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Maienklang und die soziologische Situation

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Textdaten
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Autor: Kurt Tucholsky
unter dem Pseudonym
Peter Panter
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Titel: Maienklang und die soziologische Situation
Untertitel:
aus: Die Weltbühne. 28. Jahrgang 1932, Nummer 28, Seite 56–58.
Herausgeber: Carl von Ossietzky
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 12. Juli 1932
Verlag: Verlag der Weltbühne
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Erscheinungsort: Berlin
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Quelle: Internet Archive
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[56] Maienklang und die soziologische Situation von Peter Panter

Der gebildete Mittelstand des neunzehnten Jahrhunderts sonderte, wenn entsprechend gereizt, lyrische Gedichte ab sowie auch Dramen – keine Biedermeier-Schublade ohne solches. Das hat man denn zum Schluß gar nicht mehr ernst genommen; die immer gleiche Wiederholung dieser Produktion machte sie lächerlich. Nicht Lyrik und Drama wurden lächerlich, sondern die kleinen Leute, die sich dieser Formen bedienten, um ihre Sechsergefühle auszudrücken. Sie fühlten sich durch die Klassiker angekratzt, nun rann ihre Bildungsdrüse aus, leer klapperten die Jamben, es stelzten die Trochäen, und was Hebbel konnte, das vermeinte Herr Schuldirektor Gottschalk vom Realgymnasium in Pasewalk noch alle Tage zu können. Die Sekundaner dichteten beinah so schön wie Heine. Und wenn einer sagt: „Oberlehrerdrama“ oder „Pubertätslyrik“, dann wissen wir Bescheid, die Sache ist richtig einrangiert und damit erledigt. Irgend ein Wert kommt diesem Zeug in den allerseltensten Fällen zu. Kitsch ist das Echo der Kunst.

Das hat sich geändert.

Der gebildete, sanft abgerutschte Mittelstand sondert keine Dramen mehr ab, nur noch wenig Gedichte – er produziert in unendlichen Massen gebildeten Schmus. Man kann das nicht anders nennen.

Die Zeitschriften sind voll davon. Der Kram häuft sich zu Büchern. Viele Leute reden sogar in diesem vertrackten Stil, und er hat ein untrügliches Kennzeichen: das sind seine überflüssigen, ja, zu diesem Zweck erst erfundenen Fachwörter. Die Kerle glauben, sie hätten eine Leistung vollbracht, wenn sie irgend eine Selbstverständlichkeit oder einen kleinen Gedanken mit dem Zusatz „religionspsychologisch“ versehen; wenn sie „verkehrstechnisch“ sagen oder wenn sie eine Überschrift „Zur soziologischen Situation des…“ formen. Es ist ganz und gar sinnlos, was da geschieht.

Jeder kann sich den Spaß machen, diese aufgequollenen Sätze links von einem Strich zu setzen und rechts die Übersetzung ins Deutsche hinzuzufügen; er wird eine verblüffende Entdeckung machen. Nämlich die: die eine Hälfte dieses Geschwafels bedeutet überhaupt nichts, und die andre läßt sich [57] sehr einfach ausdrücken. Dann bleibt allerdings nicht viel. Die aufgelösten Knäule ergeben etwa: „Man kann nicht alles durch die Glaubenssätze des Katholizismus erklären“ oder: „Viele Bauernsöhne sind in den letzten Jahrzehnten in die Städte gezogen“ oder: „Die jungen Leute gehn lieber ins Kino als ins Theater“ oder so etwas. Aber ausgedrückt ist das geschwollen, gequollen, gebläht und aufgeblasen, daß einem himmelangst wird. Arm –? Arm heißt das nicht. „Die ökonomische Existenznot der Bourgeoisie“, so heißt das. Und worum geht es –? „Es geht um das Wissen um…“

Lacht doch das Zeug aus –!

Glaubt ihnen das doch nicht. Es ist ja nicht wahr, daß man das nicht alles genau so gut, ja, viel besser, klar und einfach ausdrücken kann. Ich spreche nicht von Facharbeitern; will sich einer mit den Nachfolgern Kants auseinandersetzen, dann muß er die überkommenen Fachausdrücke anwenden. Die eitle Dummheit aber, über jedem Gebiet des Lebens eine Wissenschaft zu errichten, und die dumme Eitelkeit, so zu tun, als sei man in allen diesen falschen Wissenschaften zuhause, das ist grauslich. Es besteht auch nicht der leiseste Grund, jede Untersuchung mit schmatzenden Fachausdrücken aller nur möglichen Gebiete zu beladen. Hier wird wiedergekäut, was Zeitungen, Zeitschriften und Vorträge in das widerstandslose Gehirn hineingestopft haben; wieder scheidet die Bildungsdrüse etwas aus, und wieder taugt es nichts. Sehr gern getragen wird der marxistische Slang. „Ein Experiment organisieren“ schreibt Bruder Brecht, aber das ist nichts als schlechtes Deutsch. Man kann etwas organisieren, zum Beispiel den Versand von Kali nach Amerika, und man kann ein Experiment machen – aber ein Experiment organisieren: das kann man nicht. Dergleichen ist hingesudelt. Gemeint ist: versuchen.

Jede Betätigung auf dieser Kugel hat sich eine Wissenschaft als Dach gebaut, darunter ist gut munkeln. Und die Pfaffen aller dieser Wissenschäftchen sind munter am Werke, die deutsche Sprache zu einem Monstrum zu machen; dies Deutsch mit seinen vielen Fremdwörtern klingt, wie wenn einer die Stiefel aus dem Morast zieht: quatsch, quatsch, platsch, quatsch…

Lüge, Lüge und Wichtigtuerei. Dieser unerträgliche Stil mit den Fachadverbien, mit dem pseudowissenschaftlichen Geklöhn, das jeder halbwegs gebildete Primaner beherrscht –: das ist gar nichts. Zwischen:

Wonnige Stunden im Lenze!
Sonniger, duftiger Mai!
Tage der blühenden Kränze,
Seid ihr für ewig vorbei?

und:

„Die Seinsverbundenheit des Wissens hält einer Analyse im anthropologischen Sinne schon deshalb nicht stand, weil die Frage Utopie und Ideologie in der gedanklichen und gesellschaftlichen Auflösung…“

zwischen diesen beiden Äußerungen ist kein Unterschied. Leer und sinnlos sind beide, Äffereien von Formen, die bei andern [58] einmal einen Sinn gehabt haben: die Bildung hat in die Menschenschlucht gerufen, und nun hallen die Wände wider. Diese gesamte Schmus-Literatur hat genau den gleichen Wert wie das Oberlehrerdrama und die Maienklang-Lyrik: nämlich gar keinen. Anno fünfundachtzig kamen Drama und Lyrik auf die Oberlehrer herunter; jetzt sind Geschichte und Philosophie auf die Klugredner heruntergekommen.

Wir auf der Redaktion lesen solche Aufsätze schon lange nicht mehr. Ich kann euch nur das gleiche empfehlen.