Mag. Lange’s Aergerniß
Zu der Zeit, als so viele geistliche Unruhen den Frieden der Stadt Hamburg störten, erregte auch Mag. Lange, Diaconus zu St.Petri, ein sehr bedenkliches Aergerniß. Er war ein allzu eifriger Mann, bereits in Nürnberg vom Amte wegen Zänckereien entlassen, ehe er (1682) gegen des Ministerii Wunsch hieher berufen wurde. Und schon zweimal war er hier durch gerichtliche Sentenz suspendirt gewesen, wegen einer Schmähschrift, und weil er bei einer Trauung dem Ehepaare „wohl den heiligen Geist, nicht aber den Geist des Pastors Winckler,“ seines Collegen, angewünscht hatte.
Nun hatte er seit einiger Zeit sein Amt wieder angetreten, als ihn die Unruhe plagte, mit einer Neuerung in ungeschicktester Weise hervorzutreten. Er verlangte nämlich urplötzlich in einer Predigt, daß Jedermann beim Beginn des Vaterunsers aufstehen und das Gebet stehend vernehmen sollte, während es doch in Hamburg längst üblich war, dasselbe sitzend anzuhören und sodann zur Empfangung des [339] Segens nicht sonder Geräusch aufzustehen, wie noch jetzt gebräuchlich. Es wäre nun freilich eine gute Sitte, wenn man beim Gebete des Herrn ehrfurchtsvoll aufstünde, wie dies auch in fast allen protestantischen Landen herkömmlich ist. In Hamburg war’s aber einmal keine Sitte, und hatte der liebe Gott es so lange geduldet, so hätte auch Mag. Lange dies geschehen lassen können, oder er hätte die Neuerung minder verkehrt anfangen müssen. Denn als er die Gemeinde zum Aufstehen gefordert, und die meisten, namentlich die Frauenzimmer, anfangs ob solcher unerklärlichen Zumuthung verstarret, sitzen blieben, da ließ er nicht ab, ihnen zuzurufen, „stehet auf, stehet auf,“ dräuete auch: sie kriegten anders den Segen nicht, bis endlich Alle, obwohl in nicht geringem Unmuthe, sich dazu bequemen mußten.
Selbigen Tages noch wurde Herrn Mag. Lange, dem jedenfalls nicht zukam, in ritualibus etwas zu ändern, seine gegen die Kirchen-Observanz streitende Neuerung von den Juraten ganz freundlich verwiesen, ihm auch zu Gemüthe geführt, daß namentlich das Hamburgische Frauenzimmer es im beständigen christlichen Kirchengebrauch gehabt habe, seine Gebets-Andacht sitzend und bückend zu verrichten. Auf solch freundlich Verweisen hat aber Mag. Lange gar trotzig geantwortet, er bliebe dabei, denn er thäte es wegen der jetzigen schlechten und theuren Zeiten, „wie auch zur sonderbaren Ehre Gottes.“ In nächster Predigt hat er sich über diese Sache des Breiteren ausgelassen, dabei die Juraten und seine Collegen durch anzügliche Reden gröblich angetastet, und endlich vorm Vaterunser so lange gepocht und „stehet auf“ gerufen, bis er richtig wiederum die ganze Gemeinde und gesammtes Frauenzimmer auf die Beine gebracht. Hierauf hat ihn das Kirchen-Collegium vor sich gefordert; auf die ersten drei Ladungen ist er gar nicht erschienen, sondern unter schlechten [340] Excüsen zur Verkleinerung des Collegii ausgeblieben. Zum Vierten geladen, ist er zwar gekommen, hat aber seiner Neuerung nicht entsagen wollen und schließlich erklärt: er bliebe dabei, daß es ruchlos sei, das Vaterunser sitzend zu vernehmen, er werde mit seinem dreimaligen Aufruf fortfahren, wer dann nicht stehen wolle, der möge sitzen bleiben; er thäte es Gott zu Ehren.
Da er nun in nächster Predigt wieder dreimal gegen das sitzende Frauenzimmer (das er absonderlich im Auge gehabt) aufgetrumpft hat; auch in der Predigt am 19. August den Eingang vom „stehenden Zöllner“ genommen, und zur Rechtfertigung seines Verfahrens sich äußerst ungereimter Gleichnisse bedient hat, so haben die Kirchgeschwornen deshalb in einer Klageschrift dies Alles dem Rathe vorgestellt. Darin sagen sie: wie allbereits andere Prediger das Thema ergriffen und für die alte Gewohnheit des Sitzens gesprochen, und solchen modum das Vaterunser zu beten, ut pium et devotum höchlich approbiret hätten; wie dann durch dies Alles ein großes Aergerniß und eine Spaltung der Gemeinde wie der ganzen Stadt in Aufständer und Seßhafte sich vorbereite, und durch vielfache Zwistigkeiten schon kundbar werde. Kirchgeschworene schließen ihr Memorial: „da nun dies Alles die Gemeinde chagriniret, sintemal einfältige Leute nicht wissen, wessen Sentenz sie folgen sollen (der skandalösen Störung des Gottesdienstes nicht zu gedenken), auch solche Uneinigkeit unter den Collegen der Kirchen nicht geringen Anstoß causiret, so legen wie E. E. Rathe die dienstliche Bitte ans Herz: dem Mag. Lange bei würklicher Strafe zu befehlen, daß er es beim Herkommen, das Gebet zu verrichten, belasse, sich ungebührlicher Neuerung enthalte, keine anzügliche Phrases ferner gebrauche, auch keinen Menschen (sonderlich das Frauenzimmer) weder verdeckt noch unverdeckt picquire und anzapfe, auch [341] Niemanden, wie geschehen, vor Gottes Gericht citire; imgleichen: dem Ministerio, welches des Mag. Lange’s Conduite in hoc passu gewiß nicht loben wird, davon Part zu geben.“ Auf welches Gesuch E. E. Rath eingegangen ist und die nöthige Wandelschaffung angeordnet hat.
Der gute Mag. Lange hat sich genug selbst bei der Sache am meisten „chagriniret.“ Vielleicht ist er davon krank geworden und hat deshalb nicht mehr gepredigt. Schon am 7. Mai folgenden Jahres 1700 ist er verstorben. Womit denn die gefährliche Spaltung der Gemeinde ihr letztes Ende erreichte, und der Aufstand der wenigen Aufständer vollends aufhörte. Das Hamburger Frauenzimmer folgt, wie bekannt, noch heutigen Tages dem christlichen Kirchengebrauch der Urmütter, verrichtet die Gebets-Andacht nach wie vor „sitzend und bückend, und erhebt sich dann nicht sonder Geräusch zur Empfangung des Segens.“ Seitdem hat kein Prediger es wieder versucht, in diesem Punkte reformirend vorzuschreiten, obschon es manchmal recht „böse und theure Zeiten“ gegeben hat, die wohl ein Werk zur „sonderbaren Ehre Gottes“ hätten veranlassen können.
Anmerkungen
[388] Nach Archival-Acten.