Clauren erschienen, dem ersten jetzt lebenden Romanschriftsteller der Deutschen. Das Buch ist freilich selbst in Moskau noch nicht zu haben, aber die russischen Buchhandlungen müßten Zauberer sein, wenn man bei so großer Entfernung eine so rasche Beförderung von ihnen verlangen könnte.“
Das Herrenhaus in Andrejewo empfing außer dem Doctor Hesekiel Nazarus nur selten einen Gast. Es wurde neben der Gutsherrschaft blos noch von dienstthuenden Leuten bewohnt, und deren waren nur drei an der Zahl: die schon erwähnte Gesellschafterin, eine uralte Köchin und ein Kutscher. Letzterer konnte sein wichtiges Amt nicht zu jeder Zeit bekleiden, einfach aus Mangel an Pferden. Nikolai Alexandrowitsch wußte an denselben stets einen unleidliche Fehler zu entdecken, so oft ihm die Fütterung eine unerschwingliche Last zu werden drohte, und nach der Veräußerung, unter dem Vorwand, die entsprechende Rasse erst suchen zu müssen, die Wiederanschaffung lange hinauszuschieben. Besuche von und bei Gutsnachbarn fanden nicht statt; denn je umfassender die russische Gastfreundschaft sich gestaltet, die nicht blos die Bewirthung des einzelnen Besuchers, sondern auch die seiner Angehörigen und Dienerschaft und oft für mehrere Wochen erfordert, um so mehr trug man Bedenken, das Herrenhaus von Andrejewo damit zu belasten, was zur natürlichen Folge hatte, daß auch die Bewohner des letzteren es niemals zu dem Zwecke verließen, um bei Freunden in der Nachbarschaft gastliche Aufnahme zu finden.
So verlief das Leben auf Andrejewo in einer ununterbrochenen Einförmigkeit, welche jede sich zufällig darbietende Abwechselung oder Neuerung im Lichte eines großen Ereignisses erscheinen lassen mußte. Als solches wurde es denn auch aufgenommen, als der geliebteste Freund und ehemalige Camerad Towaroff's, als Sergey Iwanowitsch Nikrachewsky im Gouvernement Kostroma sich ansiedelte. Die erste Meldung von diesem Ereigniß brachte Nikolai ganz außer sich vor Freude.
„Dieser einzige Mann,“ rief er, „ersetzt mir das Officierscasino in Moskau, die Bälle in Petersburg und die Jagden bei Kiew. Wie sehne ich mich, mit ihm grob zu werden! Denn er ist ein schwarzgalliger Misanthrop, dem man zuweilen einen Schlag geben muß, um ihn wieder auf einen vernünftigen Weg zu bringen. So lange er es aber nicht zu bunt treibt, so lange man ihn gewähren lassen kann, ist er ein bezaubernder Mensch.“
Auch Sergey freute sich, dem alten Freunde räumlich näher zu kommen und die Gespräche und Discussionen über die zwischen ihnen herrschenden Verschiedenheiten der Lebensauffassung zu erneuern. Sergey, der auch durch die Sanftmuth und Gelassenheit beim Disputiren ein Gegensatz zu Nikolai war, liebte diesen über Alles, ohne sich eines andern Grundes dafür bewußt zu sein, als daß er im Freunde den Ausdruck der reinsten Lebensfreude bewunderte, die, wenn sie nicht momentane Betäubung ist, sondern zur Natur des Gemüthes gehört, auf Andere stets anziehend und erfrischend wirkt. Da beide Freunde für das Briefschreiben nicht eingenommen waren, so hatten sie sich während langer Trennung über ihre gegenseitigen Verhältnisse kaum eine Kunde gegeben.
Nicht lange dauerte es, und die Besuche Sergey's waren [287] ein nothwendiger Bestandtheil des Lebens auf Andrejewo geworden. Mit Staunen und doch mit kaltem Gleichmuth sah und beobachtete er die schön erblühten Töchter des Freundes, die eben in der Vollgewalt ihres Reizes standen. Die Unterhaltung im Familienkreise gab den Mädchen Gelegenheit, ihre Gesinnungen, Wünsche, Lebenshoffnungen auszusprechen. Sergey fand dann, wenn er sich den langweiligen Weg der Heimkehr durch Nachsinnen verkürzte, genügenden Grund, sich über sich selbst zu wundern. Denn ohne dabei die äußere Erscheinung im Geringsten in Anschlag zu bringen, empfand er doch, soweit er derartigen Eindrücken überhaupt zugänglich war, mehr Wohlgefallen an der durchaus praktisch gesinnten Matrjona, als an der zu schwärmerischen Gefühlen und Abstractionen geneigten Milinka, während nach seiner eigenen Natur und Denkungsweise gerade das Gegentheil hätte der Fall sein sollen.
Er hatte eines Tages Gelegenheit, die verschiedenen Charaktere der beiden Mädchen zu erörtern. Denn er genoß die Ehre, bei sehr schlechtem Wetter und weil wieder einmal Nikolai's Pferde zu große Fehler gehabt hatten, in seinem eigenen Wagen Herrn Hesekiel Nazarus nach der Kreisstadt zu bringen.
Der deutsche Sprachmeister hatte schon lang entdeckt, daß Nikrachewsky mit der Philosophie nicht unbekannt und stets wißbegierig war, mehr darüber zu erfahren. Nazarus selbst war in der Leibnitz- Wolff'schen Schule stecken geblieben und vollkommen überzeugt, daß Alles, was später auf diesem Gebiet an den Tag getreten und was er zufällig nicht mehr gelesen, durchaus keine Bedeutung hatte. Als Sergey, der mit Kant vertraut war, nach diesem fragte, antwortete Nazarus:
„Ja, ich weiß, das ist einer von den Neueren, aber die Jungen taugen alle gar nichts. Ich bedaure sehr, mein guter Herr, daß Sie meine Werke nicht gelesen haben.“
„So!“ rief Sergey höchst überrascht, „das will ich nachholen! Wo sind denn die Werke zu haben?“
„Sie sind nicht geschrieben,“ erwiderte Nazarus, heftige Rauchwolken von sich stoßend; „ich habe niemals freie Zeit dazu gehabt, und außerdem verträgt meine Natur das Schreiben nicht gut. Ich nicke regelmäßig dabei ein und schlafe meinen Lesern das Beste weg. Uebrigens,“ fuhr er nach einer Pause fort, „darf man, um Weltweisheit zu schöpfen, nicht zu weit in die Jahrhunderte zurückgehen. Denn ohne Rauchen läßt sich nach meiner Meinung nichts Gescheidtes ausdenken. Der Tabak kam erst nach der Entdeckung Amerikas zu uns; Weltweisheit läßt sich also frühestens vom sechszehnten Jahrhundert erwarten.“
Sergey erwiderte hierauf nichts, um den Gedanken nicht aussprechen zu müssen, daß er sich mit dem Sprachmeister nicht wohl in Wissenschaft werde ergehen können. Weil aber Nazarus doch unverkennbar ein frommer Mann war, sagte Sergey:
„Sie haben gewiß bemerkt, Herr Doctor, daß die Töchter meines Freundes Nikolai Alexandrowitsch von sehr verschiedener Natur sind. Mir ist dabei heute eine Bibelstelle in's Gedächtniß gekommen, ohne daß ich mich im Moment darauf besinnen könnte, wie sie eigentlich lautet.“
Das war für Nazarus eine willkommene Gelegenheit, zu zeigen, wie bibelfest er war. Er fragte nur noch, worin die Verschiedenheit bestehen möge, die Sergey meinte; denn von selbst war der Sprachmeister niemals darauf gekommen, psychologische Bemerkungen anzustellen. Sergey erklärte ihm nun, daß Matrjona ihm den Eindruck einer durchaus dem realen Leben zugewendeten Seele mache, während Milinka nicht bezweifeln lasse, daß ihr Herz und ihre Geistesrichtung idealeren Interessen sich zuneige. Mehrmals mußte Sergey diese Auffassung auseinander setzen, ehe der alte Lehrer verstand, was der Edelmann meinte. Dann aber besann er sich wenig mehr und sagte:
„Sie haben an das Evangelium Lucas gedacht, Capitel 10, Vers 38 bis 42.“
Dann citirte er sogleich wörtlich:
„Es begab sich aber, da sie wandelten, ging er in einen Markt. Da war ein Weib, mit Namen Martha, die nahm ihn auf in ihr Haus. Und sie hatte eine Schwester, die hieß Maria; die setzte sich zu Jesu Füßen und hörte seiner Rede zu. Martha aber machte sich viel zu schaffen, ihm zu dienen. Und sie trat hinzu und sprach. 'Herr, fragst Du nicht darnach, daß mich meine Schwester lässet allein dienen? Sage ihr doch, daß sie es auch angreife!' Jesus aber antwortete und sprach zu ihr: 'Martha, Martha, Du hast viele Sorge und Mühe, eins aber ist noth. Maria hat das gute Theil erwählet, das soll nicht von ihr genommen werden.'“
Nazarus fügte seinem Citat hinzu:
„Merkwürdig, daß es hier keine Parallelstelle in den anderen Evangelien giebt.“
„Die Parallele finden wir im Leben,“ sagte Sergey, „und doch –“
Er schwieg.
Als Sergey nach einigen Tagen in Andrejewo erschien, fand er den Arzt im Hause. Man hatte ihn aus der Kreisstadt kommen lassen, weil Towaroff von einem Krampfanfall war ergriffen worden. Der Arzt kam nun täglich und schien es besonders darauf abgesehen zu haben, die Wirkungen eines Besuches Sergey's zu beobachten.
Dieser gab sich unbefangen wie gewöhnlich der Unterhaltung mit Nikolai hin. Es handelte sich diesmal um eine Verwandte Sergey's, um die Gräfin Varinka Wladimirowna Tschatscherin in Petersburg, die Schwester seines verstorbenen Vaters. Sie war längst Wittwe; ein Sohn war auf dem Felde der Ehre geblieben, eine Tochter in Frankreich verheirathet. Die Trennung von ihrem einzigen noch lebenden Kinde schmerzte sie sehr; dennoch konnte sie sich nicht entschließen, Rußland auf die Dauer zu verlassen.
Die Tante Sergey's war keineswegs damit einverstanden, daß Sergey sich nach dem Verlassen des Militärdienstes wie ein Schwärmer, wie ein Sonderling in die Einsamkeit zurückzog. Sie wollte, daß er die ihm günstigen Chancen benutze, um im Staatsdienst von Neuem Carrière zu machen, und schrieb ihm lange Briefe, um ihm diese Ueberzeugung beizubringen.
Nikolai Alexandrowitsch war ganz derselben Meinung.
„Die Gräfin Tschatscherin ist eine Frau nach meinem Herzen,“ rief er; „ich verliere sehr viel an Dir, das weißt Du, Sergey Iwanowitsch; die Teufel der erzwungenen Weltflucht, der Langenweile werden sich mir wieder auf Brust und Nacken setzen. Aber alle Teufel der Erde und der Hölle sollen mich nicht verleiten, einen guten Freund in seiner verstockten Dummheit zu bestärken!“
„Was verstehst Du unter verstockter Dummheit?“ erwiderte Sergey ganz gelassen; „daß ich nicht die Uniform ausgezogen haben will, blos um eine Livrée dafür anzuziehen?“
Dem guten Nikolai stieg auf diese Rede das Blut in's Gesicht.
„Da bist Du wieder bei Deinem Thema!“ begann er eine lange Strafpredigt, in deren Verlauf seine Aufregung stets größer und seine Stimme stets lauter wurde. Als die Aufregung Nikolai's am stärksten geworden war, trat der Arzt in's Zimmer. Er untersuchte den Zustand Nikolai's und gab dann, indem er sich von diesem verabschiedete, Sergey einen leisen Wink. Nikolai durfte sein Gemach nicht verlassen, und Sergey gehorchte dem Winke und begleitete den Scheidenden. Als sie außer der Gehörweite des Kranke waren, erklärte der Arzt, daß die Gespräche der Freunde für den leidenden Towaroff lebensgefährlich wären, gerade weil er die ihm daraus erstehende Aufregung so sehr liebte, wie ein Branntweintrinker den Rausch, und daß es gut wäre, wenn die Zusammenkünfte für einige Wochen unterbrochen werden könnten; nur dürfe Towaroff den wahren Grund der Unterbrechung nicht ahnen.
Sergey ließ sich dies gesagt sein. Zum Freunde zurückgekehrt, warf er sich wie erschöpft in einen Sessel und sprach:
„Ich bin hinausgegangen, um frische Luft zu athmen. Unsere Debatten greifen meine Nerven an. Ja, ich habe Nerven, wie mir der Arzt soeben betheuerte. Bisher glaubte ich, Nerven wären ausschließlich ein Bestandtheil des weiblichen Körpers. Zehn Jahre jünger als Du, Nikolai, bin ich um zehn Jahre älter nach meiner Schwäche und leiblichen Beschaffenheit. Wir dürfen, um meinetwillen, eine Zeit lang nicht mehr zusammen kommen.“
Nikolai war sehr erschrocken.
„Wie lange willst Du fortbleiben?“ fragte er.
„Ich weiß es nicht,“ antwortete Sergey, „aber ich will Dir eine Art Vertrag vorschlagen.“
Man war jetzt im November, und sie kamen überein, daß [288] sie sich am Neujahrstage wiedersehen wollten, nach vorausgegangener brieflicher Verständigung, ob in Andrejewo oder bei Sergey. Sollte jedoch für Einen von ihnen ein wichtiges, selbst nur ein ungewöhnliches Ereigniß eintreten, das er dem Andern mündlich mittheilen müsse oder wolle, so wäre eine Ausnahme zu machen, und in diesem Falle könne Einer den Andern ungehindert besuchen. Selbst den beiden Mädchen, als er ihnen Lebewohl sagte, vertraute Sergey nicht den wahren Grund an, weshalb er für längere Zeit Abschied nahm.
Beide Schwestern waren schmerzlich bewegt, daß sie den Freund ihres Vaters bis zu Neujahr nicht wiedersehen sollten. Der Tag ging eben zur Neige; das Wetter war grau und unheimlich geworden und Schneewolken zogen am Himmel hin. Matrjona verließ plötzlich den Salon und lief zu Wania, dem alten Diener, der Sergey immer begleitete. Sie kehrte zurück und erklärte mit eifrigen Worten, daß Sergey für die plötzliche Verschlimmerung des Wetters nicht genügend ausgestattet sei. Sie bat ihn, Wania zu erlauben, einen Pelz des Vaters, ein Fell und einen Teppich für den Wagen mitzunehmen, was jener mit Dank zuließ.
Während ihrer Entfernung hatte Sergey eine tiefer gehende Unterhaltung mit Milinka geführt. Nachdem er ihr den Inhalt seines letzten Zwiegespräches mit Nikolai angedeutet, war sie fast begeistert in der Zustimmung zu den Motiven, welche Sergey für sein Zurückziehen von der Welt geltend machte. Er war davon so angenehm bewegt, daß er sich nicht enthalten konnte, auch die ältere Schwester zu einer Entscheidung über die Frage aufzufordern. Er gab ihr zuvor noch die Gründe für seine eigene Entscheidung an.
Matrjona dachte einen Augenblick nach und sagte dann sehr gelassen: „Die Richtigkeit der Motive zu beurtheilen, die zur Weltabgeschiedenheit veranlassen können, bin ich wohl zu jung und zu unerfahren. Ich glaube jedoch, daß Grundsätze allein hier gar nichts zu sagen haben, sondern nur das Wichtigste und Köstlichste, was ein Mensch nach meiner Meinung besitzt, seine Gemüthsstimmung, eine entscheidende Stimme hat. Ob Einer sich wohler in der Einsamkeit oder in der Welt fühlt, davon hängt es ab. Man kann zur Noth für einen Andern denken, wenn er selbst keine Einsicht hat, aber man kann für keinen Andern fühlen. Und das Glück, das hier die Wahl bestimmen soll, liegt doch immer nur im Gefühl.“
Dies klang nicht so schmeichlerisch wie der Beifall, den ihm Milinka gezollt hatte, aber es lagerte sich wie ein Stoff zu fernerem und langem Nachdenken in seiner Seele ab. Vorläufig, im stillen Hinbrüten während der Heimfahrt, kleidete er diesen Stoff nur in die oft halblaut wiederholten Worte: „Matrjona und Milinka – Martha und Maria.“
Gänzlich entfernt aber war er von dem Gedanken, diesen Gegensatz als eine Frage zu fassen, und „Martha oder Maria“ vor sich hinzusagen.
[314] Für die Gefährlichkeit des Wetters hatte die Tochter Nikolai's ein prophetisches Gefühl gezeigt. Denn während der wenigen Stunden, deren Sergey bedurfte, um nach Hause zu gelangen, war ein völliger Schneesturm losgebrochen. Der Reisende hatte Ursache, die Vorsorge Matrjona's dankbar zu empfinden. Die folgenden Tage dienten dazu, der Furchtbarkeit und Strenge eines russischen Winters volle Entfaltung zu geben. Sergey verschloß sich in seine Bibliothek und fand Behagen an einem Zustande, der ungeheuere Schneemauern aufthürmte, um ihn von der Menschenwelt völlig abzutrennen. Selbst Briefe und Zeitungen konnten einstweilen nicht zu ihm gelangen, weil die Ueberwehungen der Straßen den Postenlauf verhinderten. Wie ausgestorben war die ganze Gegend, und Sergey kam es vor, als ob er sich in einem Fabelreiche aufhielte, das nicht den Namen eines der Länder dieser Erde trüge.
Nachdem die Schneestürme aufgehört hatten, fror es gewaltig. Vögel stürzten todt aus der Luft. Die Arbeiter, die aufgeboten wurden, um mitten durch den Schnee hindurch glatte Bahnen für den Verkehr herzustellen, konnten nur langsam und unter großen Vorsichtsmaßregeln gegen die Kälte ihr Werk vollbringen. Wie früher der Schnee, so machte jetzt die Temperatur das Reisen fast unmöglich.
Dennoch schien sich der Postschlitten durchgearbeitet zu haben; denn Sergey erhielt endlich Sendungen aus Petersburg, unter welchen sich ein Brief seiner Tante, der Gräfin Tschatscherin, befand. Sie erzählte zuerst die Neuigkeiten der Hauptstadt, beschrieb die Genüsse, welche die Oper und das französische Theater boten, und schilderte die Personen, die ihren Kreis bildeten. Dann ging sie mit ernsteren Worten auf ihren eigentlichen Zweck über.
„Du siehst, dieser Winter läßt sich glänzend an,“ schrieb sie, „er ist ja der erste, seitdem wir den neuen Czar und mit ihm den Frieden bekommen haben. Gott segne sie beide, den Kaiser und den Frieden! Wenn Dich nun weder Lust und Vergnügen bewegen können, Deine Einsamkeit aufzugeben, noch die neu erwachte Thätigkeit auf allen Gebieten Macht über Dich hat, Dich dem Müßiggange zu entreißen, so bin ich, falls Du hierin wirklich einen unwandelbaren Entschluß gefaßt haben solltest, weit entfernt, Dir deshalb zu zürnen, oder auch nur zu grollen. Mich dünkt zwar, daß, wenn es sich, wie jetzt hier, überall regt und bewegt und ein neues, vielversprechendes Regiment an der Spitze steht, kein Mann von fünfunddreißig Jahren und in bester Gesundheit sich weigern sollte, an die Gestaltung besserer Zustände mit Hand anzulegen. Indessen habe ich über die Sache mit Peter Michailowitsch Nikitine gesprochen, den Du kennst und der ein vortrefflicher Mann ist. Er ist um fünf Jahre jünger als Du, und scheint mir doch klarer zu sehen, als wir Alle. Er bestreitet mir gewissermaßen das Recht, hinsichtlich Deiner öffentlichen Laufbahn in die Dispositionen Deines Charakters widersprechend eingreifen zu wollen. Ich muß mich daher bescheiden, Dir meine Wünsche in dieser Beziehung, obgleich es bereits das zehnte Mal sein mag, noch einmal auszudrücken. Frauen sollen sich ja nicht in die Angelegenheiten des öffentlichen Lebens machen, nicht einmal durch einen darauf bezüglichen Rath.
Einen Punkt giebt es jedoch, den ich nicht so gelassen behandeln kann. Du bist der Sohn meines Bruders, den ich von Jugend an mehr geliebt habe, als bis heute irgend einen Menschen, meine Kinder ausgenommen. Ich bin überzeugt, daß er sich im Grabe umdrehte, wenn er wüßte, daß Du als Junggeselle dahingehen und seinen Namen nicht fortpflanzen willst. Wenn Du keine angeborenen, sondern nur freiwillig übernommene Pflichten dem Vaterlande gegenüber anerkennst, wie Du oft gesagt hast, so wirst Du Dich doch den Pflichten nicht entziehen wollen, welche Abstammung und Familie Dir auferlegen.
Komme also diesen Winter nach Petersburg, um Dir eine Frau auszusuchen! Du hast die Wahl unter den schönsten, vornehmsten und reichsten Töchtern des Landes. Welche Freude hätte ich, Deine Pläne durch meinen kleinen Intriguengeist zu unterstützen, der auch in den unschuldigsten Dingen nicht überflüssige Dienste thut! Davon will ich gar nicht sprechen, daß ich mein Haus durch neue, weibliche Verwandtschaften gleichsam wärmer machen möchte, da es bei allem Zudrange der Weltleute doch sehr kalt und einsam ist. Schreibe mir bald günstig über dies Alles!“
Kaum hatte Sergey den Brief zu Ende gelesen, als ihm [315] Wania meldete, das ganze Dorf wäre in Aufruhr gebracht, und zwar durch denselben Boten, der soeben mit den Postsendungen angekommen war.
Dichter Schneefall war nämlich wieder eingetreten; die Straßen waren auf's Neue verweht worden, und der Postschlitten, obgleich mit mehr Pferden als gewöhnlich bespannt, hatte sich in eine Vertiefung gesenkt. Schreiend, wimmernd und fluchend hatten sich die zahlreichen Passagiere so weit aus dem Schnee herausgearbeitet, um nicht sogleich ersticken zu müssen, doch konnten sie sich nicht selbst befreien, man mußte ihnen mit den nöthigen Gerätschaften zu Hülfe kommen. Einem der Postillone war es gelungen, ein Pferd loszuspannen, das Briefpacket an sich zu nehmen und reitend das Dorf zu erreichen. Nun sollte Alles, was Hände und Schaufeln besaß, auf so vielen Fuhrwerken, wie nur immer aufzutreiben, zur Unglücksstätte hinauseilen.
Sergey Iwanowitsch ließ sogleich satteln, beschleunigte durch sein Erscheinen, sein Zureden und seine zweckmäßigen Befehle die Bereitmachung der Leute und setzte sich an die Spitze des hülfebringenden Zuges.
Der Anblick und das Anhören der Reisenden war schrecklich. Sie waren beflissen, bei gehemmter Bewegung in grimmiger Kälte sich vor einschlafender Betäubung und folglich vor Erfrieren hauptsächlich durch den Gebrauch ihrer Lungen zu schützen. Die Jammertöne verstummten jedoch sogleich, als die Ankunft des Zuges Gewißheit der Befreiung gab; es schien, sobald sie sich gerettet wußten, daß das Unbehagen einer Calamität, die nothwendig zur Natur ihres „heiligen“ Rußlands gehörte, sie nicht weiter anfechte.
Mitten im Arbeiten der Leute vernahm Sergey eine Stimme, die ihm bekannt schien, ohne daß er sich ihres Besitzers sogleich zu entsinnen gewußt hätte. Er legte mit Hand an in der Richtung, aus welcher die Stimme hervordrang, und hatte bald das Vergnügen, daß ihm Herr Doctor Hesekiel Nazarus in die Arme fiel.
Der arme Deutsche schien der Einzige zu sein, auf welchen die Schrecken der Lage auch in moralischer Beziehung einwirkten. Auf die Beine gebracht und auf sichern Boden gestellt, rührte er sich nicht mehr vom Platze. Sein Gesicht drückte neben physischem Schmerz auch trauriges Erstaunen aus, daß solche Ereignisse unter Gottes Himmel überhaupt möglich seien. Nachdem er lange mit Verwunderung im Kreise umhergesehen, blieben seine Augen auf Sergey haften, den er jetzt erst deutlich zu erkennen schien. Nazarus sprach aber kein Wort, und der Ausdruck der Ueberraschung wich nicht aus seinen Zügen.
„Was haben Sie? Was denken Sie?“ fragte der Edelmann unwillkürlich.
Lakonisch erwiderte Nazarus:
„Ich bin gewaschen.“
„Das glaube ich wohl,“ sagte Sergey, „aber nun lassen Sie sich auch abtrocknen!“
Und er sorgte dafür, daß einer der Schlitten für den armen Sprachmeister zurecht gemacht wurde, ritt nebenher und richtete keine Frage mehr an den Verunglückten, wie Vieles auch zu erfragen gewesen wäre. In seinem Hause übergab Sergey den Sprachmeister der Behandlung Wania's, der sehr gut wußte, wie man einen Halberfrorenen wieder zu Leben und Behagen bringt. Nach dem Genuß heißer Getränke und glücklichem Ueberstehen der mit ihm vorgenommenen Manipulationen schlief Nazarus bis zum späten Morgen des nächsten Tages und erschien dann mit seinem gewohnten Gleichmuth am Frühstückstisch des Gutsherrn.
Noch verhielt sich der Sprachmeister sehr schweigsam, seine Miene jedoch spiegelte Zufriedenheit, sodaß Sergey ihn nicht durch wichtige Erkundigungen im vergnügten Hinbrüten stören wollte. Als aber Nazarus den Inhalt des Samowars in die Tasse fließen sah, verdüsterte sich seine Miene plötzlich und auffallend. Er suchte in allen seinen zahlreichen Taschen mit Verzweiflung, und wenn kein Capital bei ihm zu vermuthen war, so konnte man doch glauben, er hätte ein ihm anvertrautes verloren.
„All mein elendes Gepäck trug ich um den Leib gebunden,“ stöhnte er endlich, „und kein Stückchen fehlt. Aber das Kostbarste von den schnöden Gütern dieser Erde, meine Pfeife, meine kurze Reisepfeife –“
Er rang die Hände.
„Die ist wohl im Schnee stecken geblieben,“ sagte Sergey, „aber –“
„Nein,“ unterbrach ihn Nazarus, „ich erinnere mich jetzt, ich habe sie im Postwagen zurückgelassen. Unter'm Schnee habe ich nicht geraucht und später war ich wie verdonnert und verwettert. Ich will gleich –“
„Aber,“ schrie er auf, sich selbst unterbrechend; „jetzt fällt mir bei, der Postschlitten ist ja gewiß schon ohne mich davongefahren. Mein Reiseschein gilt nur für den bestimmten Tag, und es ist auf dem Schein zu lesen, daß auf einen Passagier, der sich von einer Station entfernt, nicht gewartet wird.“
„Kamen Sie denn nicht zu mir? War das nicht Ihr Reiseziel?“
„Keineswegs. Ich wußte nicht einmal, daß das Gut auf dem Wege liegt. Wie sollte ich mich erdreisten, uneingeladen –! Aber was soll ich jetzt anfangen?“
Der Gutsherr bedeutete ihm, den Thee nicht erkalten zu lassen, und sagte dann mit Lächeln:
„Für beide schreckliche Fälle weiß ich Abhülfe. Ich besitze von meinem Großvater her eine Pfeifensammlung, um die ich mich gar nicht kümmere; ich genieße nur Tschibouk oder Cigarre. Ich hoffe, ein Stück der Sammlung wird würdig sein, das verlorene zu ersetzen. Und was das Versäumen der Post betrifft, so war es meine Schuld; ich habe Sie in mein Haus entführt. Es ist daher meine Pflicht, für einen neuen Reiseschein zu sorgen, wenn Sie mir nur sagen wollten, wohin?“
„Nach Moskau.“
Nazarus nahm nach und nach seine frühere vergnügte Miene wieder an, und Sergey ließ ihm schweigend Zeit, sein Mahl zu beenden. Dann führte er seinen Gast in das Rauchzimmer, und als Nazarus seinen Tabak in Brand gebracht hatte, bat Sergey um Nachricht vom Freunde Nikolai Alexandrowitsch und von dessen ganzem Hause.
„Alles sehr wohl,“ sagte Nazarus und wähnte sich sehr fein auszudrücken, wenn er hinzufügte: „Sehr wohl Alles, so weit es den Körper betrifft, aber was die Kleider anbelangt –“
Und er schwieg und schüttelte den Kopf mit bedenklichem Gesicht.
„Die Kleider? Wie meinen Sie dies?“
„Ich meine, in den Kleidern sind Taschen und in den Taschen ist – nichts,“ platzte Nazarus ohne weitere Versuche, fein zu sein, heraus.
Und nun erzählte er umständlich die Verlegenheiten und Bedrängnisse des Hauses Towaroff in Folge der Schulden, die auf dem Besitze Andrejewo lasteten, und wie die Nervenerregung, die der Arzt den Gesprächen mit dem Freunde zugeschrieben, eigentlich in der materiellen Pein und Sorge des Gutsherrn wurzelte, der, abgesehen von der momentanen Noth und der damit verbundenen unangenehmen Correspondenz eines jeden Tages, noch von dem Zwange gequält war, als heiterer Lebemann seine Tage in einsamer Zurückgezogenheit hinbringen zu müssen. Er hatte nun, weil die Antwort auf einen Vorschlag, den er seinem Moskauer Advocaten gemacht, durchaus nicht eintreffen wollte, Nazarus, in Ermangelung eines besseren Vermittlers, veranlaßt, einen Bescheid in Moskau zu ertrotzen und zurückzubringen.
Sergey hörte diese Eröffnungen mit Bestürzung an und versank in tiefes Nachdenken. Sein Gast war jedoch nicht der Mann, dem er seine Gedanken hätte mittheilen wollen. Er bestand jetzt darauf, daß Nazarus seine Mission ohne Zögerung wieder aufnehme, und stattete ihn mit Allem aus, was die Reise beschleunigen und zugleich möglichst behaglich machen konnte.
Wieder allein geblieben, ging Sergey mit großen Schritten in seinem Bibliothekzimmer auf und nieder.
„Von dieser ganzen Misère,“ dachte er, „habe ich keine rechte Vorstellung gehabt; ich glaubte immer nur, es handle sich um Kleinigkeiten und Späße. Nikolai ist ein idealer Mensch – ich habe das immer gewußt. 'Die Freundschaft darf nicht zum Mittel für gemeine Zwecke dienen; Geld leiht man sich nicht von seinen Freunden, sondern von seinen Feinden aus,' hat er oft lachend gesagt. Lieber den Gleichgültigsten, den Fremdesten, als den Freund unter der Erbärmlichkeit des eigenen Schicksals leiden zu lassen – das war immer sein Grundsatz. Aber trotz alledem – jetzt muß geholfen werden.“
Sergey setzte sich nachsinnend an einen Schreibtisch, wo unter einem Briefbeschwerer die Schrift der Gräfin Ttschatscherin hervorlugte. Mechanisch zog Sergey das Schreiben hervor und las es noch einmal durch.
[316] „Die Tante hat im Grunde Recht,“ sagte er sich, „ich bin es meinen Vorfahren schuldig, meinen Namen nicht erlöschen zu lassen und ich bin es mir selbst schuldig, wenn ich schon nicht dem Vaterlande dienen kann, ein Weib, ein Kind so glücklich werden zu lassen, wie es in meiner Macht liegt. Man kann nur dann mit gutem Gewissen für sich selbst leben, wenn man dabei auf irgend eine Weise für Andere lebt, und eine gute Ehe erlaubt dies, ohne daß man deshalb sein Selbst in ein verhaßtes Joch spannen müßte. Jetzt ist aber nicht Zeit, daran zu denken – oder doch?“
Er stand auf und ging wieder umher.
„Ja,“ sagte er sich mit Entschlossenheit, „das ist zugleich der einzig richtige Weg, um Nikolai zu helfen. Er hat zwei Töchter, ich will ihm eine abnehmen, ob Matrjona oder Milinka – Martha oder Maria, das frage ich mich jetzt nicht. Genug, die Versorgung einer Tochter ist schon an und für sich eine Erleichterung seiner Lage und, was noch mehr bedeutet, gestattet mir auch, in das Detail seiner Verhältnisse einzudringen und Rath zu schaffen. Nun, wahrhaftig! Die Werbung ist doch wohl ein genug wichtiges Ereigniß, um mir nach unserem Vertrag zu gestatten, noch vor Neujahr auf Andrejewo zu erscheinen.“ – –
Nichts merkte man an der Lebensführung, die im Herrenhause Andrejewo waltete, von den Qualen und Sorgen, die das Gemüth des Gutsherrn zerrissen. War die Befriedigung des Nothwendigsten auch bis zur Kümmerlichkeit einfach, so blieben doch die Geschäfte wie die Genüsse des Tages von einem ungestörten Frieden umhegt. Denn Nikolai war bei soldatisch rauhen Manieren und bei aller Rücksichtslosigkeit, wenn es sich für ihn um ein Vergnügen oder ein Behagen handelte, außerordentlich zartfühlend; er hätte sich lieber getödtet, als unnützer Weise seine Umgebung zu Leidensgefährten in seinen Sorgen gemacht. Dennoch gingen, ohne daß er es wußte, gleichsam die Athemzüge seines Unglücks durch das Haus. Man sprach sich nicht darüber aus, aber man schmachtete nach einer Freude – und sie kam, als in einer Abendstunde, unvermuthet wie ein Wunder Sergey Iwanowitsch Nikrachewsky in den Hof einfuhr.
Der Jubelschrei, mit dem ihn der Knecht empfing, pflanzte sich fort bis in das Cabinet Nikolai’s, der hierauf mit den Sprüngen eines Knaben die Treppe hinabeilte. Im Salon harrten die Mädchen des Angekommenen, und man saß bald gemüthlich am warmen Ofen, bis Matrjona, die, wie immer, geschäftig ab und zu ging, mit dem Ausdruck des Befremdens meldete, daß Wania ein ganzes Magazin von Wein und Delicatessen aller Art in die Küche geliefert habe.
„Ich bitte tausendmal um Entschuldigung,“ sagte Sergey, „aber ich weiß nur zu gut, daß wir auf unseren Herrenhäusern in dieser Jahreszeit von Allem abgeschlossen sind, was angenehm schmeckt. Und da ich schon reiste, so bin ich über den Ort gegangen, wo man sich assortiren kann. Werfen Sie getrost weg, Fräulein Matrjona, was Ihnen für das Haus nicht paßt, und für das Brauchbare werde ich Dir die Rechnung präsentiren, Nikolai Alexandrowitsch.“
Dieser, als er von einer Rechnung hörte, starrte betrübt vor sich hin.
„Apropos!“ fuhr Sergey fort, „ich habe eine Botschaft für Dich, Nikolai. Du sollst einen Brief lesen, den mir meine alte Tante, die Gräfin Tschatscherin geschrieben hat. Den muß ich Dir zeigen, wenn wir allein sind. Nicht, daß ich so unschicklich und grausam wäre, vor den Damen ein Geheimniß zu haben, aber es ist zunächst Dein Geheimniß, Nikolai, und es brennt mir auf der Seele; ich werde bessern Appetit haben, wenn Du erst davon Kenntniß hast.“
„Dann komm’ in mein Zimmer!“ rief Nikolai und ging der Thür zu. Sergey folgte ihm, nachdem er um Verzeihung gebeten hatte für die Störung des Familienkreises, die nicht von langer Dauer sein sollte.
[330] Als die Freunde allein waren, sagte Sergey:
„Du fragtest noch nicht nach dem Ereigniß, das mich in Dein Haus geschneit hat; nach unserm Vertrag dürfte es doch nur etwas Außerordentliches sein.“
„Dein Kommen ist mir immer ein Ereigniß,“ erwiderte Nikolai, „Du erfüllst also die Vertragsclausel schon dadurch, daß Du kommst. Uebrigens hast Du ja auch etwas Außerordentliches in der Tasche, wie Du sagst: den Brief der Gräfin.“
„Nun, es kann etwas werden,“ lächelte Sergey, „meine gute Tante will mich verheirathen! Lies!“
„Jedes Wort ist eine Perle,“ rief Nikolai, nachdem er den Brief der Gräfin gelesen hatte. „Du bist natürlich dagegen, und wir fangen gleich wieder zu streiten an.“
„Diesmal nicht, Nikolai. Denn das Ereigniß ist, daß ich mich entschlossen habe, zu heirathen.“
Nikolai sprang auf und umarmte seinen Freund.
„Hurrah! Und wen hast Du gewählt?“
„Ich habe Dir schon im Salon gesagt, daß die Sache zunächst Dein Geheimniß ist. Du mußt für mich wählen.“
„Du bist nicht gescheidt, Sergey Iwanowitsch; ich komme nicht mehr in die Welt, sehe keine Weiber mehr; ja, wenn Du mich vor fünf Jahren gefragt hättest! Die schönsten Mädchen, die ich kannte, sind seitdem alt geworden oder haben ihre Männer.“
„Du hast aber zwei im Hause, die noch ganz Knospe sind.“
„Meine Mädchen!“ sagte Nikolai fast bestürzt und schlug die Hände wie bei einer unangenehmen Ueberraschung zusammen; „welche Fliege hat Dich gestochen? Du bildest Dir wohl ein, die Mitgift läge hier im Kasten? Ich sage Dir, Sergey Iwanowitsch, sie bekommen keinen Kopeken. Mütterliches war niemals vorhanden, und ich, Gott sei's geklagt, bin ein armer Teufel. Daran hast Du wohl noch nicht gedacht?“
„Es ist wahr,“ erwiderte Sergey, „daran habe ich nicht gedacht. Aber – Du kennst mich ja als einen verstockten und eigensinnigen Menschen – ich denke auch jetzt nicht daran und werde niemals daran denken. Ich denke nur daran, um jeden Preis Dein Schwiegersohn zu werden.“
„Hast Du Dich denn schon mit meinen Töchtern verständigt? Welche von Beiden liebt Dich, welche liebst Du?“
„Höre mich an, mein theurer Freund!“ sagte Sergey in einem Tone, der seinen Ernst und seine tiefe Bewegung verrieth. „Ich bin Quietist, und wie ich selbst ein Mann ohne Leidenschaft bin, so weiß ist[1], daß ich auch schwerlich Leidenschaft zu erregen vermag. Ich bin fünfunddreißig Jahre alt, also fast schon ein Alter, bin ein wenig melancholisch und obgleich ich mich stets bemühte, dies vor Anderen zu verbergen, kann es doch ohne mein Wissen zum Vorschein gekommen sein. Ich bin nach alledem, wie Du siehst, weder liebenswerth noch liebenswürdig. Nun finde ich aber die Gründe meiner Tante Varinka ganz richtig, warum sollte ich es nicht versuchen, was sich durch Liebe nicht mehr erreichen läßt, vielleicht durch Freundschaft zu erreichen?“
„Erkläre mir das näher!“
„Du zweifelst wohl nicht, daß meine Freundschaft für Dich und Deine Kinder groß genug ist, um mich wünschen zu lassen, zur Familie zu gehören. Es fragt sich, ob auch die Freundschaft eines Deiner Kinder groß genug ist, um, blos auf dieses Gefühl gestützt, einen Lebensbund schließen zu wollen. Da ich keine von Beiden liebe, so liebe ich Beide; das will sagen: da ich keine Leidenschaft habe, so habe ich auch kein Recht, zwischen Beiden zu wählen. Diejenige aber, die sich für mich entscheiden sollte, wird sich im Freunde nicht getäuscht finden.“
Nikolai dachte lange nach, dann sagte er:
„Laß mich's überschlafen, und vorläufig kein Wort zu den Mädchen!“
Die Freunde begaben sich in den Salon zurück, wo inzwischen der Abendtisch vorbereitet worden war. Wenn bisher die unausgesprochene Betrübniß des Familienvaters einen Schatten über die Stimmung der Seinen geworfen hatte, so belebte jetzt eine in ihren Ursachen gleichfalls unergründete Heiterkeit Nikolai's den ganzen Kreis. Der gute Mann wurde mit jedem Augenblick, in welchem er sich immer deutlicher das Glück ausmalte, welches die Werbung für sein Haus zur Folge haben könnte, lebhafter und gleichsam jünger; er sprach viel, trank mit ausgesprochenem Behagen, pries Sergey wegen der klugen Voraussicht, guten Proviant mitgebracht zu haben, trällerte zuweilen den Anfang eines alten Liedchens, und lange nicht empfundene Fröhlichkeit stieg in den Herzen Matrjona's und Milinka's auf.
Auch sie begannen die unschuldigen Regungen ihres Gemüthes unbefangen hervortreten zu lassen. Matrjona erzählte von dem einzigen Balle, den sie in ihrem Leben mitgemacht, auf einem Gute in der Nachbarschaft, und gab, um den Tisch herumtanzend, eine komische Probe von den Manieren ihrer damaligen Tänzer. Milinka, auch in glücklichen Momenten von einem Zuge schwärmerischen Ernstes nicht verlassen, recitirte deutsche und französische Gedichte und wurde durch zarte und liebevolle Anspielungen ihrer Schwester sogar zum Geständnisse gebracht, daß sie selbst schon Verse zu machen versucht und daß der verwegene Ehrgeiz, einst Schriftstellerin zu werden, sie zuweilen nicht schlafen lasse.
Sergey frischte in sich die Laune auf, um heitere Erinnerungen an seine Reisen und an seine Beziehungen zur großen Gesellschaft mitzutheilen. Man lachte viel und wurde des Fluges der Stunden nicht gewahr, bis Nikolai endlich aufstand und rief: „Kinder! Ihr seht jetzt etwas, was Ihr noch nicht mit Augen gesehen habt, seit Ihr auf der Welt lebt.“
„Was wäre das?“ fragten die Mädchen wie aus einem Munde.
„Die zweite Stunde nach Mitternacht. Da man aber mit den Seltenheiten des Lebens sparsam umgehen soll, so bewahrt Euch den Anblick der noch folgenden Nachtstunden bis zum Morgen für spätere festliche Gelegenheiten auf und geht jetzt schlafen!“
„O, ich habe schon manche späte Nachtstunde gesehen,“ sagte Milinka, „aber freilich im Finstern in wachen Träumen.“
„Dafür hast Du wahr und gewiß auch niemals eine frühe Morgenstunde gesehen,“ entgegnete Matrjona lachend und neckend.
Man trennte sich. Nikolai hatte anfangs die Absicht gehabt, die Mädchen noch an diesem Abend, bevor sie sich zur Ruhe begaben, von der Werbung Sergey's in Kenntniß zu setzen, aber er fürchtete jetzt, ihnen dadurch eine Aufregung zu verursachen, die ihnen noch den Rest der Nacht geraubt hätte. Er schied von Sergey mit den lachenden Worten: „Ich habe sehr wichtig zu schlafen; denn ich muß es ja überschlafen.“
Sehr vergnügt zog sich auch Sergey zurück. Er hatte im Hause der Noth und Sorge glückliche Menschen gesehen. „Das sind auch die besten Menschen,“ sagte er sich, „die so leicht in glückliche Stimmung zu versetzen sind, und sie verdienten ein Glück, das solidere Ursachen hätte, als eine flüchtige Stimmung. Welch instinctives Verständniß, wie es nur die innigste Liebe giebt, müssen diese Mädchen für ihren Vater haben, wenn seine heitere Miene, seine unumwölkte Stirn schon genügt, alle versteckte Jugendlust in ihnen aufjauchzen zu machen! Liebe, liebe Kinder sind es.“
Er war reisemüde; er trachtete in's Bett zu kommen, aber statt zu schlafen, setzte er seine Gedanken fort.
„Beide sind gleich hübsch, ja sie sind schön. Milinka mahnt an die heilige Cäcilie, Matrjona an eine Madonna Murillo's. Milinka würde helfen, ein Leben in tiefster Abgeschiedeheit zu vergeistigen, Matrjona ein Leben im Trouble der Welt unendlich behaglich zu machen. Die Dinge dieses Erdenlebens sind pure Nichtigkeit; ich erweise ihm nicht die Ehre, sein Gutes zu wollen, darum zu kämpfen, ich bin zufrieden, wenn ich zur Abwehr, zum geistigen Widerstande gegen sein Böses genugsam gerüstet bin. Ich habe mein Schicksal in die Hände dieser Mädchen gelegt, vorausgesetzt, daß sie überhaupt Lust haben, darüber zu entscheiden.“
Auch Nikolai schlief nicht. Er überdachte, was er seinen Töchtern sagen wollte. So gewiß es war, daß er zur Ordnung seiner zerrütteten Verhältnisse Sergey's künftige Hülfe in Anspruch nehmen durfte, sobald dieser sein Schwiegersohn war, so unerläßlich war es, daß den Mädchen keine Ahnung aufsteigen dürfe, wie sehr es sich in dieser Angelegenheit um das Glück des [331] Vaters handelte. Sie würden sonst blindlings, ohne Rücksicht auf Neigung oder Widerwillen, ihre Zustimmung gegeben und geloost haben, welche von Beiden sich als die Braut Sergey’s erklären sollte. Nikolai aber wollte, daß unter allen Umständen die Entscheidung aus einem von jeder Nebenrücksicht freien Gefühle entspringe.
Am nächsten Tage blieb Alles so still im Hause, daß der Gast weder den Vater noch die Töchter in den Vormittagsstunden zu Gesicht bekam. Nikolai war, als man ihm gesagt, daß Matrjona wieder bei ihren häuslichen Beschäftigungen und Milinka bei ihren Büchern sei, in das Zimmer seiner Kinder gekommen und hatte eine lange Unterredung mit ihnen geführt. Jetzt, vor Tische, kam er zu Sergey und zeigte eine betrübte Miene.
„Wir haben es nicht gut gemacht, Bruderherz,“ sagte er; „die Kinder, die neugierig vor mir standen, waren von der Proposition, daß eine von ihnen Dich nehmen sollte, so überrascht, ich will nicht sagen, bestürzt, daß sie auf ihre Sessel niedersanken. Sie ließen die Köpfe hängen. Ob sie Dich denn nicht leiden könnten, ob sie Dich haßten? fragte ich. Da betheuerte Jede einzeln mit feurigen Worten – und ich habe sie selten in einer Sache in solcher Uebereinstimmung gefunden – daß sie Dich liebe, wie einen theuren Freund; aber um keinen Preis – kurz, wir haben es nicht gut angefangen. Denn ich will Dir etwas sagen, Sergey Iwanowitsch!“
Er räusperte sich und rang nach dem Ausdruck:
„Weißt Du, daß, wenn Du an Eine herangetreten wärest, an welche immer, aber mit entschlossener Wahl, sie hätte Dich sogleich genommen. Denn sie sind Dir Beide gut, und die Gewählte hätte sich geliebt geglaubt und wäre von der Andern beinahe beneidet worden. Jetzt, da Du sozusagen um Beide zugleich wirbst, vermissen sie die Liebe in Dir, und für Keine hat die Sache irgend einen Reiz.“
Sergey senkte betroffen das Haupt.
„Was sagte ich den Kindern darauf?“ fuhr Nikolai fort: „Ihr seid unerfahrene Mäuse. Ihr kennt die Fallen nicht, die Euch das Leben stellt. Wißt Ihr, was geschieht, wenn ich meinem Freunde vermelde, daß Jede von Euch sich weigert, ihn zu erhören? Ein abgewiesener Freier kommt niemals wieder in das Haus, in welchem er einen Korb bekommen hat – das fordern Selbstgefühl und Schicklichkeit.“
Nikolai betrachtete nach diesen Worten fragend seinen Freund, und da dieser mit keinem Zuge des Gesichtes seine Meinung verrieth, fuhr Nikolai fort:
„Kaum hatte ich dies den Mädchen gesagt, als sie in ein Jammergeschrei ausbrachen. Sie beschworen mich, Dir von meiner Unterredung mit ihnen noch gar nichts zu sagen. Ich sollte Dir melden, ich hätte die Werbung noch hinausgeschoben; ich müßte Deinen Antrag selbst noch bedenken. Ich versprach es ihnen nicht, aber, wenn Du willst, so kannst Du thun, als wüßtest Du von ihrer Weigerung noch nichts, und kommst also ganz unbefangen zu Tische. Ja, wenn Du ignorirst, daß ich für Dich geworben und vergeblich geworben habe, so bekommst Du ihnen gegenüber freie Hand, noch gut zu machen, was verdorben ist, nämlich Dich für die Eine oder die Andere bestimmt zu entscheiden.“
„Ich tauge nicht gut zum Komödienspiel,“ erwiderte Sergey; „ich soll mich jetzt stellen, als wüßte ich nicht, daß sie meine Absichten von Dir erfahren haben? Wenn ich auch unbefangen bliebe, würden sie es bleiben? Wäre es nicht immer ein gestörtes Beisammensein? Nein! Ich lege Deinen Töchtern die Karten offen auf den Tisch. Bringe mich noch in dieser Stunde mit ihnen zusammen, ich habe ihnen einen Vorschlag zu machen, und Du mußt dabei sein und Deine väterliche Einwilligung geben.“
Die vier Betheiligten kamen im Salon zusammen, dessen Thüren gesperrt wurden.
„Meine Fräulein,“ sagte Sergey, „die unbestimmte Werbung, die Ihnen der Vater überbrachte, sollte mir nur das Recht verschaffen, Ihnen sagen zu dürfen, was ich mit Ihnen vorhabe. Die Gräfin Varinka Tschatscherin, meine Tante, wünscht lebhaft meine Verheirathung. Trotz großer Kreise, die sie umgeben, lebt sie sehr einsam. Ihre Tochter ist in Paris verheirathet; die Tante sehnt sich nach einer Nichte, an der sie wieder etwas Verwandtes, eine weibliche Stütze um sich hätte. Wenn ich nun die Töchter meines theuersten Freundes gefragt habe, ob sich eine als Lebensgefährtin mir anschließen wolle, so war ich nicht so vermessen zu glauben, die Entscheidung werde augenblicklich erfolgen. Nicht nur bin ich dazu nicht jung, schön und anspruchsvoll genug, gegenüber so vieler Jugend, Schönheit und Berechtigung, das Beste anzusprechen – auch Sie, meine lieben Freundinnen, sind dazu nicht welterfahren genug. Sie haben bisher in trauter Stille, fern vom Treiben der Welt gelebt; ich bin fast der einzige Mann, der sich Ihnen näherte – es hieße Ihre Jugend, Ihre Unerfahrenheit ausbeuten, wenn man Sie wählen ließe, ohne daß Sie mit Anderen vergleichen können, ohne daß Sie jemals Gelegenheit gehabt, die Menschen, die Verhältnisse der großen Welt kennen zu lernen.“
Er hielt inne; die Mädchen schlugen die Augen nieder. Die Miene Matrjona’s schien Zustimmung zu dem Gesagten auszudrücken, die Milinka’s eher Verletzung, daß man ihr, der Vielbelesenen, die Kenntniß der Dinge dieser Welt nicht zutraute.
„Ich habe nun gedacht,“ fuhr Sergey fort, „daß es gut wäre, Ihnen Gelegenheit zu geben, die Welt kennen zu lernen. Wenn ich der Tante schreibe, daß ich diejenige von Ihnen zur Gattin wählen will, die sich nach einigem Verkehr im Leben der Welt dafür entscheidet, so wird die gute Frau Sie mit offenen Armen in ihrem Hause empfangen, zunächst erfreut darüber, Jugend und Frohsinn um sich zu haben. Sie verbringen die Wintermonate in Petersburg. Sie beobachten, wie es in der großen Gesellschaft aussieht, Sie begegnen Männern, ausgezeichnet durch Geist, Liebenswürdigkeit und hervorragende Stellung, auch der Werth oder Unwerth weltlicher Freuden macht sich Ihnen fühlbar – und wenn sich Ihnen zuletzt ein Loos nach Ihren Wünschen darbieten sollte, besser als Sie es an meiner Seite finden, so trete ich zurück, zwar mit dem Schmerz, entsagen zu müssen, aber mit befriedigter Freundschaft. Darum bitte ich Sie, mir zu gestatten, wenigstens an die Möglichkeit zu glauben, daß Sie sich einst für mich entscheiden; denn diese Möglichkeit allein giebt mir das Recht, Sie bei meiner Tante einzuführen, und sichert Ihnen von Ihrer Seite den freudigsten Empfang. Wollen Sie nach Petersburg reisen?“
Matrjona sprang lachend von ihrem Sitz auf und klatschte in die Hände.
„Es wäre himmlisch, Petersburg zu sehen, all die berühmten Plätze und Promenaden, die Boutiquen, die Theater, die Gesellschaften! Und was man da lernen kann für Haus und Leben, tausend Dinge, die wir auf dem Lande nie erfahren!“
Milinka blieb ruhig auf ihrem Sitz; ein Zug verächtlicher Gleichgültigkeit spielte um ihre Lippen.
„Die Welt bietet nichts, was das Herz ausfüllen könnte – ich weiß es! All der Glanz und die Vergnügungen haben keinen Reiz für mich, aber ich wäre es im Grunde zufrieden, meine richtige Werthschätzung der Dinge dieser Welt auch einmal thatsächlich zu erproben.“
„Halt!“ sagte jetzt Nikolai, „darüber habe ich vorher noch ein Wort mit diesem Schwärmer zu sprechen.“
Er zog Sergey in die Fensternische und eine leise Debatte, eifrig aber kurz, wurde über die finanziellen Mittel zur Ausführung des Planes zwischen den Freunden geführt. Sergey nannte es Verrath am Vaterlande und an der Freundschaft, wenn bei diesem Anlaß der ganze Umfang russischer Gastfreundschaft nicht unbedenklich in Anspruch genommen würde. Außerdem bekannte er rund heraus, daß er Kenntniß von der gefährlichen Lage Nikolai’s gewonnen habe und diesen für verpflichtet halte, Vorschläge anzuhören, deren Erwägung nur an Ort und Stelle, nur in Petersburg möglich wäre. Nikolai mußte zugeben, daß, nachdem der Freund sich in die Sachlage gleichsam eingedrängt hatte, es am besten wäre, ihm für einige Zeit die Führung zu überlassen.
So kehrte denn Nikolai zu seinen Töchtern zurück, um ihnen seine Zustimmung zu der Reise nach Petersburg mitzutheilen. Die Mädchen umarmten sich im ersten Augenblick des Entzückens. Denn eine Abwechslung im „ermüdenden Gleichmaß der Tage“ war auch für Milinka erfreulich, obgleich ihre Wehmuth, gewohnte Verhältnisse verlassen zu müssen, gleich wieder zum Vorschein kam und sie von Neuem die Ueberzeugung aussprach, daß die Welt ihr kein Glück zu bieten haben werde. Matrjona hingegen machte kein Hehl aus ihrem Jubel, aus der vollen, kindlichen Hingebung an die unerwartete Freude.
Es wurde nun beschlossen, daß Sergey nach seinem Gute zurückkehre, um von dort aus der Gräfin Tschatscherin den [332] bevorstehenden Besuch anzuzeigen und seine häuslichen Angelegenheiten für eine längere Abwesenheit zu ordnen. Dann sollte er wieder in Andrejewo erscheinen, um gemeinsam mit Nikolai und seinen Töchtern die Reise nach Petersburg anzutreten.
Auf seiner Heimfahrt machte sich Sergey klar, daß die Bedenkzeit, die er mit dem Aufenthalt in der Hauptstadt den Mädchen einräumte, eigentlich eine war, die er sich selbst gönnte. Matrjona's ungemessene Freude, die lärmenden Vergnügungen der großen Welt in Aussicht zu haben, entsprach nicht seinem Geschmack, und dennoch lag darin etwas Räthselhaftes, das ihn anzog; Milinka's Abneigung gegen die rauschenden Genüsse stimmte zu seiner eigenen Denkungsweise, und dennoch fand er darin etwas ihm Widerstrebendes, das er sich augenblicklich nicht zu erklären vermochte. Von den Begebenheiten in der großen Stadt war ein Klarwerden über jenes Räthselhafte und dieses Widerstrebende zu hoffen.
[346]Peter Michailowitsch Nikitine, der Mann, den die Gräfin Tschatscherin im Briefe an ihren Neffen als einen so vortrefflichen Weltmann und Lebenskenner gerühmt hatte, gehörte einer der ältesten russischen Adelsfamilien an. Fürstliches Blut rollte in seinen Adern.
Er war in der That in dem Sinne, in welchem alte Frauen den Werth des Menschen zu schätzen pflegen, ein vortrefflicher Mann, das heißt: er war praktischen Geistes und wußte mit Geschick und Klugheit Alles zu erreichen, was ihm in seiner politischen Laufbahn oder in geselliger Beziehung wünschenswerth schien. Daß er dabei ohne gründlichen Ernst der Gesinnung, ohne Charakter war, wurde in einem Lande, wo der Firniß Alles ist, kaum bemerkt; daß er die Frauen liebte, vergötterte, jeder Schönheit huldigte und nachstrebte, ohne dabei jemals mit der Seele betheiligt zu sein, ewig auf Genuß und Vergnügen bedacht, wurde ihm von Denjenigen, die nicht selbst darunter zu leiden hatten, nicht nur verziehen, sondern sogar als genial und liebenswürdig angerechnet, ja diese Eigenschaft, statt den Frauen, die darum wußten, eine Warnung zu sein, schien seine kühnsten Unternehmungen noch zu begünstigen.
Er hatte unter den Männern keine wahren Freunde, wie Viele ihm auch schmeichelten, weil sie seinen Einfluß gebrauchen zu können hofften. Er selbst hatte kein Bedürfniß nach Freundschaft – mit einer einzigen Ausnahme. Die Gräfin Tschatscherin war seine Vertraute, und diese alte Frau, die bereits seine Großmutter hätte sein können, war das einzige weibliche Wesen, dem er Wahrheit, Offenheit, innern Respect entgegenbrachte.
Der letzte Wagen rollte aus dem Palast der Gräfin. Die Gesellschaft war nicht sehr zahlreich gewesen; sie hatte sich größtentheils [347] uneingeladen, zufällig zusammengefunden, die Nacht war darum auch noch nicht weit vorgerückt, als die Säle sich leerten.
Nur Nikitine blieb zurück. Solche Momente waren es gerade, in welchen er ihr am willkommensten erschien; denn sein Geplauder half ihr, über die Stunden der Schlaflosigkeit, wie sie das Alter heimsuchen, leichter hinwegzukommen. Sie setzte sich dann in ihrem allerliebsten kleinen Schreibzimmer vor einen Ofenschirm, dessen Oberfläche eine Mosaik von grotesken Zeichnungen, Carricaturen und Bilderrätseln war. Für den Gesellschafter der alten Frau galt es dann, die einschläfernde Wirkung, die das Anstarren und Entziffern dieser bunten Malereien hatte, zu beseitigen oder auch, wenn das nicht gelingen wollte – zu unterstützen.
Die Gräfin vernahm gern die pikante Chronik der Salons aus dem Munde ihres Freundes. Er verstand es, Geschichten zu erzählen, die Niemand gewagt hätte vor ihr Ohr zu bringen, weil nicht leicht sonst Jemand die Form gefunden hätte, in der sie dergleichen vertrug. Er aber lachte in ihrer Gesellschaft wie sonst nirgends, ohne den Zwang, den er überall beobachtete, kindisch, ausgelassen.
„Sie ermuntern mich zu stark, Nikitine,“ sagte die Gräfin, als an diesem Abend wieder einmal sein helles Gelächter scholl; „ich muß Ihre Fröhlichkeit dämpfen: auf welchem Punkt sind Sie gegenwärtig mit Léonide?“
Er wurde sogleich überaus ernsthaft und antwortete:
„Sie ist mein Tod. Ich gebe Ihnen die Versicherung, ich sterbe an ihr.“
„Ich bin nahe daran zu lachen, wie Sie,“ erwiderte die Gräfin; „denken Sie gar nicht daran, junger Mensch, daß ein Schmerz nicht wahr sein kann, der nur in dem Moment wahr ist, in welchem Sie daran erinnert werden, nachdem Sie noch einen Augenblick früher wie ein sorgloses Kind gelacht haben?“
Er schwieg eine volle Minute.
„Und weshalb war Léonide heute Abend nicht hier?“ fragte er endlich, ohne auf die Reflexion der Gräfin weiter einzugehen.
„Ich habe die Fürstin gebeten,“ entgegnete sie, „aber nicht nur, daß sie nicht kommen wollte, sie hat mir auch die Meinen entführt, meinen Neffen und meine Nichten.“
„Ich habe nicht gewußt, Gräfin, daß Sie Nichten besitzen. Wer sind Ihre Nichten? Hat Sergey Iwanowitsch Schwestern?“
„Sie machen sich den Scherz, Nikitine, dies immer wieder zu sagen und zu fragen. Das ist für die Situation wohl ausgedacht; denn es langweilt mich; ich fange an, die Augen zu schließen.“
„Man ermuntert Sie immer wieder, Gräfin, wenn man von Sergey Iwanowitsch spricht. Welche ist Ihre Nichte? Hat er noch immer nicht gewählt?“
„Es ist schwer,“ erwiderte sie, „die reizenden Geschöpfe sind aus dem Grunde Schwestern, um die Wahl zur Qual zu machen.“
„Ich, für meine Person, ich hätte bald entschieden,“ sagte er mit großem Ernste.
„Wahrscheinlich für Beide,“ lachte sie, „es waltet aber in der That ein merkwürdiger Unterschied zwischen den Mädchen. Die Jüngere, Milinka, mein besonderer Liebling, ist voll Gedanken, Schwärmerei, Poesie; sie faßt das Leben ideal auf. Es giebt kein Unglück, keinen Schmerz, woraus sie nicht eine höhere Betrachtung zöge. Darum haßt sie auch die frivole Welt und sehnt sich nach der Einsamkeit ihres väterlichen Hauses.“
„Ein angenehmes Haus,“ scherzte Nikitine, „wo man kein Mäusegift braucht; die armen Thiere sind entflohen, weil sie niemals etwas in Küche und Keller gefunden haben.“
„Es ist nicht mehr so arg; mein Neffe hat ein wenig Ordnung geschafft. Das hat mir der lustige Vater der Mädchen, Towaroff, bevor er auf das Gut zurückkehrte, selbst voll Enthusiasmus erzählt.“
„Und die Aeltere, Gräfin?“
„Matrjona ist froh, in der Welt zu sein; ich glaube, man wird sie nur schwer zurückbringen. Das wäre nichts für Sergey, der ähnlich wie Milinka denkt. Matrjona ist harmlos, heiter und hat einen praktischen Geist. Ich glaube, sie würde sehr gut für Sie passen, mein Lieber. Dabei hat sie die unvergleichliche Gabe, wenn man Aerger und Verdruß hat, praktisch, wie sie ist, die Sachen so geschickt zu wenden, daß sie ganz leidlich werden.“
„Gleichviel! Ueber Aerger und Verdruß hilft der eigene Leichtsinn am besten hinweg. Ich habe mit Ihnen, Gräfin, denselben Liebling: Milinka. Schade nur, daß sie für Weltabgeschiedenheit schwärmt, aber – wer weiß?“
Die Gräfin lachte.
„Und Léonide? Das Bild auf dem Schirm hier zeigt einen Schmetterling mit einem einzigen Flügel; den andern hat er sich verbrannt.“
„Warum rühren Sie immer an die brennende Wunde?“ fragte der junge Mann; „Sie sind grausam, Frau von Tschatscherin. Léonide spielt mit mir; sie hat mich für eine Zeit verbannt; ich darf sie nicht sprechen, auch wenn ich ihr zufällig begegne, bis sie mir ein Zeichen giebt. Haben Sie kein Gefühl für solches Elend?“
Die Gräfin schloß die Augen, statt zu antworten.
„Der Vorhang fällt,“ rief er gleich wieder lachend, „das Stück ist aus. Schlafen Sie wohl!“
Die Gräfin war noch lange nicht schlafbedürftig. Sie hatte den Freund sich entfernen lassen, weil sie ihn bei der Heimkehr der Mädchen von der Fürstin Léonide Romalow nicht mehr anwesend wissen wollte. Jetzt lauschte sie geduldig, ob nicht der Wagen mit den Heimkehrenden in den Thorweg des Palastes rolle.
Die Fürstin Léonide Romalow war eine Französin und noch nicht zwanzig Jahre alt. Schön und voll Sanftmuth, wenn auch nicht gerade lebhaften Geistes, hätte sie ein besseres Loos verdient, als, kaum aus dem Kloster gekommen, in welchem sie erzogen worden war, halb aus Unschuld, halb gezwungen, einen Mann zu heirathen, den sie früher nur zweimal gesehen hatte, und der, wie man es hätte nennen können, heimlich blödsinnig war.
Er handhabte die gebräuchlichen Umgangsformen wie ein Automat und sprach die nöthigen „liebenswürdigen“ Floskeln, die man auch einem Papagei hätte beibringen können, zur rechten Zeit. Uebrigens war er schweigsam und in sich gekehrt, weil total gedankenlos, was ihm einen Anstrich von Trauer oder Blasirtheit verlieh. Dies genügte, um ihn bei seinem regelrechten Benehmen und seiner vornehmen Erscheinung für einen vollendeten Gentleman und selbst für einen interessanten Mann zu halten.
Erst wenn dieses äußere Wesen zufällig durchschaut werde konnte, entdeckte man, daß Fürst Romalow ein Cretin war. In seinem Vaterlande, unter seinen Standesgenossen, war dies ziemlich allgemein bekannt. Darum schickte ihn seine Familie, damit er doch irgend einen Zweck auf Erden erfülle, nach Frankreich, um ihm dort eine Frau zu verschaffen. Man gab ihm einen klugen Begleiter, einen welterfahrenen Hausbeamten auf die Reise mit, und bestochen von dem ungeheueren Reichthum des Fürsten und seine wahre geistige Beschaffenheit nicht ahnend, verstand sich eine hochadelige, durch Revolutionen und Krieg verarmte Familie dazu, ihre schöne Tochter mit ihm zu verbinden.
Léonide, so unerfahren sie war, begann schon bei der Trauung auf seinen Zustand zu schließen. Im Augenblicke, als der Priester vor dem Altar ihr Jawort verlangte, flüsterte ihr der Bräutigam „Nein!“ in's Ohr, aus keinem anderen Grunde, als weil er selbst eben „Ja!“ gesagt hatte und eine Abwechselung habe wollte.
Schon der Umstand, daß in solchem Augenblicke der Braut in's Ohr gesprochen wurde, machte ungeheueres Aufsehen in der Kirche, und der Priester, um es rasch zu beenden, nahm das Stammeln der tödtlich erschreckte Léonide für das verlangte Wort, schon weil er ohnehin nicht vermuthen konnte, daß sie etwas Anderes hätte sagen wollen.
Noch bevor das Paar im Petersburg angelangt war, hatte Léonide vollständige Gewißheit, von welcher Art der Mann war, den man ihr gegeben. Am meisten jedoch erschreckten sie Momente, in denen er ein wenig zu denken, sein Innenleben zu erwachen schien. Die Selbstbesinnung gab sich als Sucht zu tyrannisiren, als kleinliche Bosheit kund.
Vergebens suchte Léonide Anlehnung, Schutz, Vertheidigung bei den Verwandten des Fürsten. Man verübelte ihr jede Klage; der Geisteszustand ihres Mannes sollte sozusagen todtgeschwiegen werden. Verlassen und vereinsamt, entwarf sie in schlaflosen Nächte Pläne, zu entfliehen. Sie hatte in den französischen Colonien Amerikas einen kinderlosen alten Oheim, der sie sehr liebte, sie mit offenen Armen empfangen, ihr ein sicheres, gegen alle Welt vertheidigtes Asyl geboten hätte. Immer deutlicher arbeitete ihre Phantasie an der Ausführung dieses Gedankens.
[348] Da geschah es, daß der hochgestellte und liebenswürdige Cavalier Peter Michailowitsch Nikitine ihre Aufmerksamkeit auf sich lenkte. Sein Wesen und seine Bildung waren die treuesten Reminiscenzen an ihr Vaterland, die sie bisher in der Fremde gefunden hatte, und erweckten schon dadurch in ihr mächtige Sympathien. Er zeigte sich bald von Leidenschaft für sie ergriffen und säumte nicht lange, sie davon in allen Formen der Aufmerksamkeit und Beredsamkeit zu überzeugen.
Léonide gestand sich, daß sie Nikitine liebe. Was man überall von seinen Beziehungen zu Frauen erzählte, war wohl geeignet, sie einzuschüchtern, und hielt das Bekenntniß ihrer Gefühle ihm gegenüber zurück. Welche Frau aber, die geliebt wird, schmeichelt sich nicht, besonders wenn sie selbst liebt, daß es ihr gelungen sei, ein flatterndes Herz in sicherer Alleinherrschaft endlich festzuhalten?
Dennoch überkamen sie immer wieder Zweifel und Bedenken, wenn sie ihm ein Zeichen der Übereinstimmung mit seinen Empfindungen geben sollte. Bei dem Ernst und der Frömmigkeit ihres Gemüthes fühlte sie, daß sie damit ein Schicksal für ihr ganzes Leben herausfordern würde. Von einer blos frivolen und leichtsinnigen Auffassung solcher Verhältnisse hatte sie keine Ahnung und würde den Gedanken daran mit Abscheu zurückgestoßen haben. Sie war von schlichter, einfacher Denkungsweise und wußte sich unerfahren: sie suchte einen Rath.
Vermählte Frauen sind unerbittlich grausam gegen eine Frau, die nicht in guter Ehe lebt. Immer muß der Gattin die Schuld zufallen. Die Frauen scheinen sich in solchem Falle durch harte Verdammungsurtheile zu entschädigen und zu belohnen für die Entbehrungen, Kämpfe und Entsagungen, denen sie selbst im Leben unterworfen waren. Unter den Frauen der großen Gesellschaft fand Léonide keine, von der sie nicht hätte voraussetzen müssen, daß sie ein Bekenntniß des Unglücks in der Ehe oder gar der Neigung für einen fremden Mann mit unbarmherzigem Spotte aufgenommen hätte.
Die Gräfin Varinka Tschatscherin wäre vielleicht die Einzige gewesen, von der ein weiser Zuspruch erwartet werden konnte. Allein sie war zu offen mit Nikitine befreundet, um ein unparteiisches Urtheil über ihn fällen zu können; außerdem war sie zu alt, um den Ernst und die weithin zielende Gewalt eines Liebessturmes, wie er sich in der Seele der jungen Frau erhoben hatte, ganz zu begreifen.
Als aber nun mit einem Male die Töchter Towaroff’s zu Hausgenossinnen der Gräfin wurden, ging in Léonide die Zuversicht auf, an diesen Mädchen, wie jung sie auch waren, einen Anhaltspunkt zu finden. Sie selbst war ja noch ganz mädchenhaft. Die holde Unverdorbenheit dieser dem Weltleben bisher entfremdet gebliebenen Kinderherzen, der Reiz, den die Verschiedenheiten ihres Charakters wie ihres Äeußern bei gleicher Noblesse der Gesinnung boten, bewirkten, daß Léonide instinctiv Liebe und Zutrauen empfand. Keineswegs war sie sofort entschlossen, ihre verhängnißvolle Situation vor das Forum dieser unschuldigen Herzen zu bringen; allein mit Matrjona und Milinka hatte sie zugleich den Neffen der Gräfin, Sergey, kennen gelernt, und obgleich er Ohr und Auge nur für die Töchter seines Freundes zu haben schien, so leuchtete von seiner Stirn und sprach aus seinen Worten Einsicht und Lebenskenntniß.
So entschied sich Léonide allmählich für den Gedanken, diese drei ihr so schnell werth gewordenen Menschen in das Geheimniß ihrer Lage zu ziehen. Freilich wäre allein Sergey competent gewesen, zu hören und zu urtheilen, allein sie brachte es nicht über sich, in einem tête-à-tête mit einem ihr eigentlich fremden Manne so ernste und zarte Geständnisse über die Lippen zu bringen.
Sie lud einige gleichgültige Personen zum Thee ein und bat insgeheim Sergey und die Mädchen, die sie hinzugezogen hatte, die Anwesenheit der Andern zu überdauern. Als sie mit den Freunden allein geblieben war, erzählte sie ihnen ihren bisherigen Lebensgang. In dem Bericht zu dem Zeitpunkt gekommen, da sie Nikitine kennen gelernt, stockte sie, erröthete, aber ihre Miene drückte mehr noch die bitterste Verzweiflung, als mädchenhafte Scheu aus. Matrjona und Milinka nahmen sie in ihre Mitte und umschlangen sie; Léonide, sich besinnend, wie ernst der Augenblick und daß er nicht einem unnützen Gespräche diente, bekannte endlich mit stolzer Freiheit, daß sie einem Manne eine größere gesellige Annäherung gestattet habe, als Herkommen und Sitte dies unter gewöhnlichen Verhältnissen erlauben, daß aber die ihrigen ungewöhnlicher Art seien, sie deshalb seine Leidenschaft angehört, die eigene jedoch, so heiß sie sei, ihm noch verschwiegen habe. Sie nannte nicht seinen Namen; sie hütete sich, ein Merkmal von ihm anzugeben, aber sie verschwieg nichts, was von der Gluth seiner und ihrer Liebe überzeugen konnte. Jetzt wollte sie von den Freunden Hülfe, eine Lehre für ihr Handeln, eine Richtschnur für die Zukunft.
„Hätte ich ihm die Erklärung schon gegeben,“ sagte sie, „die er so heiß wünscht, die jetzt zum ersten Male von meinen Lippen kam, die Erklärung, daß ich ihn liebe, so bliebe nichts mehr zu rathen und zu sagen. Blindlings würde ich den Bestimmungen des Geliebten gehorchen. Der Ausspruch 'ich liebe Dich' wäre mein letztes, mein ganzes Schicksal. Darum zerreißt sich mein Herz wie an einem Marterpfahl an dem Zweifel, ob ich das Wort sprechen kann und darf; darum verlange ich eine Entscheidung von den einzigen Menschen hier, die mir gut sind, denen ich mich anvertraue.“
Betroffen schwiegen die drei Zuhörer.
„Meine Zweifel,“ fuhr Léonide fort, „entspringen nicht aus einem Gedanken an meine Pflicht als vermähltes Weib. Ich habe eine solche Pflicht nicht übernommen. Man brachte mich vor einen Civilbeamten, der eine Formalität vornahm, die ich nicht verstand und die mich nicht band. Das Jawort am Altare hätte mich für ewig gebunden, und unter allen Qualen, bis in den bittersten Tod wäre ich ihm treu geblieben – aber ich habe es nicht gesprochen. Die Menschen haben es zu hören geglaubt; Gott hat es nicht gehört. Meine Zweifel entspringen aus der Angst, ein Verhängniß heraufzubeschwören, ohne die Kraft der Liebe, die mich darüber hinwegtrüge, im Geliebten wieder zu finden, vor Allem aber entspringen sie aus der Furcht, ein Unrecht zu begehen, das mir der Himmel niemals vergeben würde.“
[362] Nach einer Pause fragte Sergey:
„Sind Sie sicher, daß der Mann, der um Ihre Liebe wirbt, nicht einen Nebenzweck damit verbindet, daß er nicht im weltlichen Sinne des Wortes sein Glück machen will?“
„Er hat Rang und Stellung,“ antwortete Léonide, „Alles, was den Ehrgeiz eines Mannes befriedigt. Aber das ist es. Ich denke nicht an mich. Entreiße ich ihm nicht diese köstlichsten Güter, wenn ich seiner Leidenschaft die meine entgegenbringe? Zwingen ihn dann nicht die Verhältnisse zur Verbannung, zur Weltflucht, zu unerhörten Opfern? Was thun?“
Milinka war es, die zuerst ihre Stimme erhob. Brennende Röthe auf den Wangen, aber die Augen begeistert zum Himmel aufgeschlagen, rief sie:
„Entsagung für immer von beiden Seiten oder gemeinsam sterben.“
Das war correct und zugleich romantisch.
„So wird wohl das Ende sein,“ schluchzte Léonide in ihr Tuch.
Sergey richtete unwillkürlich einen Blick der Mißbilligung auf Milinka. Die Poesie ihres Ausspruchs wollte ihm nicht zu Sinne. Er konnte sich über den Grund nicht sogleich klar werden; er fühlte nur, daß der Ausspruch der wirklichen Situation gegenüber inhaltsleer war.
Matrjona hatte noch nicht gesprochen; sie saß nachsinnend da mit niedergeschlagenen Augen. Als sie jedoch Léonide weinen hörte, sagte sie sanft:
„Sie weinen vielleicht über Ihr höchstes Glück, theuerste Léonide, statt darüber zu jubeln. Sich geliebt zu wissen, wenn man liebt, muß alles Unglück ausgleichen, das die Erde aufbieten kann, wie es kein größeres Unglück auf Erden geben mag – ich fühle es im eigenen Herzen – als sich nicht geliebt zu wissen, wenn man liebt. Die Fragen, die Zweifel betreffen also nur den einzigen Punkt, ob er Sie wirklich liebt. Ich verstehe nicht Ihre Bedenken, Ihre Furcht, ihm seine Stellung zu rauben, ihn um die Genüsse seines Ehrgeizes zu bringen. Sind Sie nicht bereit, Aehnliches für ihn zu thun? Ich würde in Ihrem Falle mit dem Manne, an dem ich zweifle, bald im Reinen sein. Ich würde ihm sagen: 'Wir besteigen einen Wagen oder ein Schiff und fahren in die weite Welt, nach einem vergessenen Erdenwinkel, und Beide haben wir uns dadurch die Rückkehr für immer versperrt und haben uns für immer vereinigt. Zögerst Du auch nur eine Secunde, denkst Du auch nur mit einem Seufzer des Bedauerns an Deinen Rang, Deine Stellung, Deine Freunde, an Dein bisheriges Leben mitten in den Genüssen der Welt, kommst Du nicht augenblicklich mit mir, dann geh – dann hast Du mich nie geliebt, dann wollen wir uns niemals wiedersehen.' So würde ich zu dem Manne sprechen, an dem ich zweifle, und wäre er nicht, bevor ich noch mit den Worten zu Ende bin, mit mir im Wagen, im Schiff, so kehrte ich nach Hause zurück, zwar im Herzen vernichtet, aber stark durch die Pflichterfüllung gegen den Unglücklichen oder Verhaßten, mit dem ich verbunden bin. Was mir auch dadurch an Bitternissen erstünde, sie wären süß im Vergleich mit dem, was ich im Herzen erfahren habe, und je schwerer die Pflichten zu erfüllen wären, um so leichter würden sie mir helfen, mit allen übrigen Forderungen an das Leben für immer abzuschließen.“
Schon während Matrjona sprach, hatte sich Léonide in einem Gefühl ungeahnter Befriedigung erhoben. Jetzt umarmte sie das Mädchen und rief fast mit Jauchzen:
„Ich bin gerettet.“
Sie dachte an den Oheim in den Colonien.
Aber auch auf Sergey war das Auftreten Matrjona’s von unerwarteter Wirkung.
„Wer hätte gedacht, daß so viele praktische Einsicht in das Leben, verbunden mit dem Respect vor den höchsten Interessen des Herzens, in einer unerfahrenen Mädchenseele sich entwickeln können! Aber sie selbst hat verrathen, wer ihr solche Lehren gab. Sie gestand, aus eigenem Herzen zu sprechen, wenn sie es das größte Unglück nannte, sich nicht geliebt zu wissen, wo man liebt. Weh mir, wenn nicht ich es sein sollte, der es vermag; dieses Unglück von ihr zu nehmen! Sie ist nicht Martha, nicht Maria, sie ist Martha und Maria.“
So sagte sich Sergey im Stillen. Der Augenblick war für ihn gekommen, aus der gleichgültigen Passivität mitten in den Sturm der Leidenschaft hineinzuspringen.
Zehn Minuten nach der Entfernung Nikitine’s hörte die Gräfin Tschatscherin, noch immer vor ihrem Ofenschirm sitzend, die Einfahrt des Wagens, der die Mädchen heimbrachte. Sie rührte an einer Glocke, die vor ihr stand, und gab Befehl, die jungen Damen, wenn sie sich nicht zu müde fühlten, noch zu ihr zu bescheiden.
Matrjona allein erschien. Milinka hatte sich sogleich zurückgezogen und ließ sich durch ihre Schwester mit zu großer Ermüdung [363] bei der Gräfin entschuldigen. In Wahrheit aber saß Milinka am Schreibtisch und füllte ihr Tagebuch mit der Aufzeichnung des für sie Merkwürdigen, das sie an diesem Abend erlebt hatte. Seit sie sich in Petersburg befand, hatte sich ihre Neigung zum Vielschreiben noch gesteigert, was einigermaßen das Verdienst Derjenigen war, die ein schriftstellerisches Talent in ihr errathen haben wollten und ihr damit schmeichelten.
Das Gesicht der Gräfin, als sie Matrjona empfing, war Spannung und stumme Frage. Daß die von Léonide in ihr Vertrauen Gezogenen den Inhalt der Unterredung streng verschweigen würden, war so selbstverständlich, daß dafür ein Versprechen weder verlangt noch gegeben wurde. Matrjona glitt daher über den Abend bei der Fürstin mit nichtssagenden Worten hinweg, und um die Neugier der Frau von Tschatscherin von dem Gegenstande abzulenken, sprach sie von den Eindrücken, die sie durch das Leben in Petersburg überhaupt empfangen.
Schon seit einigen Tagen war sie sich einer Wendung ihres Gemüths bewußt geworden. Aus der ursprünglich so lebhaften und unbefangenen Hingebung an die Freuden und das Treiben der großen Gesellschaft war allmählich ein Gefühl der Enttäuschung hervorgegangen. Sie glaubte zuletzt, Luft gespeist und gemalten Wein getrunken zu haben. Gegen eine Empfindung von Leere und Nüchternheit hatte sie sich zu wehren, um in ihrer Seele nicht Raum dafür zu lassen. Sie hatte begonnen, sich nach Thätigkeit zu sehnen, nach dem stillen und regelmäßigen Walten ihres ländlichen Hauses. Was sie an diesem Abend bei Léonide erfahren, brachte ihr völlige Klarheit über die neue Lebensstimmung, die mit der kindlichen Freude am Weltleben, mit der sie ihren Aufenthalt in Petersburg begonnen hatte, in so großem Widerspruch stand.
Die Gräfin war darum auch im höchsten Grade erstaunt, als ihr Matrjona das Bekenntniß dieser Wandlung ablegte; die Gräfin war erstaunt, aber auch erfreut; denn sie dachte an ihren Neffen. Seiner Denkungsweise und seinem Lebensplan konnte nichts besser entsprechen, als die Abwendung von der Welt, und wenn Milinka schon von Anfang an, aber ohne ausgesprochenen Grund und gleichsam nur instinctmäßig, die ländliche Einsamkeit dem hauptstädtischen Getümmel vorzog, so mußte Matrjona's erst durch die Erfahrung herbeigeführte gleiche Weltanschauung für Sergey größern Werth haben, weil auf Erkenntniß und Urtheil beruhend.
Eine leise Anspielung der Gräfin, welche vortheilhafte Wirkung diese Wandlung im Gemüthe Matrjona's auf den Neffen üben werde, brachte das junge Mädchen in äußerste Bestürzung. Matrjona zitterte vor Scham und Entrüstung bei dem Gedanken, daß Sergey, wenn er ihr Gespräch mit seiner Tante erführe, eine ihm bereitete Concession oder etwa gar eine Aufforderung oder auch nur Anregung zur Wiederholung seiner Werbung darin erblicken könnte. Sie beschwor die Gräfin mit inbrünstigen Worten, die ihr eben eingestandene Wandlung vor aller Welt zu verschweigen.
„Beruhigen Sie sich, liebes Kind!“ sagte die alte Frau „ich wünsche lebhaft, daß entweder Sie oder Ihre Schwester sich entschließen mögen, Sergey's Hand anzunehmen, weil er sonst schwerlich zu einer Heirath überhaupt zu bringen wäre, allein ich werde mich persönlich niemals in die Verständigung einmischen, die zwischen den beiden Schwestern und ihm endlich stattfinden und einer Entscheidung vorhergehen muß.“
Die Gräfin zog sich hierauf in ihr Schlafgemach zurück, und Matrjona schloß die Augen nicht zum Schlummer, ohne sich zu sagen: „Niemals! niemals! Er hat um meine Schwester und mich zugleich geworben – das ist so gut, als wäre er ein Freier all der Millionen Mädchen, die auf dieser Erde leben. Ich werde mich niemals entschließen, eine von diesen Millionen, eine 'gleichviel welche' zu sein.“
Im Laufe des folgenden Tages erhielt Frau von Tschatscherin ein Billet Nikitine's. Er theilte ihr mit, daß er sie einige Tage nicht sehen werde, weil er sogleich nach Kronstadt abreisen müsse; er habe nichts dawider, wenn sie dächte, daß die Reise mit der Angelegenheit in Verbindung stände, die ihm, wie sie wisse, über Alles theuer, mit der „brennenden Wunde“, die endlich eine glückliche Heilung finden werde.
Die Gräfin las diese Zeilen kopfschüttelnd. Sie setzte von der jungen Fürstin nicht voraus, daß sie einen Mann wie Nikitine ernst nehmen könnte, und hatte bisher vielmehr vermuthet, die schöne Dame werde durch Widerstreben und Koketterie ihr Geschlecht an dem Frevler zu rächen suchen. Doch nahm sich die Gräfin nicht Zeit, lange darüber nachzudenken; das Wesen ihres Neffen hatte sich auffallend verändert, und dies neue Räthsel nahm ihre Aufmerksamkeit ausschließlich in Anspruch.
Sergey, dessen beständige milde Heiterkeit sonst nur den schärfsten Blicken der lange mit ihm Vertrauten gestattete, den darunter verborgenen Hang zur Melancholie zu gewahren, gab diese jetzt offen kund und, wie die Gräfin klagte, mit einer an ihm ungewohnten Rücksichtslosigkeit gegen seine Umgebung. Dieses Frauenurtheil bedeutete eigentlich nur, daß er nicht unterhaltend, nicht liebenswürdig, nicht Plauderer war, wie sonst.
Das Räthsel löste sich sehr einfach: die Liebe, die zum ersten Male mit ihrer ursprünglichsten Gewalt in ihm erwacht war, rief zugleich die bittersten Selbstvorwürfe wach. Immer hatte er in der tiefsten Heimlichkeit seiner Seele Matrjona bevorzugt, weil er aber in ihrem praktischen Wesen einen Widerspruch mit seiner Denkungsweise zu finden geglaubt, war sie ihm nicht theuer genug geworden, daß er nicht vielleicht lieber noch die Hand der ideal gesinnten Milinka angenommen hätte. Jetzt aber, nachdem er während des Aufenthaltes in Petersburg die ihm sympathischere äußere Erscheinung Matrjona's immer stärker auf sich hatte wirken lassen und endlich erkannt hatte, daß sie mit ihrer Einsicht für das unmittelbare Leben auch die Ehrfurcht vor Ideen und Idealen verband – jetzt erst klagte er sich an, sie durch seine Doppelwerbung verletzt und herabgesetzt zu haben, und hielt sich nicht mehr für würdig, nicht mehr für fähig, um sie allein zu werben.
Er war aber nicht der Mann, lange in Unklarheit auszuhalten und nicht lieber die schwerste Buße, als eine schwankende Unzufriedenheit mit sich selbst zu ertragen. Schon nach wenigen Tagen legte er der Geliebten sein Herz und den ganzen Entwickelungsgang seiner Gefühle für sie, seine Liebe, seine Reue und sein Verzagen offen dar.
„Und damit Sie nicht glauben, theure Matrjona,“ schloß er, „daß neben Ihnen noch irgend etwas Werth für mich hätte, selbst wenn es mir bis zu dem Augenblicke, da ich Sie liebte, der einzige Lebenswerth zu sein schien – ich habe die Lust und Freude nicht übersehen können, womit Sie am Stadtleben hängen, ich bin bereit für Ihren Besitz meine Einsamkeit auf dem Gute aufzugeben, unser Dasein ganz nach Ihrem Geschmack zu gestalten.“
„Dann blieben wir auf dem Lande,“ sagte Matrjona, „denn mein Herz hat sich von der Welt abgewendet.“
„Ist es möglich?“ rief er fast bestürzt; „hat ein Schmerz Sie dahin gebracht? Ist ein unglückliches, ein hoffnungsloses Gefühl in Ihnen erwacht?“
„Nein!“ erwiderte sie, „der Anblick der Welt und ihres Treibens genügte. Und wenn ein Schmerz dabei im Spiele war, so ist er jetzt dahin, da der Mann, der mir ihn zugefügt, ihn in diesem Augenblicke von mir genommen.“
Er wollte sie entzückt umschlingen, aber sie wehrte ihn ab:
„Noch ist nicht Alles gethan. Vergessen Sie nicht, daß auch Milinka gewissermaßen Ihre Braut ist, daß auch sie das Recht hat, die Hand nach Ihnen auszustrecken. Wir müssen erst ihr Herz prüfen, und wenn auch nur ein Schatten von Verstimmung es trübte, weil ihr die Entscheidung erlassen ist – so hätten Sie auch mich verloren.“
Diese Unterredung fand im Salon der Gräfin statt, nachdem die gewohnte Abendgesellschaft ihn verlassen hatte, und zwar an demselben Tage, an welcher Nikitine von Kronstadt zurückgekehrt war. Während die Liebenden sich verständigten, saß in einem Nebensalon Milinka in tiefem Gespräch mit einer ältlichen Frau, einer Mitarbeiterin belletristischer Zeitungen, der Milinka ihre ersten Federversuche zur Beurtheilung vorgelegt hatte. Zu gleicher Zeit aber hatte sich die Gräfin schon in ihr Boudoir zurückgezogen und vor dem Schirm ihren gewohnten Platz genommen, und auch Nikitine saß wieder an ihrer Seite.
„Ich erzähle Ihnen keine Fabel, Gräfin. Léonide wollte in Kronstadt, daß wir ein zur Abfahrt nach Amerika die Anker lichtendes Schiff bestiegen, augenblicklich, ohne Besinnen, mit Aufgebung aller Verhältnisse, sogar des Junggesellen-Diners, zu dem ich schon Einladungen verschickt hatte, kleine Nebensachen, wie des Ministers und meiner Carrière, gar nicht zu gedenken – und dies Alles, um niemals mehr wiederzukehren, um fortan unter der Bewachung eines Oheims, eines alten Negerfürsten oder dergleichen zu leben, mit nichts beschäftigt, als mit ewiger Liebe.“
[364] Kalter Schweiß schien ihm auf die Stirn zu treten; denn er trocknete sie mit seinem Taschentuch.
Er fuhr fort:
„Sie verließ mich, wie sie mir sagte, um mich niemals wiederzusehen – und ich verließ sie, wie ich verschwieg, um sie gewiß nicht mehr wiederzusehen. Denn sie ist offenbar verrückt, und auf eine noch schlimmere Art als Fürst Romalow. Ein würdiges Paar! Aber was wollen Sie, Gräfin? Ich bin trotzdem von der Geschichte zerschmettert, unglücklich, elend, trostlos. O die Frauen – ich will ihnen nicht mehr nahe kommen. Wissen Sie, theure Freundin, daß dies gerade die richtige Stimmung wäre, um meine Vorliebe für Ihre Milinka in Erwägung zu ziehen? Die Marotte des Mädchens, sich von der Welt zurückziehen zu wollen, kommt meiner gegenwärtigen Disposition entgegen.“
Die Gräfin lachte.
„Milinka wird heute noch bei mir erscheinen; sie hat mir etwas anzuvertrauen.“
„Benützen Sie die vertrauliche Stunde – ich bitte Sie – um ihr Herz zu erforschen,“ sagte Nikitine, indem er sich erhob; „ich habe mein Unglück noch lange nicht überwunden; ich werde es niemals überwinden, und ich bin jetzt todtschläfrig.“
Er hatte sich kaum entfernt, als Milinka eintrat. Sie war erregt, hochroth, und ohnehin leicht zur Ekstase geneigt, warf sie sich der Gräfin zu Füßen.
„Papa hat heute geschrieben, er will endlich unsere Heimkehr und unsere Entscheidung wegen Sergey Iwanowitsch. Retten Sie mich, theure Gräfin!“
„Ja, es zwingt Sie ja Niemand, meinen Neffen zu heirathen!“
„Das würde ich auch niemals thun, so sehr ich ihn schätze und achte, schon deshalb nicht, weil er sein Leben auf dem Lande verbringen will. Ich aber will Petersburg, will diese herrliche neue Welt mit ihren interessanten Begebenheiten, Charakteren und Stoffen nicht mehr verlassen. Ich habe die Einsamkeit en horreur genommen. Das ist es, wovor Sie mich retten sollen.“
Erstaunt erfuhr die Gräfin zum zweite Male, wie rasch, wenn auch psychologisch erklärlich, die Lebensanschauungen junger Herzen sich ändern. Ehe sie antworten konnte, bat Matrjona mit leisem Pochen, eintreten zu dürfen. Auch Sergey wollte seine Tante noch sehen. Die Gräfin theilte den Neuhinzugekommenen die Aeußerungen Milinka's mit.
„So viel ist gewiß, mein Sohn,“ sagte sie zu Sergey, „Du darfst Dir keine Hoffnungen auf die Hand dieses Mädchens machen; Milinka hat sich entschieden dagegen erklärt.“
Matrjona und Sergey sahen sich in die Augen. Die Gräfin fuhr fort:
„Ich wäre glücklich, Sie für immer bei mir zu behalten, Milinka. Wollen Sie als meine Gesellschafterin, als meine Freundin mit mir weiter leben? Sie sind plötzlich eine Gegnerin der Einsamkeit geworden – wollen Sie mir helfen, auch die meine zu verbannen?“
Milinka küßte ihre Hand, ihr Kleid und sank ihr, Freudenthränen weinend, zu Füßen.
Jetzt hielt es auch Sergey an der Zeit, sein Glück nicht länger zu verschweigen. Der Freudensturm Milinka's ging aus anderen Ursachen nun auch auf die Gräfin über. Sie umarmte und küßte Matrjona und nannte sie ihre zweite Tochter. Nie haben Glücklichere einen Tag mit größerer Freude auf die nächsten Tage beschlossen.
Die Hochzeit Sergey's und Matrjona's fand in Petersburg statt. Towaroff hatte gleich, nachdem Hesekiel Nazarus mit erfrorener Nase und beschädigten Beinen aus Moskau zurückgekehrt war, ihn für immer in sein Haus aufgenommen. Nachdem Towaroff die Lebensentscheidungen seiner Töchter erfahren, übergab er dem ehemaligen Sprachmeister die Verwaltung des fortan einsam bleibenden Herrenhauses, hoch erfreut, den Rest seines Lebens als lustiger Junggeselle in einer der großen Städte verbringen zu können.
Sergey hatte in seiner Häuslichkeit oft Gelegenheit zu sagen:
„Einst fragte ich mich: Martha oder Maria? In der Ehe aber kann nur ein Weib beglücken, das Martha und Maria zugleich ist.“
- ↑ müsste wohl heißen: „so weiß ich,“