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Mäuschen (Die Gartenlaube 1894/38)

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Textdaten
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Autor: Ernst Muellenbach
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Titel: Mäuschen
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aus: Die Gartenlaube, Heft 38, S. 637–645
Herausgeber: Adolf Kröner
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Erscheinungsdatum: 1894
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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[637]

Mäuschen.

Humoreske von Ernst Lenbach. Illustriert von A. Mandlick.
1.

Ein freundliches geräumiges Zimmer mit zwei hohen Bogenfenstern, die auf einen wohlgepflegten Garten hinausgehen. Die Einrichtung halb die eines Schulsaales, halb die eines behaglichen Wohnzimmers. An den Wänden hängen Landkarten, aber auch eine zierlich geordnete Sammlung von Photographien in vornehmen dunklen Rahmen, ausschließlich Damenporträts, darunter zwei Gruppenbilder. Auf einem „stummen Diener“ steht ein mächtiger Globus, anmutig umgeben von eleganten Stickrahmen und Nähkörbchen. Es ist ein Schulzimmer, aber ersichtlich von Damen geleitet und von solchen, die es werden wollen, besucht. An dem Rokoko-Arbeitstischchen, das auf zwei Stufen hoher Estrade zwischen den Fenstern steht, sitzt Frau Doktor Ulrich, seit dem Tode ihres Mannes die Besitzerin und Leiterin des vornehmsten Pensionats in der schönen Universitätsstadt. Sie liebt es, persönlich die Ehrenwache zu übernehmen, wenn Professor Seeling ihren demnächstigen Abiturientinnen Litteraturgeschichte vorträgt.

Bei seinen Hörerinnen genießt Professor Seeling die vorteilhafteste Stellung, die ein Mädchenlehrer haben kann: ein Fünftel Furcht und vier Fünftel Schwärmerei. Man kann ihn nicht um den Finger wickeln wie den alten Zeichenlehrer Rabe, er ist mit seinem dichten roten Schnurrbart und den männlichen kräftigen Zügen kein Bild eines sanften Adonis wie der junge Pastor Frommlieb, aber er ist weit mehr als sie alle – er ist „furchtbar interessant“. Die leisen Schauer möchte man nachher um nichts missen, die einen – oder vielmehr eine – überrieseln, wenn er so mit einem blitzschnellen Ruck den goldenen Kneifer abspringen läßt und, die grauen Augen gemütlich auf sie richtend, langsam sagt: „Was Sie uns da eben erzählen, Fräulein von Siegendorf“ – oder „Fräulein Menzel“ – oder „ Fräulein Meyer“ – auf die hat er es besonders abgesehen – „ist mir sehr interessant. Also Goethe ist in Königsberg auf die Welt gekommen? Das hat man mir in der That noch niemals verraten.“ Und dann setzt er den Kneifer wieder auf und fährt in mildem Tone fort: „Nun, schließlich muß es ja irgendwo gewesen sein. Aber sagen wir lieber: in Frankfurt am Main.“ Dabei lächelt er ein wenig, und dann sieht man, was für schöne Zähne er hat. Aber sein Vortrag ist doch noch viel schöner. Paula Meyer hat neulich laut geweint, als er Körners Tod schilderte, und alle stimmten darin überein, daß Körner genau so ausgesehen haben müsse wie Professor Seeling.

„Und dabei hat er es nicht einmal nötig,“ bemerkte Thusnelde Lehmann. „Er brauchte uns gar nichts vorzutragen. Sein Vater ist fabelhaft reich: Buckskin und Wollwaren. Er ist Konkurrent von uns. Auch von Euch, Margot, aber Ihr fabriziert ja jetzt mehr Halbseide.“ – Also ein freiwilliger Wohlthäter!


2.

Die Nachmittagssonne lugt zwischen den weißen Vorhängen durch und läßt ihre goldroten Strahlen wohlgefällig über die hübschen Köpfchen spazieren, von Paula Meyers Tituslocken zu [638] dem pechschwarzen Mozartzopf ihrer Nachbarin Thusnelde Lehmann. Jetzt blinkt sie gar ganz unverschämt in den Spiegel an der Wand, und der Widerschein blendet die blonde Hamburgerin Paula so sehr, daß sie errötend das Köpfchen auf Schillers dritten Band neigt – oder ist es, weil der Professor, der neben ihr steht, sie gerade so scharf angesehen hat?

Sie faßt sich aber und beginnt mit schulmäßigem Tonfall die gewünschte Inhaltsangabe des „Don Carlos“ zu liefern.

„Don Carlos wurde geboren 1555 und entstand im Jahre 1787. Der tragische Konflikt in diesem Drama beruht darauf, daß Don Carlos seine Schwiegermutter liebt …“

„Das gesteh’ ich,“ unterbricht sie der Professor, indem er sie mit unendlichem Vergnügen ansieht, „das ist doch einmal ein tragischer Konflikt, wie er sein soll. Woher haben Sie denn diese Weisheit, Fräulein Meyer?“

„So haben wir es aus dem Lehrbuche in der Prima gelernt,“ versichert die Gekränkte mit der Ruhe des guten Gewissens.

„So, so. Ja, da haben Sie sich leider verlernt. Selbst in einem Lehrbuch dürfte so etwas nicht stehen. Die Königin Elisabeth ist nicht die Schwiegermutter des Infanten, sondern – – bitte, Fräulein Lehmann?“

„Die Stiefmut – Huh!!“

Und „Huh! Huh!“ tönt es auf beiden Seiten des Tisches, und im nächsten Augenblick hat Professor Seeling die Freude, seine schönen Zuhörerinnen unter einem wesentlich erhöhten Gesichtspunkt zu betrachten. Sie stehen oder knieen nämlich auf ihren Stühlen oder sitzen auf dem Tisch. Mit beiden Händchen raffen sie die Kleider eng zusammen, und angstvoll starren die blauen, grauen, braunen und schwarzen Augen in eine dunkle Zimmerecke.

„Eine Maus! Eine Mau – Mau – Maus!!“

Nur zwei haben ihren Platz bewahrt: der Professor, dem der Vorfall eine innige Freude zu bereiten scheint, und die Maus, welche vor Schreck einem Schlaganfall nahe ist. Nun steht der Professor langsam auf, die Maus huscht in den Winkel – erneuter allgemeiner Aufschrei – und verschwindet, der Professor aber untersucht mit dem Zeigefinger die Ecke – diesmal nur ein Schrei, und den stößt Paula aus dann nimmt er einen marmornen Briefbeschwerer vom Schreibtischchen und legt ihn bedächtig vor das entdeckte Mauseloch.

Die jungen Damen nehmen ihre Plätze wieder ein, sehr verwirrt, sehr erhitzt und sehr beschämt.

„So, Meine Damen, der Feind ist vorläufig geschlagen und eingesperrt. Ja, die Mäuse! Die alten Aegypter, wie Ihnen Professor Ebers jedenfalls schon irgendwo verraten hat, fürchteten sie als das Tier des Todes. Merkwürdig, wie zähe sich manche von diesen altägyptischen Vorstellungen erhalten haben. – – – Darf ich bitten, fortzufahren, Fräulein Meyer?“


3.

„Sie sind der Held des Tages, Herr Professor,“ bemerkte Frau Doktor Ulrich lächelnd, als sie vor der nächsten Litteraturstunde mit dem jungen Professor allein in ihrem hübschen „Studierzimmer“ saß. „Eigentlich sollte ich es Ihnen gar nicht verraten, aber es ist Thatsache, daß Sie seit Ihrem glorreichen Mäusesieg von meinen Mädchen wie ein Lohengrin bewundert werden. Aber nun raten Sie mir einmal, lieber Professor, was soll ich gegen diese schrecklichen Mäuse machen? Nie hätte ich geahnt, daß sich ein solches Tier in unserem Hause aufhält.“

„Aber ich bitte – in einem Hause, wo soviel Süßes beisammen ist! Mäuse lieben Süßigkeiten. Uebrigens empfiehlt man gegen diese Tiere die Anwendung von Katzen.“

„Wir haben aber keine Katze!“

„Ich werde mir ein besonderes Vergnügen daraus machen, Ihnen eine zu besorgen.“

„Wirklich, wollten Sie das? Ach, wie reizend! – Meinen besten Dank im voraus!“

„Bitte! Wünschen Sie das Tier in Grau, Weiß, Schwarz oder Rot, oder ziehen Sie Melange vor?“

„Ganz nach Ihrem Belieben, bester Professor! – Beiläufig, Wie gedenken Sie die nächsten Stunden – leider sind es ja nur noch drei bis zum Semesterschluß! – zu verwenden? Wollen Sie bis zu Ende mit Ihren Wiederholungsfragen fortfahren?“

„Es wäre zu grausam. Mit Ihrer Erlaubnis gedenke ich heute das Examen abzuschließen und den Rest der Stunden auf die Annette von Droste-Hülshoff zu verwenden; sie gehört jedenfalls von allen Dichterinnen am ersten in unsere Litteraturstunden.“

„Ein reizender Gedanke, lieber Professor! Meine Mädchen werden sich sehr freuen.“ – – –


4.

„Wenn ich nur wüßte, wo ich jetzt eine Katze herbekomme,“ murmelte Hans Seeling, als er nach seiner Vorlesung die Villa Ulrich verließ. „Da muß Freund Holm wieder einmal aushelfen, wozu ist die Presse denn da?“ Dann hüllte er sich fester in den Mantel und schritt durch Märzsturm und Regenschauer der Altstadt zu. Sein Herz aber war der Zeit voraus. In lichtem Maienglanze stand vor seinem inneren Blick eine zarte Gestalt mit blonden krausen Haaren und blauen ernsthaft schauenden Augen, fast noch Knospe, doch die lieblichste Blüte verheißend. Es war so köstlich, vor diesem Bilde zu weilen, daß der einsame Wanderer schier verstimmt ward, als er sich nach einer halben Stunde vor der „Villa Medici“ angelangt fand.

Die „Villa Medici“ war ein altes winkliges Haus mit gefährlich steilen Treppen und schmalen dunklen Gängen, unweit der Klinik. Ihren Namen hatte sie daher, daß stets eine Anzahl Assistenzärzte und Kandidaten der Medizin dort hauste. Auf dem Treppenpodest des zweiten Stocks stand ein wohlgefügtes Skelett, das in der erhobenen Rechten zwei Visitenkarten hielt; auf der Karte rechts stand gedruckt „Dr. med. Engelbrecht“, auf der linken mit Bleistift geschrieben „Otto Holm, Vertreter der Presse“.

„Ein netter Vertreter!“ brummte der Professor und klopfte an der ersten Thür links an.

Ein starker Tabaksqualm füllte das ziemlich große, im stillosen Stile der Studentenbuden bunt möblierte Zimmer und lagerte besonders dicht um das Haupt des am Schreibpult sitzenden Bewohners, „wie eine Wolke um die ambrosischen Locken des Zeus“, meinte Otto Holm. Er trug einen geblümten Schlafrock, der mehr Löcher als Blumen zeigte. Links neben dem Pult stand ein Bierhumpen neben einer dickbäuchigen Kanne, rechts lag auf dem Boden eine Anzahl beschriebener Blätter wüst durcheinander.

„Willkommen in der Klause!“ rief der Reporter, indem er seinem Freunde herzhaft die Hand schüttelte. „Es ist Dir vergönnt, einen Blick in die Werkstatt des schaffenden Geistes zu thun. Hier aus diesem Kruge strömt das elektrische Fluidum durch meine Kehle in die Hand, von dort durch die Feder aufs Papier, welches sich unten rechts am Boden niederschlägt. Sammle ich hernach diese Blätter, zähle die Zeilen, multipliziere mit fünf und dividiere durch die schlechte Laune der Redaktion, so habe ich das Ergebnis des chemischen Prozesses in Reichspfennigen ausgedrückt.“

[639] „Was schreibst Du denn da eigentlich?“ fragte der Professor, indem er sich vorsichtig auf ein ächzendes Sofa niederließ und die angebotene Cigarre anzündete.

„Ach, nichts von Bedeutung,“ erwiderte der Reporter. „In diesem Rattennest passiert ja überhaupt nichts während der Universitätsferien. Drei Diebstähle, ein werlegtes Kind und ein Zimmerbrand, das ist die ganze Ausbeute meines heutigen Feldzugs. Aber ein großartiges Feuilleton über merkwürdige Beispiele von treuen Hunden habe ich da eben hingelegt. Großartig, sage ich Dir! Ich hätte nie gedacht, daß ich so lügen könnte.“

Der Professor schüttelte den Kopf. „Du solltest doch suchen, auf einen anderen Zweig zu springen, Otto!“ meinte er.

„Ja,“ erwiderte der andere, „spring’ Du ’mal gütigst! Das Glück ist mir nun einmal nicht so treu geblieben wie Du, alter Freund und Leibbursch. Die Welt will es mir nicht verzeihen, daß sich das Referendarexamen hartnäckig weigerte, von mir bestanden zu werden. Wie ungerecht! Alexander der Große hatte auch niemals sein Referendarexamen gemacht. Hat man es dem je nachgetragen?“

„Du hast aber noch mehr gethan, Otto, zum Beispiel ein Vermögen durchgebracht.“

„Erlaube, lieber Freund, drei Vermögen Du vergissest die Legate meiner beiden Erbtanten. Und wenn meine dritte Erbtante nicht noch immer so schwer zu leiden hätte, so hätte ich heute das vierte Vermögen sicher.“

„Und würdest es auch durchbringen.“

„Nein, Hans, da thust Du mir doch unrecht. Ich sage Dir, ich bin im besten Gange, mich riesig zu versittlichen. Ja, sieh’ mich nicht so zweifelsüchtig an. Das sind die Wunder der Liebe!“

„Der wievielten?“

„Der letzten, Freund!“ versicherte der Reporter pathetisch. „Ach, ich sage Dir, ein Mädchen – ein Herz wie – wie ...“

„Sagen wir: wie Gold,“ ergänzte der Professor. „Na, Otto, wenn’s diesmal Ernst ist, mich soll’s freuen. Aber weshalb ich eigentlich herkam – kannst Du mir eine Katze verschaffen?“

„Kuriose Frage. Die ‚Villa Medici‘ wimmelt von diesen Tieren. Unsere alte Philöse besitzt allein ein ganzes Rudel.“

„Es muß aber ein hübsches sauberes Tierchen sein. So eine weiße oder weißgraue, verstehst Du, mit weichen langen Haaren.“

„Ja, die hat der Doktor Engelbrecht nun gerade gestern mitgenommen, der Unmensch. Er macht Versuche über Gegenmittel gegen Schlangengift, weißt Du. Aber wenn Du eine schwarze annimmst – garantiert stubenrein, da nimm sie, sie sei Dein!“

Damit hatte Otto Holm bereits aus einem halbgefüllten Wäschekorb einen kleinen fauchenden Sammetballen hervorgeholt, der sich als ein wirklich sehr hübsches Kätzchen entpuppte.

„Du könntest mir aber auch einen Gefalleu thun, lieber Freund,“ fuhr Holm fort. „Ich habe da eben an meinem Ueberzieher Dinge entdeckt, die nicht mehr zu entschuldigen sind. Wenn Du mir vielleicht für diese letzten paar kühlen Abende – ich weiß, Du hast zwei und wir sind ja wohl beide ziemlich von gleicher Figur –“

„Gerne,“ erwiderte der Professor. „Ich werde Dir meinen anderen, gleich wenn ich nach Hause komme, senden. Hier diesen gebrauche ich schon, um die Katze zu tragen.“

„Schön, besten Dank! Uebrigens sollst Du zu der Katze, nach deren Verwendung zu fragen ich zu zartsinnig bin, auch noch diese thönerne Maus in Lebensgröße haben.“

„Ei sieh, welch hübsches Kunstwerk!“ rief der Professor erfreut. „Wie kommst Du denn dazu?“

Der andere lächelte schwermütig. „Unterpfand für fünf Mark, die ich dem Bildhauer Härlein in einer weihevollen Stunde gepumpt habe. Hin ist hin, verloren ist verloren! Weißt Du, er sollte für den Medizinischen Verein eine weibliche Idealfigur liefern, eine Allegorie der Löfflerschen Entdeckung des Mäusetyphus- Bacillus, was durch eine Maus zu den Füßen der Dame angedeutet war. Großartige Idee, was? Die Sache zerschlug sich aber, ehe der Thon trocken war. Darauf hat er dann die Maus entfernt und statt ihrer eine Zahnzange angebracht, natüralistisch, im Original. Das Kunstwerk hat er später dem Zahnärztlichen Klub als ‚Odontia‘ verkauft, aber die fünf Mark ist er mir schuldig geblieben.“


5.

Als der Professor das nächste Mal vor seinen Schülerinnen erschien, war auch Pussy das Kätzchen da. Sie lag auf einem weichen Sessel nahe dem Ofen, labte sich an der behaglichen Wärme und schien für gar nichts anderes Sinn zu haben. Paula Meyer hatte ihr ein blaßblaues Sammetband um den Hals geschlungen, mit einer großen Schleife, deren Enden wie zwei große blaue Ohren über dem kugelrunden Katzenschädel aufragten.

Fürs erste verlief die Stunde ohne Störung. Der Professor las vor aus den Gedichten der Annette von Droste-Hülshoff. Er las sehr gut und ausdrucksvoll. Mit atemloser Spannung lauschten die Mädchen. An die Katze dachte keines mehr.

Plötzlich klang mitten in die grausige Todeslandschaft, die seine Recitation eben schilderte, ein leiser Klaps, wie wenn ein weicher Ball auf den Boden aufschlägt, dann ein ängstliches Piepsen, die jungen Damen schrieen auf, und als der Professor sich umwandte, hatte Pussy das vorwitzige Mäuschen bereits in die Mitte des Teppichs getragen und schickte sich an, der neuen Herrschaft die erste Vorstellung zu geben.

Die Maus piepste und zappelte unter den angelscharfen Krallen. Nun lösten sich diese von ihr, sie glaubte sich frei und wollte weghuschen, aber sogleich fuhr die kleine Tatze wieder mit einer blitzschnellen zierlichen Wendung in ihren Nacken, und das grausame Spiel begann von neuem.

In diesem Augenblick aber fühlte sich Pussy von einer übermächtigen Gewalt selber im Nacken gefaßt und emporgehoben. Ihre halbtote Beute zwischen den Zähnen, strampelte sie heftig und kratzte in großer Entrüstung mit den Hinterfüßen blindlings um sich. Eitel wie alle Katzen, hatte sie auf Lobsprüche und Streicheln gerechnet, und nun kam man ihr so. Es half ihr aber nichts, der Professor hielt fest und trug sie samt der Maus vor die Thür.


[640]
6.
Aus Paula Meyers Tagebuch.

. . . Und wie er sich dann hernach entschuldigte – ach, er und entschuldigen!! – und sagte, es gebe für ihn nichts Unerträglicheres als diese kalte spielende Grausamkeit … Und dann lächelte er, sein herrliches Lächeln, und strich sich mit der rechten Hand über die Stirn und sagte: er habe noch eine besondere Schwäche für die Mäuse, und erzählte, wie er als kleiner Junge ’mal so krank gewesen sei und so einsam, da habe ihm der alte Hausknecht seines Vaters ein paar weiße Mäuschen in einem Käfig gebracht, ganz reizende Tierchen, schneeweiß mit rosenroten Näschen und Aeuglein, und das sei dann tage- und wochenlang seine größte Freude gewesen, und die eine konnte sogar singen, was ich entzückend finde!

Thusy sagt, er hätte mich immer dabei angesehen und mir hätten die Thränen in den Augen gestanden, was recht häßlich von ihr ist, aber ich glaube, sie hat recht. Es muß ja auch einen Indianer rühren, wenn ich mir das denke, so ein starker herrlicher Mann – er, der Herrlichste von allen!! und dann hilflos und ans Lager gefesselt und hat nichts zur Unterhaltung als zwei kleine Mäuschen! O, hätte ich ihn pflegen können! Das heißt, damals war er ja noch klein, welch ein reizendes Kind muß er gewesen sein, ich wollte, ich hätte ein Bild davon!

O, dürfte ich ihn immer pflegen und brauchte ihn nie zu verlassen!!! Aber ach, nur wenige Tage noch, und dann … Ich habe mir heute in Schillers Gedichten „Des Mägdleins Klage“ mit der Häkelnadel angestrichen – wie ganz empfinde ich da mit dem großen Dichter!! – – Oder sollte es – sollte es wahr sein, was Thusy neulich, als sie nachts zu mir herüber flüchtete, weil sie meinte, es könnten doch welche von den häßlichen alten Mäusen hier sein, und der Mondschein fiel so breit herein – da war sie wieder recht abscheulich und neckte mich und sagte – – – aber nein, erröte, meine Feder, und schweige!!!!

Thusy schläft schon, und ich will nun auch zu Bett gehen. In den anderen Zimmern ist auch schon alles dunkel und still, sogar drüben bei Hetty und Margot, wo sie gestern so einen Lärm gemacht haben mit der Katze, diesem abscheulichen Tier. Die kann lange warten, bis ich ihr wieder ein Band schenke. Wie sie ihn giftig anstierte aus ihren grünen falschen Augen, den edlen Mann!!! – Wie die anderen nur schlafen können nach so einem Tage!

Ich wollte, ich hätte ein paar weiße Mäuse. Es sind zu süße Geschöpfe!


7.

Professor Hans Seeling lehnte im Sessel vor seinem Schreibtisch und starrte träumend auf eine Photographie, die in dunklem Stehrahmen auf dem Tische den Ehrenplatz einnahm. Sie stand neben der Lampe, so, daß er beim Schreiben aufblickend sie stets vor sich sah. Vor ihr lag die thönerne Maus, und um Bild und Maus schlang sich ein junger blaßgrüner Epheuzweig.

Nach langem Sinnen reckte sich der Professor, ergriff die Feder und schrieb einen Brief zu Ende, zu dessen Fortsetzung er so viel Zeit gebraucht hatte. Er schrieb:

„Aber das ist alles nur wirres Zeug, wirst Du sagen, und giebt noch nicht einmal eine Antwort auf die höchst einfache Frage, ob ich in acht Tagen komme oder nicht. Nun, lieber Vater, Du hast immer darauf bestanden, daß Dein erwachsener Sohn Dir gegenüber offen sei wie ein junger Kamerad, und wie sollte ich vor Dir auch ein Geheimnis haben? Seit ich zu denken vermag, bist Du mir Vater und Mutter zugleich gewesen, und wenn die liebe selige Mutter, die ich kaum gekannt habe, noch lebte, ich würde vor ihr so offen sein wie vor Dir. Aber zuerst muß ich selbst klar sehen. Es giebt Dinge, die kann und soll ein Mann nur allein durchfechten. Ich bin in den letzten Wochen in mich gegangen, habe unter Verbrauch von bedenklich viel Cigarren – die letzte Sendung war herrlich! – mit allerlei abgeschlossen und möchte nun einen kleinen Sturm auf den Himmel wagen. Es ist mir, als schwebte ein großes Glück dicht vor mir, als fühlte ich den Hauch seiner Fittiche an der Stirne, und ich will greifen und sehen, ob ich es halten mag. Und also – um Dich nicht länger zu behelligen – komme ich in acht Tagen, so bringe ich Dir etwas Köstliches mit, und kommen wir nicht, so mache ein Kreuz auf diesen undisciplinierten Brief und wisse, Dein Sohn hat sich in die Wissenschaft vergraben, wo sie am tiefsten ist, und Gott weiß, wann er wieder herauskommt.

 In inniger Treue und Dankbarkeit Dein Hans.“

Nachdem der Professor dies geschrieben, den Brief adressiert und durch den Diener fortgeschickt hatte, zündete er sich eine Cigarre an, lehnte sich wieder zurück und starrte durch die blauen luftigen Wölkchen nach dem Bilde hin, mit einer Ausdauer und Hingabe, als ob er vom Staate eigens zu diesem Zwecke angestellt wäre.


8.

Um dieselbe Stuude saß Paula Meyer allein in dem traulichen Zimmer, das sie mit ihrer Busenfreundin Thusnelde teilte, vor einem kleinen Tischchen. Sie blickte lange mit verweinten Augen auf den Lampenschirm, der weiß auf grün zwei kosende Täubchen zeigte. Dann fuhr sie sich mit ihrem in Kölnisches Wasser getauchten Tüchlein über die erhitzten Wangen, strich das gestickte weiße Negligé von ihrem hübschen Arme zurück und schrieb, häufig schluchzend, in ihr silberbeschlagenes Tagebuch:

 „Freitag, abends spät.
Brich zusammen, du Gebäude schüchterner Hoffnungen, das ich auf diesen Blättern vorgestern aufgerichtet!!! Meine Liebe ist verraten, mein Herz geknickt, und ich wollte, ich wäre tot!!! O, wer hätte so etwas geahnt! Hätte ich doch nur Margot statt meiner mit Hetty Siegendorf zu ihrer Tante gehen lassen, so hätte ich wenigstens das Entsetzliche nicht mit eigenen Augen gesehen. Aber es ist am Ende besser so. Gewiß war es eine Fügung!

Hetty that so groß, als ob sie ihn zuerst erkannt hätte – o Gott, als ob ich ihn nicht mit verbundenen Augen aus Millionen heraus erkennen würde, mit seiner stolzen Haltung, seiner ungeduldigen Kopfbewegung, wie er unter der Laterne auf die Uhr sah – und dann sein großer Mantel mit der Kapuze, der graue, wo er noch vorige Fastnacht auf dem Eise drin so lieb zu mir gewesen war – der Heuchler! O diese Falschheit – aber so sind sie!! Alles Don Juans. Mozart hat ganz recht . . . Und wie es dann unter dem Thorweg so p–st machte, pst–pst– und dann er gleich hin und wir hinterdrein und da stand sie – o dieses Geschöpf, wer sie wohl sein mag, die ihn so umstrickt hat!!! Hetty sagt, sie hätte ihn zuerst geküßt, daß es nur so klatschte – und sie wollte immer noch mehr zusehen, aber ich lief fort, wie mit Furien gepeitscht … O, wenn er ahnte, wer ihn auf seiner schwarzen That belauschte. Aber morgen gehe ich wieder mit Hetty hin – ich will wissen, wer sie ist. Hetty sagt, die träfen sich gewiß [642] jeden Abend und sie habe ihm nie getraut. O diese Männer! Krokodile sind sie, und noch schlimmer!

Ich muß schnell abschließen, gleicht kommt Thusy, und dann soll ich wieder mit der von ihm reden, und am Ende – o Gott! – verrate ich mich. Nein, ich lege mich ins Bett und thue, als wenn ich schliefe, und wenn sie mich in den Arm kneift, ganz egal!! Aber wenn sie eingeschlafen ist, dann werde ich mich satt weinen.

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Ich mache das Buch noch einmal auf, Thusy schläft wie ein Bär, und es ist zu häßlich, was ich da geschrieben habe. Ich habe es mir jetzt klar gemacht, er ist gewiß nur umstrickt worden, ach, er ist ja von Natur so gütig und vertrauend, und er wird gewiß recht unglücklich durch sie werden. Ich wollte, ich könnte ihn trösten, ich habe ihn ja so lieb, aber ach, er hat es ja nie gewußt! So wandelt die Sonne an dem bescheidenen Vergißmeinnicht vorüber und sendet ihre wärmsten Strahlen auf die stachlige Distel!“


9.

„Hans,“ rief Otto Holm, „lieber treuer alter Hans, umarme mich – oder besser, reiche mir einen Cognac, eine Havanna und Deine Rechte, denn ich sage Dir, frei nach Goethe bei Valmy: Von hier an und von diesem Tage hebt eine neue Epoche in meiner Lebensgeschichte an, und Du kannst sagen, daß Du dabei gewesen bist!“

Verwundert betrachtete der Professor seinen späten Gast. „Hier hast Du alles Gewünschte, aber nun setze Dich, bitte, und sage mir einmal ruhig und in Ordnung, was Dich hierher führt, zu so später Stunde, in solcher Stimmung und so feierlich schwarz gekleidet?“

„Aber Hans,“ fragte der andere in maßlosem Erstaunen, „merkst Du’s denn nicht? Meine alte Tante ist endlich von ihren Leiden erlöst, vor drei Tagen war das Begräbnis. Nein, sieh mich nicht so moralisch entrüstet an, es war wirklich eine Erlösung. Bedenke, seit fünf Jahren gelähmt und fast blind! Aber ihr Herz war gut geblieben, Gott segne ihr Andenken! Ein großes Legat hat sie für ihren nichtsnutzigen Neffen ausgesetzt. Heute nachmittag war Testamentseröffnung. Ja, Hans, was sagst Du nun? Seit drei Uhr dreißig Minuten bin ich Kapitalist.“

„Nun, ich gratuliere von Herzen! Aber gespannt bin ich, wie lange –“

„Nein, teurer Freund, diesmal giebt’s keine Dummheiten mehr. Du kennst eben die Macht der Liebe nicht. Morgen gehe ich zu Gretchens Vater, wir haben es vorhin miteinander ausgemacht. Jetzt wird mir der Alte keinen Korb mehr geben. Ich trete ins Geschäft ein und werde Geflügelzüchter.“

„Was wirst Du?“

„Na, Geflügelzüchter. Der Alte hat eine große Geflügelhandlung und -züchterei; weißt Du, schon mehr Geflügelfabrik. Als Journalist übernehme ich natürlich zunächst die Abteilung für Enten. – Es war übrigens an der Zeit, daß es mit der heimlichen Liebe und den Stelldicheins aufhörte. Seit zwei Abenden wurden wir immerfort von ein paar Damen belauscht. Gretchen fing an, gehörig eifersüchtig zu werden. Na, das schadet ja nie.“

„Wie steht es denn aber mit Deinem Preßdienst?“

„Aus ist’s, Freund! Die Ketten sind gefallen, ein freier Mann steht vor Dir und bittet Dich, schleunigst Deine Lenden zu gürten und ihm zu folgen, denn heute abend mußt Du mein Gast sein, Hans, deshalb kam ich her. – Uebrigens habe ich der Dame Presse gedient bis zuletzt. Heute noch, dicht vor der Testamentseröffnung – denke Dir! – habe ich eine feine Personalnotiz für die Rubrik ‚Aus der Gesellschaft‘ erwischt und abgegeben – sensationell. Verlobung des Rittmeisters von Wildenstedt, früher hier in Garnison, berühmter Sportsmann, mit der Tochter des reichen und kunstsinnigen Industriellen Meyer aus Hamburg, in Firma H. H. C. Meyer sel. Söhne. Diese Notiz – –“

„– ist erlogen, nicht wahr? Bitte, Otto, sage ja!“ stammelte der Professor.

Der Exreporter sah ihn entrüstet an. „Wie, denkst Du, daß ich meinen Posten im Dienste der zeitgenössischen Geistesbildung mit einer Lüge verlasse? Nein, lieber Freund, diesmal ist es wahr. Der Oberkellner im Schwanen hat mir persönlich die Fenster gezeigt, hinter welchen der selige H. H. C. Meyer und Söhne diese Nacht hier in unsern Mauern zu weilen gedenkt. Vermutlich will er sich vergewissern, welche Marke sein Schwiegersohn früher im Schwanen zu trinken liebte. Aber wozu jetzt davon schnaken! Komm, altes Haus, ich habe dem Jean eine stille Bowle in Auftrag gegeben – natürlich im Hinterzimmer, der Trauer wegen. Es wird ein gemütlicher kleiner Kreis, und Du sollst die Perle darin sein. – Was stehst Du denn da und starrst auf Deinen Schreibtisch, Hans?“

Der Professor wandte sich hastig um. „Du mußt mich entschuldigen, lieber Freund. Ich kann heute nicht.“

„Das wäre noch schöner,“ rief Otto Holm. „Morgen ist Sonntag, da kann der Mensch ausschlafen, und ich sage Dir, es wird eine sehr hübsche Gesellschaft. Der Redakteur Schmitz, Doktor Engelbrecht mit dem Schlangengift, zwei unbesoldete Assessoren, und übrigens – Du brauchst Dich nicht zu genieren, Du sollst nicht der einzige Professor sein – Dein Kollege Wolf von der medizinischen Fakultät wird auch da sein und Dir jedenfalls sein Lehrgedicht ‚Der Tisch für Magenkranke‘ vortragen. Ich weiß es schon halb auswendig. Es sind wahrhaft erhabene Stellen darin.“

Und Otto Holm reckte die rechte Hand aus und schickte sich pathetisch an, seinem Freund eine Probe zu geben.

„Hör’ auf,“ flehte der Professor. „Ich sage Dir, Otto, ich kann nicht, ich – ich muß allein sein.“

Otto Holm sah sehr betrübt drein. „Dann nicht,“ sagte er, nahm Hut und Stock und schritt zur Thür. „Dann will ich Dich auch nicht weiter aufhalten.“

Hans eilte ihm nach. Es war, als ob sie beide noch Knaben wären, die sich eben gezankt hätten. „Otto, bist Du mir böse?“ fragte Hans.

„Nein,“ sagte der andere, „nur so traurig. Als ich noch ein armer Kerl war, hast Du mir’s nie abgeschlagen, wenn ich auch ’mal wieder den Wirt spielen wollte.“

„Ich thu’ es auch jetzt nicht,“ rief Hans, „warte, ich gehe mit! Hier – halte ich es doch nicht aus . . .“

„Du bist so verstört. Was hast Du nur?“ fragte Otto teilnehmend.

„O, nichts. Ich habe nur etwas verloren.“

„Etwas sehr Wertvolles?“

„Für den Liebhaber, ja.“


10.
Auszug aus Paula Meyers Tagebuch.

Samstag, abends spät. 
Befreit, o welche Seligkeit! So rufe ich mit Fidelio aus – oder ist es die Leonore im Troubadour? Wie konnte ich nur glauben, daß er es wäre!!! Es war ja ein ganz gewöhnlicher [643] Mensch, als er sich umdrehte. Vielleicht hat er ihm den Mantel gestohlen, oder hat ihn von ihm geschenkt bekommen, er ist ja so gut. Ich habe es Hetty aber gleich gesagt. O wie froh ich bin!! Ach, und heute morgen in der Schlußstunde war ich so garstig, sie haben es alle gemerkt. Wie kann ich es nur wieder gut machen?!! Aber morgen, beim Fest, will ich recht freundlich zu ihm sein.

Ich kann nicht weiter schreiben, ich bin zu glücklich. Warum nur, du dumme Paula?! Aber einerlei, ich muß jetzt ’was lieb haben, am liebsten ginge ich zu meiner lieben Thusy hin ans Bett und weckte sie und küßte sie halb tot, und wahrhaftig, ich klappe das Buch zu und thue es.

Sonntag, vormittags zwölf Uhr. 

Ich möchte schreiben, aber ich kann nicht, ich zittere vor innerem Weinen. Maus!!! Das sagt alles. O wie kann ich jetzt meinem Vater . . . . . . . . . . (Ein Klecks.)


11.

„Das Schauderhafteste ist der andere Morgen!“ stöhnte Hans Seeling, als er sich am Sonntag endlich gegen Mittag halb zwölf Uhr – es ist leider wahr! – vor den Tisch in seiner Studierstube setzte und mit etwas unsicherem Blick auf das Frühstück blickte. Der Kopf schmerzte ihm furchtbar. „Gottfried, Mensch, warum hast Du mich nicht früher geweckt?“

„Um halb Neun waren der Herr Professor durchaus nicht wach zu kriegen,“ meinte der getreue Gottfried. „Sie waren eben auch sehr spät nach Hause gekommen. Und nachher, als die Damen da waren, die verboten mir, Sie zu wecken.“

„Damen? Was für Damen?“

„O, drei sehr schöne junge Damen,“ grinste Gottfried. „Sie meinten, ich sollte ihn nur dorthin stellen, der Herr Professor werde ihn schon finden. Da steht er.“

Und in der That, da stand „er“: selbstverständlich der Hermes des Praxiteles, schön nachgebildet, mit sanftgeneigtem Haupte, und darunter ein zierliches Kärtchen: „Herrn Professor Doktor Hans Seeling von seinen dankbaren Schülerinnen. Villa Ulrich, Winter-Semester 1893/94.“

„Das hat die eine hingelegt, die mit dem schwarzen Zopf,“ erläuterte der getreue Gottfried. „Ach, Herr Professor, die ist aber kregel! Was die gelacht hat, als sie den Schreibtisch sah!“

„Natürlich Sennorita Thusnelde Lehmann,“ murmelte der Professor. „Was hatte sie denn an meinem Schreibtisch so zu lachen? – Herrgott, Mensch, die haben doch nicht etwa das Bild –“

„Ja, das hat ihnen viel Spaß gemacht. ,Wer ist denn das?‘ fragte die Kleine mit den braunen Augen –“

„Margot Menzel, natürlich!“ brummte Hans für sich.

„– und da sagte ich: ‚Ach, das ist unsere Maus. Der Herr Professor sagen nur immer: Gottfried, nimm mir die Maus in acht!‘ Und da lachten sie alle drei und tuschelten untereinander und guckten zwischendurch immer nach dem Schlafzimmer, ob der Herr Professor auch nicht wach würden. ,Keine Sorge,‘ sagte ich, ,da können Sie ganz ruhig sein, wenn’s abends so früh geworden ist, da schläft er hernach wie ein Igel.‘“

„Sehr freundlich, in der That,“ stöhnte der Professor. „Höre, Gottfried, das wird noch am jüngsten Tage eine Rechnung zwischen uns beiden geben. Nun sage nur noch, daß die dritte schlank, blond und blauäugig war, mit kurzen Löckchen –“

„O nein,“ antwortete Gottfried, „wo denken der Herr Professor hin? Das war ja so eine Große, mit breiten Schultern und fuchsigem Haar, ganz frei, und mit so scharfen grauen Augen –“

„Na, Gott sei Dank! Also die Siegendorf. – Nun geh’, Du Ungeheuer, bringe mir Rheinwein mit Apollinaris, und wenn Du unterwegs einem zerbrochenen Rohre begegnest, so denke an Deinen Herrn. – So trifft alles zusammen,“ philosophierte Hans, als der Diener sich entfernt hatte, verlorene Liebe und der Fluch der Lächerlichkeit – und der Kater. Brr! – Nun, sie freilich wird jetzt Wichtigeres zu thun haben als mich zu besuchen . . . Aber lieb ist es doch von den Mädchen. Hoffentlich haben sie’s nicht gemerkt, daß dieser unvermeidliche Hermes bereits in drei Exemplaren auf demselben nicht mehr ungewöhnlichen Wege in dieses Zimmer gewandert ist. – Wäre es nur erst Abend und diese dumme Feier an Institut vorbei! Aber abschreiben will ich doch nicht. Es sähe jetzt zu lächerlich aus.“


12.

Als der Professor gegen Abend in der Villa Ulrich erschien, wurde er sogleich an der Thür des Vorgartens von Thusnelde Lehmann und Hetty von Siegendorf abgefangen. Man ließ ihn gar nicht zu Wort kommen. „Ach, Herr Professor,“ klagte Thusy, „es ist schrecklich gut, daß Sie da sind. Ohne Sie sind wir verloren. Bitte, helfen Sie uns, es geht alles drunter und drüber mit der Aufführung, und bei der Probe ging es doch noch so famos! Nicht wahr, Herr Professor, Sie gewähren uns die Bitte?“ Und leise setzte die schlaue Thusy hinzu: „Wir haben auch den anderen heute morgen eine ganze Dankrede erzählt, die Sie uns gehalten hätten.“

Die „Aufführung“ bildete in der Villa Ulrich eine Zierde des Semesterschlusses. Sonst stand sie unter der Leitung einiger erfahrenen Lehrkräfte. Diesmal aber hatten sich die jungen Damen ausgebeten, einmal mehr selbständig zu arbeiten, und die Folgen zeigten sich nun. Die Hälfte der Mitwirkenden kauerte in einem Winkel der Bühne, von allen Schauern des Lampenfiebers gerüttelt, und mit den Bühnenrequisiten sah es sehr übel aus. „Wir wissen nicht einmal, wie wir den Donner machen sollen, auf den Blitz haben wir schon verzichtet,“ klagte Thusy, die noch am meisten den Kopf oben behielt, mit bekümmerter Miene. „Tony Fink hatte ganz sicher behauptet, man könnte es mit einer großen silbernen Schale, wenn man sie an einer Kordel aufhinge und mit einem Pantoffelabsatz daran schlüge. Aber nun klingt es gar nicht wie Donner, hören Sie nur, Herr Professor!“ Und das war sehr schlimm, denn der Donner spielte in dem aufzuführenden Stück eine bedeutende Rolle. Es war das litterarische Vermächtnis eines Amtsvorgängers des Professors an die Schule, die Geschichte von dem edlen Königssohn und der wunderschönen Hirtentochter, die nach unzähligen Verfolgungen seitens der bösen Zauberin Nocturna endlich doch durch den mächtigen Schutz der Elfenkönigin Titania und ihres treuen Oberelfen Puck zusammengeführt werden. Das Schauspiel war eitel Poesie, übergossen mit sanftem Mondenschein und gestickt mit blauen Veilchen, und natürlich donnerte und blitzte es jedesmal, wenn Dame Nocturua oder Titania erschien.

Nun, mit dem Professor trat ein rettender Geist in das Durcheinander der kleinen Bühne, die in einem Nebenzimmer des großen Saales im ersten Stocke aufgeschlagen war, so daß die geöffnete Flügelthür als Rahmen der Scene diente. Mit Hilfe Thusys, die in dem Allerheiligsten der Garderobe – einem Seitenalkoven – das Kommando übernahm, brachte er Schick in die Erscheinungen und dann in das Spiel, und als er versprach, während der Aufführung selbst hinter den Coulissen als Regisseur, Wolkenschieber und Souffleur mitzuwirken, gewannen auch die Verzagtesten Mut, und der Vorhang teilte sich nur wenige Minuten nach der festgesetzten Stunde.

Unheilbarer Verwirrung schien nur der Königssohn Theoderich, im bürgerlichen Leben Paula Meyer genannt, anheimgefallen zu sein. [644] Der weite weiße Rittermantel, den er über seiner spanischen Herrenkleidung trug, ließ zwar an Decenz nichts zu wünschen übrig, dafür erforderte er aber für den Träger die größte Aufmerksamkeit, um nicht beständig über die Schleppe zu stolpern, und die Königliche Hoheit ließ es an dieser Aufmerksamkeit durchaus fehlen. Zudem hielt sie sich stets nach Möglichkeit auf der Seite nach der Garderobe zu, wodurch sie sich der Wohlthat des Soufflierens gänzlich beraubte und das Zusammenspiel häufig zu stören drohte.

„Höre,Paula,“ bemerkte die Hirtentochter Thusy, während draußen auf der Bühne Nocturna und Titania ein Wett-Erscheinen aufführten. „Was ist das nur mit Dir? Ich glaube, Du genierst Dich vor dem Professor mehr als vor einem ganzen Armeekorps Lieutenants.“

„Laß mich! Du bist unausstehlich,“ schluchzte der Königssohn und stampfte mit dem Füßchen auf die Mantelschleppe.

„So? Das ia ja recht nett,“ erwiderte die Hirtentochter. „Na warte, ob ich Dir nachher helfe, wenn Du so bist.“

„Du brauchst mir gar nicht zu helfen, Du – Du – Du bist abscheulich, immer, schon den ganzen Nachmittag.“

Der Professor „donnerte“ gerade während dieses Gespräches, indem er einen großen Sack Kartoffeln langsam und kunstgerecht in eine Waschbütte kollern ließ. Dabei machte er ein entsetzlich trauriges Gesicht und blickte zuweilen nach der anderen Seite zu dem Königssohn hinüber, mit Augen, in denen eine Welt von Jammer dunkelte. Der armen Pussy, die gerade vorbeistreichen wollte, warf er eine Kartoffel an den Kopf, und ihr Wehschrei erhöhte noch den schauerlichen Zauber der Bühnenscene.

Nun, schließlich ging auch dieses Stück zu Ende. Das Publikum, unter welchem neben Frau Doktor Ulrich ein älterer wohlbeleibter Herr mit goldener Brille den Ehrenplatz einnahm, spendete unendlichen Beifall. Die gefeierten Künstlerinnen mischten sich nach und nach – wo dies anging, in ihren Bühnengewändern – in den Zug der gewöhnlichen Sterblichen, der unter Lachen und Plaudern die Treppe hinunter in die Gesellschaftsräume pilgerte. Der Professor blieb noch im Bühnenraum, um einige feuergefährliche Requisiten zu beseitigen – oder weil es ihm sonst so gefiel.


13.

Schließlich stieg auch Hans die breite festlich erleuchtete Treppe hinunter, sehr langsam und sehr traurig. „Ich wollle, es wäre morgen,“ seufzte er. Dabei lehnte er sich an den Pfosten, ohne zu bemerken, daß neben ihm auf dem Geländer Pussy kauerte. Die Gelegenheit war zu verlockend für das kleine rachsüchtige Raubtier. Sie zog den geschmeidigen Leib zusammen und zielte zu einem großen Sprunge, gerade nach dem Gesicht des Mannes. Dann gab es urplötzlich einen Schrei, ein Gezisch und Gefauche, die Katze sauste an Hansens Kopf vorbei auf den Teppich und vor ihm standen – nun wieder in Civil – Thusy und Paula, letztere mit einem roten Streifen über dem zarten Handgelenk.

„Entschuldigen Sie, Herr Professor,“ sagle der verwandelte Königssohn mit einer Stimme, so kühl wie in der Tanzstunde, „das Tier wollte nach Ihnen springen, als wir gerade vorbeikamen, und da habe ich es weggejagt.“

„Und Sie sind statt meiner verwundet worden!“ rief Hans statt jeden Dankes, indem er voll Bestürzung nach Paulas blutendem Händchen griff.

„O bitte, Herr Professor!“ erwiderte sie und hielt die Hand auf den Rücken.

Der kleine Lärm hatte noch einige Mädchen herbeigezogen. Neugierig drängten sie heran, und die rothaarige Hetty von Siegendorf, welche schon längst nur die Fee Nocturna hieß, flüsterte kichernd. „Nun hat die Maus es doch von der Katze gekriegt!“

„Pfui,“ rief Thusy, gab der bösen Fee einen recht kräftigen Puff und zog Paula, welche laut zu weinen anfing, mit sich fort in ein leeres Zimmer. „Daß mir keine von Euch nachkommt!“

„Ich wollte, ich hätte ein Glas Sekt!“ seufzte der Professor für sich. Es fing an, ihm schwindlig zu werden. Und jetzt kam er auch noch in den hellen, menschenerfüllten Saal, und da stand auch schon Frau Doktor Ulrich mit dem dicken Herrn vor ihm.

„Unser Herr Professor Doktor Seeling – Herr Senator Meyer.“

„Nun, es war ja sehr, sehr hübsch,“ meinte der Senator, „aber, aber der Königssohn!“

„Nur zu erklärlich in der bräutlichen Stimmung,“ erwiderte Hans mit grausamer Selbstquälerei. „Gestatten Sie mir, Herr Senator, daß ich Ihnen zur Verlobung von Fräulein Paula meinen herzlichsten Glückwunsch ausspreche!“

Der dicke Herr sah ihn groß an. „Aber, Herr Professor, ich verstehe nicht recht – bis jetzt weiß ich nur von der Verlobung meiner ältesten Tochter Helene mit Herrn von Wildenstedt.“

„Ihrer Tochter He–lene?“ stammelte Hans, „ja dann – dann entschuldigen Sie gütigst, Herr Senator!“

Und fort war er. Der dicke Herr sah ihm nach und blickte dann Frau Doktor Ulrich fragend an. „Er wird etwas vergessen haben,“ meinte sie entschuldigend. „Darf ich Ihnen hier unseren trefflichen Zeichenlehrer, Herrn Rabe, vorstellen?“ Und während die beiden sich begrüßten, murmelte sie. „Herr meiues Lebens, mir ahnt etwas!“


14.

Unterdes war Hans an dem bewußten kleinen Ankleidezimmer angelangt und stürzte höchst ungebildet gleich mit dem Anklopfen hinein. Da saß Paula weinend auf einem Sessel, Thusy stand neben ihr und gleich darauf auch Hans. „Paula!“ rief er.

„Lassen Sie mich, Herr – Herr Professor!“ schluchzte sie und wollte nach der Thür eilen. Aber dort hatte schon Thusy den Platz eingenommen. Sie stand wahrhaft groß da.

„Was hat man eine Not mit den Menschen!“ rief sie. „Nun, Gott sei Dank, daß Sie wenigstens da sind! Nein, hier wird nicht wieder weggelaufen, jetzt kann er Dir ja sagen, wie es wirklich ist. Bitte, sagen Sie’s ihr doch, Herr Professor! Es ist ja alles nur wieder so ein Streich von der Fee Nocturna – die hat nämlich den Spitznamen ,Maus‘ für Paula aufgebracht, Herr Professor, weil Paula seit der Geschichte neulich so für Mäuse schwärmt und sich ärgert, wenn die Nocturna so intim mit der Katze ist, und die hat ihr dann heute morgen vorgelogen, der Herr Professor ulke zu Hause mit seinem [645] Diener über unsere ,Maus‘ – na, nun sagen Sie’s ihr doch, Herr Professor – was das Bild mit dem Epheu bedeutet, das kennt man ja!“

„Thusy,“ stammelte Paula, am ganzen Körper bebend, „schweig’! Schweig, Du – Du –“

„Ach was! Meinst Du, ich könnte den Jammer noch länger mit ansehen – ich hab’ es ja schwarz auf weiß gelesen, was Dir fehlt!“

„O Gott,“ schluchzte Paula ganz geknickt, „mein Tagebuch! Also Du hast? – Weißt Du, was Du bist –“

„Sst!“ machte die tapfere Thusy, „kein Wort! Was ich bin, das kannst Du mir hernach sagen, jetzt stelle ich mich hier vor die Thür, und wenn Du dann nachher noch immer lieber hättest, daß die Nocturna statt meiner Dein Buch erwischt hätte, wie Du hinunterliefst, als Dein Vater vorfuhr, dann – dann – ist es mir auch egal, dann bist Du Deine beste Freundin los!“

„Paula, liebes Fräulein Paula!“ sagte Hans, dessen Seele in einem Meer von glückseligen unbestimmten Hoffnungen umhergewirbelt wurde, und er ergriff die kleine Hand mit dem roten Striemchen und begann leise, innig zu flüstern – – –

„Na ja!“ machte Thusy befriedigt und schloß die Thür hinter sich zu.


15.

Der Herr Senator stand im großen Salon inmitten einer Gruppe von jungen Damen und unterhielt sich köstlich. Er war in bester Laune. „Aber wo steckt denn eigentlich meine Tochter?“ fragte er lachend. Alles blickte sich suchend um, sie war nicht zu sehen.

„Merkwürdig,“ bemerkte Hetty von Siegendorf mit ihrer etwas scharf klingenden Stimme, „der Herr Professor ist auch verschwunden.“

In diesem Augenblick näherte sich Frau Doktor Ulrich dem Senator. „Ach bitte, auf ein Wort,“ flüsterte sie ihm zu und ließ sich von ihm in ihr Privatzimmer geleiten.

Was er dort sah – so anmutig es auch war – beraubte den Herrn Senator zunächst der Sprache, und ehe er sie wiedergefunden hatte, stand Hans bereits vor ihm:

„Herr Senator, ich bitte um die Hand Ihrer Tochter Paula!“

„Aber da hört doch alles auf!“ rief der Ueberraschte, „Paula, was soll das heißen? – Herr Professor, Ihr Antrag ist mir zwar sehr schmeichelhaft, aber ich muß doch bitten – ich kenne ja noch gar nichts von Ihren Verhältnissen –“

„Herr Senator verzeihen,“ sagte Hans, stramm aufgerichtet, „über meine Person und meine gesellschaftliche Stellung stehen Ihnen alle Referenzen zur Verfügung, und was das andere angeht, so glaube ich annehmen zu dürfen, daß Sie, Herr Senator, darüber gerade als Kaufmann selber das beste Urteil haben. Das Haus Seeling –“

„Ja, was der Tausend, Herr Professor,“ unterbrach ihn der Kaufherr sichtlich erfreut, „so sind Sie der Sohn von Johann Seeling und Kompagnie? Richtig, erinnere mich, sollte ja Gelehrter werden. – Nun dann allerdings bin ich in diesem Punkte aufgeklärt. Aber ich weiß doch nicht –“

„Vater!“ flehte Paula, indem sie ihn zärtlich umfing, „ach bitte, lieber Vater!“

„Ja,“ meinte der so Bestürmte ziemlich wehrlos, „was sagen Sie dazu, Frau Doktor?“

„Ich weiß überhaupt nicht mehr, was ich sagen soll,“ seufzte diese, und dann nahm Paula mit einem neuen Ansturm die Festung ein.

„Das ist nun das Los der Väter,“ seufzte der alte Herr. „Na, weine nur nicht, Paula, Deine Schwester hat mir’s gerade so gemacht. Aber offen heraus, Herr Professor, Sie gefallen mir! Und also, Kinder – meinen Segen habt Ihr! Aber Ihr Herr Vater?“

„Ich habe Blanco-Vollmacht!“ antwortete der glückliche Hans, und dann folgte eine große Rührscene, abschließend wie üblich in allerlei Scherzreden.

„Ich weiß noch immer nicht, was ich dazu sagen soll,“ meinte die Frau Doktor schließlich. „Gewiß, ich darf von Herzen gratulieren – ich habe ja das Glück, alle Beteiligten zu kennen. Aber, aber, Herr Professor, wie konnten Sie so ’was thun! Sie wußten doch, daß es streng verboten ist, sich in meinem Hause zu verloben!“

„Ich will’s auch gewiß nicht wieder thun,“ versicherte Hans mit lächelndem Gesicht. „Nicht wahr, Paula?“

Da schob sich heimlich ein Köpfchen leise durch den Thürvorhang, ein hübscher Mädchenkopf mit dickem schwarzen Zopf und blitzenden schwarzen Augen. „Thusy!“, rief Paula, riß sich von ihrem Verlobten los und zog die Freundin herein. „Hier, Vater, meine liebe Freundin Thusnelde Lehmann,“ und dann fiel sie ihr um den Hals und küßte sie und flüsterte: „Ach, Thusy, ich bin zu glücklich – Du bist auch meine liebste beste süßeste Freundin, meine einzige Thusy!“

„Na, siehst Du wohl,“ bemerkte der Schwarzkopf, „siehst Du wohl, Du liebe dumme Maus!“