Männer und Frauen bei Verdi
Unser Musikkritiker Paul Bekker hat vor kurzem im Orell Füssli-Verlage sein neuestes Werk „Wandlungen der Oper“ erscheinen lassen, auf das wir noch zurückkommen werden und dem wir heute das folgende Kapitel entnehmen.
Das ist das Urthema der Oper Verdis, es heisst: der Bariton-Mann. Er wird heroisch, lyrisch, elegisch, brutal, herrisch, dämonisch, bis zur letzten Steigerung der Ausdrucksmöglichkeit abgewandelt, aber nie passiv. Er ist stets aktiv, führend. Die Bariton-Kraft ist die männliche Schaffens- und Bewegungskraft, ist das Schöpferische, ist der Mann schlechthin. Dieser Mann der Verdi-Welt ist nicht Liebhaber. Er ist viel Wichtigeres, er ist Erzeuger der Handlung. Hierin liegt der Unterschied zwischen Wagner und Verdi: wie die Kunst Wagners sich um die Zentralerscheinung des Weibes dreht, so bewegt sich Verdis Kunst um Gestalt und Wesen des Mannes und der Mannesstimme.
Unter allen führenden Baritongestalten Verdis ist kein Liebhaber, sofern man Luna und den „Maskenball“-René, also die eigentlich Verschmähten und Betrogenen nicht als Liebhaber ansehen will. Die übrigen sind Väter, wie Miller, Rigoletto, Germont, Amonasro, Freunde, wie der „Forza“-Carlos und Posa, Könige, wie Nabucco, Attila, Macbeth, Dämonen wie Franz Moor, Jago, Falstaff. Sie sind Menschen oberhalb des Weibes, elementare Energien. Sie sind Urbilder des Männlichen, irgendwie absolut Schöpferischen. Sie heben sich heraus aus dem gefühlhaft erotischen Verlangen und offenbaren das eigentlich Heldische. Verdi durchstösst an diesem Grundimpuls jenen von Mozart gezogenen Kreis des Naturspieles der Geschlechter und der daraus gewonnen Beziehungen der Stimmen von Mann und Frau. Er stellt den einen männlichen Sänger wieder in den Geschehens-Mittelpunkt, um den alle anderen Kräfte sich bewegen, der Bariton gewinnt damit die formorganische Bedeutung der einstigen Kastratenstimme in noch gesteigerter, mit der Natur nicht mehr in Widerspruch stehenden Bedeutung. Er kann nun wieder singen ohne geschlechtlichen Zweckgedanken. Aus ihm klingt nur der Grundwille eines menschlichen Urtyps durch die einzige hierzu berufene und befähigte männliche Mittelstimme.
Indem Verdi den Bariton in den Mittelpunkt der Klanghandlung stellt, ändert er die Bedeutung der Oper von der privaten Liebeshandlung in die primäre Charakterhandlung. Damit musste sich rückwirkend die Bedeutung des Tenor-Liebhabers vermindern. In allen Aktionsfragen wird er vom Bariton geführt, wie Othello von Jago, Carlos von Posa, Alfred vom Vater, der, äusserlich weniger hervortretend, doch die treibende Kraft der Handlung ist. Oder der Tenor ist scheinbar überlegener, aber nicht ebenbürtiger Gegenspieler, wie der „Rigoletto“-Herzog. Gelegentlich verschiebt sich das Stimmenverhältnis durch das Hinzutreten eines Basses. Stets alt gedacht, erhält er als Liebhaber eine zum Dämonischen gewendete Tragik, wie Silva in „Ernani“, König Philipp in „Carlos“.
Der Tenorklang hat für Verdi keinen Charakter im stilbestimmenden Sinne. Seine Kennzeichen sind Glanz, bravouröse Leichtigkeit, gemischt mit Akzenten heldischer Kraft und spontanen Temperamentes. Aeusserlich strahlend, innerlich schwächlich, bleibt er Spielball der Gegenkräfte, als dramatische Erscheinung dem gedankenvollen Bariton-Mann stets nachgeordnet. Dieser Tenor bedarf der Ergänzung durch den Frauenklang. Er ist keine Solo-, sondern eine Duett-Stimme, ebenso wie der lyrische Sopran, der ihn vervollständigt. Dieser erscheint in vielfachen Variationen: von der mit virtuosen Koloraturen durchsetzten, leichten Bravourstimme der „Troubadour“-Leonore über die reinen Koloraturtypen der Gilda und Violetta und die ausdrucksvollen lyrischen Intensitätsstimmen der Amelia, Elisabeth und Aida bis zur elegisch zarten Desdemona.
Aber diese Gattung der Frauenstimme, so schön und väterlich liebevoll Verdi für sie zu schreiben weiss und so bedeutsam sie innerhalb des Ganzen steht, ist nicht führend. Verdis Stimmenplan fordert die Zwei-Frauen-Oper, ähnlich wie Wagner sie in „Tannhäuser“ und „Lohengrin“ schafft. Verdis Auffassung der Frauenstimme hat indessen nichts mit der Wagners zu tun. Wie der führende Bariton bei Rossini, so ist Verdis Zwei-Frauen-Oper bei Bellini vorgebildet, am eindrucksvollsten typisiert in Norma und Adalgisa: der leichte jugendliche Hochsopran gegenüber dem fülligen dramatischen Mittelsopran. Bei Bellini ist dieser noch mit reichem Zierwerk ausgestattet, entsprechend dem Typus der früheren dramatischen Koloratursängerin. Verdi senkt den Klang allmählich so weit, das er hauptsächlich die frauenhafte Mittellage erfasst. Dieser Stimmtypus wird für Verdi das Gegenstück zum Bariton. Er braucht das Weib als Temperament, als von der Natur besonders gestaltetes Gefäss der Leidenschaften.
So entsteht die Reihe der dämonischen Frauenerscheinungen, die bei Verdi die eigentlichen Gegenspieler des Mannes sind, nicht als beflügelnde, sondern als hemmende, erdhaft gebundene Kräfte. Hierzu gehören die Abigail in „Nabucco“, Lady Macbeth, die zu sybillinischer Grösse aufwachsende Azucena, ihr nahestehend, wenn auch ähnlich der „Rigoletto“-Maddalena nur episodisch hervortretend, die „Maskenball“-Ulrika, schliesslich die beiden grossartig konzipierten Erfüllungen dieser Erscheinungsfolge: Eboli und Amneris. Damit ist die Reihe der dramatisch aktiven Frauen bei Verdi abgeschlossen, Emilia in „Othello“ bleibt Begleiterin, in „Falstaff“ erscheint nur noch Quickly als humoristisches Widerspiel.
Alle diese Frauen sind Leidenschaftsgeschöpfe. Soweit Liebe zum Manne in ihnen überhaupt vorhanden ist, wirkt sie nur als Antrieb zur Eifersucht. Ihr Handeln erregt weit über die Region erotischen Fühlens hinaus die dunklen Gewalten des Lebens: Machttrieb, Kampflust, Rachsucht, und setzt so dem emporstrebenden Willen des Mannes die schicksalhafte Erdverbundenheit des Weibes entgegen. Für den maskulin empfindenden Verdi ist die Frau nur in den schwächeren Erscheinungen freundlich beglückend. Als Gattungswesen ist sie niederziehende Macht, getrieben von der Kraft des Blutes, das als stoffgebundenes Element den Willen des Mannes zu sich herunter zu zwingen sucht. Aus dieser Gegenüberstellung sieht Verdi Mann und Weib – nicht als Liebespaar, sondern als einander bekämpfende Urkräfte.
Dieses ist das Spielproblem, wie Verdis Natur es fasst, und wie es sich ihm nun mit wachsender Klarheit in beiden Stimmtypen darstellt. Die Verteilung auf das Gesamtwerk ist wechselnd, in einzelnen Opern dominiert die männliche, in andern wiederum die weibliche Erscheinung. Verdi befolgt kein programmatisches Schema, jede Betrachtung kann nur die Elemente aufzeigen. Gelegentlich stehen sich die Grundtypen wie Macbeth und die Lady, unmittelbar gegenüber, gelegentlich ist auch nur eine vorhanden, wie Jago. Zumeist bedeuten sie die Pole des Geschehens, die nicht unmittelbar miteinander in Berührung kommen, wohl aber die bewegenden Kräfte sind. So Azucena und Luna, Eboli und Posa, Amneris und Amonasro. Gegenstand ihres Kräftespieles ist die menschliche Zwischenwelt, die Welt der einander suchenden und begehrenden Liebes-Wesen, der ergänzungsbedürftigen Tenöre und Soprane, der Schicksal-Erleidenden, nicht Schicksal-Bestimmenden, die eingekerkert, verurteilt, vergiftet, lebendig begraben werden. Sie sind die Schwachen, lyrisch auch da, wo sie, wie Radames,[1] Helden darstellen, die Schönsänger, die sich, wie Ernani, auf Befehl selbst umbringen, wenn die führende Gewalt es verlangt. Von diesem Frühwerk bis zum Othello ist wiederum eine einzige, einheitliche Linie passiven Heldentums, vergeblichen Kampfes gegen Uebermächte. Nur der „Rigoletto“-Herzog macht eine Ausnahme. Er steht über dem Schicksal, das hier auf den vermeintlichen Lenker selbst, den Bariton zurückfällt. So wechseln die Konstellationen im einzelnen. Auf diesem Wechsel beruht der Reiz der Verschiedenheit. Aus ihm entspringt für den Musiker immer wieder der Phantasietrieb schöpferischen Neugestaltens.
Anmerkungen (Wikisource)
- ↑ Vorlage: Rhadames