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Ludwig Spohr als Capellmeister in Cassel

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Textdaten
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Titel: Ludwig Spohr als Capellmeister in Cassel
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 3, S. 57–58
Herausgeber: Ernst Keil
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1878
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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[057] Ludwig Spohr als Capellmeister in Kassel. (Von einem alten Musiker.) Es hieße Eulen nach Athen tragen, wollte ich hier den Einfluß Ludwig Spohr’s auf die deutsche Musik schildern, den hohen und ernsten Geist seiner Muse, wie er sich in seinen Werken offenbart, das Edle, Gediegene und Maßvolle, dem er als Virtuos huldigte. Ebenso wenig will ich der von ihm verfaßten, im Jahre 1862 erschienenen Selbstbiographie irgend welche äußere Daten zufügen. Wohl aber bin ich in der Lage, das Bild des Meisters durch einige charakteristische Züge zu illustriren, welche vorzugsweise seine Wirksamkeit als Capellmeister betreffen und mehr als lange kritische Auseinandersetzungen zeigen dürften, mit welchem Ernste, mit welcher Weihe und mit welchem eisernen Fleiße Spohr dieser seiner Wirksamkeit sich hingab.

Hunderte von Proben, die er abhielt, Hunderte von Vorstellungen, die er leitete, habe ich mit dem mir befreundet gewesenen Meister besucht, und ich zögere keinen Augenblick die Behauptung auszusprechen, daß er einer der bedeutendsten Dirigenten war, welche je ein musikalisches Werk einstudirten und führten.

Noch immer sehe ich ihn mit seiner hohen und imposanten Figur, angethan mit kurzem, grünfarbigem Fracke, die grüne, kugelförmig gestaltete Mütze mit breitem Schirme auf dem Kopfe, über die Königsstraße dem Theatergebäude zuschreiten, gewöhnlich in freundlicher Unterhaltung mit seinem kleinen und beweglichen Lieblingsschüler, dem Violinvirtuosen und Capellmeister Jean Bott. Wer den breitschulterigen, starkknochigen und in seinen Bewegungen etwas linkischen Mann erblickte, der konnte sich kaum dem Gedanken hingeben, daß die Seele in diesem Körper ein Quell tiefsinniger Gefühle und zartester Harmonien sei. Nur die großen blauen Augen glänzten beinahe rundlich milde, und auf die gewölbte Stirn hatte sich der Schimmer geistiger Hoheit gelagert.

Sobald der Meister in den Orchesterraum des Theaters eingetreten war und, Alle überragend, vor dem Dirigentenpulte Platz genommen hatte, nahmen seine Züge den Ausdruck strengsten Ernstes an, vor welchem sofort jeder profane Lärm von selbst verstummte. In dem Augenblicke, wo seine Hand den Tactstock faßte und hob, ward er zum gebietenden Feldherrn, der, seine Aufgabe vollständig beherrschend, sicher und bestimmt seine Befehle ertheilt, ohne einen Widerspruch zu dulden. Und hätte die Erde gezittert, die Tactschläge wären nicht einen Augenblick unsicher oder verworren gefallen, die Tempi wären nicht um eine Schwingung von der ursprünglich gefaßten Idee abgewichen. Dabei meisterten seine Augen jedes Einzelnen Instrument und jeden Ton des Sängers, bald hierhin, bald dorthin die nöthigen Winke ertheilend. Und nicht der geringste Fehler entging seinem scharfen Ohre und wurde von ihm ungerügt gelassen. Freundlich, aber gemessen, forderte er Verbesserung und Wiederholung der betreffenden Stelle so lange, bis ihm Alles genügend erschien. Durch seine eminente Ausdauer stellte Spohr dabei die Geduld der Sänger und Sängerinnen nicht selten auf eine harte Probe. Riß aber auch ihm der Geduldsfaden, entweder, weil man seinen Intentionen nicht folgen konnte, oder weil er auf bösen Willen zu stoßen glaubte, so gerieth er in jenen Zustand der Erregung, welcher ihm bei dem Opernpersonale den Beinamen „der grobe Seesener“ verschaffte. (Als Seesener wurde er bezeichnet, weil sein Vater bald nach seiner Geburt von Braunschweig als Physicus nach dem braunschweigischen Städtchen Seesen versetzt ward.) Freilich waren dann seine Ausdrücke und seine in echt braunschweigischem Dialecte hervorgestoßenen Worte nicht immer sehr gewählt.

Noch heute erinnere ich mich einer Probe, in welcher die damalige erste dramatische Sängerin, Fräulein P. …, mit einer Rolle von etwa zehn Tacten nicht recht fertig werden konnte. Spohr ließ die Rolle zehnmal, zwölfmal wiederholen und fuhr die Sängerin, als sie verdrießlich zu werden begann, mit den Worten an: „Fräulein P. …, Sie singen wie ein Swein – Sweinerei kann ich auf der Bühne nicht gebrauchen.“ Ein anderes Mal schlug er nach vielfachen Bemühungen und Instructionen die Partitur mit den Worten zu: „Daß ich die Oper dirigiren kann, weiß Jeder, man soll aber auch wissen, daß das Kasseler Opernpersonal die Oper nicht singen kann. Studiren Sie! Später sprechen wir uns wieder.“ – Niemand hätte aber gewagt, ernstlich zu opponiren, mit einer heiligen Scheu und mit unbegrenzter Hochachtung blickte Jeder zu dem Meister auf, und das Resultat solcher Proben war, daß jede einmal einstudirte Oper unerschütterlich fest stand und zu jeder Zeit plötzlich, oft ohne jede Repetition in das Repertoire eingefügt werden konnte.

Um den bösen Willen, oder etwaige Launen, wo er solche vermuthete, zu brechen und zu strafen, wandte er zuweilen ein eigenthümliches Mittel an. Er verließ dann in der Probe, nachdem alle Erinnerungen nichts gefruchtet hatten, seinen Dirigentenplatz, ohne weiter ein Wort zu sagen. Bei der Vorstellung aber legte er, sobald diese Stelle kam, den Tactstock nieder, kreuzte die Arme und blickte den Vortragenden mit einer gewissen Schadenfreude fest an. Wie oft hat ein solches Opfer Angstschweiß vergossen bis zu dem Augenblicke, wo der Meister, das grausame Spiel endend, dem neben ihm sitzenden trefflichen Cellisten Hasemann einen Wink gab und dieser, fest und sicher die Melodie intonirend, Alles in das gehörige Gleis brachte, ohne daß das Publicum etwas bemerkte. Hasemann war überhaupt Spohr’s rechte Hand im Orchester. Er hatte als Trompeter die Schlacht von Waterloo mitgemacht und war ein Original in jeder Beziehung. Alt und Jung kannten ihn, wenn er die Straßen durchschritt, den grauen, rothgefütterten Mantel nachlässig umgeworfen.

Daß Spohr wegen seiner liberalen Gesinnungen dem Kronprinzen-Mitregenten und nachherigen Kurfürsten verhaßt war, ist allgemein bekannt. Ebenso sicher ist es aber auch, daß sich der Meister durch diesen Haß viel weniger alteriren ließ, als durch die Rücksichtslosigkeit des Kurfürsten, während der Vorstellungen in der Oper mit seiner Theetasse zu klappern. Im Jahre 1857 wurde er in den Ruhestand versetzt, nachdem der Zwiespalt mit dem Kurfürsten durch einen Vorfall gesteigert worden war, welcher einen schlagenden Beweis dafür liefert, wie hoch Spohr seine Kunst stellte und wie er nicht die geringste Entweihung derselben zu dulden vermochte. Für den Abend war Beethovens „Fidelio“ angesetzt. Mittags ward der Meister benachrichtigt, daß aus Veranlassung der Ankunft eines fremden Prinzen „auf höchsten Befehl“ zwischen den beiden Acten der Oper ein Ballet zur Aufführung gelangen solle. Spohr widersetzte sich mit größter Entschiedenheit und mit dem Bemerken, daß er unter solchen Umständen nicht dirigiren werde. Dem Kurfürsten blieb Nichts übrig, als nachzugeben und das [058] Ballet nach Beendigung der Oper in Scene gehen zu lassen, nachdem Spohr den Tactstock niedergelegt hatte. Hatte der Kurfürst schon früher gewöhnlich jede Spohr’sche Oper von dem ihm vorgelegten Repertoire gestrichen, so that er solches nunmehr grundsätzlich fortwährend, und es hatte daher auch das Publicum Kassels keine dieser Compositionen, nicht einmal die „Jessonda“ zu hören bekommen.

Auch das Auftreten Spohr’s als Violinvirtuos in den Concerten des Hoftheaters unterblieb fortan gänzlich, und den Musikfreunden wurde damit einer der schönsten und edelsten Genüsse entzogen. Mit welcher Andacht, mit welcher Spannung hatte man früher gelauscht, wenn der Meister nach einer kurzen und schroffen Verbeugung die Geige ansetzte, welche fast zu klein schien für den Körper ihres Herrn, und wenn dann jene weichen und vollen Töne unter dem bekannten Bogenstriche hervorquollen, dessen Kraft das Instrument zu brechen schien! Noch mehr trat die grandiose Eigenthümlichkeit der Spohr’schen Spielweise hervor, wenn der Meister, was zuweilen geschah, mit dem Concertmeister Wiehle Duetten executirte, da Letzterer, eine kleine, lebendige und elegante Erscheinung, in der französischen Schule gebildet war. Spohr’s Spiel war von so überwältigender Wirkung, daß einer seiner talentvollsten Schüler, ein Ungar, eines Abends, nachdem er einem Concertvortrage seines Lehrers beigewohnt hatte, nach Hause eilte, seine Geige zum Fenster hinauswarf und abreiste, verzweifelnd, je etwas Aehnliches leisten zu können. Einer nur ist im Stande gewesen, des Meisters Erbschaft anzutreten, das ist Joachim in Berlin.

Achtzehn Jahre sind dahingegangen, seitdem sich die Kunde von Spohr’s Tode verbreitete. Einmal noch habe ich ihn nach seiner Versetzung in den Ruhestand begrüßen können, im Geiste aber sehe ich ihn immer noch als einen wirklichen Heros vor dem Dirigentenpulte, im Geiste stehe ich heute noch an lauen Sommerabenden vor seinem Garten am Kölnischen Thore zu Kassel und lausche den Zaubertönen, welche er, allein phantasirend, seinem Instrumente entlockte.

Jetzt soll ihm ein Denkmal gesetzt werden, ein Denkmal, das schon längst hätte vollendet sein müssen, wenn man sich dessen erinnert hätte, was Spohr als Componist, Virtuos und Dirigent war. Hoffentlich kommt es in glänzender Weise zu Stande! Aber auch ohne dasselbe wird der Name Ludwig Spohr im Tempel der Kunst in glänzenden Lettern an derjenigen Stelle prangen, wo die Namen der hohen und edelsten Meister verzeichnet sind! –