Marburg (Meyer’s Universum)
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Da liegt das alte Marburg in seinem grünen Thale, sonnig glänzen seine Hügel umher und seine Burg prangt malerisch auf ihrem Felsen; Garten an Garten windet sich wie ein Blumengeflechte um die Stadt und läßt die alten grauen Thore nicht sehen, welche, wie gute Wirthe, den Fremden empfangen und ihm zurufen: komm’ herein! – Innen enge Gassen, bald ansteigend, bald abschüssig, hervorspringende Giebel, ächtes, deutsches, mittelalterliches Gewand. Nur in der kleinen Neustadt und am Casseler Thore reihen sich moderne Gebäude zu ein paar schönen Straßen an einander. Junges Blut mit Barett und Bocksbart und ellenlangen Pfeifen macht die Gassen lebendig; hübsche, muntere Mädchengesichter lauschen in den Fenstern, ein lebensfroher Sinn kömmt Einem allerwärts entgegen: es ist die rechte Staffage einer kleinen deutschen Universitätsstadt.
Und klein ist sie, obschon sie sich weit ausspreizt mit ihren Anwüchsen, wie wenige Städte ihrer Größe. Sie zählt nicht ganz 8000 Bewohner, und die Frequenz der Universität übersteigt selten 250. Der Stolz des Städtchens ist sein ehrwürdiger Gottestempel, die Elisabethenkirche. Trotz einer ungünstigen Lage in der Tiefe ragt doch sein majestätisches Thurmpaar überall über die Giebelmassen hervor. Einst berühmt durch die ganze Christenheit wegen des Grabes der heiligen Elisabeth, und darum von Hunderttausenden besucht, hält ihn die Gegenwart hoch als Denkmal altdeutscher Baukunst. Nur das, was ihm in den Augen der Gläubigen so großen Werth gab, ist ihm genommen. Die Gebeine der frommen Frau sind nicht mehr da; sie wurden weggebracht und in alle Welt zerstreut. Wucherischer Handel ist damit getrieben worden und arger Betrug: denn jetzt streiten sich die drei Städte um die Ehre, den Schädel der Heiligen zu besitzen; Brüssel, Dresden und Wien stellen ihn gleichzeitig zur Verehrung aus! Auch ward das Grabmal allmählig seiner größten Kostbarkeiten beraubt; noch während der Franzosenherrschaft wurden 115 große Edelsteine aus demselben gestohlen. Nur die Statuen und Figuren von getriebenem Silberblech sind noch übrig. Interessant und besser erhalten sind die trefflichen Glasmalereien im Chor, und die Monumente und Standbilder der alten Deutschordens-Comthure und der Landgrafen von Hessen, welche letztere alle bis auf Philipp den Großmüthigen hier begraben liegen.
Zur Aula der Universität, die im 15ten Jahrhundert gegründet wurde, dient das Gebäude des ehemaligen Dominikanerklosters. Ihre großen Tage hatte die Hochschule zur Zeit der Reformation; damals zog der wissenschaftliche [140] Philipp II. die bedeutendsten Gelehrten als Lehrer herbei und mit ihnen Studiosen aus den fernsten Ländern. Seit längerer Zeit sind Coryphäen der Wissenschaft in Marburg selten. – Einen Stern erster Größe hatte es in unsern Tagen, er warf hellen Schein auf die alternde Mutter; aber der Stern ist verhüllt und bevor er wieder erscheint, wird sich noch manches Auge schließen. Der Kranz ist herabgerissen von Marburgs Haupte, sein hoher Priester im Tempel des Wissens ist nicht gestorben, aber das Schwert ist gebrochen in der Hand des Feldherrn, das warme Wort der Wahrheit und der Weisheit gleitet nicht mehr über seine Lippen, daß es einziehe in die Herzen seiner Schüler. Droben in der Fürstenburg, wo das Verbrechen wohnt, – dort mit Räubern, Mördern und Dieben unter einem Dache, dort schmachtet Der im Kerker, dessen Name jedem wackern Hessen in’s Herz gegraben ist; dort hält man den Leib gefangen des freien Geistes, der Hessens Verfassung schrieb, und Allen verbrieft hat, was er allein entbehrt. Jedem Volke, das der Herr lieb hat, gab er bei entstehenden Revolutionen eine vermittelnde, lenkende Hand. Die Franzosen hatten ihren Lafayette, die Holländer ihren Oranien, die Nordamerikaner ihren Franklin, ihren Washington, die Hessen – sie hatten ihren Jordan. Das ist der Stern, der jetzt Kerkermauern erleuchtet; das ist der Kranz, der herabgefallen, das ist das Schwert, das zerbrochen; das ist der hohe Priester, der für Hessen das heilige Feuer geschürt hat am Altare der Freiheit, der sie gesetzlich geordnet hat mit eben so viel Kraft als Milde, und mit Kinderglauben an die Treue eines Fürstenworts. Was hat er denn verbrochen? hatte er mahnend und warnend die Hand erhoben gegen den Thron hin, oder machte er blutleere Höflinge erröthen? Oder rechnet man ihm jetzt nach und rechtet mit ihm über Dinge, die abgethan schienen und fertig, wie ein geschlossenes Buch? Niemand will davon reden. Wir wissen nur: Alles Große fordert Opfer, alles Heilige bedingt Sühne, und auch der Größte und Beste auf Erden ward einst gekreuzigt.
Jahrhunderte ziehen hinab, die Jahre rollen vorüber; es wechselt das Glück, es wechselt die Macht, Throne und Fürstenstühle wechseln ihre Inhaber und diese selbst sind dem Loose alles Irdischen unterworfen; auch die Stimme der öffentlichen Meinung steigt auf und nieder, ebbt und fluthet. Die Fluth wird wiederkommen und der Tag nicht ausbleiben, wo sie, laut, wie der Donner, ein Urtheil fällt über Jordan und seine Feinde. Ich sage es ohne Furcht: wem, wie diesem Manne, in kritischen Stunden die Vollmacht ward, für die gesellschaftlichen Verhältnisse eines ganzen Volks neue Fundamente zu legen zum friedlichen Aufbau – und wer die Kraft hatte, wie er, solches tüchtig zu vollbringen und ohne Mißbrauch – dem hat Gott sein Siegel auf die Stirn gedrückt, und unbekümmert um das Urtheil der gemeinen Gerechtigkeit, zolle ich einem solchen Manne Ehrfurcht und Liebe.