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Loni

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Textdaten
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Autor: Anton von Perfall
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Titel: Loni
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 5–10, S. 80–83, 95–99, 111–115, 126–131, 142–147, 158–163
Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1895
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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Loni.

Erzählung von Anton von Perfall.


Das Dorf bestand nur aus neun Höfen. Mit einer einzigen Ausnahme war einer schmucker als der andere, alle frisch aufgetakelt wie ein Seeschiff, wenn es sich dem heimatlichen Hafen nach langer Fahrt nähert. Da wird auch die Farbe nicht gespart, welche die Schäden der Zeit und der Stürme verdeckt und neue Jugend verleiht.

Die Hagenberger wollten einmal nicht, daß ihre Häuser hinter ihren saftig grünen blumigen Wiesen zurückständen, welche diese rings in weitem Kreise umgaben und sich hindehnten bis an die lärchenbestandenen Waldränder.

Sobald im Frühjahr der erste grüne Hauch über die Flur sich legte, die Schlüsselblumen die ersten gelben Fäden schlugen in den sich belebenden Wiesenteppich, da begann auf den Gehöften ein allgemeines Färbeln und Pinseln. Auf den grünen Läden entstanden große rote Blumen, die Christusbilder, Madonnen und Heiligen an den Wänden erhielten ein frisches Aussehen, und das wurde alles von den Leuten selbst besorgt – ein Maler von Profession hätte sich in der Gegend nicht halten können. Es war nur zu verwundern, daß bei diesem ausgesprochenen künstlerischen Sinn der Hagenberger noch kein großer Meister aus ihrer Mitte erstanden war. Dazu die blumenbesetzten, feingegliederten Balkone, welche der Stolz der Frauen waren; ja man konnte kein liebenswürdigeres, anheimelnderes Bild sehen als das Dorf Hagenberg – höchstens hätte ein Künstlerauge an ihm auszusetzen gehabt, daß ihm in Bezug auf Farbe der Edelrost des Alters, in Bezug auf die Form die malerische Willkür des Verfalles fehle.

Um so auffallender und das Gesamtbild in seinem einheitlichen Charakter störend wirkte ein Anwesen, das noch dazu das umfangreichste war und mitten an der Hauptstraße lag, welche durch das Dorf führte.

Hier waren die Bedingungen des eben erwähnten malerischen Reizes scheinbar zur Genüge gegeben. Der Verputz war abgebröckelt und ließ überall das morsche Fachwerk durchblicken, die Malerei um die niedrigen Fenster mit den halbzerborstenen Läden war verwaschen, in den Ritzen der Holzverschalung wucherte das Moos. Der Düngerhaufen, dieses Kennzeichen der Gesamthaltung eines Bauerngutes, hatte die Stallmauerung angefressen und ergoß trübe Rinnsale über den Hof. Doch diesem Verfall fehlte der Charakter gesunden Alters, er trug die Anzeichen verfrühter Verkommenheit, um so mehr als der sich lang dehnende Stall und der Futterraum darüber es ausschloß, daß Armut der Grund desselben war.

Der Mentnerhof war ein Schmutzfleck in dem lieblichen Bild, der Verdruß der übrigen Hagenberger. Sie hätten ihn gern auf eigene Kosten frisch aufgeputzt, es zuckte ihnen ordentlich in den Fingern jedes Frühjahr, wenn der häßliche Klecks wieder auftauchte aus der sauberen Schneedecke. Aber da wären sie schön angekommen!

Der Mentner freute sich über alles, was andere Menschen ärgerte, man mußte zufrieden sein, wenn man von ihm nicht persönlich Schaden erlitt. Die Hagenberger Gemeindejagd war seit Jahren in den Händen des Königs, welcher für diese brave Gemeinde eine besondere väterliche Vorliebe bezeigte. Kaum war der Mentner in der Gemeinde stimmberechtigt, so sprach er, als die Pachtfrist abgelaufen war, energisch dagegen, daß der Vertrag erneuert werde, und trieb bei der Versteigerung, die eigentlich nur der Form wegen abgehalten wurde, den Jagdpacht unsinnig hinauf, sich selbst als Anwärter ausspielend. Als diese Bemühungen fruchtlos blieben verlegte er sich, ohne jede persönliche Leidenschaft, aus reinem Trotz gegen das königliche Jagdpersonal, auf das Wildern. Einen Knecht, der eben eine längere Gefängnishaft als wiederholt rückfälliger Wilddieb abgebüßt hatte, nahm er sofort in Dienst, wogegen er seinen allgemein als tüchtig bekannten Oberknecht ohne jeden triftigen Grund entließ.

Eine bildsaubere, rotzöpfige Dirne kam vor Jahren mit ihrer ganzen Habe im Schnupftüchel aus dem Tirolischen nach Hagenberg, um Dienst zu suchen; Mentner hatte ihr grob die Thür gewiesen. Aus Mitleid nahmen die Nachbarn sie auf, dann wanderte sie von Hof zu Hof, nirgends that sie lange gut. Auf den Tanzböden verdrehte sie den Burschen die Köpfe, hielt es bald mit dem einen, bald mit dem andern, veranlaßte Streit und Verschwendung, sprengte die treusten Liebschaften, kurz war der reine Fluch für Hagenberg, bis endlich alles sich einigte, ihr kein Unterkommen mehr zu geben. Da holte sie der Mentner, der damals noch ledig war, zu sich, und als zuletzt noch das Landgericht sich darein mischte und der Dirne den Lauspaß geben wollte, da that er das Ungeheuerlichste – er heiratete sie, machte sie zur Hagenberger Bäuerin.

Von da an galt alles für möglich auf dem Mentnerhof, er selbst als Freistätte für alles Gesindel der Umgegend. Er wurde gemieden wie eine Krankheit, und man empfand es als eine Wohlthat, daß wenigstens der Mentner selbst sich zurückgezogen hielt und immer menschenscheuer wurde. Und die rote Loni teilte diese Zurückgezogenheit. Man traf sie nie jenseit der Grenze ihres Anwesens, außer am Sonntage und da nur in der Frühmesse, nie im Hochamt. Sie hatte ganz ihres Mannes Wesen angenommen, verschlossen, trotzig, feindselig. Verschwunden war das herausfordernde gefährliche Lächeln, das verwegene Augenspiel, aber sündhaft schön war sie geworden, daß ein jeder sie anschauen mußte.

Der Mentner selbst behandelte sie, so weit man es beobachten konnte, wie eine Magd, und sie fürchtete den herkulisch gebauten Mann mit den grauen durchdringenden Augen, die sich nie ganz öffneten. Nun, das war auch ganz in der Ordnung, da er sie ja doch vom Schub herunter zur Bäuerin gemacht hatte!

Im übrigen blieb den Nachbarn unbekannt, was im Hofe vorging, obwohl er mitten im Dorfe lag. Selten öffnete sich die Thüre und dann nur leise, vorsichtig, als sollte es niemand hören.

Anderl, der Knecht, paßte in der That sehr gut in dieses Wesen. Der schon von Natur verschlossene unheimliche Geselle, auf dem jetzt der Fluch einer längeren Kerkerhaft lastete, konnte sich nichts Besseres wünschen als diese Abgeschlossenheit.

Man hätte glauben können, die Arbeit des Hofes werde von unsichtbaren Händen gemacht, in eine so unheimliche Stille war er gehüllt. Kein Hofhund, kein Hahn störte sie, selbst das Vieh im Stalle schien sich das Brüllen abzugewöhnen. Oft hatte man das Gefühl, als ob dort alles gestorben wäre, und fühlte sich ordentlich erleichtert, wenn man abends Licht aufblitzen sah, war’s auch nur einen Augenblick.

Kein Wunder, daß alle möglichen Gerüchte gingen, daß alles Ueble, was über das Dorf kam, gleichsam von diesem finsteren Hause auszugehen schien.

Da, eines Morgens, öffnete sich seine Thüre zum erstenmal seit langer Zeit wieder geräuschvoll und heraus trat in vollem Sonntagsstaat, den man an ihm seit Jahren nicht gesehen hatte, der Mentner, und zwischen ihm und dem schwarzen Anderl die Loni selbst, in schwarzer Seide auf und nieder, in ihrem Arm einen weißen, mit reichen Spitzen bedeckten Pack, über dessen Inhält kein Zweifel sein konnte, obwohl niemand nur eine leise Ahnung hatte, daß sich dergleichen ereignet hatte im Mentnerhofe, mitten im Dorfe.

Die Kunde davon verbreitete sich im Nu. Alle drei auf einmal sehen, das wird nicht leicht wieder vorkommen – alles lief aus dem Hause und folgte zur Kirche. Das Kind wurde auf den Namen „Maria“ getauft. „Gott sei Dank, ein Mädl! Vielleicht bleibt’s dabei und der Mentnerhof kommt einmal in andere Hände!“ war der gemeinschaftliche Gedanke der Hagenberger.

Der Mentner sah jetzt gar nicht trotzig drein und Loni blickte zum erstenmal wieder den Leuten frei und offen ins Gesicht, fast mit einem flehenden Ausdruck, als ob sie sagen wollte, laßt es der Kleinen nicht entgelten, daß sie so eine Mutter hat.

Gesprochen wurde von den dreien mit niemand, schweigend kehrten sie in den Mentnerhof zurück, dessen Thüre zugeschlagen wurde, als sollte sie sich nie mehr öffnen.

Doch mit der unheimlichen Stille war es vorbei. Es rührte sich etwas im Hause, neues Leben pulsierte darin. Loni erschien zur rechten Zeit im Obstgarten mit der Kleinen, man hörte lachen, schreien, sogar dann und wann ein Lied, der Bauer sagte „Grüß Gott“ und besserte seinen Zaun aus.

Das hatte man dem kleinen Marei zu verdanken. Wenn es so fortging, wurde alles recht, und bis es eine Jungfrau wurde, war der Mentnerhof kein Schmutzfleck mehr für Hagenberg.

So gewann das Kind von vornherein alle Herzen. Als es allmählich heranwuchs, im Garten herumkroch und darüber hinaus, dann wunderte man sich, wie so etwas Liebes da drinnen hatte geboren werden können – „das reine Engerl, und so zuthunlich und patschig“.

Und was das ganze Dorf nicht vermochte, das vermochte das kleine Marei.

[82] Der Mentner war nicht mehr zu kennen, er spielte mit ihr in hellem Sonnenschein vor dem Hause, trug sie auf den Armen und ließ sie den Vorübergehenden eine Patschhand geben.

Von Jahr zu Jahr wurde es besser mit ihm, die Liebe, die man seinem Kinde entgegenbrachte, packte ihn. Der Düngerhaufen war längst eingedämmt, daß er die Straße nicht mehr beschmutzte, und als Marei zur Jungfrau herangeblüht war, zur schönsten im ganzen Thale, da stand das Mentneranwesen keinem mehr an Sauberkeit nach. Die Läden leuchteten im frischen Grün, der Stadel war neu verschalt, auf den Altanen leuchteten Pelargonien, Reseda und Nelken.

Die Loni kämpfte einen erbitterten Kampf mit dem Mentner um das Marei.

Ihr lebhaftes Glücks- und Liebesbedürfnis wies sie auf das Kind. Das muß dir Ersatz bieten für alles Verlorene, Hingeopferte, wofür du bis jetzt eine hohle Nuß eingetauscht, Wohlstand, Besitz an der Seite eines ungeliebten Mannes! Sie umhüllte es förmlich mit ihren Blicken, war eifersüchtig auf jedes freundliche Wort, jede Gebärde. Sie war die Mutter, was wollte der rauhe herzlose Mann mit diesem kleinen Heiligtum! Doch der führte den Kampf auf andere Weise, als sie erwartet hatte, nicht mit Gewalt, rauh und derb. Sie kannte ihn gar nicht mehr. Mit neidischem Schmerze bemerkte sie die wachsende Zuneigung des Kindes, welches in der weichen Zärtlichkeit des grobknochigen derben Mannes instinktiv eine überschwengliche Liebe fühlte. Um so mehr empörte sie das Benehmen des Bauern gegen sie, bei seiner von ihr jetzt erkannten Fähigkeit, sich anders zu geben. Für ihn blieb sie die Dirn’. Vielleicht verdroß ihn jetzt noch mehr als früher, seines Kindes halber, die Vergangenheit Lonis. Gab es doch genug, welche das Mädchen einmal darum anschauen werden, wenn es auf den Tanzboden geht.

Da war vor allem Einer, welcher dem Mentner immer wieder wie eine Mahnung in den Weg trat – der „Stoanerflori“, wie er jetzt genannt wurde. Einst ein schmucker Bursche, jetzt ein Krüppel, welchen der Förster, nachdem er beim Holzfällen ein steifes Bein davongetragen, aus Mitleid als Steinklopfer verwendete.

Der Mentner wußte sehr wohl, daß der Flori der einzige war, mit dem es der Loni eigentlich ernst gewesen; alles andere waren nur Liebeleien, nur ein leichtfertiges Spiel der losen Dirne oder anderseits verlogene Renommisterei der Burschen.

Er wußte auch, daß die beiden unter Thränen und Schwüren, sich nie zu vergessen, Abschied voneinander genommen hatten, nach der Hochzeit, hinter dem Hause im Obstgarten. „Es hat ja sein müaß’n! Schau’, Flori, was that’st denn Dein ganz’ Leb’n lang mit so an arm’ Madel? Not und Lieb’ pass’n schlecht z’samm’!“

„Alleweil no’ besser als Du und der Mentner, der Di g’rad zum Trotz gegen die Andern heirat’! Glaubst’ denn wirkli, daß D’ mi ganz vergessen kannst?“

„Das glaub’ i net, Flori, und s’is au gar net nöti – was kümmert sich der, an wem i denk’! Wer weiß, wie’s no’ kommt!“

Dann flüsterten sie, daß er nichts mehr hörte.

Er war damals auf dem Sprunge, den Kerl niederschlagen, ihn und sie, aber er hat sich doch bezwungen. Da hätten ja die Leut’ die größte Freud’, wenn es so ausging mit seiner Heirat. Außerdem hatte sie ja eigentlich recht, redete er sich ein, was kümmerte es ihn, an wen sie dachte! Aber doch war etwas Uebermächtiges über ihn gekommen, dessen er sich nicht erwehren konnte – seit der Zeit haßte er den Flori.

Dazu kam, daß dieser Bursche auch fernerhin jede Gelegenheit wahrnahm, mit Loni zusammenzutreffen, wenigstens einen Blick zu wechseln. Was war dagegen zu machen, solange er seinen Boden nicht betrat, – und davor hütete der Flori sich wohl, – nichts, als Loni möglichst im Hofe zu halten, zu trauen war ihr nicht!

Als ein Jahr darauf Flori bei der Arbeit das Bein brach und dasselbe, schlecht gepflegt, steif blieb, da konnte er seine Freude darüber kaum verhehlen, die Worte Lonis „wer weiß, wie’s no’ kommt!“ klangen in ihm noch immer nach. Er hätte sie eigentlich darum hassen müssen, sie spekulierte wohl im stillen auf seinen Tod – aber, wie gewöhnlich in solchem Falle, sein ganzer Groll traf Flori und er ließ die Stimme des Mitleids gar nicht aufkommen – jetzt wußte er es, wie’s kommt, der Krüppel!

Als dieser zum erstenmal am Stock vorbeihinkte, in abgerissener Kleidung infolge des entfallenen Verdienstes, rief der Mentner seine Frau eigens heran. „Wie g’fallt er Dir denn jetzt, der Flori?“

Loni erwiederte nichts, nur blutrot wurde sie im Gesicht und einen Blick warf sie ihm zu, den er nicht aushielt.

„Schäm’ Dich, Mensch!“ Dann ging sie Flori nach, welcher schon einige Schritte vorbei war, reichte ihm, ohne sich nach ihrem Manne umzusehen, die Hand und sprach ihm ihr Beileid aus über sein Unglück. Sie standen bei einander wie damals im Obstgarten und Mentner mußte ruhig zusehen, er konnte doch nicht eifern wegen eines Krüppels. Loni hatte auch, als sie zurückkehrte, einen Zug im Gesicht, der ihm die auf der Zunge liegende Zurechtweisung unterdrücken ließ.

Was sollte denn dieser schon ergraute, humpelnde abgerissene Loder, mit dem vom ständigen Schutzbrillentragen ganz erloschenen Blick, ein Wegmacher, von der schönen Mentnerbäuerin wollen! Sie konnten sich jetzt sprechen, so oft sie wollten, er fragte nicht mehr danach, aber erst, als das Kind kam, vergaß er den Groll, das Mareile füllte ihn ganz aus. Ihm allein galt jetzt seine Eifersucht, die sich auf alle Menschen erstreckte, vor allem auf die Mutter.

Dieser kam es in ihrer eifersüchtigen, argwöhnischen Liebe vor, als neige sich das Kind sogar dem Vater mehr zu als ihr, und sie fühlte sich verlassener, unglücklicher denn je.

Da merkte sie erst, ein wie guter Mensch der Anderl war, wie unrecht sie ihm gethan, indem sie sich bisher vor ihm förmlich gefürchtet hatte, weil sie ihn für falsch und hinterlistig hielt. Er nahm sich ihrer an wie noch niemand auf der Welt. Ohne allen Eigennutz las er ihr jeden Wunsch von den Augen ab und das alles in einer respektvollen Weise, immer der Diener.

Das that ihr unendlich wohl. Oft allerdings überraschte sie ihn über Blicken, deren Art ihr verriet, was in dem Schweigsamen vorging. Ein stummes Werben lag darin, das beunruhigte sie. Seit sie Frau war, hatte sie sich nicht das Geringste zu schulden kommen lassen und sie traute sich selbst nicht in der eisigen Atmosphäre dieses Hauses. Diese Blicke waren aber ganz dazu angethan, sie aufzutauen, und dann – das eigentümliche war, daß sie dabei an ein Unrecht dachte, das sie mehr dem armen Flori zufügte als ihrem Mann.

Die kurze Liebeszeit, die sie mit dem einst so schmucken Burschen verlebt, war der einzige Lichtpunkt ihres freudenarmen Lebens. Diese paar Wochen oder Monate war sie, die arme Dirn’, unerschöpflich reich, sie, die Verachtete, die Sünderin, angebetet wie eine Heilige. Vorher die Schmach und Not einer Heimatlosen, nachher die entsetzliche Oede des Mentnerhofes. Was von Leidenschaft in ihr lebte, wies sie auf den Stoanerflori, daran konnten bisher auch der kurze Fuß und die ergrauten Haare nichts ändern. Und sie war stolz auf diese Treu’!

Da drängte sich der Anderl dazwischen. Er glich fast dem Flori von damals, dasselbe schwarze feurige Auge, dasselbe schwarzgelockte Haar, das in die kurze kräftige Stirn hereinfiel; nur männlicher, selbstbewußter war er; der Anderl hätte sie dem Mentner nicht so gutmütig überlassen.

Er muß aus dem Hanse, das stand bei ihr fest, sie durfte nun einmal nicht die geringste Freude haben, bei ihr schlug alles gleich zum Bösen aus.

Sie suchte alle erdenklichen Vorwände, fing Händel an mit ihm, machte ihn schlecht vor dem Bauer. Der lachte sie aus und der Anderl blieb erst recht und veränderte trotzdem nicht sein herzliches Wesen, ohne ihr je Veranlassung zu einer Zurechtweisung zu geben.

Dieses stumme, rücksichtsvolle Werben wirkte mächtig auf sie; ihre Abneigung gegen den Bauer verwandelte sich allmählich in Widerwillen. Sie ließ ihm freiere Hand in Bezug auf Marei. Die Entfremdung des Kindes, welche bei ihr zur fixen Idee geworden, schmerzte sie immer weniger.

Nachts kam oft Anderl spät zurück, sie sah ihn dann von der Waldseite vorsichtig hinter den Zäunen daherschleichen, oft trug er etwas – sie wußte, woher er kann. Das verursachte ihr lebhafte Besorgnis, schlaflose Nächte. Sie wußte doch, daß der Mentner ganz dieselben Wege ging, schon lange – da empfand sie nie Aehnliches.

Einmal stellte sie den Knecht direkt darüber zur Rede, er solle doch die Wilderei lassen, er habe es doch nicht nötig.

„Thät’s Dir wirkli leid, wenn’s mi amal drauß’n find’n thäten, Loni?“ fragte er.

Sie brach in helle Thränen aus und lief mit der Schürze vor dem Gesicht davon. Seitdem mußte er wissen, wie er daran war.

Eines Abends spät fiel ein Schuß, dem Wolfsgraben zu, nach Lonis Berechnung. Sie war allein im Stall, auch Marei nicht im Hause. Eine tödliche Angst befiel sie.

Nachmittags war sie dem Förster begegnet, er ging nach der Richtung des Wolfsgrabens und sah sie noch so sonderbar an.

[83] Sie lief in die Wohnstube, in den Obstgarten, in den Stadel – niemand da! Sie stieg auf die Tenne hinauf. „Anderl!“

Da öffnete sich die Thür im Holzverschlag und der Knecht trat heraus, ein Kummet in der Hand, das er eben in seiner Kammer flicken wollte.

„Was schaffst, Bäuerin?“

Sie schämte sich. Was soll er glauben von ihr? Sie wollte ja ihren Mann suchen – und doch hätte sie aufjauchzen mögen, als sie den Knecht erblickte.

„I hab’ g’rad nachschau’n woll’n, a Schuß is g’fall’n dem Wolfsgraben zu – wird halt der Förster g’wes’n sein.“

„Is der Bauer schon z’ruck von der Ahornalm?“ fragte der Anderl.

„No net.“

Änderl zog die Stirne in bedenkliche Falten. „Der Förster is heut’ um d’ Weg – wird do nix geb’n ham? Hast Ängst, Loni?“

„Jetzt nimmer.“

Der Anderl ließ das Kummet fallen, es war ihm, als ob er auf sie zustürzen sollte.

„Wird halt der Förster g’wes’n sein,“ fuhr sie in mühsam erzwungener Ruhe fort, „wia ma nur so ängstli sein kann!“

„Naa, so ganz unbedenklich is die Sach’ do net! Jetzt wär’ er mir bald lieber da. ’s is schon hübsch lang’ Nacht und den Mond wart’ ma net gern ab auf solche Weg. Komm do’ ’rein, Loni, von da müass’n wir ’n ja komm’n seh’n.“

Loni trat in die Kammer. Anderl zeigte zum Dachfenster hinaus. Sie fühlte seinen Arm an ihrer Schulter, dann suchte seine Hand die ihre. Es war schwül – schwerer Heudunst erfüllte den engen Raum – es war ihr, als brenne sie lichterloh.

Jetzt zog der Mond herauf zwischen zwei großen schwarzen Tannen, die Zäune warfen ihre Schattengatter auf die bläulich leuchtenden Wiesen, welche das waldige Gelände vom Hofe trennten.

Schweigend blickten sie hinaus, ihre Hände lagen ineinander.

„Wenn er jetzt nimmer heimkäm’?“ flüsterte er plötzlich.

Loni schauerte zusammen und bedeckte ihr Gesicht mit der Hand. Dann riß sie sich los und stieg eilig hinab. Der Mentner durfte sie nicht treffen, wenn er von solchen Gängen kam.

Ihre Tochter schlief in einer Kammer mit ihr, sie schlich vorsichtig an dem Bett vorbei, um sie nicht zu wecken. Ein seliges Lächeln spielte um die Lippen des schlummernden Mädchens. Es träumte vom „Förster Willy“, der ihr auf Tritt und Schritt nachschlich, seitdem er als Forstgehilfe zu seinem Vater nach Hagenberg versetzt worden war. Erst heute früh hatte sie das Pärchen überrascht. Ihr war solch ein Glück das ganze Leben hindurch versagt geblieben, nie durfte sie es in Ehren genießen, offen, frei vor allen Menschen, für sie war es immer Sünde und Schande – der Fluch lag darauf. – „Wenn er jetzt nimmer heimkam’!“ – der Vater ihres Kindes! – Nur net träumen!

Am nächsten Nachmittag ging der Bauer mit Anderl auf die Alm. Er sprach wie immer kein Wort von seinem nächtlichen Gange und Loni hütete sich, zu fragen, auch Anderl machte keine Andeutung.

Mutter und Tochter waren allein im Hofe. Da öffnete das Marei zum erstenmal ihr Herz. Der Willy hatte um ihre Hand angehalten, sie liebten sich über alles und wollten nimmer voneinander lassen. Wenn er zum Forstwart befördert wird, soll Hochzeit sein. Der Vater wird ihr gewiß seine Einwilligung nicht versagen, dazu hat er sie zu lieb, aber einen Haken habe die Geschichte. Der Förster werde sich mit Hals und Kopf gegen die Heirat sträuben, wenn der Vater nicht verspricht, das Wildern für immer sein zu lassen, und da soll halt die Mutter ihm zu Herzen reden. Einen besseren Mann gebe es auf der ganzen Welt nicht wie den Willy.

Seliges Glück strahlte aus ihren Augen, und Loni vergaß darüber, daß das Marei in andern Fällen sich immer zuerst an den Vater wandte, ja, sie empfand es plötzlich als ungeahnte Wonne, ihrem Kinde ein Glück zu vermitteln, das sie selbst nie genossen, und beschloß in ihrem Innern, alles zu thun, was in ihren Kräften stand, die jungen Leute zusammen zu bringen.

Marei dankte ihr mit Thränen. – Nur eine Bedingung habe sie vergessen, die der Förster sicher stellen werde, die aber leicht zu erfüllen sei, – der Anderl müsse aus dem Hause.

Die Mutter erhob sich jäh und machte sich in der Stube zu schaffen. Als sie sich wieder der Tochter zuwandte, war jede Milde aus ihrem Antlitz gewichen. So hatte Marei die Mutter noch nie gesehen, keine Spur mehr der liebevollen Zärtlichkeit, welche die sonst so harte Frau für sie stets bewahrte. Jetzt sah sie so kalt und finster aus ihren grauen Augen, wie sie den Vater immer anblickte, zu ihrem bittern Schmerz.

„Was verlangt denn der Herr Förster noch? Bin i vielleicht auch net gut genug als Schwiegermutter? Das wär’ das Wahre – die Dienstleut’ sich vorschreiben lassen müssen von an’ solchen! Da komm’ dem Vater nur selber damit! Der Anderl ist der beste Knecht weit und breit – und das andere kümmert mi nix.“ Sie verließ das Zimmer und sprach kein Wort mehr den ganzen Tag mit dem verzweifelten Kinde.

[95] Der Abend kam, die Nacht. Der Mentner und sein Knecht blieben aus, vielleicht über Nacht auf der Alm. Sie hatten gestern noch lange zusammen gesessen, und der Anderl blinzelte ihm so eigentümlich zu - mit dem Schuß mußte es doch seine eigene Bewandtnis haben. Loni hielt es nicht mehr aus allein, jetzt suchte sie selbst Marei auf.

Das Mädchen saß aus ihrem Bett in der mondhellen Kammer und weinte. Willy hatte ihr erzählt, daß gestern abend wieder ein verdächtiger Schuß gefallen sei im Revier gegen den Wolfsgruben zu. Sie las ihm die Frage aus den Augen, ob ihr Vater zu Hause gewesen sei. Nur aus Liebe zu ihr schwieg er, aber sie fühlte, wie wehe ihm ums Herze war, wie die Kluft zwischen ihnen immer größer wurde, und wenn der Willy mit dem Vater gar einmal draußen zusammenträfe - der Gedanke quälte sie entsetzlich. -

Sie fuhr erschreckt auf, als die Mutter eintrat.

„Ist der Vater kommen?“

„Wird wohl auf der Alm bleiben heut’ nacht“, erwiderte Loni, ihre Angst verbergend.

„Das glaubst’ ja selber net! Der Anderl hat ihn wieder verführt. Hast Du gar kein’ Angst, daß was passier’n könnt’?“

„Was kann i mach’n? Probier’s Du beim Vater, mein Reden is längst umsonst!“

„Der Anderl is an allem schuld, so lang der da is, wird kein’ Ruh’. Was is denn an dem Menschen, daß wir ihn net entbehr’n könn’n, der Flori wär so glückli an sein Platz!“

Loni war peinlich betroffen von diesem Vorschlag.

„A lahmer Knecht, das geht do net auf ’n Mentnerhof,“ sagte sie dann, „übrigens hab’ i ’hn net eing’stellt, den Anderl, und halt ihn aa net.“

Ein langes banges Schweigen trat ein. Es schlug zehn Uhr.

„I’ hab’ den Willy heut’ gesproch’n,“ begann das Marei plötzlich mit von Thränen erstickter Stimme. „Er weiß schon längst, wer gestern g’schoss’n hat auf ’n Wolfsschlag.“

„Weißt es Du? - Also red’ net,“ entgegnete verdrossen Loni.

„I weiß nur soviel, daß i steinunglückli werd’, wenn i mein Buab’n verlier’, und i muaß ihn verlier’n, wenn der Vater ’s Wildern net aufgiebt.“

[96] „Steinunglückli? Das hab’n sich schon viel einbild’t und is do net so wor’n. Man glaubt net, was der Mensch aushalt’n kann,“ entgegnete Loni herb. „Im Grund g’nommen paßt das nia z’samm – a Jager und a Bauerntochter.“

„Als ob sich d’ Liab drum kümmern thät, was z’samm paßt und z’samm darf! Als ob die nach an Stand fraget, nach an G’setz oder irgend was! Daß Du das no net weißt, Mutter!“

„Wia g’scheit Du redst, Marei! D’ Lieb kümmert si freili um nix, die is wia a wild’s Tier, aber eben d’rum muaß man Obacht geb’n d’rauf, daß ’s net auskommt und an Unglück anricht’.“

Marei blickte erschreckt auf die Mutter. Das Mondlicht fiel gerade auf deren bleiches Antlitz, spielte in ihrem lichten roten Haar, sie blickte starr auf die Diele und nickte gedankenverloren mit dem Kopfe.

Die Lieb’ kenn’ i net, Mutter, die muß freili kein Glück sein! Die i spür’ zum Willy, o mein, die is ganz anders: die is wia a schöner Garten im Frühjähr, wo die Vögerln zwitschern und singen und alles blüht und guat riecht, wo net amal a böser Gedanken sich einschleicht, viel weniger a wildes Tier. Das Paradies is’s, Mutter - rein das Paradies auf Erden.“

Loni horchte auf, sie nickte nicht mehr mit dem Kopfe und helle Thränen rannen über das regungslose schöne Antlitz.

Da drang ein Ton herein von draußen, wie wenn Eisen und Stein sich berühren, ein Geflüster ward vernehmbar.

Marei wollte an das Fenster eilen, die Mutter hielt sie zurück, legte den Finger auf den Mund und schlich vorsichtig hin.

Eine Leiter war an die Stallmauer gelehnt, der Anderl kletterte eben barfuß hinauf; sie sah deutlich sein mondbeschienenes Gesicht, es war aschfahl, der Atem ging ihm schwer. Als er an der Tennenluke angelangt war, winkte er dem Bauer, welcher die Leiter hielt. Dieser näherte sich erst dem Fenster. Loni duckte sich gewandt, Marei hielt den Atem zurück, sie fürchtete sich jetzt fast vor dem Vater. Beide verschwanden in das Innere, die Leiter ward vorsichtig nachgezogen. Heute mußte ihnen offenbar besonders viel daran liegen, unbemerkt zu bleiben.

Die Angst schnürte Loni die Kehle zusammen, das Gesicht des Anderl war so entsetzlich gewesen.

„Schlaf’, Marei, und träum’ von Dein’ Paradies! Morgen will i ernstli red’n mit ’n Vater, so a Nacht möcht’ i selb’r nimmer derleb’n.“

Marei behauptete, daß ihr der Schlaf gründlich vergangen sei; nach fünf Minuten aber hatte sie den Rat der Mutter wirklich befolgt, den tiefen gesunden Atemzügen, dem wirklich paradiesischen Lächeln nach, das um ihre halb geöffneten Lippen spielte.




Der Förster Kirchberger fehlte seit zwei Tagen, am dritten wurde eine Streife gemacht, sein Sohn, der Willy, leitete sie, und zwar so gut, daß man in der ersten Stunde die Leiche des Unglücklichen fand, in einer tiefen Schlucht in der Nähe des Wolfsgrabens. Er war mitten durch das Herz geschossen – ermordet!

Willy Kirchberger gedachte des Schusses, den er vor drei Tagen gehört, seiner Unterredung mit Marei – er wußte, wer der Mörder war: der Mentner!

Sie war verloren, für immer verloren für ihn, er mußte zum Ankläger werden ihres Vaters! Alle Augen richteten sich mit Ingrimm auf das Mentneranwesen! Der neue Verputz, die Blumen auf den Altanen, das gute Marei – alles half nichts, es war und blieb das Unglück, die Schande von Hagenberg.

Nach den Aussagen Willys und verschiedener anderer, welche vor drei Tagen jenen Schuß in der Gegend des Wolfsgrabens auch gehört, war anzunehmen, daß dieser es war, der dem Förster gegolten, welcher nachmittags auf dem Wege dahin gesehen worden war.

Weder der Bauer noch Anderl sprachen zu Loni ein Wort über die Angelegenheit, und sie hütete sich, zu fragen; doch beider verstörtes unsicheres Wesen, das Ausweichen Anderls, die unmotivierten Wutausbrüche ihres Mannes verrieten ihr alles. Der Mord, schloß sie, wurde an dem Abend begangen, an welchem sie Anderl aufgesucht hatte – von ihrem Mann!

Der Anderl, auf welchen sich der allgemeine Verdacht lenkte – einem angesessenen Bauern war eine solche That trotz allem nicht zuzutrauen – war ja zu der fraglichen Zeit im Hofe, an ihrer Seite! Und wenn sie vernommen wird – wird sie die volle Wahrheit sagen. Sie wartete jetzt förmlich auf den Untersuchungsrichter. Das Entsetzen über die That ihres Mannes, die Furcht vor der Schande, die ihrem Hause bevorstand, alles trat in den Hintergrund vor der Begierde, ihn schuldlos zu erklären.

Der Bauer war allein bei der That, wenn er sie wirklich begangen hatte, was ja immer noch zweifelhaft war. Sie kann [97] als seine Frau zu keiner eidlichen Aussage über ihn gezwungen werden, er wird sich schon herauslügen – und wenn nicht – sie hat ihn oft genug gewarnt – sie empfand kein Mitleid, keinen Schmerz darüber.

Eines beunruhigte sie doch – warum gingen sie den andern Tag wieder und zu zweit hinaus? Und ihre Heimkehr! – Der heimliche Aufstieg auf der Leiter, das Schreckensantlitz des Anderl!

Wenn man sie auch um die Anwesenheit des Anderl an diesem zweiten Abend fragen würde? Da stieg schon ein Zweifel in ihr auf, ob sie die volle Wahrheit sagen wolle.

Auch Marei würde befragt werden. Das Mädchen hatte nur den Vater am Fenster, nicht aber Anderl gesehen und in einem ängstlichen Vorgefühl hatte sie ihm gegenüber den Knecht nicht erwähnt.

Der erste Gang des Gerichtes war in den Mentnerhof. – Loni wurde zuerst vernommen. – Sie trat mit einer Ruhe und Fassung vor den Beamten, welche man ebensowohl der Gleichgültigkeit gegen das Schicksal des Verdächtigen als dem Vertrauen auf seine Unschuld zuschreiben konnte.

Der Untersuchungsrichter nahm ihre Aussage nur in Bezug auf den Knecht entgegen, auf seine Anwesenheit an jenem Abend, an welchem der verhängnisvolle Schuß gefallen, so sehr hatte sich in dem Beamten bereits die Idee festgesetzt, daß an diesem Abend der Mord vollbracht wurde.

Sie atmete erleichtert auf und beteuerte mit einem Nachdruck, einer leidenschaftlichen Erregung die Anwesenheit des Knechtes an diesem Abend, die einem Unbefangenen hätte auffallen müssen. Ueber ihren Mann vernommen, erklärte sie, nichts Bestimmtes darüber zu wissen, ob er zu Hause war oder nicht – sie schlafe getrennt von ihm mit ihrer Tochter und sei früh zur Ruhe gegangen.

Anderl trat nicht so zuversichtlich auf, als man seinem durch die Bäuerin erwiesenen Alibi nach vermuten mußte. Betreffs des Bauern gefragt, erklärte er, den ganzen fraglichen Abend auf seiner Kammer zugebracht zu haben, ohne zu wissen, wer im Hause war.

„Aber daß die Bäuerin da war, wußten Sie doch,“ sagte der Beamte, „da dieselbe Sie gesehen hat. Wo haben Sie sich gesehen?“

Da stockte der Anderl.

„Auf meiner Kammer,“ sagte er nach wiederholter Frage.

„Was that denn die Bäueriu dort?“

Anderl ward verlegen

„G’fragt hat’s mi um was.“

„Ob Sie wohl wissen, wo der Bauer ist, vielleicht?“

Das unverhohlene Erstaunen auf dem Antlitz des Knechtes ließ ferner dem Beamten keinen Zweifel an der Richtigkeit seiner Annahme – die verworrene Ausrede Anderls bestärkte ihn nur darin.

Neben dem Untersuchungsrichter saß Willy, der Sohn des Ermordeten. Seine letzte Hoffnung, daß nicht der Mentner, sondern Anderl der Mörder sei, war dahin – und noch kam das Aergste.

Die nächste Vorgeladene war Marei.

Das Mädchen trat schluchzend ein, Willy wagte nicht, sie anzusehen – auch sie gab an, daß der Anderl an diesem Abend im Hofe war, sie hörte ihn noch arbeiten oben aus der Tenne, ehe sie einschlief.

„Und der Vater? Sie wissen wohl nicht, wo er war am Sechsten abends?“

Marei blickte, wie Hilfe suchend, nach dem Forstgehilfen. Dieser sah sie streng an, ohne Mitleid, ohne Liebe. Du weißt alles, lag in dem Blick, lüge wenigstens nicht!

Sie gedachte des unglücklichen Vaters, den ihre Aussage vernichten mußte. So weit sie mit ihrem kindlichen ungereiften Verstande beurteilen konnte, war eine Lüge jetzt keine Sünde, eher Pflicht. Aber dieser durchdringende Blick des Geliebten machte jede Lüge unmöglich.

„Ich habe mich um acht Uhr schon niedergelegt,“ sagte sie schluchzend.

„Und zu dieser Zeit war Ihr Vater zu Hause?“

Noch einmal warf sie einen flehenden Blick auf Willy, doch der hatte kein Erbarmen.

„Er liebt dich nicht mehr, er hat dich aufgegeben,“ sagte sie sich, „aber der Vater, der liebt dich, was er auch verbrochen haben mag!“

Sie zögerte, der Beamte drängte unbarmherzig. Da nickte sie weinend mit dem Kopfe und sank auf die Bank. Der Beamte machte seine Anmerkung, ohne weiter in sie zu dringen. Sie war entlassen.

Der Mentner wurde verhaftet. Trotzig, ohne Widerrede duldete er sein Los.

Der Mentnerhof lag düsterer denn je in der Mitte von Hagenberg im Schatten eines blutigen Verbrechens.


[98] Monate waren vergangen. Der Mentner saß noch immer in Untersuchungshaft. Ueber den Verlauf der Untersuchung drang nichts Bestimmtes nach Hagenberg; einige Leute wurden vorgeladen, Verhandlungen anberaumt und wieder abgesetzt – der Nachweis der Schuld war offenbar sehr schwer.

Diese Ungewißheit lastete auf ganz Hagenberg wie ein drückender Alp.

Hatte am Ende den Förster doch ein Anderer erschossen, an den niemand dachte, der in ihrer Mitte lebte? Von den Alten konnte nicht die Rede sein, seit Jahrzehnten hatten diese Ruhe gehalten; aber in den jungen Köpfen spukte noch immer die Wilderei, dem einen oder andern von den Burschen war die That am Ende schon zuzutrauen. Ein häßliches Mißtrauen begann das gute Einvernehmen der Nachbarn zu untergraben, von Haus zu Haus schlich der schlimme Verdacht, er nistete sich in den Familien selbst ein.

Nicht wenig trug hierzu der Försterwilly bei, der als verwesender Forstwart das Amt des Vaters verwaltete. Der bisher allgemein beliebte junge Mann machte sich jetzt verhaßt durch sein rücksichtsloses Vorgehen. Es war kein Haus, das nicht von oben bis unten durchsucht worden wäre; jede Woche war er auf einer anderen Fährte, die er mit blinder Hast verfolgte, um ebenso schnell wieder von ihr abzuspringen.

Nur ein Haus hatte vor ihm jetzt völlig Ruhe – das Mentnerhaus. Und doch ging die Blutthat von dort aus, von nirgends anders, das war der feste Glaube der Nachbarn. Und wenn’s der Bauer nicht war, so war’s sein Knecht, der Anderl! Warum verfolgte der Försterwilly nicht diese Spur? „Ganz einfach, weil er net mag! Weil ihm eben alles d’ran liegt, unter einem andern Dach den Schuldigen zu finden als unter dem seiner Geliebten, der Mentnermarei. Machen thät er sich am liebsten an neuen Mörder, als dort den rechten z’ finden!“ hieß es.

Der Haß gegen den Mentnerhof wuchs ins Unendliche. – „Warum jagt die Bäuerin net wenigstens den Anderl zum Teufel? Weil’s net darf, dös is do’ klar!“ – „Hab’n thun sie’s miteinand’!“ lästerte ein anderer.

Doch diese Ansicht gewann keinen Boden. Es gab genug aufmerksame Augen in der Nachbarschaft, doch in diesem Punkte war nichts zu sagen, im Gegenteil, man wollte der Bäuerin die Qual ansehen, diesen Menschen im Hause haben zu müssen.

Marei aber ging umher wie’s Unglück, bleich, matt, gar nicht mehr zu kennen. Sie hatte jetzt etwas Forschendes, Stechendes in ihrem Blick, als ob sie mit ihrem Schatz, dem Willy, um die Wette den Mörder suchen wollte.

Loni führte ein eigenartiges Leben diese Zeit über. Anderl wich ihr sichtlich aus; er fürchtete, von ihr gefragt zu werden. Anfangs drängte sie es auch dazu; sie hielt sich aber gewaltsam zurück, sie konnte noch einmal verhört werden, dann war es besser so. Das glanbte sie ja bestimmt, Anderl war nur Zeuge der That; daß er der Mörder sei, dagegen sträubte sie sich; auch schien es ihr unwahrscheinlich – was sollte den Mentner bestimmen, sich für den Knecht zu opfern! Das lag nicht in seiner Art. Zuletzt war sie froh, daß Anderl von der Sache nicht selbst anfing. Er war der Knecht, unterwürfig, gehorsam, aber weiter nichts. Sie überraschte ihn über keinem der sehnsüchtigen Blicke mehr, die sie früher so wohlig durchdrangen; was er that, hatte nur noch den Charakter des Dienstes. Keine Erinnerung schien in ihm zu leben an jenes Zusammentreffen auf der Tenne. Wenn sie nur daran dachte, brannten ihr die Wangen wie Feuer. Und trotz allem fühlte sie sich glücklicher als je.

Auffallend war es, daß auch Flori seit der Verhaftung ihres Mannes ihr sorgfältig auswich. Sie hatte vielmehr gefürchtet, daß er die Abwesenheit des ihm verhaßten Mentners zu einer Annäherung benutzen werde, und war jetzt froh über seine Zurückhaltung; die alte Neigung war ja längst tot, die sündhaften Worte Anderls, die ihr in jener Nacht durch Mark und Bein gegangen – „wenn er fetzt nimmer heimkäm’“ – hatten sie förmlich ausgebrannt.

Mit banger Ungeduld sah sie der Entscheidung entgegen, welche das Geschick ihres Mannes besiegeln mußte. Sie wünschte seine Freisprechung aufrichtig, aber fürchtete sich doch vor seiner Wiederkehr. Sein hartes liebloses Wesen wird ihr jetzt noch unerträglicher sein.

Marei schloß sich in ihrer Verlassenheit innig an die Mutter an. Ihr Glaube an die Unschuld des Vaters war unzerstörbar. Sie klammerte sich daran mit der ganzen Kraft ihrer jungen Liebe und es gelang ihr auch, den Geliebten wankend zu machen in seiner Ueberzeugung. –

Da, eines Tages, kam der Mentner zurück – frei und ledig. Auf seinen Knotenstock gestützt, schritt er trotzig daher, ohne Gruß, wie früher, und verschwand im Hause, ohne ein Wort mit irgend jemand zu sprechen.

Die Untersuchung war als erfolglos niedergeschlagen worden; man hatte ja nicht einmal den Tag des Mordes feststellen können. Der Schuß, welcher gehört wurde, der fehlende Nachweis, wo der Mentner zur Zeit desselben sich aufgehalten, waren keine genügenden Gründe, Tiroler kamen dann und wann über die Grenze, ein solcher konnte die That begangen haben – trotz der Ueberzeugung des Gerichtes, daß man auf der rechten Spur sei, mußte man ihn freigeben.

Loni erschrak wie vor einem Gespenste, als ihr Mann eintrat. Sein Haar war ergraut, die kräftige Gestalt zusammengesunken, wie um Jahre gealtert. Er war kurz angebunden und benahm sich, als habe er wenige Stunden zuvor das Haus verlassen; erst als Marei hereinstürmte und ihm schluchzend um den Hals fiel, wurde er weich.

Plötzlich besann er sich. „Ah so, Dein’ Freud’ gilt ja eigentlich an’ ganz andern als mir,“ sagte er rauh auflachend. „Aber i mein’ alleweil, da täuschst Di, Mädl; so lang’ sie den wahren Thäter net hab’n, bin’s alleweil i in den Augen vom Forstwart und in den Augen aller Leut’. Kannst’ Dir denn den Willy gar net aus ’n Sinn schlag’n? Muaß ’s denn g’rad der sein?“

Heftiger Widerwille sprach aus seinen Worten. Marei fuhr entsetzt auf, die qualvollste Angst lag in ihren Zügen.

„Was sagst, Vater? Das soll auch nix helfen, daß’ Dich freig’lass’n ha’m? Der Fluch soll ewig auf unserm Haus bleib’n und i soll ewig d’runter leid’n? Naa, das kann unser Herrgott net woll’n. Wie er Di erlöst hat von der falsch’n Anklag’, wird er auch den Mörder wissen und mit dem Finger auf ’hn deut’n: ‚Der is’‘!“ Marei streckte mit einer energischen Bewegung den Arm aus bei den letzten Worten, die ihr, ein heiliger Glaube, aus dem Herzen drangen. Ein „Oho“ tönte von der Thüre her. Anderl war eingetreten. Sie hatte mit ihrem deutenden Finger fast seine Stirn berührt. Der Mentner zuckte zusammen.

Anderl stockten die Worte im Munde.

Loni beobachtete scharf den ganzen Vorgang. Sie wußte nicht recht, ob das Absicht oder Zufall gewesen war. Sie wünschte fast das erstere, die Abneigung Mareis gegen den Knecht war ihr ja längst bekannt. Vor dem Zufall schauerte sie innerlich zusammen, sie unterdrückte den Gedanken gewaltsam. Damit stieg aber neuer Zorn in ihr auf gegen ihr eigenes Kind.

„Sei so gut und führ’ die Komedi net auch vor andere auf; der Anderl wird sich bedanken dafür, und Dein Vater auch, daß die G’schicht’ von neuem losgeht in unserm Haus. Hat Dir Dein Forstwart das einblas’n, oder weißt’ vielleicht was über den Anderl? Dann sag’s nur grad heraus!“

Sie flammte förmlich auf im Zorn, ein haßerfüllter Blick traf das sprachlose Mädchen, welches mit weit aufgerissenen Augen bald den Anderl, bald die Mutter ansah.

„Ja aber, i wollt’s ja gar net – i hab’ ja den Anderl gar net –“

„Hört’s auf!“ donnerte der Mentner, die unheimliche Stille unterbrechend. „Hört’s auf mit die dummen Weiberg’schicht’n und kümmert Euch um andere Sachen! Sie hat ja gar net g’redt vom Anderl, gar net g’seh’n hat sie ihn. Net wahr, Marei, gar net g’sehn hast’ ihn?“

„Nein, Vater, gar net a mal g’seh’n, aber –“

Sie verbarg ihr Antlitz mit beiden Händen und lief aus der Stube und fort aus dem Hause, ohne sich umzusehen, der Försterei zu.

Atemlos kam sie an. Willy war in der Kanzlei.

„Der Vater is da, er is freig’sproch’n, er is unschuldi, Willy!“

Sie sprach die Worte voll sicheren Vertrauens auf ihre Wirkung; als aber Willy nicht, wie sie erwartet, freudig überrascht aufsprang, da faßte sie die Angst.

„Willy! Willy, is denn das no’ uet g’nug?“

Dem jungen Mann fiel es schwer, sich zu beherrschen. „Du irrst Dich, Marei,“ sagte er dann gefaßt. „Dein Vater ist nur freigesprochen wegen Mangels an Beweis. Sieh’, ich freu’ mich [99] ja für Dich, daß es so gekommen; ich bin nicht rachsüchtig, aber an seine Unschuld glauben kann ich nicht, und niemand wird daran glauben in der ganzen Gegend, bis nicht der wahre Mörder entdeckt ist. Und so lange der blutige Verdacht zwischen uns liegt, können wir miteinander nicht glücklich sein.“

„Du hast recht, Willy, aber der blutige Verdacht soll nimmer lang’ zwischen uns liegen.“

Willy sah betroffen auf das Mädchen, so fest, so bestimmt war sonst nicht ihre Art und – der triumphierende Blick!

„Ja, und wie denkst Du Dir das?“

Marei faßte seine Hand und sah ihm fest in das Auge, jetzt glich sie ihrer Mutter.

„I kenn’ den Mörder.“

Willy prallte zurück. – „Du? – und schweigst?“

„Seit heut’ – seit einer halben Stund’ erst,“ flüsterte sie ihm zu. „Der Anderl!“

„Der Vater hat gestanden? Ja dann – dann Marei!“ Willy breitete verheißungsvoll seine Arme nach ihr aus.

Doch diese ließ traurig den Kopf hängen.

„Vom Vater weiß i’s freili net.“

„Von wem denn? Die Beweise, Marei, die Beweise – und alles geht gut.“

Da erzählte sie den sonderbaren Auftritt mit Anderl. Aber ihr selbst schwand während der Rede immer mehr die feste Ueberzeugung, die vorhin so urplötzlich über sie gekommen, ihre Stimme sank mutlos herab. Auch in seinem Gesichte las sie die Enttäuschung.

„Ach, Marei, das langt nicht und nützt uns nichts, im Gegenteil, g’rad g’warnt hast ihn von neuem, wenn wirklich was d’ran ist. Mir selbst geht der Anderl nicht aus dem Kopf – aber so erwisch’n wir ihn nicht. Da hab’ ich ganz andre Anhaltspunkte und kann ihn doch nicht packen. Jetzt geh’ heim und laß Dir nichts merken. Wenn ein Wild einmal angegangen ist, muß man’s erst wieder vertraut werden lassen, eh’ man’s anpirscht.“

Beim Mittagessen im Mentnerhof, das zum erstenmal zu viert eingenommen wurde, war das Marei heiterster Laune. Sie lachte über das drollige Gesicht, das der Anderl gemacht, wie sie ihm mit dem Finger fast die Augen ausgestoßen in ihrem Schreck über sein plötzliches Auftauchen.

Sie that darin etwas zu viel, Loni sah sie unruhig forschend an.

„Wo warst denn eigentli’ so lang heut’ vormittag?“ fragte sie.

„Wo meinst?“ fragte sie völlig unbefangen, die Suppe mitlöffelnd. „In der Kapell’n, um unsern Herrgott z’ dank’n, daß er uns den Vater wiederg’schenkt hat.“

„Was Du aber heut’ alles mit unserm Herrgott z’ thun hast!“ meinte der Mentner.


3.

Mit dem guten Einfluß, welchen Marei auf den Vater früher geübt, war es jetzt auch vorbei, sein menschenscheues Wesen machte sich mehr und mehr auch ihr gegenüber geltend. Er sah jetzt in Weib und Kind nur noch Feinde, die ihn beobachteten, belauerten, dagegen schloß er sich dem Anderl mit auffallender Innigkeit an; der war nicht mehr der Knecht, sondern sein Freund. Natürlich gab es nur eine Erklärnug dafür, die gemeinsame Schuld, die Mitwisserschaft verbündete sie.

Dieses Gefühl hatte auch Marei und der Widerwille, das Grauen, welche dasselbe erzeugte, erstickte in ihr fast die Liebe zum Vater.

Sie hatte nur noch den einen Gedanken, den Anderl zu entlarven, von dessen Thäterschaft sie fest überzeugt war. Ihr kindliches heiteres Wesen war verschwunden, ihr einst so offener Blick veränderte sich in einen lauernden scharf beobachtenden. Sie belauschte, beschlich die beiden, wo sie konnte, um irgend ein unvorsichtiges Wort zu erhaschen. Wiederholt ertappte der Vater sie dabei. Dann gab es lärmende Auftritte, Thätlichkeiten – ihre Liebe zu dem Försterssohne war ihm ohnehin ein Dorn im Auge. Ein verdächtiger Haß beseelte ihn gegen den jungen Mann.

Auf Loni war die Wirkung eine ganz andere. Diese Freundschaft war für sie etwas Unnatürliches. Mochte vorgefallen sein, was immer, nach jenem Abend auf der Kammer, nach dem in seiner Verhaltenheit nur noch leidenschaftlicheren Bekenntnis des Anderl konnte dieser nicht mehr in Wahrheit der Freund ihres Mannes sein. Etwas Beleidigendes, über das sie nicht hinwegkam, lag für sie in dem intimen Umgang der beiden. Oder wollte Anderl damit die Stunde auslöschen, ihr zeigen, daß er sie bereue?

Fast mußte sie das letztere glauben. Und gerade das nährte in ihrem Herzen die sehnsuchtsvollen Träume von einem Glück, das sie aus ihrem jetzigen Zustand befreite.

Da wandte sich ihr Schicksal unerwartet.

Es war ein sonniger Herbsttag, der Bauer war mit dem Anderl bei der Holzarbeit, Loni und Marei hatten zu Hause zu schaffen mit der Obsternte.

Auf einmal kam der Anderl über das Feld hergesprungen. Loni mußte an die Nacht denken, da sie ihn auf der Leiter erblickt hatte, gerade so sah er aus, so verstört. Atemlos, keuchend stand er vor ihr.

„Der Bauer – rasch! Holt’s an Doktor! A Baam –“

Er konnte nicht weiter.

Loni faßte sich schnell. „Marei, lauf’ zum Doktor – er soll glei’ – schnell, lauf’!“

Doch das Mädchen hörte nicht auf sie, sie packte den Knecht bei der Schulter und drang in ihn:

„Was is mit dem Vater? Red’! Wo is er? I muß zu ihm! Tot am End’? Red’! oder – A Baam hat ihn ’troffen im Fall – daher?“ Sie deutete auf die Stirne.

„Arg,“ entgegnete der Knecht.

„Was fragst denn lang? Den Doktor hol’!“ herrschte die Bäuerin.

„I muß aber mit ihm reden, bevor er stirbt! Der Anderl soll ihn hol’n. – Wo liegt er denn, der Vater? I kenn’ mi ja aus weit und breit.“

„Auf’n Feil’nbacherschlag, bei der großen Buch’n, aber red’n wird er nimmer viel. Dem hilft keiner mehr auf. Do i hol’ schon den Dokt’r und den Pfarrer a, wenn’s wollts’.“

Für Marei klang es wie Hohn. Ohne den Knecht einer Antwort zu würdigen, lies sie davon querfeldein, ohne weiter auf ihn zu achten, der angegebenen Richtung nach.

„Nur a Wort, Vater, nur a Wort!“ jammerte sie laut.

Loni eilte ihr nach, auch ihr waren die Worte des Anderl durch Mark und Bein gegangen. Sie fürchtete das Geständnis, welches Marei noch zu erhaschen hoffte.

Wozu denn neu’s Unglück stiften, wenn’s do amal so weit mit ihm is! An zweit’n Menschen unglückli mach’n? Und wenn er’s wär’, macht das den Förster lebendig? Mit solchen Einwürfen rechtfertigte sie bei sich ihre geheime Sorge – zu früh zu kommen zu dem Sterbenden!

Es war nicht weit auf den Schlag, ein Büchsenschuß vom Dorf entfernt. Die Erregung benahm auch der Tochter den Atem, sie mußte einen Augenblick innehalten.

„Willst’ ihn denn no im letzten Augenblick plag’n mit Dein’ unnützen Gefrag’?“ sagte die Mutter.

„Plag’n nennst’s, wenn i dem armen sterbenden Vater a furchtbare Last vom Herzen nehm’?“

Sie eilte wieder vorwärts. Auch sie beschönigte mit dieser Antwort ihren Eifer. Das eigene Interesse trieb sie, ihr Glück, ihre Zukunft hing vielleicht davon ab, daß sie beim Vater rechtzeitig eintraf. Jetzt lichtete sich das Holz, dort lag der Schlag, dort stand die Buche, wirres Astwerk beschränkte den Blick.

„Horch, sprach da nicht wer?“ Beide Frauen standen still.

„Vergieb uns unsere Schuld, wie wir vergeben unsern Schuldigern,“ klang es deutlich herüber.

Der Mentner war es nicht, der so betete, die Stimme klang kräftig.

Jetzt eilte Loni voraus. Hinter der gestürzten Tanne mußte es sein! Sie riß sich die Hand wund an dem Gestrüpp. – Unter der Buche kniete ein Mann, das Gesicht tief zur Erde gebeugt.

„Der Flori!“ Beide Frauen riefen den Namen zugleich.

Der Mann wandte sich um – es war wirklich der Stoanerflori, der vor dem sterbenden Mentner kniete.

„Lebt er no?“ rief Marei, auf ihn zustürzend.

„No schon,“ lautete die Antwort.

„Red’t er no?“

„G’rad hat er g’red’t.“

[111] Der Mentner lehnte mit dem Oberkörper gegen den Stamm der Buche. Das Antlitz war blutüberströmt, das eine Auge zerschlagen – verschwollen – das andere stand weit offen mit glasigem Ausdruck. Jetzt regte er sich.

Marei warf sich über ihn. „Vater, nur a Wort! Hörst mi net? Dei Marei! – Wer hat den Förster umbracht?“

Sie schrie ihm ins Ohr: „Du? – Du? – Naa – Du net! Grad mit’n Kopf gieb a Zeich’n! – O, mein Gott, er hört mi nimmer!“

Sie sank zusammen vor dem Sterbenden, dann erhob sie sich und klammerte sich an den Flori.

„Aber zu Dir hat er g’red’t, Flori, Du hast’s ja g’rad g’sagt. Was hat er g’red’t?“

Loni warf ihm einen warnenden Blick zu.

„Mein Gott, alles durcheinander, halt scho halb weg – da kann ma nix d’rauf geb’n.“

„D’rauf geb’n! Hat er an Nam g’nennt? – Flori, er hat an Nam g’nennt, i weiß ’s g’wiß,“ flehte das verzweifelnde Mädchen.

In diesem Augenblicke machte der Mentner eine krampfhafte Bewegung mit dem Arme, Marei wandte sich von neuem zu ihm und beugte sich dicht auf ihn herab, um keinen Laut zu verlieren.

Das eine Auge war stier mit wesenlosem Ausdruck auf sie gerichtet. Plötzlich fing es darin zu leuchten an, die Lippen bewegten sich.

„Vater, wer hat den Förster umbracht?“

Die Stirne zog sich in krampfhafte Falten, ein Zittern durchflog den Körper, aber es bildete sich kein Laut auf den sich schließenden und öffnenden Lippen. Dann erlosch wieder der Glanz des Auges.

Der Doktor und der Geistliche kamen über den Schlag, geführt vom Anderl, der betroffen aufsah, als er den Flori erblickte. Am Saum des Holzes polterte ein Wagen.

Der Arzt zuckte nach näherer Untersuchung die Achsel. „Da ist nichts mehr zu thun. Das Gehirn ist verletzt, bringt ihn rasch nach Hause!“

Der Geistliche sprach den Unglücklichen an – vergebens! Dann sprach er über ihm ein Vaterunser, in welches alle Umstehenden einstimmten. Aus der großen Buche herab flatterten die purpurnen Blätter mit raschelndem Laut, feierliche Abendstimmung lag über der Landschaft.

„Wird er denn nimmer zur Besinnung kommen? Keinen Augenblick?“ fragte Marei den Arzt.

„Auf einen Augenblick ist es möglich,“ antwortete dieser im Tone geringer Hoffnung. Dann wandte er sich an Anderl und Flori. „Auf, Leute, bringt ihn zum Wagen!“

Die Männer hoben den Unglücklichen auf. Marei wich nicht von seiner Seite, sie hoffte jetzt auf den einen Augenblick, von dem der Arzt gesprochen.

Vor dem Hofe hatte sich schon das ganze Dorf versammelt, die Kunde von dem Unglücksfalle hatte sich rasch verbreitet. „Wenn er g’rad no hat red’n könn’n und den Recht’n nennen,“ war der allgemeine Wunsch. Man drängte sich herbei und sah forschend in das starre Antlitz, als ob hier die Lösung des dunklen Rätsels geschrieben stände.

Loni drängte die Menge zurück. Der Mentner wurde auf die Lagerstätte in der Wohnstube gelegt, neben den großen Ofen.

Man flüsterte nur, als ob man den Mentner nicht wecken wollte aus seinem Schlummer.

Die Dämmerung war angebrochen, gelbes, gebrochenes Licht fiel durch die kleinen Scheiben herein. Da wurde die Thüre hastig aufgerissen, der Försterwilly trat ein. Ohne auf die Umstehenden nur einen Blick zu werfen, eilte er zu der Lagerstätte, vor welcher Marei kniete, jeden Atemzug des Vaters verfolgend.

Sie klammerte sich jetzt an den Geliebten.

„Zu spät! Er hört uns nimmer!“

„Mentner!“ schrie der junge Mann dem Unglücklichen in das Ohr.

Die Hand hob sich, um gleich wieder zurückzusinken.

„Mentner! In wenig Augenblicken stehst’ vor unserm Herrgott! Sprich die Wahrheit – wer hat mein’ Vater umbracht?“

Lautlose Stille. – Der Mentner hob langsam den Arm und fuchtelte, die Finger ausgestreckt, mit rascher Bewegung an seinem Lager herum. Der Mundwinkel zog sich nach abwärts wie bei einem Kinde, das zu weinen anfängt.

Unbedingt war die Frage vernommen worden, wenn auch unklar.

„Hast Du’s gethan?“ fuhr Willy fort. „Ich will Dir’s ja gern verzeihn – nur die Wahrheit red’!“

Jetzt rollte das unverletzte Auge unstet im Raume umher, als beunruhigte es ein Anblick.

Willy und Marei wandten sich um, er suchte wohl den Anderl. –

[112] Da blieb der starre Blick an dem jungen Paar hängen, welches, sich umschlungen haltend, vor dem Sterbenden stand.

Ein unbestimmter Schatten flog über das jetzt wachsbleiche Antlitz, es war, als ob das Blut auf einen Augenblick dahin zurückströmen wollte. Die Stirn zog sich an der Nasenwurzel in tiefe Falten. Ein schlimmes Zeichen in den gesunden Tagen des Mentners. Seine Fäuste stemmten sich gegen den Bettrand.

Alles lauschte atemlos, man hörte den Holzwurm ticken im Getäfel. – – Jetzt wird er sprechen –

Und wirklich – in abgerissenen, aber deutlichen Worten rang sich’s von den Lippen des Sterbenden. „Geh’ weita, Jaga – i oder Du! – Geh’!“

Das Auge starrte drohend auf Willy. Dieser nahm sichtlich die Gestalt des Ermordeten an vor dem brechenden Blick – des Mörders! – Kein Zweifel – in keiner Brust!

Die gewaltsam angespannten Züge lösten sich rasch – ein lautes Aufstöhnen – und der Friede kam auch über den Mentner. Der trotzige Zug um den Mund verschwand – er lächelte, gar nicht mehr höhnisch, sondern wie ein Kind, wie einst das Marei, wenn es von ihrem „Paradiese“ träumte.

Doch mit dem war es aus für immer! Die verworrenen Worte des Sterbenden waren nicht mißzuverstehen.

Willy drückte der Geliebten stumm die Hand und verließ den düsteren Raum – als wär’s ein Abschied für immer.

Jetzt graute es dem Marei vor dem Toten, sie barg ihr Antlitz in die Hände und schluchzte laut. –

Loni machte dem Flori ein Zeichen, er folgte ihr auf den Flur.

„Hat er ’was g’redt zu Dir?“ fragte sie hastig.

„Wohl!“ lautete die kurze Antwort.

„Was denn?“

„G’rad an’ Nam’ hat er g’nennt,“ erwiderte Flori. „Kannst Dir ihn net denk’n?“

„I’? Wie soll i denn?“

„Anderl!“ flüsterte der Steinhauer.

Loni war darauf gefaßt. „Däs is ganz natürli, g’ruf’n hat er nach ihm, vielleicht hat er Di für ihn g’nommen.“

„So, meinst? ’s hat aber ganz anders g’laut! Der Anderl hat’s than’! Muß Dir ja a Stoa vom Herzen sei!“

„Und desweg’n hörst so ’was Furchtbars ’raus aus an Wort und machst an Mensch’n unglückli? Da thuast mir an schlecht’n Dienst. Wenn D’ mi a bisl liab g’habt hast, hast’ nix g’hört! Zu was die G’schicht’ wieder aufrühr’n! Laß’ ’s begrab’n sein mit ihm, i bitt Di! ’s is do’, wie i sag’, g’ruf’n hat er nach ihm.“

Sie sprach hastig, ihre Erregung nicht verbergend.

„Aber was red’st denn! I mag eh nix mit ’n G’richt z’thun ha’m. I will ihm nix, dem Anderl, g’rad wegen dem Marei wär’s mir g’wesen – – weil i selber weiß, wia hart ’s is – Du weißt scho’, Loni –“

Loni atmete erleichtert auf; was er von der Tochter sagte, überhörte sie ganz.

„O, i weiß ja, Du bist a guater Mensch und i werd’ Dir’s nia vergess’n – nia, Flori!“

Sie drückte ihm fest die Hand. Dann eilte sie in die Stube. Flori sah ihr erstaunt nach.

„Warum is ihr denn gar so viel d’ran g’leg’n, daß i nix g’hört hab’?“

Da erblickte er den Anderl durch die offene Stallthüre. Der ging seiner Arbeit nach, als wäre nichts geschehen.


„Hallo! Wenn’s das wär’!“ Er fuhr sich an die Stirn. „Ihr Schatz! – Wer weiß, wia’s no’ kommt! sagte sie damals im Obstgarten. Jetzt wär’s ja eintroff’n, aber i bin ein Krüppel und der Anderl – –! Ein Mörder – wenn i red’!“

Er humpelte durch den Stall an dem Knecht vorbei.

„Aus is’ mit ’n Mentner – hätt’s net ’dacht – war no hübsch frisch, wia i dazu kommen bin –“

„Frisch nennst das?“ meinte der Anderl, „no, i dank!“

„Im Verstand - mein’ i, hat ja Dein Nam’ no g’nennt.“

„Hat er?“ sagte der Anderl, eine Gabel Heu in den Barren werfend. „Da g’hört g’rad net viel dazua – wenn er weiter nix g’red’t hat.“

„Is g’rad gnu – in so an Zuastand –“ setzte der Flori nach einer Pause hinzu.

Anderl stieß die Heugabel auf den Boden und sah den Steinhauer frech an.

„Meinst? Ei, so geh’ do’ auf’s G’richt und d’erzähl ihna ’s die große Morithat, daß der Mentner nach’n Anderl g’ruf’n hat, der ihn aussazog’n hat unterm Bam. Wo’s D’ nur a überall umanand schnuffelst mit Dein Gehwerk!“

Er sah verächtlich auf Flori herab.

Das traf! Flori richtete sich an seinem Stock stramm in die Höhe, wie um sein Gebrechen zu verbergen. „Ja schau, wenn ’s mag, kommt man a mit ei’m Bein g’rad z’recht.“

Er ging, er wollte nicht mehr in die Stube zurück; jetzt durfte und wollte er mit Loni nicht reden. –

Die Nacht war da. Zu Häupten des Toten flackerten die Lichter, Agl, die „Seelennonne“, hatte die Leiche friedlich gebettet. Von der häßlichen Wunde sah man nichts mehr. – „Wia’s nur mögli is, ohne Beicht’, mit so an Verbrech’n auf der Seel’ dahin müss’n und so freundli ausschau’n wia nie im Leb’n!“ dachte sie bei sich.

Die Leute brachten ihm papierne Kränze, schlugen ein Kreuz und blickten scheu auf den Toten.

„Er hat’s selb’r no g’stand’n dem Försterbuben!“ wurde allgemein erzählt.

Die Seelennonne hatte vollauf zu thun. Eines gab dem andern die Thüre in die Hand, und jedem mußte sie beim Eintritt bedeutungsvoll zunicken, beim Austritt im Namen des Hauses für seine Totenspende danken.

Ein unaufhörliches Geflüster rieselte durch den Raum, welchen die meisten zum erstenmal in ihrem Leben betraten. Die leisen Gespräche galten dem Mentner, von dem man nun endlich erlöst war. Sein Tod hatte versöhnend gewirkt. Durch sein Geständnis im letzten Augenblicke hatte er doch manches wieder gutgemacht. Die Unglücksgeschichte konnte endlich begraben werden in Hagenberg, und am Ende hieß es: „Gott allei kann’s wiss’n, wia’s ganga hat, der Förster war do aa a hitziger Kam’rad.“

Loni hielt es nicht aus im Sterbezimmer. Jede Beileidsbezeigung war ihr ein Stich ins Herz. Sie empfand keine Trauer. Er hatte sie ja aus Haß gegen die anderen Menschen geheiratet, und wie hatte er sie behandelt! Die Kette, die sie bisher getragen, riß, weiter nichts. Sie wagte es zwar nicht, sich das so klar einzugestehen, und machte sich überhaupt noch keine Gedanken über die neue Lage, aber in die Stumpfheit, die sie beherrschte, mischte sich doch ein Gefühl der Erlösung.

Daß der Flori sich so rasch davongemacht hatte, beunruhigte sie. Sie war doch eigentlich furchtbar ungeschickt gewesen. Was war denn dabei, daß der Bauer den Anderl da draußen auf der Unglücksstätte noch einmal genannt hatte? Wie konnte sie darüber so erschrecken, wie konnte sie den Flori bitten, bei seiner einstigen Liebe beschwören, darüber zu schweigen! Was war denn zu verschweigen?

Das darf ja jeder wissen. Sie selber wird’s erzählen, wie’s zuging! Aber wie er’s g’sagt hat – der Ton! Derselbe war’s, der ihr seit dem Bericht des Flori in den Ohren klang. – Doch außer dem einen Zeugen hatte die Worte des Sterbenden ja niemand gehört. Und hatte der Mentner es zuletzt nicht selbst eingestanden. „Geh’ weita, Jaga, i oder Du! Geh’!“ – War jetzt noch ein Zweifel möglich? Und wenn? Wenn – der Anderl wirklich – ? Ja, auch dann! Auch dann war’s besser, wenn die That begraben bliebe für immer mit dem Mentner! Würde etwas gebessert damit, wenn der Mensch ins Zuchthaus wanderte? Freilich – des Mentners Namen stände dann wieder rein da, er läge nicht als Mörder auf dem Kirchhof! – Doch das war alles nichts Greifbares. Und sie sah im Geiste den Anderl gefesselt, von Gendarmen abgeführt, mit einem vorwurfsvollen Blick auf sie.

Was lag ihr an der Meinung der Leute! O, sie hatte sie verachten gelernt. Aber ihr Kind – das Marei? Der wird es das ganze Leben verbittern! Die Mutterliebe ward in ihr rege. Die Trauer um den Vater, die Erinnerung an seinen gräßlichen Tod, die wird das Kind mit der Zeit wohl verwinden, aber das andere Leid, die vernichtete Hoffnung auf die Heirat mit dem Försterwilly! Das Mädchen schwand ja förmlich dahin! Wenn’s der Anderl doch gewesen wäre – – – Wie kommt sie dann dazu, einem Knecht zulieb ihr Kind zu opfern?

Da stockte sie und wagte sich nicht mehr vorwärts mit ihren Gedanken. Sie muß mit ihm reden – ihn offen fragen! Und gewarnt muß er wenigstens werden vor dem Flori!

Sie suchte ihn wie damals im ganzen Hause. Wenn sie ihn wieder in seiner Kammer aufsuchen müßte!

Die Scene von damals stand klar vor ihr, es war, als [114] fühlte sie wieder seinen Händedruck, seinen heißen Atem, und dabei drang das Geflüster, das Gebetgemurmel, der Weihrauchgeruch aus dem Sterbezimmer bis auf den Hof. Es legte sich ihr auf die Brust, atembeklemmend.

Zögernd stieg sie die Leiter hinauf zur Denne, würziger Heuduft drang ihr erfrischend entgegen.

Wirklich war der Knecht in der Kammer. Sie rief mit halber Stimme seinen Namen. Wieder ging die Thüre auf und der Knecht stand vor ihr, mit einer brennenden Kerze. Sie sah ein spöttisches Lachen in seinen schwarzen Augen, in denen ein eigentümlicher Glanz leuchtete. „Heut’ schon?“ las sie in dem flackernden Blicke.

Sie hätte viel darum gegeben, wenn sie wieder unten gewesen wäre. Doch jetzt mußte sie sprechen.

„I bin nur komma wegen dem Flori!“ stammelte sie.

Da schwankte die Flamme bedenklich.

„Er hat – i will sag’n, der Mentner –“

Sie rang nach Atem. „Er hat mit ihm vor sei’m Tod’ g’sproch’n – Dein’ Nam’ hat er g’nannt.“

„No und is da so ’was B’sonders d’ran?“ fragte der Knecht.

„Für mi net - g’wiß net - aber für die Leut’. Besser wär’s schon, wenn der Flori net red’n thät.“

„Was kann i dazu thuan, da muaßt’ zum Flori geh’n, er is ja eh’ a guater Freund von Dir! Mir is’ ein Ding, was er redt!“ Er stellte das Licht auf einen Pfosten, als ob er die grelle Beleuchtung scheute.

„Weil Du Di unschuldi fühlst, net wahr? Weil Du g’wiß weißt, daß ’s der Mentner ’than hat? Mir kannst’s ja sag’n, jetzt, wo er tot is. An dem Tag is’ g’scheh’n?“

„An welch’n?“

„Frag’ a no! Da san ma g’stand’n und hab’n g’wart auf ihn - der Mond is g’rad aufganga - Sieh’, g’rad wie heut’!“

Beide blickten zur Tennenluke hinaus, in deren Mitte das Gestirn hing wie eine krystallene Ampel.

„An dem Tag is’ g’scheh’n? I bitt’ Di, Anderl, die Wahrheit! I schwör’ Dir’s, niemand soll a Wort ’von erfahr’n!“

„Und hast denn ganz vergess’n, was sonst g’scheh’n is an dem Tag, auf dem Fleck?“

Anderl legte den Arm um sie.

Loui sträubte sich. „Laß mi. Heut’ – wo unt’ –“ Doch dasselbe Gefühl der Schwäche überkam sie wie einst.

„Was heut’! Er is tot - seit an Jahr - für Di und mi. G’rad heut’ sollst Du’s hör’n! Was bist komma zu mir? I hab’ g’wart auf Di seit an Jahr!“

Sein Atem ging schwer.

Von unten herauf drang das monotone Gebetgemurmel der Seelennonne, Weihrauchduft. Eine Fledermaus umkreiste eigensinnig die jetzt in dem grellen Mondlicht, das zur Luke hereinfiel, schmutzigrot erscheinende qualmende Flamme. Aber auch ein Flüstern drang herauf, es kam vom Garten. Anderl trat zurück in den tiefen Schatten.

„Hörst Du’s? Als wenn er’s wär’! Als wenn er wieder käm’! Oh!“ Loni stöhnte auf. „An dem Tag is g’scheh’n – net wahr, Anderl?“

„Na, an dem net.“

„Am nächst’n? Wia’s auf der Leiter eing’stieg’n seid’s?“ fvrschte sie gespannt weiter.

„Da hast Du mi g’seh’n? – Und do bist da?“

Anderl faßte erregt ihre Hand.

„Red’, sag’ i - bist Du’s g’wes’n?“

Er schloß die Augen und preßte die Lippen zusammen, seine Brust spannte sich zum Bersten.

„Ja – i war’s!“

Loni bewegte sich nicht, sie schrie nicht auf, es war ihr auf einmal, als habe sie das schon längst gewußt.

„Und der Mentner war dabei?“

„Ob er dabei war! Der Mentner oder der Förster! – so is’ g’stand’n einer mußt’ fallen. Der Kirchberger hat ihn schon am Korn g’habt, da hab’ i’s schnall’n lass’n! Is das an Mord? Weißt, was mir durch’n Kopf ganga is in dem Augenblick? Wennst jetzt net schiaßt, is der Mann von der Loni a Leich’ – da hab’ i g’schossn. Is das an Mord?“

„Na, für mi net! Anderl, d’erschreck net, aber für die andern ...“

Sie sprach nicht mehr aus. Stimmen drangen deutlich herauf, schluchzendes Weinen. Vorsichtig schlich sie vor die Luke und blickte hinab. Marei und Willy standen hinter dem Hause; das Mädchen weinte in ihre Schürze – es galt den Abschied!

„Schau, sie ist ja doch Deine Mutter und trägt auch den Namen durchs ganze Leben, auf dem der Fluch ruht. Ich kann’s nicht glauben, daß sie so einem Menschen zu lieb ihr eigenes Kind opfert – so schlecht kann niemand sein.“

Marei hob ihr Gesicht bei diesen Worten des Geliebten, es lag jetzt trotzige Willenskraft darin. „Und do kann i mir’s denk’n, daß man all’s opfern kann – alls! Um eins – um a heiße Liab.“

Der junge Mann trat betroffen dicht an sie heran und flüsterte ihr etwas zu.

„I glaub’s net – i weiß!“ sagte sie dann leise, aber fest. „Aber i weiß aa, daß mei’ Liab’ net die schwäch’r is – auch i kann all’s opfern – aa die Mutter, wenn’s sein muaß! Also san ma gleich auf gleich! Unser Herrgott wird helf’n! Nur eins, Willy, verlang’ i von Dir – bleib’ mir treu, halt’ aus! Die Wahrheit muaß aufkomma und eher möcht’ i selb’r net Dein’ Nam’ trag’n.“

Sie dachte an diesem einsamen Ort an keinen Horcher und die Erregung machte sie unvorsichtig.

Die Lauscher auf der Tenne vernahmen jedes Wort. Loni fühlte es wie Haß aufsteigen gegen ihr eigenes Kind. Im ersten Augenblick nach Anderls Bekenntnis hatte sie schon daran gedacht, die Tochter mit in das Geheimnis zu ziehen. Wenn Marei hörte, daß Anderl die That begangen, um ihren Vater zu retten, daß diesen eine Sekunde später der Förster erschossen hätte, mußte sie ja anders denken. Aber jetzt gab sie diesen Gedanken auf, das Mädchen würde Anderl trotzdem nicht schonen, sie würde ihn an den Geliebten verraten und der würde kein Erbarmen kennen in seinem blinden Haß. Und das entschied in ihr für den Anderl.

Das freie Geständnis dieses Mannes, der ihr so treu anhing, kettete sie an ihn. Und doch mischte sich in dieses Gefühl der Zusammengehörigkeit ein leises Grauen. Sie riß sich von ihm los.

Während unten im Garten unter Thränen und heiligen Versicherungen das junge Paar sich trennte, vertrauend auf die Kraft schuldloser treuer Liebe, schlich Loni langsam von der Tenne herab, in der Seele den Trotz gegen die Tochter nährend.

Unten in der Stube lächelte friedlich der Mentner im Flackerlicht der Kerzen, und im alten Lehnstuhl schlief, die Hände über die Brust gekreuzt, die Agl, die Seelennonne.




4.

Der Farrenbach durchschneidet eine Viertelwegstunde vom Dorfe entfernt, aus enger Schlucht tretend, die Hagenberger Flur. Ein breites, im Sonnenlicht grellweiß aus dem umgebenden Grün aufblitzendes Band bezeichnet von weitem seinen vielgewundenen Lauf. Zur trockenen Zeit sickert nur spärliches Wasser matt und mühsam durch das Kalkgeröll, bei anhaltendem Regen bildet sich rasch ein stattlicher Fluß, dessen schmutziggraue Fluten mit wildem Ungestüm über alle Hindernisse hinwegschießen, da einen rauschenden Fall, dort quirlende Stromschnellen bildend. Geht aber ein Hochgewitter nieder, dann wälzt sich ein verheerender Strom, weithin donnernd, aus der Schlucht hervor, schwere Felsblöcke mit sich führend, Baumstämme und Wurzelwerk in wildem Chaos, daß alles splitternd, krachend sich stemmt und staut. Dann brechen die Wasser sich seitwärts Bahn, verheeren die angrenzenden Wiesen, überdecken die Straße mit Geröll und entwurzeln alte Bäume und junge Pflanzungen.

Kurz, der Farrenbach war für die Hagenberger Fluren, wie der Mentnerhof für das Dorf, der Fluch, der ewige Verdruß – eine Gottesgeißel.

Wie jedoch allem Uebel auf der Welt auch eine gute Seite abzugewinnen ist, so auch dem bösen Farrenbach. Er lieferte umsonst und in überreichlicher Fülle das beste Material für den Straßen- und Wegbau, ungezählte Fuhren von Kies und Sand, und den kostbaren Kalkstein bis dicht vor die primitiven Oefen, welche die Hagenberger an seinem Ufer errichtet.

Das war das Arbeitsrevier des Flori; er war der Herr des Farrenbaches. Er hatte seine Unarten wieder auszugleichen, indem er für die Erhaltung der Weidendämme an den besonders gefährdeten Stellen sorgte und die Haupthindernisse seines Laufes entfernte. Er hatte das von den Bergen herabgeschwemmte Material für die Verwertung zu bearbeiten, den Kies, den Schotter, den Sand, seine Abgabe zu überwachen. Er war in den langen [115] Jahren des Gewässers Vertrauter geworden, der alle seine Launen und Tücken kannte. Seinen scharfen Augen entging nicht die kleinste Veränderung an den Ufern, keine mit heimlicher List vollzogene Unterwaschung, kein langgeplanter Ausbruchsversuch, so unverdächtig er auch unternommen war.

Dicht an der Stelle, wo der Bach einige Meter jäh abfallend die Bergschlucht verläßt, lag das Heim des Flori, eine Bretterhütte, aus welcher seitwärts ein verrostetes Rauchrohr herausragte. Hier waren die Arbeitsgeräte aufbewahrt, Spitzhacken, Schaufeln und langgestielte Steinhämmer. Ein alter Kochherd, ein Heulager bildeten die Einrichtung.

Flori bewohnte die Hütte den ganzen Sommer. Auf der Seite des Baches war aus Brettern ein Vordach gefügt; seine Stütze bildeten zwei verwetterte Fichten, welche der Farrenbach vergebens seit einem Jahrhundert anfeindete; nur die freiliegenden zerschundenen Wurzeln, in welche von elementarer Gewalt geschleuderte Felsblöcke sich eingeklemmt hatten, zeugten von der Erbitterung, welche dieser Widerstand hervorrief.

Unter diesem Bretterdach, geschützt vor Sonnenschein und Regen, schwang der Flori unermüdlich seinen langgestielten Hammer und häufte Berge von Schotter neben sich, während ringsum sich streng geordnete Steinhaufen in abgemessenen Rechtecken reihten. Er war in seiner beständigen Einsamkeit ganz verwachsen mit dieser steinernen Welt.

Er kämpfte einen unerbittlichen Kampf mit den Steinen, er redete auf sie ein mit grimmen Worten, züchtigte sie mit wuchtigen Hieben. „Wart’, Tropf verdammter, dir werd’ i’s scho lerna!“ und jedes Wort begleitete ein zorniger Hammerschlag, bis die Stücke stoben. „Was druckst denn alleweil so eina? I brauch’ di net! Taugst eh’ nix!“ und fort flog der Gescholtene. Er bezog auch alles auf sie, wenn einmal seine Gedanken weiter schweiften, als sein Blick hinter der großen Drahtbrille, durch die seine Augen vor den kleinen Splittern geschützt wurden, reichte.

„D’ Mensch’n san um ka Haar anders als wia die Stoan’r; die ein’n zerspringa auf an Schlag in tausend Stück’, auf die andern kannst loshammern, so lang d’willst – all’s umsonst! Den ein’n mußt von der Seit’n anpack’n, den andern von der, die ein’n schau’n recht g’fügig aus und manst, weiß Gott, was dran is, und Racker san’s, nixnutzige, ’balst nur hintupfst. Wid’r ei schau’n aus, daß dir glei graust, und bal’ ’s auseinander san, san’s die best’n!“

Der Schluß dieser Betrachtungen war stets, daß er ganz zufrieden war mit seiner stillen Gesellschaft und sich keine andere wünschte.

Nur hie und da dämmerten Bilder in ihm auf aus längst vergangenen Tagen, deren er sich vergeblich durch doppelte Kraft des Hammerschlages erwehrte, Bilder, die zu der Steinwüste umher schlecht stimmten – –. Das begann mit dem grünen Wald, in dem er als junger Holzknecht arbeitete. Es roch so kräftig nach Harz, und die Arbeit ging ihm so gut von der Hand wie keinem – dann der Abend in dem Rindenkobel oder der Holzhütte bei den lustigen Kameraden – man sah von da aus die Roßalm liegen, wo die schwarze Res’ hauste, sein Schatz. Dann Sonntags der Tanzboden.

Schuhplatteln war sei’ Leibsach’, und die Madl’n hab’n ’n gern g’seh’n. Dann – ja dann – dann is sie komm’n, die rote fremde Dirn’, die Loni, und – da war’s aus mit der Arbeitsfreud’, mit die Madl’n – da hat’s nur mehr eine geb’n – die Loni! So is’ aber all’n ganga, all’n Buab’n, alle waren vernarrt d’rein. Und ihn hat’s all’n vorzogen, ihn, den Flori, die andern hat’s g’rad zum Best’n g’habt, und gefreut hat sie’s, die arme heimatlose Dirn’, daß sie so an Gewalt ausübt üb’r die Mannsleut’, und ihn hat’s aa ’freut! Das war a Liab, wia der Farrenbach beim Hochwetta, so grausi wild, so unbezwingli! Was war d’ Res’ auf der Roßalm gegen d’ Loni! – Mei Gott, sie wissen’s ja all’ mitanand net, was d’Liab is, nur i – i weiß’s, der Stoanerflori.

Da hat’s ihm der Mentner g’nomma mit sei’m Geldsack, aus Trotz, aus Haß gegen die andern, net aus Liab, und der Loni is’ halt in’ Kopf g’stieg’n, Bäuerin z’ werd’n, a Heim z’ hab’n, sie, die ihr Sach’ alls im Schnupftüchl mitbracht hat, und da is sie ’s halt wor’n und der Abschied is komma im Mentner sei’m Garten! D’ Welt war aus – Nacht, schwarze Nacht – nur aa Stern mitten in der Finsternis – „wer weiß, wia’s no’ kommt!“ – Und wia is’ komma?

Wenn seine Gedanken da angelangt waren, erwachte er gewöhnlich durch ein Schmerzgefühl im lahmen Fuß. Er hielt den eisernen Reif, mit dem er die Steine fing, damit sie ihm nicht unter dem Schlag davon sprängen, unthätig in der Hand und starrte auf die Wüste des Farrenbaches hinaus. Dann aber ging’s zornig los, daß die Funken stoben, Schlag auf Schlag.

„Sei froh, daß d’as hinter Dir hast, die Dummheit’n – wart’ - i werd’ Euch –!“ und bei jedem Wort, das er ächzend vor übermächtigem Kraftaufwand ausstieß, fiel ein Streich und die Steine flogen prasselnd über den Reif hinaus, auf den Haufen vor seinen Füßen. So ging’s auch heute.

In wenig Wochen schneit es die Gegend zu, da heißt es für den Wintervorrat sorgen. Den ganzen Vormittag hatte Flori unermüdlich geschafft. Das Zusammenschleppen der schweren Steine zum Arbeitsplatz, das ging ihm vortrefflich von der Hand, dabei kommt man nicht zum Sinnieren. Alle Muskeln sind angespannt, und was sich allenfalls noch rührt von schlimmen Gedanken, das schwitzt man heraus. Aber dann, nach dem Mittagsmahl, das Steinklopfen, das war für ihn jetzt gefährlich, seit dem Tod des Mentners, er merkte es an dem verarbeiteten Material. Da trieben sich faustgroße Stücke zwischen den kleinen scharfkantigen Steinen umher, die einen zu groß, die andern fast zu Staub zermalmt, das Gleichmaß fehlte, auf das er sonst so stolz war – und der Haufen war das Abbild seiner Seele.

Er hatte sich zuerst alle Mühe gegeben, den Verdacht zu unterdrücken, der damals im Sterbehaus in ihm aufgestiegen war, über das Verhältnis der Loni zum Anderl. Es ließ sich am Ende auch anders erklären, daß sie ihn um sein Schweigen gebeten: die alte Geschichte sollte nicht wieder aufgerührt werden. Doch er blieb dabei: solche Seelenangst verrät man nur um einen, den man liebt.

Der Haß, den er gegen den Knecht empfand, seitdem ihn derselbe so verächtlich als Krüppel behandelt hatte, that das Uebrige. Es war ihm, als sei er verdrängt worden. Den Mentner und alles, was der ihm angethan, konnte er jetzt vergessen, wenn die Erinnerung an sein einstiges Liebesglück in ihm lebendig wurde, der Gedanke an Anderl aber weckte ihn jäh aus seinen Träumen. Dann sah er sich plötzlich selbst, wie er vor ihm, dem schmucken Burschen, gestanden, gekrümmt von der Arbeit, den Scheitel kahl, den wirren struppigen Bart ergraut, mit seinem steifen Gestell.

Dann schüttelte er, sich selbst verlachend, den Kopf. Was soll denn so a verbraucht’r Lod’r mit so an Weib? Als ob das Mandl no’ der Flori wär’! Z’erst mit so an Grobian wia der Mentner ’s Leb’n vertrauern und nachher mit an z’sammg’arbeit’n lahma Steiklopfa! Da wär’ die Loni schön dumm. – Also! Ihm kann’s gleich sei, wen ’s no’ mal nimmt – is ihm aa gleich – nur der ein’, der Anderl, soll’s net sein, der Mörder! Ja, der Mörder! – Daß der sterbende Mentner noch dessen Namen genannt, das war’s nicht allein, was ihm diese Ueberzeugung gab.

[126] Dem Flori trat auf einmal der unheimliche Vorgang in aller Lebendigkeit vor die Seele. Es war im letzten Spätherbst – in der Nacht nach jener, von welcher das Gericht angenommen hatte, daß in ihr der Mentner den Förster erschossen. Da war er wider seine Gewohnheit in seiner Hütte geblieben, um in aller Frühe bei der Arbeit zu sein. Um elf Uhr ungefähr hörte er das Rascheln von Steinen oben im Holz. Wild, das über den Farrenbach wechselt, in die Hagenberger Gründe – dachte er bei sich – und weil er von den Bauern oft darum gebeten worden war, hat er sich aufgemacht, um das Wild abzutreiben. Da hat er es wispern hören ganz nahe im Wald – er hat sich hinter einen Baum geduckt, und wer ist vorbeigeschlichen, den Blößen ausweichend im Unterholz? – Der Mentner und der Anderl! Daß sie vom Wildern gekommen sind, hat er gleich gewußt. Aber die Gesichter! Leichenblaß! Sie sprachen aufgeregt und leise, aber doch nicht leise genug, daß er nicht gehört hätte, wie von einem Schuß auf den Förster die Rede war und der Anderl sich seines Schusses noch rühmte. Dann verstand er nichts mehr. Er wollte auch nichts mehr hören. Es grauste ihm.

In jener Nacht war der Förster erschossen worden – erschossen vom Anderl in Gegenwart des Mentner. Aber Flori hat sich gehütet, davon zu erzählen, und selbst der Loni kein Wort von seinem Geheimnis verraten. Er hat das Schweigen gelernt von seinen Steinen!

Doch jetzt, seitdem ihn der Gedanke quälte, die Loni könnte wohl gar den Anderl heiraten, da überkam es ihn in diesen Stunden einsamen Grübelns wie eine Mahnung, daß das Schweigen ein End’ haben müsse. Die Loni wenigstens mußte es erfahren – schon wegen dem armen Marei. Um den heimtückischen Lumpen, den Anderl, zu schonen, durfte er das gute herzige Geschöpf nicht elend werden lassen! Und dann der Willy, wie kam denn der dazu – der ihm, gerade wie sein ermordeter Vater, immer so freundlich gesinnt gewesen war.

Das war eine saubere Arbeit, die er heute machte! Die Oktobersonne überschüttete den Farrenbach mit flimmerndem Lichte, welches das weiße Gestein durstig aufsog und dann übersättigt zurückstrahlte. Die Blätter der Ahornbäume schwankten goldig leuchtend zu Boden, in den Kuppeln der Buchen glühte und brannte es. Eine wohlige Wärme herrschte. Flori nickte ein auf seiner Holzbank.

Da kollerte ein Stein; dieses Geräusch konnte ihn aus dem tiefsten Schlaf erwecken. Er blickte jäh auf und seine Augen trafen sogleich mit der Sicherheit, die das beständige Leben in der freien Natur giebt, den Ort, wo es entstanden.

Ein Weib stieg, sichtlich die Blöße des Unterholzes meidend, die gegenüberliegende steile Böschung des Farrenbaches herab. Jetzt stand sie mitten im Geröll und blickte nach ihm herüber, mit der Hand die Augen vor der Sonne schützend.

[127] Das feine Schutznetz seiner Brille ließ ihm die Gestalt verschwommeu und übergroß erscheinen. Loni, die Mentnerbäuerin! Es fuhr ihm durch alle Glieder.

Das aufgegangene Haar leuchtete wie Feuer im Sonnenlicht, die kräftige Gestalt erschien von neuer Jugend belebt, das Antlitz war noch immer von jener hellen durchsichtigen Weiße, die ihn einst an ihr entzückt hatte.

Sie suchte offenbar ihn – kein Weg führte hier durch, und sie wollte nicht gesehen werden; nur, um ihn zu treffen, kam sie durch das Gestrüpp geschlichen. Die Steine fingen an zu tanzen um ihn her. Was konnte sie denn wollen von ihm? Was denn? Er sprang auf und wollte ihr entgegen – da knackte sein steifes Bein, das er ganz vergessen; krumm, gebeugt wie die vom ausgetretenen Farrenbach zerknickten, zerzausten Weiden umher, stand er da, Loni zu empfangen.

„Geh’n wir eini in d’Hütt’n, i hab’ mit Dir z’red’n,“ sagte sie.

Da blickte er erst auf. Sie war außer Atem, etwas Scheues, Lauerndes lag in ihrem ganzen Wesen. Und da hatte er einen Augenblick geglaubt – „o mein, Flori, g’scheit wirst Du nimma,“ dachte er bei sich.

„Geh! Geh! Ma braucht uns net z’seh’n,“ drängte die Bäuerin.

„So ’was B’sonders hast mit mir z’red’n?“ fragte er mit erzwungener Ruhe, „na, nach’er komm’ nur.“

Er ging mit ihr in die Hütte.

Der Raum war eng, das Lager, die Werkzeuge, ein kleiner Herd und ein Tisch füllten ihn fast vollständig, und doch schloß Loni die Thüre.

Sie war dunkel gekleidet, trotz aller Einfachheit mit auffallender Sorgfalt. Erhitzt vom raschen Gehen, löste sie schwer atmend das seidene Fürtuch. Der Anblick ihres weißen Halses verwirrte ihn. Ihre blauen Augen glänzten noch ebenso wie damals in der Zeit seines Glückes. Die Wärme ihres Atems überrieselte ihn. Und als sie jetzt die volle Hand in die seine legte und ihn ansah, zuckte es in ihm auf. „Was sie jetzt von dir will, das muaß’t thun!“

„Flori!“ tönte ihre Stimme in sein Denken. „Gelt, Du hast’s net vergess’n, wie’s amal war zwisch’n uns zwei?“

„I vergessen? Das fragst mi? Hab’ ja nur immer g’lebt in Gedank’n daran! Glaubst, daß i vergess’n hätt’ können, was D’ mir zum Abschied gesagt hast im Garten?“

Sie entzog ihm rasch ihre Hand, jähe Röte stieg den Hals herauf über ihr Antlitz.

„Ja, das hab’ i mir aa denkt,“ sagte sie unsicher. „Wenn’s dann aa anders komma is, als wir uns damals ’dacht hab’n –“ sie sah auf den Boden und rollte mit dem Fuß ein Steinchen, das sich hierher verirrt, hin und her. „Guate Freund’ bleib’n ma do’, net wahr, Flori?“ Sie warf den Kopf auf und sah ihm scharf in das Gesicht.

Der Wechsel war zu rasch für ihn. Die plötzlich wieder in ihm aufgeflammte Hoffnung war so rasch nicht wieder auszulöschen, alle guten und weisen Vorsätze, die er hier in unzähligen einsamen Nächten, an unzähligen arbeitsvollen Tagen gefaßt, waren zerstoben in der Nähe dieses Weibes. Die alte Leidenschaft packte ihn und er dachte nicht mehr an den lahmen Fuß, an das früh ergraute Haar, an seine schwieligen Steinklopferhände, er sah sich wieder als den Flori von einst, den schmucksten Bursch im Thal, der sich vor keinem Nebenbuhler scheute. Und um solch einen handelte es sich jetzt, um den Anderl, um dessentwillen sie zu ihm kam, den sie liebte, den sie retten wollte!

Er staunte selbst über die Klarheit, die auf einmal über ihn kam.

„Und desweg’n kommt die Mentnerbäuerin zum Stoanerflori, um ’hn nach seina Freundschaft z’ frag’n?“

„Do’ um a bißl mehr,“ erwiderte die Bäuerin, „um glei’ an Freundschaftsdienst z’ verlang’a – den erst’n, Flori, nach langa Zeit!“

„Und der wär’, Bäu’rin?“

„Blnatweni’, g’rad – Du weißt ’s ja eh – weg’n den Anderl!“

Der Steinhauer lehnte sich über den Tisch. „Daß Di des gar so ’packt hat! Was kümmert Di denn der Anderl, daß d’ Di gar so aufregst weg’n eam?“

Loni wurde feuerrot.

„Er is a guater Knecht, der Mentner hat ihn selb’r hoch g’halt’n – und – und – wo i jetz’ ganz allei’ bi –! Um das alles handelt’ si’s aber gar net. I will net, daß die G’schicht mit ’m G’richt wieder angeht. Für was soll’s denn guat sei, sag’ selb’r, Flori!“

„No – so ganz ohne wär’s do’ net, wenn g’rad was d’ran wär’! Der Mentner, Dei Mann, läg’ nimma als Mörd’r auf ’m Kirchhof, s’ Marei, Dei Kind, kunnt mit ’m Willy glückli’ werd’n! Das wär’ scho was, meinat i.“

Loni wischte sich den Schweiß von der Stirne; die Luft ging ihr aus in dem engen Raume.

„Wenn was d’ran wär’! – Aber aufs Ung’wisse, auf a paar Wort’ von an Halbtot’n hin, an Mensch’n ins Zuchthaus bringa – das möcht’ i do’ um all’s net.“

„I aa net!“ entgegnete gelassen Flori, „und aufs Ung’wisse, auf a Wort hin, kommt er aa net ins Zuchthaus.“

„Also zu was nach’er red’n? Was wär’ ’em Mentner – was wär’ ’em Marei damit g’nützt?“ Loni wurde wieder zuversichtlicher.

„Ganz richtig! – Wenn man aber mehr wüßt’ als a paar Wort’? – – Siehst, wo die zwei Ficht’n steh’n, neben den letzt’n Stoahauf’n, da bin i g’stand’n, und g’rad da, wo Du in’ Bach einig’stieg’n bist, war der Mentner und der Anderl. Und g’wes’n is’ Nachts, um elf umanand, vorig’s Jahr, die Nacht nach dera, in welcher der Förster derschoss’n wor’n sei soll. – Da hab’ i’s g’hört mit meine eigne Ohr’n, wia der Anderl si b’rühmt hat, daß der Förster von seiner Kug’l g’fall’n is!“

Die Bäuerin sah ihn starr an, um ihre Mundwinkel zuckte es verdächtig. „Und wenn i ’s selb’r glaubet, daß der Anderl den Förster derschoss’n hat, wär’ das a Grund, ihn z’ verrat’n? Kunnt’s net so sich begeb’n hab’n, daß i ’hn net verrat’n darf? Wenn er – i sag’ nur – wenn er mit dem Schuß dem Mentner ’s Leb’n g’rett hätt’ – mei’m Mann! Wär’ er dann a Mörder für mi – den i anzeig’n muaß? Thätst Du ’hn dann ins Zuchthaus liefern? G’wiß net! Und kunnt’s net so g’wes’n sein?“

Flori horchte gespannt auf. „So hat er Dir’s d’rzählt?“

Die Bäuerin fuhr entsetzt auf. „Das hab’ i net g’sagt! Flori, um Gott’swill’n, das hab’ i net g’sagt – i hab’ nur g’meint, wenn’s so wär’!“ – Sie hob ihre zitternde Hand flehend auf.

Flori ergriff sie und sah sie voll Mitleid an. „Sei nur stad, Du hast’s ja net g’sagt.“

Da brach die Bäuerin in lautes Schluchzen aus und senkte verzweifelt ihr Haupt auf den Tisch.

Flori hob sie sorgsam auf. „Nur stad sei’, Loni!“

Sie legte den Arm vor das Antlitz, sich vor seinem teilnehmenden Blick zu schützen.

Lange schwieg er. Ihre roten Zöpfe waren aufgegangen und glitten leuchtend über den Tisch.

„Schau, Loni, jetzt gilt’s d’ Freundschaft! Wia i Di hab’ komma seh’n, hab’ i freili g’meint, ’s geltat was anders – fort damit! Schau, i weiß alles, Du hast ’hn gern, den Anderl –“

Eine mächtige Erschütterung ging durch den Körper Lonis.

„Du hast ’hn gern und weißt Dir net z’ helf’n! Aber es wär’ ja net Dei Glück – ’s wär’ Dei größt’s Unglück! A vergoss’ns Bluat schreit zum Himmel, da ändert kei’ Deutung d’ran und über kurz oder lang käm’s Verhängnis daherg’schoss’n wia der Farrenbach nach an G’witt’r und thät Euch verschwemma.“

Loni blickte wirr im Raume umher, während Flori fortfuhr:

„Und ’s Marei, Dei Kind, Dei einzig’s Kind, kannst das so hinsterb’n seh’n am gebroch’na Herz’n? Das thuat’s von Tag z’ Tag! Du hast’s ja so liab, Dei Kind, ’s war ja Dei einz’ger Trost die lange Zeit her.“

„Ja, das war’s!“ entgegnete Loni einigermaßen gefaßt durch den milden Zuspruch Floris – dann wurde sie wieder von der Verzweiflung gepackt. „Aber i will ja nix mehr wiss’n vom Anderl! Wegschick’n will i ’hn – all’s – all’s will i thun – aber anzeig’n, verrat’n kann i ’hn net, darf i ’hn net – um nix in der Welt, aa net um mei eigens Kind. I kann Dir’s net sag’n, warum.“

„Weiß schon warum! Weil er Dir selb’r all’s g’standen hat, in aner Stund’, die koa Verrat net kenna soll.“

Loni erwiderte nichts, ihr Haupt ruhte auf der Hand Floris, [128] über die ein heißer Thränenstrom sich ergoß. Der kräftige Körper zuckte auf in unnennbarem Weh.

Auch über Floris Gesicht ging ein Zucken.

„Loni, die Liab muaßt Dir aus’m Herz’n reiß’n, die muaßt zum Opfer bringa – Dei’m Kind, Dein’ arma Marei! Der Anderl aber, der soll si’ davo mach’n, kannst ihm ja Zeit lass’n a paar Woch’n, ins Amerika ’nei weg’n meina – nach’er liegt nix mehr d’ran, daß’ net auskommt! – Ja, so gang’s, Herrgott, so gang’s! All’n wär’ g’holf’n und dem Anderl schad’ts nimma! – Loni, so machst’ das, er selb’r muaß’s einseh’n, daß’ net anders geht!“

Loni hob ihr verstörtes Antlitz. „Nach Amerika? Uebers Meer? – Ja – ja, so gang’s und i – i – schnür’ mei Bünd’l und geh’, wia i komma bin.“

„Du bleibst bei Dei’m Kind, das Dir sei ganz’s Glück verdankt und Di auf Händ’n trag’n wird – und wenn dann a paar Enkerln komma, wird’s lebendi werd’n um Di, wia im Fruhjahr. Dann wirst einseh’n, daß’ aa no an and’re Liab giebt, die glückli macht, als die Du kennst, und wirst Di gar net mehr sehna danach –“

„Du red’st ja, als wenn Du das all’s schon erfahren hätt’st!“ erwiderte bitter Loni, „als wenn’s Vergess’n so leicht wär’!“

„I – wia kannst D’ denn von mir red’n, Loni! I hab’ ja nix wia mein’ Stoana, an di i all’weil hinred’! Ja, wenn i no an Wes’n hätt’, an dem i das G’wiss’ in mir auslassen könnt’ – i kann’s ja selb’r net nenna – dann – dann –“

Loni blickte ihn so sonderbar an – wie Erlösung aus schwerem Bann, wie Frohlocken glitt es über ihr Antlitz. „Flori! Liab’r guat’r Flori!“ rief sie und streckte die Arme nach ihm aus.

Der Steinhauer blickte überrascht, als traute er seinen Ohren nicht, auf sie. Aber er rührte sich nicht. Da sank Loni mutlos in sich zusammen.

Doch gleich danach raffte sie sich auf. „I muaß fort – hoam. – Und ja, Flori! I will’s so mach’n, wie Du g’sagt hast; unser Herrgott gieb’ mir d’ Kraft dazua. Aber red’n derfst net, bis’ Zeit is, des versprichst ma?“

Sie griff nach seiner Hand. Er reichte sie ihr. „Des versprech’ i Dir, Loni!“

Sie floh förmlich aus der Hütte, über den Arbeitsplatz und den Farrenbach, ohne sich umzusehen.

Flori sah ihr kopfschüttelnd nach. „Wenn ’s nur d’ Kraft dazua hat – und wenn sie’s net hat – dann – dann muaß i ihr helf’n, geht’s wia’s mag. Und wann i selb’r drüber z’Grund geha sollt’ – an mir liegt ja net viel – wann nur sie und das arm’ Hascherl, das Marei, wieda froh und glückli wird!“

Der Abend sank über den Grund, eine feuchte Kühle wehte aus der Schlucht des Farrenbaches. Flori ging wieder an die Arbeit, bald schlug er wie im Zorn auf die Steine, daß die Stücke wirr umherflogen, bald ließ er den Hammer minutenlang ruhen und blickte mit seligem Lächeln vor sich hin, in Erinnerung oder Ahnung versunken.




5.

Der Mentner hatte kein Testament hinterlassen, der lebenstrotzende Mann dachte nicht ans Sterben. So war das Marei die alleinige Erbin des Hofes, Loni war auf den Pflichtteil angewiesen, auf den „Austrag“, Wohnung und Verköstigung; das Uebrige stand im Belieben der Tochter und, so lange diese minderjährig war, im Ermessen des vom Gericht aufgestellten Vormunds.

Das war ein neuer Umstand, welcher Lonis Verhältnis zur Tochter trübte. Das Opfer, welches sie einst gebracht, als sie den ungeliebten Mentner zum Manne nahm, war ein vergebliches. Sie war in der Blüte ihrer Kraft eine Austräglerin! Das war fast noch schlimmer als eine hablose Dirn’. Doch in dem qualvollen Zwiespalt ihrer Seele, der sie vollauf in Anspruch nahm, fügte sie sich leidlich gut in das Unvermeidliche. Anderseits that Marei, in ihrer Herzensgüte das Unrecht fühlend, welches die Mutter erlitt, alles Erdenkliche, um ihr über das Peinliche des neuen Zustands hinwegzuhelfen. Für sie war und blieb Loni die Mutter, die Herrin des Hofes. Sie konnte sich gar nicht denken, daß es anders werden sollte.

Die schlimme Lage der Mutter, der Schmerz darüber, den sie ihr an den Augen abzusehen glaubte, weckte von neuem ihre kindliche Liebe. Sie brachte es jetzt nicht übers Herz, den Kampf zu beginnen, den sie in jener Nacht auf sich genommen. Er kam ihr ja ohnehin so sündhaft vor; nur die große Liebe zu ihrem Willy hatte sie damals so aufgebracht. Und auf Loni wirkte dieses Verhalten der Tochter wohlthuend, es erinnerte sie täglich von neuem an ihre heilige Mutterpflicht einem solchen Kind gegenüber.

Sie hoffte im stillen, Anderl werde, wenn er Kenntnis erhalte von ihrer Besitzlosigkeit, von seiner Liebe abstehen. Am Ende reizte ihn doch auch der Gedanke, Bauer zu werden, Besitzer des Mentnerhofes. Das heißt – sie hoffte es und fürchtete es zugleich.

Aber ihr Hoffen und Fürchten war überflüssig. Er lachte ihr ins Gesicht, als sie davon zu sprechen anfing. „Glaubst, i mach’s so wia Du mit’n Mentner? Da kennst mi’ schlecht, Loni. I bin net wia die andern, in an’ Punkt net. I hab’ in mei’m Leb’n vordem mi no um kei Weibsleut kümmert, bis mi’s anpackt hat, die Liab zu Dir. Und wia hat’s mi anpackt, Loni – i kann Di nimma lass’n, und wenn i betteln müaßt für Di! Wennst mi’ net willst, sag’s nur, schick mi weita; sie woll’n mi aa so schon lang weg hab’n vom Hof. Was i nach’a thua, das weiß i net – und Du? Die Austraglerin spiel’n auf’n Mentnerhof – so a Weib wia Du!!“

Da wurden alle ihre guten Vorsätze zu Schanden, die sie bei Flori gefaßt. Einmal schon hatte sie uneigennützige treue Liebe verschmäht, um Wohlstand zu gewinnen, bitter hatte es sich gerächt; sollte sie es noch einmal thun? Sie sah in der Zukunft sich schaudernd als die alte gebeugte Austraglerin des Mentnerhofes. Das kommt rasch, wenn man einmal mit allem gebrochen hat. Der Vorschlag, den ihr Flori gemacht, die Flucht Anderls und die nachfolgende Anzeige seiner Schuld, erschien ihr in diesem Augenblick eine Ungeheuerlichkeit. Sie brachte ihn nicht über die Lippen. Die Unterredung endete mit einer Festigung anstatt der Lösung der unseligen Fesseln, die sie umstrickt hielten. – – –

Monate waren vergangen, Hagenberg lag im Schnee vergraben, auch sein Schandfleck, der Mentnerhof, blitzte jetzt in tadelloser Weiße.

Man war auf die Hausarbeit angewiesen und rückte unwillkürlich enger aneinander.

Der Mentner war gerade zu dieser Zeit ein störendes Element im Hause gewesen. Seine robuste Persönlichkeit füllte beängstigend die engen niederen Räume. Die Langeweile machte ihn launisch, er suchte sie durch Schelten zu vertreiben.

Jetzt war das anders! Eine lautlose feierliche Stille herrschte den ganzen Tag über, und wenn man auch in derselben sein eigenes unruhiges Herz um so deutlicher pochen hörte, so machte sich doch bei Mutter und Tochter das Bedürfnis innigen Anschlusses geltend. Der Försterwilly war längst nicht mehr in Hagenberg; er war um Versetzung eingekommen, und man hatte seinem Wunsch Rechnung getragen. Doch jede Woche kam ein Brief an Marei. Die treue Liebe, das unerschütterliche Hoffen, welches aus jeder Zeile sprach, beglückten das Mädchen. Aber die Briefe enthielten auch noch anderes: eine stete Aufforderung, die Augen offen zu halten, die Mutter und Anderl zu beobachten, dem Schuldigen nachzuspüren. Sie selbst war daran schuld mit ihrem doppelten Verdachte, welchen sie dem Geliebten gegenüber ausgesprochen, und das Schlimmste dabei war, daß derselbe von Tag zu Tag unsicherer wurde, sowohl in Bezug auf die Stellung des Anderl zu ihrer Mutter, als auf seine Schuld am Tode von Willys Vater.

So sehr sie auch – und sie that es mit heftigem Widerwillen – die Augen offen hielt, sie konnte nicht das geringste Verdächtige bemerken, keinen unrechten Blick, kein Wort. Anderl blieb immer der Gleiche, der schweigsame unterwürfige Knecht – keine Spur von einer Annäherung.

Einmal sich bewußt eines falschen Verdachtes, wurde sie gegen sich selbst mißtrauisch und glaubte auch nicht mehr recht an den weiteren noch schwerer wiegenden gegen den Anderl. Und es war ihr, als müsse sie ihr Unrecht gutmachen, obwohl ihr das Herz dabei blutete, obwohl sie ihre letzte Hoffnung damit schwinden sah.

Dieser innere Widerstreit zehrte an ihrer Jugendkraft. Der rosige Schmelz ihrer Wangen wich, der liederfrohe Mund verstummte, die Falte der Resignation erschien in seinen früher von heiterem Lächeln belebten Winkeln. Der strahlende Glanz der Augen war dem Ausdruck des Kummers gewichen, der Sehnsucht nach einem verlorenen Glück.

[130] Der Mutter konnte diese Veränderung nicht entgehen und sie gab die Schuld dafür dem Willy.

Das war ihr auch eine rechte Liebe, die der Tochter die Schuld des toten Vaters entgelten ließ. Sie begriff diese Anschauung nicht, nach ihrem eigenen leidenschaftlichen Herzen urteileud. Sie hätte sich ja selbst verdammen müssen, wenn sie die Berechtigung derselben zugegeben hätte, und je mehr sie dagegen eiferte, desto mehr beruhigte sich ihr eigenes Gewissen.

Sie hielt mit ihrem scharfen Urteil auch Marei gegenüber nicht zurück. Bei jeder Gelegenheit brachte sie die Sprache darauf und ihre lebhafte Erregung, die leidenschaftlichen Worte, die sie fand, steckten auch Marei an. Auch in ihr erhob sich der Zweifel, ob nicht am Ende die Mutter recht habe, ob es nicht eine Schwäche in Willys Empfinden für sie sei, daß er seinen Bedenken nachgab. Wer konnte denn fest behaupten, daß wirklich der Mentner seinen Vater ermordet habe? Hat das Gericht ihn nicht freigelassen? Also nur dem Gerede der Leute zuliebe verzichtete er auf sie?

Von dieser Seite hatte sie ihr Schicksal noch gar nicht betrachtet. Loni hatte geglaubt, ihr durch den Tadel Willys den drohenden Verlust des Geliebten erträglicher zu machen, aber sie erreichte das Gegenteil. Ein neuer Gram nagte an dem Herzen ihres Kindes, sein Zustand verschlimmerte sich von Woche zu Woche.

Jeden Sonntag Vormittag nach dem Gottesdienst kam einer ins Haus, dessen Besuch Loni und Anderl sehr peinlich war – der Stoanerflori, der während des Winters im Dorf wohnte. Für erstere war er ein ständiger Mahner – „Hast Di no net entschloss’n, an End’ z’ mach’n? Kannst Dei Kind so dahinwelk’n seh’n?“ Für den Anderl eine ständige Anklage: „Du bist der Mörder, i kenn’ Di wohl!“ Noch hatte Loni Anderl nicht mitgeteilt, daß Floris Verdacht sich nicht allein auf das letzte Wort des sterbenden Mentners an ihn gründete, aber ihm genügte das Zusammentreffen mit dem verhaßten Menschen im Stall am Sterbetag.

Der Flori war überzeugt von seiner Schuld – das fühlte der Anderl. Außerdem fürchtete er in ihm seinen Nebenbuhler. Die Eifersucht war ihm noch ein schärferer Stachel des Hasses als die Furcht. Wie er auf den Förster losgedrückt hat, wie er ihn hat stürzen sehen, da ist’s ihm wohl eiskalt über den Rücken hinuntergelaufen, er hätte viel darum gegeben, wenn er wieder aufgestanden wäre, den Flori aber – den könnte er ruhig zusammenbrechen sehen! Gar oft kam ihm der Gedanke, wenn er ihn eintreten sah.

Der Steinhauer wußte sehr wohl, daß er kein gern gesehener Gast war, aber das machte ihm nichts aus, er hielt es für seine Pflicht, ohne einen andern Nebengedanken, Loni vor einem unheilvollen Schritte zu bewahren und das arme Marei zu retten, deren Leid ihm in die Seele schnitt. Jeden Sonntag hoffte er, den Anderl nicht mehr zu sehen, jeden Sonntag schied er mit einem fragenden mahnenden Blick auf Loni. Vergebens! Der Anderl blieb.

Der Föhn stürzte schon herein über die schneebefreiten Schneiden; es rauschte und brauste in den Schluchten von geschäftigen Wassern – auch der Farrenbach war erwacht aus seinem Winterschlaf und wälzte sich mit neuer Jugendkraft aus der Schlucht zu Thal.

Floris Winterrast war zu Ende. Das ferne Rauschen, das bis in das Dorf drang, ließ ihm keine Ruhe mehr, der alte Freund rief. Es war der letzte Sonntag, den er im Dorf zubrachte, abends wollte er wieder seine Hütte beziehen, um Montag in aller Frühe seinen Dienst wieder anzutreten.

Das hatte er nicht gedacht, daß dieser Tag anbrechen werde, ohne daß die Mentnerin ihr Versprechen erfüllt haben würde. Heute wollte er noch einmal mit der Bäuerin ernstlich reden. War er erst wieder aus dem Dorfe, fehlte der ständige Mahner – dann war es ganz aus, dann war am Ende im Frühjahr Hochzeit!

Mareis Mut und Hoffnung waren gebrochen, sie fügte sich willenlos dem Verhängnis. Nur die Furcht vor Flori hielt die Bäuerin von dem letzten Schritt ab. Dieser sah schärfer als das unschuldige Marei. Er sah mit Augen der Eifersucht, wenn er es sich auch nicht eingestand.

Mit einem festen Entschluß betrat er das Mentnerhaus. Marei war allein in der Stube. In dem altväterischen Lehnstuhle sitzend, das Haupt tief auf die Brust herabgebeugt, hätte sie einer alten Frau geglichen, wenn nicht der Märzsonnenstrahl in den hellblonden Löckchen über der weißen Stirn sein Spiel getrieben.

Sie hörte den Flori nicht eintreten. In ihren schmalen Händen hielt sie einen Brief.

Leise trat Flori näher. Ueber ihr regungsloses Antlitz glitten Thränen und fielen mit einem harten Tone auf das Papier. So weit war es gekommen – dieses sieche leidvolle Wesen war das frische frohe Mentnermarei von einst.

Ein grimmiger Zorn stieg in Flori auf – „und das all’s um den Mensch’n? Dös darf net sein, an End’ haben mua’s! – Marei!“

Das Mädchen fuhr erschreckt auf und verbarg den Brief unter der Schürze. „Du bist’s, Flori!“ sagte sie dann, von seiner Gegenwart sichtlich angenehm berührt. Sie streckte ihm ihre Hand entgegen.

„Komm’ i zur Unzeit, so sag’s ungeniert,“ meinte Flori.

Marei hielt ihn fest. „G’wiß net! Schau, wenn Du einagehst, nach’er is mir imma, als käm’ a guate Botschaft, a Hilf – i weiß selbst net warum.“

„A bess’re Botschaft könnt’ i leicht bringa, als die wohl is.“ Er deutete auf den Brief in ihren Händen. „Vom Willy?“

Marei nickte traurig. „Daß’s aus is.“

„Aus is! –- War’ ja net übl! Untreu der Willy? Nach’er glaubt’ i an nix mehr.“

„Net untreu, – aber er giebt mir d’ Treu z’ruck. I soll mi net opfern für ihn – net mei’ Jugend vertrauern! ’s gäb no’ brave Männer g’nua, die sich net z’stoß’n brauch’n an mein Vatern – g’rad er sei verdammt dazua. Da, les selb’r mei Urteil!“

Sie reichte ihm den Brief und setzte sich wieder erschöpft in den Lehnsessel.

Flora las – der Brief knitterte in seinen harten Fingern. Eine heftige Erregung malte sich in seinen Zügen – oft lachte er seltsam auf und schüttelte den Kopf. – „Er ist es halt doch g’wes’n, Dein Vater? Er hat sich selbst ja anklagt in sei’m Irrereden auf dem Totenlager? ‚Einen Unschuldigen in Verdacht bringen, weil es uns so passen thät, kann auch keinen Segen bringen,‘“ las er laut.

„Unschuldig?“ Er lachte höhnisch auf. „Weiß er denn das so g’wiß, der Herr Willy?“

Er zerknüllte zornig den Brief und schleuderte ihn zu Boden.

Marei war jäh aufgefahren. Sie strich sich, wie aus schwerem Traum erwachend, das Haar aus den Schläfen und blickte starr auf den Steinhauer. „Flori, Du weißt, wer’s than hat!“

Da lag sie auch schon auf den Knien und hob flehend die Hände zu ihm empor. „Flori, bei allen Heiligen beschwör’ i Di, es gilt mein Leb’n, schau mi an, i kann’s net mach’n ohn’ ihn – red’! Is’ der Anderl? – Der Anderl is’ – i weiß! Unser Herrgott selb’r hat’s mir zeigt und i hab’ no zweifeln könna! Der Vat’r hat Dir’s g’stand’n, eh’ i komma bin, unter der Buch’n, i und d’ Muatt’r. Er hat Dir verbot’n z’red’n, den Knecht z’ verrat’n und die Bitt’ eines Sterbenden is heili. Das glaub’ i, das weiß i – aber a jung’s Leb’n, zwei junge Leb’n san aa heili. Das hat der Vater net so bedacht, er hat mi ja so liab g’habt, er könnt’ mi net so leid’n seh’n. Flori, hab’ Erbarma mit mir – red’!“

Marei war außer sich, sie hielt den zitternden Mann mit übernatürlicher Kraft umfaßt, ihr Atem flog, aus ihren Augen flammte jetzt unbändige Leidenschaft, das Erbe der Mutter.

Flori war fassungslos, er fühlte, sein Widerstand war diesem Anprall nicht gewachsen und doch hatte er Loni geschworen, zu schweigen. Er mußte sie wenigsteus vorher noch einmal sprechen, sie auffordern zur entscheidenden That, dazu war er ja heute gekommen. So sträubte er sich mit aller Kraft gegen das Ansinnen des Mädchens.

„Laß mi, Marei – er hat nix g’sagt, Dein Vat’r, als den Nam’ und hat ma nix verbot’n, bei unserm Herrgott schwör’ i’s.“

„So schwör’ aa, daß Du sonst nix davon weißt. – Siehst, dös kannst net.“

Flori suchte gewaltsam ihre Umschlingung zu lösen, zu fliehen. Loni konnte jeden Augenblick eintreten, oder gar der Anderl – vergebens!

Er fühlte: wenn er dem Marei jetzt nachgiebt, wird ihn die Loni hassen, verachten; noch einmal dämmerte die alte Hoffnung in ihm auf. – „I kann net – i darf net!“ Er sprach es mehr zu sich selbst in seiner Ratlosigkeit.

„Darfst net!“ Marei griff das verhängnisvolle Wort auf. „Wer verbiet’s Dir? Wer auf der Welt kann’s Dir verbiet’n?“

In diesem Augenblick trat Loni zur Thür herein. Sie blieb [131] regungslos stehen, mit einem drohenden Blick auf den entsetzten, sprachlosen Flori.

Marei bemerkte sie nicht in ihrer Erregung.

„Wer kann Dir’s verbiet’n, an Tot’n sei’ Ehr wieder z’geben, den verflucht’n Mörder z’ nenna?“

„Der Tote selb’r!“

Loni sprach diese Worte. Marei schrie laut auf und blickte auf ihre Mutter, wie auf eine Erscheinung aus einer anderen Welt. Lonis Antlitz war wie aus Stein gemeißelt, so bewegungslos.

„Muatt’r! Der Tote? – Der Vat’r?“

„Ja, der Vat’r, dem’s sein Will’ net sein kann, daß a Mensch, der ihm ’s Leb’n g’rett’ hat, drum leid’n soll wia a Mörd’r.“

„Dem Vat’r – ’s Leb’n g’rett’ – der Anderl?“ rief stammelnd das Mädchen und ein Freudenschimmer flog über ihre erstaunten Züge.

„Der Anderl – ja. Nun sollst’s wiss’n, weil der da,“ sie nickte verächtlich mit dem Kopfe gegen Flori, „do kei Ruah giebt. Der Anderl, der den Kirchberger in dem Augenblick d’rschoss’n hat, wo er Dein’ Vatern hat d’rschiaß’n woll’n! Jetzt zeig’ ’hn an, wennst’ kannst.“

Marei mußte sich setzen, ein Schwindel befiel sie – so nahe ihrem Ziele, erhob sich ein neues unüberwindliches Hindernis. Der Gedanke, daß, wenn Anderl nicht geschossen hätte, ihr Vater von der Hand des Försters, also durch den Vater ihres Geliebten, gefallen wäre, zeigte ihr die Situation in einem neuen, fürchterlichen Lichte! Ihr Haupt neigte sich auf die Seite, Totenblässe überzog das Antlitz, die Hände sanken kraftlos an den Seiten herab.

Flori sprang hinzu und stützte die Ohnmächtige. „Jetzt aba is’ die höchst’ Zeit, Loni,“ flüsterte er dabei heftig, „sonst wird’s z’ spät – und das wär’ a Mord!“

Die Bäuerin ging auf das Mädchen zu und stieß Flori mit einer heftigen Bewegung zurück, als wollte sie ihm das Recht verwehren, ihrem Kinde zu helfen.

„Was mischst’ Di denn eigentli all’weil d’rein? I weiß selb’r, was i z’ thuan hab’ und was i mei’m Kind schuldi bin. – Marei!“ rief sie dann in einem Tone, aus welchem das erwachte Muttergefühl klang.

Das Mädchen hob, wie aus einem tiefen Schlaf erwachend, das Haupt, blickte mit einem innigen Ausdruck auf die Mutter, drückte flehend ihre Hand und brach in lautes Schluchzen aus.

Loni strich zärtlich ihr über das Haar, ihr Antlitz hatte jetzt einen milden Ausdruck. „Auf mi verlaß’ Di, auf mi allei – Du brauchst kein ander’n Mensch’n!“

Dabei warf sie Flori einen feindseligen Blick zu. „Nur eins versprich mir, Marei, daß D’ von dem, was D’ jetzt g’hört hast, schweig’n willst wia’s Grab, bis i Dir sag’, daß D’ red’n darfst. Net lang’ soll’s dau’rn.“

„O wia guat des is, Dei Red’n, Dei Hand – Dei Liab!“ Marei streichelte die mütterliche Rechte und schloß selig lächelnd die Augen. „I versprech’s, kei Wort soll – – I hab’s g’rad im Traum g’seh’n, wia’s do’ no’ kommt – mi und d’n Willy in an Gart’n – und so schön war’s – so schön!“ Sie blickte verklärt.

Loni führte die Tochter langsam mit sorgsamer Hand in die Schlafstube. Ruhe war jetzt das Nötigste.

Flori blickte den beiden mit verbissenem Schmerz nach. „Loni!“ rief er noch einmal, als sie unter die Thür traten.

Die Bäuerin wandte sich nicht; er floh aus dem Hause.

Er hatte sein Wort gebrochen, ihr die Freiheit des Handelns geraubt, in der sie vielleicht den Lohn erhofft hatte für das qualvolle Opfer, das sie bringen mußte. Das wird sie ihm nie vergeben, sie wird ihn hassen von nun an. – „Und do’ is’ a Glück, daß’ so komma is, sie hätt’ sonst die Kraft nimm’r g’fund’n,“ das war sein Trost.

[142] Loni hatte Marei zu Bett gebracht, die Erregung der letzten Stunde hatte des Mädchens gebrochene Kraft völlig erschöpft; sie schlummerte rasch ein.

Die Mutter blickte lange auf das in Fieberhitze glühende Antlitz. Sie dachte an den Garten, von dem Marei erzählt, daß sie ihn in ihrer Ohnmacht gesehen. Aber andere Bilder schoben sich davor, die mit diesem Frieden nichts zu thun hatten.

Das Rasseln eines Einspänners weckte sie aus ihren Träumen. Sie kannte dies Geräusch gar wohl. Anderl kehrte heim von einem Viehhandel. Jetzt galt’s – jetzt oder nie!

Sie sog noch einmal Kraft aus dem Antlitz ihres schlummernden Kindes. – Es mußte sein!

Anderl kam ihr entgegen in vollem Sonntagsstaat. Ein kleiner Jägerhut mit stattlichem Gamsbart saß ihm im Nacken und ließ die stark geformte weiße Stirn frei, in welche dickes schwarzes Gelock sich drängte. Die graue Joppe mit grellrotem Futter kleidete eng und knapp die kräftige Gestalt. Männliche Frische lag über der ganzen Erscheinung. Nicht die Spur einer drückenden Schuld war in seinen Zügen zu lesen, in den unternehmend blitzenden Augen. Er pfiff ein lustiges Lied, es war ihm offenbar recht fröhlich zu Mut.

Loni verdroß jetzt dieser Gleichmut. Warum sorgte er sich nicht mehr, war er denn seiner Sache so sicher? „I hab’ mit Dir z’ red’n, Anderl,“ sagte sie in herrischem Tone.

Dem Knecht fiel dies nicht auf, Loni war vorsichtig und Späher immer in der Nähe.

„Endlich!“ durchzuckte es ihn. „Laß mi nur den Braun’ z’ erst unterbring’n, dann bin i schon da, Loni,“ sagte er mit einem zärtlichen Blick, der unerwidert blieb.

[143] Loni folgte ihm in den Stall und schloß die Thüre hinter sich zu.

Der Knecht schirrte den Braunen aus. Loni entging nicht seine unruhige Hast, die Unsicherheit seiner Hand bei dem Losschnallen des Riemenzeuges. Der starke Mann zitterte in der freudigen Erwartung dessen, was sie ihm nach seiner Meinung zu sagen kam.

Dieser Anblick machte sie noch einmal unschlüssig; sie schwankte und erwog ein letztes Mal.

„Was hat denn der Flori schon wieder woll’n?“ fragte jetzt Anderl, „g’rad heiß steigt’s mir auf, wenn i den schleichat’n Tropf seh’.“

Nun hatte sie den Angriffspunkt, das war schon eine Erleichterung.

„Weg’n dem bin i da.“

Anderl verschüttete den ganzen Haber, so überraschten ihn die Worte.

„Er is Dein Freund net,“ fuhr Loni fort.

Der Knecht zuckte verächtlich die Achseln. „Was kümmert mi der Krüppel!“

„Viel! Mi und Di! Mehr wie die ganze Welt! Er weiß all’s!“ stieß sie, sich scheu umblickend, hervor.

„Meint er?“ erwiderte gelassen Anderl. „Nix weiß er, als daß der Mentner mein’ Nam’ g’nannt hat vor sei’m Tod. Das is weiter was! Müaßt g’rad Du –“

Er sah sie scharf an.

Sie antwortete nicht unmittelbar darauf. „Er hat Di g’seh’n, Di und den Mentner, in der Nacht wia ihr z’ruck komma seid’s über’n Farrenbach. Er hat Euch red’n hör’n –“

„Was hat er red’n hör’n?“

„Net viel, aber g’nua, daß’s langt.“

Anderl lehnte sich an den Barren und ballte die Faust. „Sakra-!“. Er suchte mit rollenden Augen einen Ausweg und griff mit gespreizten Fingern in die Luft –

„Und das hat er Dir heut’ all’s g’sagt?“

„Nein, scho lang! Im Herbst scho,“ entgegnete Loni.

„Im Herbst scho, und mir hast nix davo g’sagt? Warum denn nach’er jetzt?“

„Weil er’s bis jetzt nur mir g’sagt hat.“

„Und jetzt? Wem no?“ Anderl wechselte die Farbe, seine ganze Zuversicht verließ ihn.

„Dem Marei!“

„Und warum jetzt erst dem Marei?“

Loni zögerte. „Weil – weil i net than hab’, was er woll’n hat.“

„Was er woll’n hat! So a –“ Er biß die Zähne übereinander. „Mi ins Zuchthaus bringa?“

„Das net, nur fort aus’n Mentnerhof, dann hätt’ er g’schwieg’n wia’s Grab, mir z’liab.“

„Dir z’liab! und dann käm’ er selb’r in’ Mentnerhof, aa Dir z’liab!“ Glühender Haß loderte in Anderl auf – Mordgedanken! – Loni fühlte es entsetzt.

„Um Gotteswill’n glaub’ das net, er denkt net dran! Der Marei weg’n will er’s.“

Will er’s!“ Anderl sprach es voll wütenden Hohnes. „Das macht mi verruckt, das Wort!“

„Und do nutzt all’s nix, er hat Di in der Hand.“

„Nimmer lang, mein’ i alleweil!“

„Anderl!“ Loni erhob ihre Stimme beschwörend. „Kein’ solch’n Gedank’n! Aa wenn der Flori nix wüßt’, müaßt’ fort! Weil i mein Kind net sterb’n lass’n kann, und ’s stirbt, wenn’s den Willy net kriegt.“

„Und ’s kriagt den Willy net, wenn’st mi net verratst – ah, so is! - Net verratst, was i Dir selb’r g’stand’n hab in oaner Stund’, von der ma meina sollt – – aber freili, Dei Kind –! Schau, Loni, hast g’meint, daß Du aus an andern Holz bist wia die andern? Daß Dei’ Liab a ganz besondre is, die nix scheut?“ Er lachte auf. „Aber was redst deuu vom Fortschicka aus ’em Mentnerhof? Des nutzet ja nix – da habt’s no immer net den Mörd’r vom Kirchberger! – ’nei mit ihm ins Loch! – Guat, da bin i – i wehr’ mi net! –“

Er trat heftig aus dem Stand. „No auf was wartst denn no? Nimm mi mit zum Bürgermeister!“

„I Di ausliefern? Als ob i das wollt – i oder der Flori!“

„Was willst denn nachher, Du und der Flori?“

Der Anderl hielt sichtlich mühsam zurück, seine Brust hob sich zitternd, jeder Zug des Antlitzes zeigte höchste Erregung.

„Daß Du fort gehst – weit fort –! I geb’ Dir Geld, was D’ willst! Uebers Meer, ins Amerika ’nein! Wennst dann in Sicherheit bist, sollst schreib’n, all’s schreiben, wia’s war – nachher –“ Loni versagte die Stimme.

„Nachher hast a Ruah vor mir, Du und der Flori! So is g’meint, net wahr? Der Flori! Wer’s glaub’n kann? I geh’ aber net – naa! I will Dir z’m mindest Dei falsch Spiel verleid’n. Ewi dauert Zuchthaus net, und nachher sollst erst recht kan Ruah hab’n vor mir, Du net und er. Das geht ja nachher in ein’m.“

Loni ließ ihn austoben, seine wilde Eifersucht that ihr jetzt wohl. „So redst Du mit mir? Der Flori macht Dir Angst? Was i als Muatter leid’, das kümmert Di nix! Daß i mir den Kopf zermart’r all’ die Zeit her, um an Ausweg z’find’n, das kannst net glaub’n?“

„Naa, das kann i net glaub’n, einfach desweg’n, weil der Ausweg so leicht war, wenn’s nur ’s Marei angang.“

„Leicht? An Ausweg? – Anderl, wia meinst das?“

„Warum willst Du net mit nach Amerika?“

„Jessas!“ Loni schrie laut auf. „Ja freili – ja warum bin i denn net darauf – aber – der Verdacht – wenn i auf amal verschwind’, und wir hab’n ja nix – und do – nach Amerika – mit Dir!“

„Kannst ja nachkomma! – Geld! Zum ’nüberkomma langt’s ja und nachher wär’ mir net bang mit meine zwoa Arm’! Hab’ schon lang so ’was im Sinn! Aber was bedeut’s, Du magst ja net! Du kannst Di ja net trenna von Dein’ Kind – von Dein’ Flori!“ Er lachte höhnisch. „Vom – Austrag!“

Lonis überreizter Sinn gaukelte ihr verführerische Bilder vor, gegen welche die Heimat, die Zukunft im Mentnerhof furchtbar erschienen.

„I komm’ bis ans End’ der Welt, wenn’s Dei Will’ is. Du schreibst von drüben an Brief ans G’richt – i hab’ den Förster d’erschoss’n, so und so, der Mentner is unschuldi. – Wia i das hör’, komm’ i zu Dir ins neue Land, zu an neu’n Leb’n! Versteh’ mi do’ aa auf d’ Arbeit, und die is ja ’was wert drüb’n, wia’s sag’n. Anderl, jetzt seh’ i erst, wia liab i Di hab’! Jetzt könnt’ i’s gar net denk’n, was i g’rad g’sagt hab’! Und heut’ no gehst, daß ma kein Tag verliern!“ Sie hatte in leidenschaftlicher Aufregung gesprochen und schlug jetzt wie beschämt die Augen nieder.

Anderl ergriff ihre Hand. „Also abg’macht! Heut’ no geh’ i aus’n Dienst, und von Amerika schick’ i d’ Anzeig’! s’ Weiter wirst schon inna wer’n, und wennst mi sitz’n laßt, nachher hol’ i Di! Mir g’hörst, Loni, und i laß Di nimmer!“

Anderl verließ noch an demselben Tage den Hof ohne Abschied von Marei. Er haßte die Dirn’, welche der Hemmschuh seines Glückes war, die künftige Bäuerin auf dem Mentnerhof, die Braut des Förstersohnes, seines natürlichen Todfeindes.

Loni brachte ihrer Tochter die Nachricht von der Entlassung des Knechtes und seinem Versprechen, von drüben seine Selbstanzeige zu senden. Ahnte Marei in diesem Augenblick das Opfer, das die Mutter ihr gebracht, oder war es nur der selige Einblick in ihr wiedergewonnenes Paradies, aus dem sie sich schon für immer verstoßen gewähnt, was ihrer überquellenden Dankbarkeit Worte lieh? Die Freude war so groß, so stürmisch, eine so mächtige Flamme dankbarer Kindesliebe umlohte Loni, daß diese plötzlich mit jähem Schauder an den Tag dachte, der sie von dem Kind reißen werde und forttreiben – – übers Meer – geächtet – flüchtig – unbestimmter Zukunft entgegen! Doch – der Anderl!




6.

Eine Woche war vergangen, seit der Knecht den Hof verlassen. Marei zählte die Tage, bis seine Selbstanzeige aus Amerika eintreffen könne – in drei Wochen glaubte sie dieselbe erwarten zu dürfen. Sie lebte sichtlich von neuem auf und ihre Briefe an Willy spiegelten das Glück wieder, welches das Vorgefühl der Erlösung ihr gab. Nur der eine Gedanke beunruhigte sie noch, Anderl könne sich, einmal in Sicherheit, anders besinnen und nichts mehr von sich hören lassen, doch die Mutter tröstete sie darüber mit einer [146] Zuversicht, aus der Marei im stillen entnahm, welches Opfer ihr diese mit der Trennung von Anderl gebracht haben müsse. Der Mutter zuliebe, sagte sie sich, wird er sein Versprechen erfüllen. Sie that alles, was in ihren Kräften stand, ihr diese Großmut zu lohnen; selber von Liebe bewegt, verstand sie die Größe des Opfers, so unsympathisch ihr die Neigung der Mutter auch immer gewesen war.

Auch Loni zählte die Tage! Der Marienkalender enthielt die ausführliche Schilderung einer Seereise von Hamburg nach New York. Mutter und Tochter überraschten sich wiederholt beim Lesen derselben.

Aber was Loni bewegte, waren keine Sehnsuchtsgedanken. Sie fühlte sich von einem unheimlichen Zwang befreit, seitdem der Knecht den Hof verlassen. Anfangs fand sie diese Stimmung ganz natürlich; sie entsprach dem Bewußtsein erfüllter Mutterpflicht; sie wollte zunächst ja nur für das Glück ihres Kindes sorgen. Allmählich fiel es ihr aber doch auf, daß die Sehnsucht nach dem erträumten Glück im neuen Lande sich nicht stärker einstellte, daß im Gegenteil Angst vor der Trennung von Marei, vor dem Losreißen von der Heimat ihr Herz bewegte. – Das war der Mentnerhof doch, trotz allem Leid, das sie darin erfahren! Und wie verstand es Marei, ihr auszumalen, wie sie an dem rosigen Glück ihrer Zukunft beteiligt sein werde; für das übliche Los einer Austräglerin war in dem Bilde kein Platz. Es überkam sie der Zweifel, ob ihre Liebe zu dem flüchtigen Manne die rechte sei. Wahre Liebe muß doch auch in der Ferne wirken – erst recht! Und dann regte sich in ihr der Gedanke: vielleicht bereut auch er schon die Abrede; sie würde ihm ja doch nur dort drüben zur Last sein, wo es galt, vor allem für die eigne Unterkunft zu sorgen. Aber den Brief mit der Selbstanzeige, den wird er schreiben; an dieser Ueberzeugung hielt sie bei all diesen Zweifeln fest.

Der Flori mied jetzt ihr Haus; er fürchtete wohl ihren Haß seit jener Scene mit Marei. Doch da ging er fehl; Loni war ihm längst nicht mehr gram darüber, daß er so zäh sie an ihr Versprechen gemahnt.

Es fehlten immer noch zwei Wochen an der Frist, bis zu welcher der Brief von Anderl aus Amerika eintreffen konnte.

Es war ein wonniger Frühjahrstag: alles eitel Lust und Fröhlichkeit in den blütenschweren Zweigen, auf den blumigen frischen Wiesen, auf dem Hausdach. Marei machte sich im Stalle zu schaffen. Mit den neuen Kräften war auch die Arbeitslust in der Mentnertochter erwacht. Loni hatte wieder einmal den Marienkalender in der Hand und betrachtete, in Gedanken versunken, ein Bild – „Sturm auf See“ stand darunter. Das Schiff rang den Todeskampf mit Sturm und Wogen. Das Bild hatte die Möglichkeit eines Schiffsunterganges ihr schon öfter nahe gerückt. Mit ihrer lebhaften Einbildungskraft sah sie den Anderl unter den Passagieren des Schiffes. Sie sah sein Gesicht, so bleich, so verzerrt wie in der Nacht, in der er den Förster erschossen, sie hörte seine Notrufe – jetzt stürzte eine große schwere Woge über ihn her. – „Loni!“

Sie schrie jäh auf, ließ das Buch fallen; sie hatte seinen letzten Ruf gehört.

„Gar nix zum Derschreck’n, um’kehrt, zum Freu’n!“ rief eine Stimme zum offenen Fenster herein. Sie blickte hin – da stand der Bürgermeister, der einen Brief in der Hand schwenkte. Er war es, der ihren Namen gerufen. „Vom Anderl ’was,“ fuhr er fort, ins Haus einbiegend, „Da wirst schau’n, Bäuerin!“

„Vom Anderl – schon heut’?“ Low fuhr erschreckt auf. „Ja, wia is denn des mögli? Es san ja g’rad erst zwoa Wochen um, daß er fort is?“

Da trat auch schon der Bürgermeister ein. Sein Gesicht strahlte. „Hab’ mir’s ja alleweil denkt! Da hör’, was der Anderl schreibt – aus Hamburg – aus der großen Hafenstadt, wo’s ’nübergeht nach Amerika.“

Der alte Mann setzte seine Brille auf und las: „Weil’s jetzt do gleich is, will i an offenes Geständnis mach’n, ’s is wegen der Mentnerbäuerin und ihrem Madl. I hab’ den Kirchberger derschossn am Tag nach dem Schuß, den der Mentner than hab’n soll. Zuganga is so. I und der Mentner war’n auf der Wildbahn. Im Erlgrund treffen wir auf’n Förster. Er hat g’rad den Mentner seh’n könna und hat’n ang’schrie’n, mit der Büchs’ an der Wang’. Wia i den Kirchberger kannt hab’, hätt’ er’s glei’ schnall’n lass’n, da hat mi der Mentner do g’reut und i bin ’m Förster zuvor komma, des is all’s! Reine Thatsach’! Bei mir is des ka Mord net. Der Förster oder der Mentner, so is g’stand’n. Zeig’s beim G’richt an, i bin längst dahin, wenn ös den Brief in Händ’n habt, in Afrika oder sonst an Ort, i weiß selb’r no net.

An Gruaß an d’ Bäuerin, sie soll auf den Anderl net vergess’n, der g’rad ihr’n Mann z’liab in die ganze G’schicht’ eini komma is.
Andreas Wisbacher.“ 

„Was sagst jetzt dazua?“ fuhr der Bürgermeister fort. „So a Handlung hätt’ i dem Mensch’n wirkli net zutraut. Aber Du bist ja ganz verhofft? – ’s muaß Dir ja g’rad sein, als ob Dir a Stein vom Herz’n wär’! Dein Mann sein Andenk’n wieder g’reinigt und ’s Marei erst, jetzt kann’s ja ungeniert heirat’n ihr’n Willy – und d’ Hagenberger all’ miteinand – ’s war do a schiache Sach’, a Schandfleck auf der ganz’n G’meind.“

Loni aber zeigte nichts von der Freude, die der Alte in ihr voraussetzte. „G’rad den Briaf möcht’ i seh’n an Augenblick!“ unterbrach sie ihn ungeduldig.

„Da, les’ nur selb’r!“

Der Alte reichte ihn ihr.

Es waren seine Schriftzüge – „Hamburg“ stand auf dem Umschlage.

„Werden’s ihn jetzt verfolg’n? Glaubst? Uebers Meer aa – ’s G’richt? Wenn sich die Sach’ so ’rausstellt hat, mit ’m Förster?“ fragte sie gespannt.

„Die Sach’ mit ’m Förster wär’ gleich – a Mord is’ do! Der Förster war ja in sei’m Recht und der Anderl net, – aber übers Wasser? Glaub’s net recht! – Hat aa kan Wert! Lauf’n lass’n so Leut’, drüben is er guat und z’neiden is er aa net. Aber des kümmert mi net, mei’ Pflicht is, daß i mit dem Briaf sofort aufs G’richt geh’, ’s andere is dann ihr’ Sach’. I hab’ mir g’rad denkt, Du müaßtst glei’ davon wiss’n. – Jetzt siech’ i freili, daß ’s Zeit g’habt hätt’! Was weiß ma’, bist alleweil a B’sondere g’wes’n. ’s Marei wird mir schon an bessren Dank wiss’n für die Nachricht.“

Er wandte sich zum Gehen.

„Nix für unguat, Bürgermeister, wenn i mei’ Freud’ net so zeig’n kann,“ brachte nun Loni beruhigter vor. „I dank’ Euch scho’! Dem Marei werd’ i ’s selb’r ausricht’n, da braucht's Euch kei Müah z’geben.“

„Naa, naa, des laß i mir net nehma! Die Freud’ möcht’ i schön’ selb’r derleb’n – ah – da is ’s ja, ’s Marei!“

Marei hatte die fremde Stimme gehört und war eingetreten. Eine Bangigkeit befiel sie beim Anblick des Bürgermeisters und des Schreibens in seiner Hand. Im Antlitz der Mutter las sie neue Besorgnis.

„Von wem glaubst, daß der Brief is, der in meiner Hand da?“ fragte schmunzelnd der Alte, mit dem Schreiben ihre Wange streichelnd.

„Vom Anderl!“ stieß das Mädchen unwillkürlich heraus.

Loni, die sie warnend angeblickt hatte, unterdrückte mühsam eine Regung des Zornes über die Unüberlegtheit der Tochter.

„Ja, wie kommst denn Du auf den Anderl? Des is aber g’spaßi!“ sagte erstaunt der Bürgermeister.

„Vom Willy, wollt’ i sag’n,“ verbesserte sich das Mädchen, dem die Verlegenheit das Blut in die Wangen trieb. „Natürli, was soll denn der Anderl –“

Die Falschheit kam ihr recht schwer an.

„Da find’ i gar nix g’spaßig’s dabei, wenn’s Marei meint, vom Anderl! Wenn aner so lange Jahr’ in an Haus war und geht fort, is ’s doch nix besonders, daß er aa bald amal von sich hören laßt,“ bemerkte in spitzigem Tone Loni. „Und er is’ aa, der geschrieb’n hat, Marei!“

„Freili hat er g’schrieb’n,“ gab der Bürgermeister zurück, „aber an mi und net ans Haus, wo er so lang dient hat. Und an Sach’ hat er g’schrieb’n, die Dir wohl neuer sein wird, als s’ Deiner Mutter sein muaß.“ Er warf einen mißtrauischen Seitenblick auf Loni.

„Dein selig’r Vater is unschuldi – der Anderl hat den Förster derschoss’n! Das schreibt er offen und ehrli’, auf daß Du ungeniert den Willy heirat’n und glückli’ werd’n kannst. Gelt, das is a Neuigkeit, die’s wert is, daß i Dir’s selb’r bring’.“

[147] Marei mußte sich wieder verstellen. Wäre sie überrascht worden, sie wäre in hellen Jubel ausgebrochen, so fühlte sie sich befangen und stotterte einige unbehilfliche Worte.

Der Bürgermeister verließ kopfschüttelnd das Haus und machte sich seine eigenen Gedanken, die für Loni nicht günstig waren.

Erst als sich Marei mit der Mutter allein sah, schwand die Beklemmung, sie fiel ihr stürmisch um den Hals, ohne in ihrer Erregung über die verfrühte Ankunft des Briefes nachzudenken. Sie war ganz Jubel, ganz Hoffnung. Und zum Willy wollte sie reisen – sofort, daß er die frohe Kunde zuerst von ihr selber erfahre. Aber Loni hielt sie zurück. Jede Stunde, die der Forstwart unbenachrichtigt blieb, erschien ihr ein wichtiger Vorsprung für Anderl.

Marei fand sich darein, sie war ihr völlig zu Willen; liebkosend umarmte sie die Mutter und suchte ihr die neue Sorge von der Stirn zu küssen. „O, i weiß, was Du mir für an Opfer bracht hast, daß D’ den Anderl gern g’habt hast, daß Du ihn mir z’liab aufgeb’n hast! Und mein ganz’s Leb’n will i Dir’s danken und der Willy g’wiß aa! Alles woll’n wir thuan, um Dir die Liab z’ ersetz’n, die Du für uns einbüaßt hast! Du liab’s guat’s Mutterl, Du!“ Es war das erste Mal, daß ihr diese Empfindung so direkt auf die Lippen trat. Und Loni wehrte sich nicht gegen die Annahme ihres Kindes, es that ihr wohl, sich von ihm verstanden zu wissen.

Marei hielt es nicht in der Stube, sie mußte hinaus, ihr Glück den Blumen und Bäumen mitteilen, den Kühen und Pferden im Stall, den Hühnern und Tauben. Und Loni blieb allein mit ihren Gedanken, die wieder zu Anderl zurückkehrten. Warum hat er schon von Hamburg die Selbstanzeige geschrieben? Wenn man ihn nun doch verfolgt! Wenn sie auf dem Gericht erfahren, mit welchem Schiff er hinüber ist! Dann fassen sie ihn drüben ab! Im Marienkalender stand das alles genau. Aber – er ist gar nicht übers Meer, kam’s plötzlich über sie, er geht überhaupt nicht hinüber – er mag nicht fort ohne sie, es treibt ihn zurück zu ihr – er mißtraut ihr – er kommt, sie zu holen! Ein Schauer erfaßte sie. „Heiliger Gott!“ Gerad eben hat sie sich’s fest vorgenommen ihm abzuschreiben, sobald sie seine Adresse erfahren, als das blonde Haupt der Tochter an ihrer Brust gelegen. – – Aber wenn er sie holen kommt? Sie bebte bei diesem Gedanken und suchte ihn abzuschütteln. Wie wird er denn zurückkommen, sich der Gefahr aussetzen, nachdem er sich schuldig bekannt und wo sollten sie Zwei dann Zuflucht finden? Das alles hielt sie sich vor – vergebens!

Sie sah ihn von weitem nahen über die Schneiden der Berge, durch Wälder und Thäler.

Mit der sinkenden Sonne wuchs ihre Angst, ihr Unbehagen.

Marei ging früh zu Bett, sie wollte noch vor Tagesanbruch sich aufmachen zu Willy. Noch einmal dankte sie der Mutter unter Thränen und rief des Himmels Segen auf sie herab. Sie schlief jetzt in der Kammer, welche früher Anderl bewohnte, die frische Luft, die in der Bodenkammer herrschte, that ihr wohl. Loni saß allein in der Stube. Unter dem Ansturm der Gedanken, die sie beunruhigten, fürchtete sie sich vor der Nacht, und doch mochte sie Marei nicht bitten, ihr Gesellschaft zu leisten. Wenn der Anderl schon heute –

Da kam der Flori über die dämmerigen Wiesen eilig herangehumpelt. Noch nie war er ihr seit Jahren so willkommen gewesen.

„Wird Dir net liab sein, mein B’such,“ begann er, „aber i muaß G’wißheit hab’n. Hat er wirkli’ g’schrieb’n, der Anderl? Jetzt schon?“

„Ja, er hat g’schrieb’n,“ erwiderte Loni. „Von Hamburg aus. Er wird wohl von da aus ’nüber g’fahr’n sein,“ setzte sie unsicher hinzu.

„Schwerli! Sonst hätt’ er scho’ g’wart’ mit’n Schreib’n; bis er drüben g’wes’n wär’. Findst’s net aa b’sonders?“

„Er hat halt ’s Marei net länger wart’n lass’n woll’n,“ beschwichtigte Loni die eigene Besorgnis.

„Meinst? Für so gutmütig haltst D’ ihn?“

„Was soll er denn sonst für an Grund g’habt hab’n?“

„Z’ruckkomma, Di z’hol’n!“

Loni fuhr auf. „Flori, des glaubst? Aber naa! I gang ja net, um alles net! Seit heut’ schon gar net!“ In ihrer Stimme zitterte ein weiches Gefühl. „Kannst Di no erinnern, was Du mir damals g’sagt hast in Dein’r Hütt’n? Daß’ aa no an andere Liab giebt, die glückli macht, als di i kennt hab’ bis jetzt! Heut’ hab’ i ’s g’fühlt, die Liab, als mei’ Marei so glücklich war – zum erstenmal – ganz!“

Flori trat näher. „Jetzt schon, Loni, jetzt schon? No dann – dann hat’s ka G’fahr mehr, nachher soll er nur komma! Aber des is ja no gar nix, des wird no’ ganz anders, wenn erst amal das Glück aufblüaht unter Deine Aug’n! Hat ’s a rechte Freud’ g’habt, ’s Marei? Ja, wo is’ denn? ’s is mir g’rad, als war’s mei eigen Kind! Wo is’ denn?“

Loni zögerte. Sie hatte Flori bitten wollen, die Nacht im Hofe zu bleiben. Seine Anwesenheit würde ihr Ruhe geben, sie schützen, wenn der Anderl schon heute kam’. Da war’s besser, sie verleugnete das Mädel, um ihre Furcht begreiflich zu machen. Den wahren Grund ihrer Angst mochte sie ihm nicht nennen. Und so sagte sie: „Sie hat sich net halt’n lass’n, heut’ no hat’s fortmüss’n nach Oberach zum Willy, um ihm die Botschaft z’bringen.“

Die Lüge erschien ihr nicht groß, vor Tagesanbruch ging Marei ja wirklich.

„Ja, das glaub’ i!“ erwiderte Flori lachend. „Wia do so a jungs Bluat wieder z’ Kraft kimmt beim erst’n Sonnastrahl, wia a halbverdurst’s Bleamerl!“

„Und da bitt’ i Di halt, daß D’ im Hof bleibst, heut’ nacht! Bin’s net g’wohnt, ’s Alleisein,“ fuhr verlegen die Bäuerin fort.

„Angst hast’ – Du, die Loni?“ Flori lachte.

„Des g’rad net, aber mir is halt a bisl schwer ums Herz. Schau, wenn man so viel g’litt’n hat wia i, nachher glaubst an ka Glück mehr, s’ is mir g’rad, als wär’ schon an neu’s Unglück unterwegs! Jessas! der Sturm auf aamal!“

Sie zuckte zusammen, so überreizt war sie von der heimlichen Aufregung. Der Föhn war plötzlich herabgestürzt vom Gebirg und rüttelte an den Läden und pfiff um den Dachfirst.

Flori sah hinaus. „Grob Wetter wird’s! Guat, i bleib’ auf ’n Hof. Leg’ Di nieder, Loni, und schlaf guat! I werd’ mir scho’ da herunt’ a Platzl z’recht mach’n.“

Sie wollte ihm danken, da überfiel sie plötzlich ein lähmendes Entsetzen. Wenn der Anderl jetzt zurückkehren würde und sie so allein träfe mit dem Flori! Der Gedanke machte ihr das Blut erstarren. Nun hätte sie um alles gern ihre Bitte zurückgenommen, aber sie wagte es nicht mehr. Flori hätte es anders auslegen können, als ob sie ihm nicht vertraue. Die Brust war ihr beklommen, sie erhob sich langsam.

„Ja, Du hast recht, Flori, i geh’ zur Ruah, bin so wia d’erschlag’n. Gut’ Nacht, Flori!“ Die Hand zitterte, die sie ihm reichte.

„Heut’ wirst guat schlaf’n und trama, gieb’ nur Obacht, vom Marei! Gut’ Nacht, Loni!“

Loni ging in ihre Kammer neben dem Stall. Ein bitteres Lächeln glitt um ihre Lippen. „Guat schlaf’n und trama!“ Währemd sie sich fürchtete vor der Nacht, wie noch vor keiner!

Der Sturm raste um das Haus. Die schadhaften Läden klapperten und schlugen gegen die Mauern, das Vieh im Stalle scharrte und rasselte mit den Ketten. Sie legte sich angekleidet auf das Bett. Den Arm unter dem Kopf, starrte sie in die finstere Nacht zum Fenster hinaus. Auf einen Augenblick erhellte sie sich. Es war ein gespenstisches Huschen und Haschen sich jagender Wolken am Himmel. Sie unterschied die Holzschupfe, die Wiesen, die schwarze Bergwand gegenüber. Das beruhigte sie. Sie dachte daran, wie sie zuvor sich gefreut hatte, als sie den Flori hatte daherkommen sehen. Wie doch alles anders gekommen wäre, wenn sie ihn damals geheiratet hätte, statt den Mentner! Aus Furcht vor der Armut hat sie es nicht gethan. Als wenn das Geld glücklich machte! Sie würden sich schon durchgebracht haben, und treue Liebe macht alles leichter. Bittre Reue erfüllte ihr Herz. Da – was war das? Auch nur der Wind – oder klopfte nicht jemand?

Sie beugte sich weit vor gegen das Fenster, aber ebenso schnell fuhr sie zurück. Aufächzend sprang sie vom Bette. Es klopfte wieder, jetzt gegen die Scheiben. – „Heilige Mutter Gottes!“ – Jetzt betete sie. – Dann trat sie vor.

„Loni!“ flüsterte es.

Es lief ihr kalt über den Rücken während ihr Gesicht glühte. So war also wirklich das Gefürchtete da – Anderl kam, sie zu holen!

[158] Vorsichtig öffnete Loni das Fenster. Zwei Hände ergriffen ihre Hand, ein bärtiges Antlitz drückte einen glühenden Kuß darauf. „Da bin i, Loni, da bin i.“

„Still! Nebenan is der Flori!“ Sonst brachte sie nichts hervor.

„Der Flori!“ Der Name wurde in drohendem Tone wiederholt.

Loni rang nach Atem. „I hab’ so Angst gehabt auf di Nacht – er war g’rad auf ’m Hof – da hab’ i ihn bitt’, z’ bleiben.“

„Angst? – wovor? Hast wohl denkt, daß i komm’? Daß i Di hol’?“

Loni unterdrückte mühsam einen Aufschrei.

„Ja, Loni, um’kehrt bin i in Hamburg, ’bal’ i s’Schiff g’sehn hab’! Kunnt’s net mach’n ohn’ Di! Und da bin i. Komm!“

Loni wand sich von ihm los. „I kann net – i darf net!“ keuchte sie. „Hab’ Erbarmen mit mir! I kann net!“ Ihr Haupt sank auf das Fensterbrett.

„Kannst net? Weil’s Dir abg’redt hab’n? Und i komm so weit daher, weil i glaubt hab’ an Dei’ Wort, Dei’ Treu!“

„I kann net! Laß’ mi, um Gotteswill’n, laß’ mi!“

„So kann i aa net anders – so bleib’ i aa! Sollens mi fassen, verurteil’n vor Deine Augen – koan Schritt geh’ i!“

Wilde Entschlossenheit sprach aus diesen Worten.

„Willst des mit anschau’n? Mi im Zuchthaus, der Di so liab hat, den’s do net vergessen kannst? Pack Dei’ Tüachl, Du hast mir’s g’schwor’n, daß D’ mir folgen willst, wohin i aa geh’!“

„I kann net!“ stammelte sie noch einmal.

„Net? Nachher pfüt’ Gott! Mei Weg geht aufs G’richt.“

Er trat zurück – seine Gestalt verschwand schon im Dunkeln.

„Anderl bleib’!“ Loni flüsterte es verzweifelt.

Er trat wieder vor. „I hab’s ja g’wußt, Du kannst net naa sag’n, und wennst das heut’ sag’n thätst, käm’ i morgen wieder – und den andern Tag wieder – ’s muaß sein, Loni, denk’ aa so! Mach’, ’s hat Eil’! Mei Loni! Mei Schatz! Mei All’s auf der Welt!“

Die Bäuerin taumelte zurück in die Kammer, wieder stand ihr Wille im Bann der Leidenschaft. Sie räumte in den Kasten umher, warf Kleider heraus, Wäsche, kramte nach Geld in der Lade – sie wußte zuletzt selbst nicht, was sie in das Bündel gethan, das vor ihr lag.

„’s muaß sein,“ so dachte sie jetzt wirklich.

„Bist Du’s bald?“ rief Anderl drängend.

„Und wenn i morgen fehl’, was wird nachher ’s Marei denk’n?“ Loni stammelte es unter Thränen.

„Hinterlass’ a Brieferl, daß D’ nach Tirol ganga bist, zu Deine Leut’. Das langt für an Vorsprung.“

„Wenn i des der Marei jetzt selb’r saget, daß’s mir auf anmal so komma is – glaubhafter war’s und – und g’rad anmal seh’n möcht’ i’s no, mei Kind.“

Sie schluchzte heftig.

„Wennst meinst, thua’s, aber schnell und vorsichti, besser war’s scho, Du thätst’s net, aber i will Dir g’wiß nix versag’n.“

Loni schlich aus der Kammer in den Stall. Die Tiere schauten sie neugierig an mit ihren großen Augen.

Er war zurückgekehrt, aller Gefahr zum Trotz – er wird wieder kommen und wieder kommen und zuletzt – wird sie doch einwilligen – und wenn nicht, so wandert er ins Zuchthaus! Der [159] ewige Vorwurf dann! Und wie er sie liebt! Es muß sein, es giebt keinen Ausweg! So jagten sich die Gedanken in ihrem Kopf, während sie die Leiter zu Marei hinaufstieg.

Sie lag in tiefem Schlaf und träumte. – Sie tränmte süß. Loni sank vor dem Bett auf die Knie, das Weh der Trennnng übermannte sie. „I kann net!“ Sie küßte ihr Kind.

Marei that, noch im Schlummer, die Arme auseinander und umschlang ihren Hals. „Willy!“

Da brach Loni in lautes Schluchzen aus, Marei erwachte und sagte halbverschlafen: „Mutter, i’s schon Zeit?“

„Net für Di! I wollt’ Dir nur sag’n, daß i fort muaß nach Imst auf einige Tag’ zu meine Verwandten. I hab’ ganz vergess’n gestern, Dir’s z’sag’n. Daß Dir kan Sorg’ machst. I muaß glei fort, daß i no zum Zug z’recht komm’!“ Zögernd setzte sie hinzu: „Und morgen in der Früh’, eh’ Du selber gehst, sagst’s dem Flori und bitt’st ihn, daß er auf dem Hof bleibt, bis Du wieder ham bist.“

Marei war noch im Halbschlaf, das Ueberraschende der Nachricht kam ihr nicht voll zum Bewußtsein. „Aber bald wieder komma, Mutterl! ’s wird ja so schön jetzt bei uns – so schön!“

Loni war es, als müßte sie das Mädchen emporreißen, sich an ihre Brust werfen – doch dann wäre ihr die Trennnng noch schwerer, vielleicht unmöglich gewesen und der Anderl wartete unten.

Sie küßte ihr Kind auf die Stirn. Marei lächelte ihr zu, ohne die Augen zu öffnen. Sie konnte sich wohl von ihrem Traumbild nicht trennen.

„Pfüt’ Gott, Muatterl!“

Loni floh die Leiter hinab.

Inzwischen hatte Anderl entdeckt, daß das Fenster in der Wohnstube beleuchtet war. Wenn der Flori wach war und sie belauschte?

Er schlich herbei und spähte vorsichtig hinein. Der Steinhauer lag in tiefem Schlaf. Auf dem Fensterbrett lag ein brennendes Kerzenlicht, das vom Sturmwind aufgerissene Fenster hatte dasselbe offenbar aus der nebenstehenden Flasche geworfen, dessen Hals als Leuchter gedient hatte. Die Flamme züngelte gegen die weißen Vorhänge, die der Luftzug bewegte. Brannte es noch weiter herab, war ernstliche Gefahr. Alte Kleider hingen dicht am Fenster und auf der Bank darunter lag ein Bündel Flachs.

Anderl betrachtete haßerfüllt den schlafenden Flori. Der war dran schuld, daß er wie ein gehetztes Wild herumirren mußte von nun an. Und jetzt wird der Schuft sich warm betten im Mentnerhof, als der Retter, dem die Besitzerin, das Marei, alles zu danken hat.

Dann beobachtete er aufmerksam das Licht und das Züngeln der Flamme. Das Brett schwärzte sich schon und der Vorhang wehte hin und her und streifte die Flamme.

Er brauchte nur hineinzulangen und das Licht aufzuheben, zu verlöschen. Schon streckte er die Hand danach aus – doch er zog sie wieder zurück.

„Was kümmert’s Di? Hast’s ja net hing’legt. Zu was nimmt man denn an Wächt’r ins Haus, als zum Aufpass’n auf Feuer und Licht?“ Was kümmert ihn noch der Mentnerhof? Mag er niederbrennen, wenn’s sein soll! „Gut’ Nacht, Flori!“ murmelte er triumphierend. Er eilte hinter den Schupfen. Loni mußte jeden Augenblick kommen.

Die Flamme am Fenster reckte sich indes wie ein drohender Finger empor und immer wieder huschte der Vorhang darüber. Seine Blicke hafteten wie gebannt an dem Fenster.

Da knisterte der Kies – Loni kam.

Er umfing sie stürmisch. Sie schluchzte auf. In diesem Augenblick begriff er den Schmerz, den sie litt.

Jetzt trieb sie selber zur Eile. Sie warf keinen Blick mehr zurück auf das Haus. Sie fragte auch nicht, wohin es ging, es war ihr gleichgültig. Nur vorwärts, fort!

Es ging dem Bergwald zu, der Grenze. Anderl wandte sich hin und wieder um, Hagenberg lag in Nacht, nur ein rotes Pünktchen zuckte auf und ab, bald größer, bald kleiner werdend, das Licht im Mentnerhofe.

Loni wandte sich nicht. Der Wind schlug ihr ins Gesicht, aber sie schritt ungestüm vorwärts. Ihr war’s ganz recht, daß es stürmte, die tausend Stimmen, welche die Luft erfüllten, übertönten die in ihrem Innern.

So erreichten sie den Wald. Der Sturm hatte hier keine Macht mehr, nur in den Wipfeln der Bäume rauschte und sauste es. Der rote Punkt war verschwunden, als Anderl ihn zum letztenmal gesehen, war er ihm größer erschienen.

„Jetzt bist mein! Kein Herrgott kann Di mir mehr nehma!“ rief Anderl und umfaßte siegestrunken die neben ihm Schreitende.

Loni schauderte in seinem Arm. „Weiter! Weiter!“ Sie drängte vorwärts, ohne zu denken wohin. Ein freier Schlag öffnete sich vor ihnen, von hier aus bot sich der letzte Blick auf Hagenberg.

Anderl wandte sich zurück. Blitzartig durchfuhr es ihn – dämonische Freude und Schreck zugleich, – der rote Punkt war jetzt eine lodernde Flamme! Ganz Hagenberg stand im Purpurlicht. Die Blütenbäume, die Häuser, der Kirchturm, die schwarze Wolke, welche darüber jagte, trug grellrote Säume. Eine zweite schoß auf, von Funkengarben durchleuchtet. Der Mentnerhof stand in Flammen.

Und der Flori hinter dem Ofen in tiefem Schlummer – ’s Marei! – es durchschauerte ihn. Doch hat er’s gethan? Nur zu! Daß nur die Loni sich nicht umschaut, war jetzt seine Sorge. Schnell hinüber über den Schlag, ins Holz! Er ergriff Lonis Arm und beschleunigte seine Schritte. Schon hatten sie den Rand des Waldes wieder erreicht, da hielt Loni an. Doch er riß sie gewaltsam vorwärts.

Der Sturm wehte schrille Glockentöne herüber. Anderl murmelte einen Fluch in den Bart.

„Horch!“ Loni war nicht mehr weiter zu bringen, „läuten thuan’s!“ Sie befreite sich von seinem Arm und wandte sich um – ein wilder Schrei hallte durch den Forst! Der Mentnerhof stand in hellen Flammen, die Frontseite, der Garten waren grell beleuchtet. Kleine schwarze Schatten huschten davor umher – und in diesem Augenblick stob eine Funkengarbe empor zum Nachthimmel. „Marei! Heiliger Gott, s’ Marei!“

Loni sank in die Knie und faltete die Hände zum Gebet.

„Is ja der Flori da! Was kümmert Di no der Hof?“ drängte Anderl.

Da sprang sie auf. „Der Flori! Heiliger Gott! Er meint ja, ’s Marei is fort!“ Sie schrie krampfhaft auf. „Das is d’ Straf’! Aber i komm’, Marei! I komm’!“ In wilden Sätzen sprang sie über den Schlag bergab, ohne auf Anderl zu achten. Er ihr nach wie ein Raubtier, dem die sichere Beute entgeht. Er erhaschte sie, ergriff sie, sie rang mit ihm.

„Mordbrenner!“ schrie sie ihm zu. Ihre Faust traf ihn zwischen den Augen, er taumelte zurück – sie entwich.

Ohne eines Pfades zu achten, über Wurzelwerk und Gestrüpp, im Straucheln sich aufrichtend, das Haar vom Wind und den Zweigen der Bäume zerzaust, das Gesicht blutig gepeitscht, eilte sie vorwärts, erreichte sie die Freiung.

Jetzt lag das grellbeleuchtete Dorf vor ihr. Die ganze nächtliche Wölbung des Himmels glühte, eine feurige, im Wind auf- und abzuckende Rauchsäule, von Funken durchwirbelt, reckte sich empor. Unausgesetzt wimmerte die Glocke.

Das Herz schmerzte ihr vom ungestümen Lauf, sie ließ sich dadurch nicht aufhalten. Sie überkletterte die Zäune, übersprang die Gräben.

Noch war der Dachstuhl nicht eingestürzt, aber aus den Fensterhöhlen schlug die flammende Lohe. Mit lautem Knall flogen Bretter empor, die glimmenden Schindeln prasselten vom Dach gleich Funkenregen. Jetzt war sie angelangt. Der schwarze Menschenknäuel, der die alte Dorfspritze vor dem Haus umdrängte, stob auseinander vor ihr, als sie, Entsetzen im Blick, mit fliegenden Haaren plötzlich erschien.

„Mei’ Marei! Marei!“ gellte ihr Ruf.

Jetzt erkannte man sie erst.

Durch die weit offen stehende Hausthür blickte sie in ein wallendes Glutmeer.

Da stand der Flori rauchgeschwärzt mit einem Wassereimer.

Loni sprang auf ihn zu. „Wo hast ’s Marei?!“ keuchte sie.

Flori ließ vor Entsetzen den Eimer fallen.

„’s Marei!“ stotterte er. „Aber die is ja fort – gestern – Du selb’r –“

Loni stieß ihn zurück und eilte auf das Haus zu. Doch sie stutzte vor dem Eingang – ihr Kind schlief ja nicht mehr wie früher, sie lief um die Ecke und verschwand in der Stallthür.

Männer waren im Stall daran, zwei sich wie rasend gebärdende, nie gehörte Schreie ausstoßende Pferde von der Kette zu lösen – vergeblich! Die Tiere ließen sich in ihrer Angst nicht mehr zügeln und die angespannte Kette war nicht aus dem Ring zu bringen. Von oben herabdrängender Rauch zwang sie zum Weichen. Sie prallten mit Loni zusammen.

[160] „Zurück, ’s geht nimmer, der Dachstuhl!“ riefen sie ihr zu. Oben dröhnte es schon gegen die Stalldecke von stürzenden Balken.

Sie aber stürmte vorbei, die Leiter hinauf, der Kammer zu. Um sie her prasselte stürzendes Gebälk. Die Pfosten der Thüre glühten wie brennende Fackeln, diese selbst stand offen. Dicker Rauch wälzte sich hervor, von der kühlen Nachtluft zurückgeschlagen, welche durch das geborstene Fenster hereinwehte.

„Marei!“

Keine Antwort! Und sie drang ein. Sie tappte nach dem Lager – leer! Der Schrecken lähmte sie. Schon erfaßte sie Schwindel. Da berührte ihr Fuß etwas Weiches. Sie bückte sich in der raucherfüllten Finsternis nieder – sie berührte mit der Hand ein Gesicht –. Ohnmächtig – tot? Mit der Kraft des Wahnsinns raffte sie den starren Körper der Tochter empor und schleppte sich mit ihm zur Leiter – da krachte und splitterte es über ihr, der Dachstuhl, flammenumloht, neigte sich ächzend.

Sie stürzte mehr herab als sie stieg, den regungslosen Körper in den Armen. Kaum daß ihre Füße die Steinfliesen des Stalles berührten, prasselte der Dachstuhl zusammen. Die massive Stalldecke erzitterte unter dem Getöse. Eine Wolke Asche, von Funken und Flammen durchglüht, wälzte sich ihr aus der Luke nach. Loni fühlte ihre Besinnung schwinden, mit der Kraft der Todesangst strebte sie instinktiv dem Ausgange zu. Doch ehe sie ihn erreicht, brach sie zusammen. Wie aus weiter Ferne drang eine Stimme noch in ihr Ohr – ihr Name. – Dann umfing sie tiefe Ohnmacht.

Hinter Flori, welcher zum Erstaunen der gaffenden Menge die verloren geglaubten Frauen aus dem Stall hervorschleppte, sank das Hofgebäude fast lautlos in sich zusammen. Noch eine lange Feuergarbe erhob sich in das Dunkel der Nacht, dann verhüllte schwarz aufwallender Rauch das Bild der Zerstörung, nur hie und da noch zuckten aus den Trümmern bläuliche Flammen.

Der Mentnerhof war nicht mehr der Schandfleck von Hagenberg. Er war ausgebrannt. – – –

Im Nachbarhaus lagen die beiden bewußtlosen Frauen. Marei schien schon wieder von süßem Schlummer befangen, nur das rauchgeschwärzte Gesicht, die entzündeten Augen erinnerten an das, was geschehen.

Anders Loni! Ein brennendes Holzstück hatte sie getroffen. Ruß und Blut entstellten das schmerzverzogene Antlitz. Das rote Haar war versengt, sein Glanz erloschen. Der verletzte Arm war notdürftig verbunden.

Flori vertrat einstweilen die Stelle des Arztes, bis der Doktor aus dem nächsten größeren Ort würde eingetroffen sein. Er wusch mit seinen knorrigen Steinhauerfingern das Antlitz Lonis und legte den verbrannten Arm, heilkundig wie er war, in ein Wasserbad. Neugierige, die sich hinzudrängten, wurden von ihm energisch abgewiesen. Er hatte sich Respekt verschafft auf der Brandstätt, der Stoanerflori!

Marei bedurfte seiner nicht, nur hie und da warf er einen zufriedenen Blick hinüber oder feuchtete das fieberglühende Gesicht.

„Die wird schon wied’r von selb’r gesund, wenn ihr Doktor kimmt – der Willy! Aber mei’ arme Loni! – Ja, wer weiß, vielleicht is guat so, vielleicht is jetzt ausbrennt word’n die alte böse Wunden, daß endli amal richti heil’n kann –!“

So dachte Flori für sich, ohne einen Blick zu wenden von dem geliebten, jetzt so entstellten Antlitz.

Da erwachte Marei mit einem schweren Seufzer, richtete sich auf und sah geistesabwesend im Zimmer umher. Sie erblickte die Mutter – noch immer schien es nicht zu tagen in ihrem betäubten Kopf. Jetzt zog sie den Atem tief ein – der Brandgeruch, der von den Kleidern ausging, weckte die Erinnerung an die letzten Eindrücke vor ihrer Ohnmacht. Und wieder sah sie nach der Mutter.

Da erhob sie sich jäh von ihrem Lager. „Mutter!“ rief sie und wandte den Blick auf Flori: „Tot?“

„Ah bewahr’! Meinst, ma’ holt Di mitt’n aus’m Brand heraus ohn’ alle Anständ’?“

„Mi hat’s ’rausgeholt aus’m Brand?“ Sie griff sich nach dem Kopf. „Ja, wo san mer dann? Freili, brennt hat’s bei uns! Und die Mutter?“

„Neing’sprungen ins Feuer is Dei’ Mutter, alle Mannsleut’ zum Trotz, und gerettet hat’s Di,“ erklärte Flori.

Da warf sich Marei über den Körper der Ohnmächtigen und rief voll Inbrunst ihren Namen. Mit einem tiefen Stöhnen schlug Loni die Augen auf.

Auf dem Brandplatz draußen verglomm die letzte Glut in schwelendem Qualm, die geschwärzten Mauersteine umspielte bereits die sanfte Röte des aufdämmernden Tages.




7.

Hagenberg prangte wieder in den frischesten Farben. Auf den grünen Fensterläden flammten rote Herzen, die Bilder der Schutzpatrone sahen gesund und rotbackig in die schöne Gotteswelt hinaus. Die schmucken Altane standen in üppigem Blumenflor – der Mentnerhof verunzierte nicht mehr das liebliche Bild.

Die Wiesengründe und Aecker, die zu demselben gehört hatten, waren von den Angrenzern mit Freuden um guten Preis aufgekauft worden. Der Hof selbst blieb unaufgebaut. Marei saß ja seit einem Jahre als die Frau des Willy Kirchberger, der auf seine Eingabe den erledigten Förstersposten in Hagenberg erhalten hatte, im Forsthause. Nur ein üppiger leuchtend grüner Graswuchs, wie er an einst bebauten Stellen zu gedeihen pflegt, kennzeichnete den Platz, wo der Mentnerhof stand. Selbst die Grundmauern waren sorgfältig entfernt, jede Spur der Brandstätte getilgt. Obwohl die Lage des Platzes inmitten des Dorfes an der Hauptstraße ein sehr günstiger war, fand sich bis jetzt niemand, der ihn zu einem Neubau erwerben wollte.

Zwei Jahre waren vergangen seit dem Brande. Es war Gras gewachsen über die Mentnergeschichte, so dicht wie auf dem Platze, wo der Hof einst gestanden. Der Anderl war verschwunden – nach Amerika, wie es hieß, aber das Gericht schien keine großen Anstrengungen aufzuwenden, ihn drüben ausfindig zu machen.

Das wieder zu voller Schönheit erblühte Marei als glückliche Frau des Sohnes vom erschossenen Förster wirkte als wohlthuender versöhnender Ausgleich.

Nur eine Gestalt ließ die Erinnerung an das Geschehene nicht ganz verschwinden – Loni, die jetzt im Forsthause bei den Kirchbergers wohnte.

Ihr rechter Arm blieb steif seit jener Unglücksnacht.

Sie war nicht zu Hause gewesen, als der Brand ausbrach. Wie eine Wahnsinnige kam sie dahergerannt, quer über das Feld. Wo war sie gewesen? Niemand hatte eine Antwort darauf. Warum war gerade diese Nacht der Flori im Hause? Man warf vielsagende Blicke auf sie, man wich ihr aus, der vom Schicksal Gezeichneten. Sie aber erwiderte nicht mehr wie früher solches Gebahren mit trotzigem Stolz, sondern mit einer ergebenen wehmütigen Trauer, welche die Leute hätte rühren müssen, wenn das so leicht gegangen wäre in Hagenberg.

Wer sie aber gar innerhalb der Gartenmauer des Forsthauses sah, der vermochte die Mentnerin kaum wieder zu erkennen. Wie sie mit der Tochter sich in die Pflege der zwei Enkel teilte, welche mit ihrem Jauchzen und Lachen das alte Haus und den Garten füllten – die Liebe und die Zärtlichkeit, die da aus den verrufenen „Hexenaugen“ strahlten! Sie hatte auch allen Grund, glücklich und zufrieden zu sein. Daß das Marei ihr alles von den Augen absah, durfte sie ja erwarten; sie hatte sich ihr als opferfähige Mutter bewährt und in der Brandnacht ihr zum zweiten Male das Leben geschenkt. Aber der junge Förster machte es gerade so. Auch er behandelte sie freundlich und liebevoll. Er schien in ihr nicht mehr die Frau des Mentner, sondern nur noch die Mutter seiner Marei zu sehen.

Dazu kam ein dritter, der Stoanerflori. Der war ihr innigster Vertrauter, der Hausfreund. Jetzt paßten sie aber auch besser zusammen als früher, „er mit san steifen Fnaß und sie mit ihr’m steifen Arm,“ sagten die Boshaften. „Warum heiraten’s eigentli net z’samm, haben’s eh anmal im Sinn g’habt!“

Doch der Stoanerflori hatte diese Hoffnung für immer begraben. Er hielt es für einen Frevel, noch mehr zu verlangen, und wenn einmal doch so ein übermütiger Gedanke in ihm aufstieg, wenn er selbst bisweilen seinen Blick ruhen ließ auf dem gelähmten Arm der Loni und dann unwillkürlich, gleichsam zum ermutigenden Vergleich, seinen Fuß betrachtete, dann schalt er sich tüchtig aus und strafte sich selbst durch einige Tage Fernbleiben vom Försterhaus.

[162] Loni aber fühlte aus seiner Resignation sein treues Lieben heraus. Und es war ihr oft, als sollte sie dasselbe aus freien Antrieb mit einem Glücke belohnen, das er nicht mehr zu erhoffen wagte. Aber es durfte nicht sein! Sie hatte genug gelitten von den Streichen, die das unbeständige Herz ihr gespielt – die Gestalt des Anderl stand unerbittlich zwischen ihr und jedem andern Mann.

Sie hatte längst Flori zum Vertrauten der Ereignisse jener Unglücksnacht gemacht. Dagegen hatte dieser ihren Verdacht, daß der Anderl den Brand verursacht habe, längst beseitigt. Er selbst nahm die ganze Schuld des Unglücks öffentlich auf seine Schultern.

Daß sie dem leidenschaftlichen Mann damals so bitter Unrecht gethan, erfüllte sie mit Reue. Ihr Abscheu, der im Augenblick der Trennung so jäh gegen ihn aufgeflammt war, mußte unter diesen Umständen schwinden und es blieb nichts als die Erinnerung an seine heißen Liebesschwüre, an seine alle Gefahr der Entdeckung verachtende Treue, an die Sehnsucht, die ihn zurückgetrieben hatte zu ihr. Wenn sie es auch nicht bereute, ihn verlassen zu haben, ja eine gütige Fügung Gottes darin erblickte, die sie zu ihrem Kinde zurückgeführt hatte, zu diesem Frieden, den sie jetzt genoß, so hatte er doch in ihren Augen ein Anrecht auf ihr Gedenken und es kostete ihr keine Mühe, es ihm zu gewähren. Je mehr aber im Laufe der Zeit ihre einstige Leidenschaft sich verflüchtigte, desto verklärter stand auch sein Bild vor ihrer Seele. Sie formte sich ein Idol daraus, vor dem sie gern verweilte, das zuletzt aber alle Züge der Wirklichkeit verlor. Das war gar nicht mehr der Anderl mit seinen wilden rücksichtslosen Trieben, den sie jetzt im Geiste verfolgte in fernen Ländern, kaum seine Gesichtszüge trug er mehr; ein ernster stattlicher Mann war’s, mit einem traurigen Blick nach ihr, immer nach ihr! Er hat Wohlstand erworben durch seiner Hände Arbeit, ist ein Herr, kein Knecht mehr – und so wird er einst wiederkommen, nach Jahren vielleicht, aber er wird kommen, er muß kommen, wie in jener Nacht, und sie wird sich nicht mehr fürchten vor ihm. –

In der letzten Zeit ging das Gerücht, er sei gesehen worden im Nachbarthal, im Tirolischen, doch niemand wußte die Quelle zu nennen. Sie glaubte es nicht. Würde er sich nicht angemeldet haben bei ihr, wenn er zurück wäre aus der Fremde?

Auch der Förster glaubte anfangs nicht daran; so unvorsichtig war der Anderl nicht.

Da hörte er eines Abends einen Schuß hart an der Grenze. Seit er den Posten seines Vaters innehatte, war kein Wildfrevel mehr in seinem Revier vorgekommen. Jetzt mehrten sich die Anzeichen. Und so unwahrscheinlich es auch war – seit jenem Schuß ward er den Gedanken nicht los: wenn’s der Anderl wäre? Wenn’s ihn hinzöge zum Ort seiner That? Hassen mußte er ihn auch, den Mann des Marei, der eigentlich die Veranlassung war, daß er ein Heimatloser geworden.

Er sprach mit keinem Menschen darüber, auch mit Marei nicht – wozu sie beunruhigen? – –

Die Hirsche schrien im Bergwald. Willy war schon nächtelang aus dem Hause. Er sei einem Kapitalhirsch auf der Spur, hatte er Marei gesagt. Sie kannte seine Jagdleidenschaft, sein langes Wegbleiben fiel ihr daher nicht auf. Gestern abend war dann der Flori gekommen mit guter Nachricht. „Heut’ hat er ’n derwischt! Zwei Schuß, net glei nachanand – das kenn’ i! Verlaß Di drauf, Marei, er hat ihn!“

Daß Willy denselben Abend nicht heimkam, war nichts Absonderliches. Er wird in der Winterstube geblieben sein und das Wild gleich in der Frühe von den Holzknechten herunterschaffen lassen. So hatte er es oft schon gehalten. – Aber jetzt war es schon Mittag und Willy noch immer nicht zu Hause. Marei ward nun doch von Unruhe ergriffen. Alte Erinnerungen aus dem Vaterhaus erwachten in ihr, an die geheimen Gänge des Vaters, an das Schicksal des alten Försters, an Anderl und seine blutige That.

Die Mutter, die ihre Bangigkeit merkte, beruhigte sie. Es werde ja nie mehr gewildert seit jener Zeit, der Willy könne ein Wild angeschossen haben und es nun verfolgen. Doch war ihr selber angst und bange dabei, sie wußte selbst nicht warum.

Da kam der Förster die Dorfstraße herauf. Nun war alles gut. Marei eilte ihm entgegen; es war ihr, als habe sie den geliebten Mann von neuem gewonnen.

„Hast ihn?“ rief sie ihm schon von weitem entgegen.

Keine Antwort! Kein Zeichen! So war er immer, wenn ihm ein Malheur passiert war auf der Jagd.

„Hast ja g’schoss’n gestern abend!“

Er war jetzt bei ihr. So verstimmt war er noch nie heimgekommen.

„Ich hab’ ihn!“ sagte er in einen Tone, der sie erschreckte. „Aber einen andern, als Du glaubst! Den Wilderer, der unser Revier beunruhigt hat seit Wochen. Brauchst nicht zu erschrecken – dank Deinem Herrgott, Marei, daß ich heil wieder da bin! s’ist mir nahe gestanden das Mal.“

Seine Stimme zitterte.

„Und Du hast ’hn abg’liefert ans G’richt? Desweg’n bist so spät komma?“

Eine bange Ahnung erfaßte Marei.

Willy zog seine Frau mit sich fort. „Komm’ mit ins Haus – hier ist kein Platz dafür. – – Ist die Mutter drinnen?“ unterbrach er sich plötzlich und blieb wieder stehen.

„Wohl, s’ is daheim.“

Willy biß sich auf die Unterlippe und rückte den Hut zurecht.

„Es ist anders gegangen –“ raunte er dann leise seiner Frau zu. „Draußen liegt er – das heißt, sie bringen ihn schon –“

Er atmete erleichtert auf.

„Tot?“ fragte Marei.

„Tot! – Schau, daß die Mutter nichts merkt, oder wenigstens, daß sie ihn nicht zu sehen kriegt –“

Marei war jäh erbleicht. Die Vergangenheit war heraufbeschworen. Sie betraten das Försterhaus.

„No, da is er ja!“ rief die Mutter, den kleinen Hansl am Arm, „’s Marei hat weiter ka Angst g’habt! – Hast ihn?“

Er schüttelte den Kopf.

„Aber g’schoss’n hast?“

„Muß denn alleweil getroffen sein?“

Er heuchelte Verdruß, um los zu kommen, und ging rasch auf sein Zimmer. „Komm’ mit!“ flüsterte er seiner Frau zu.

Eine Zeit lang ging er unruhig auf und ab. Marei hielt den Blick ängstlich auf seine Züge gerichtet, ohne ein Wort zu sprechen.

„Es muß sein, es läßt sich nicht verheimlichen,“ begann er plötzlich, „und Dir kann’s ja gleich sein.“ Er faßte ihre Hand. „Der Anderl ist es.“

Marei prallte zurück. „Der Tote?“

Willy nickte stumm. „Es war wie ein Zweikampf, Schuß auf Schuß! Er hat nun seinen Lohn.“

„Aber d’Mutter! Um Gotteswill’n, d’Mutter!“ rief Marei.

„Eben deshalb red’ ich mit Dir. Ich möcht’ es ihr gern ersparen! Ich konnt’ ihn doch nicht liegen lassen draußen wie einen toten Hund und darüber gar in Verdacht kommen. Morgen wird er begraben, die Kommission vom G’richt war schon oben. Halte die Mutter im Haus, laß Dir nichts anmerken! Ich muß gleich wieder fort, das Protokoll darüber wird aufgenommen. Ich werd’ schon dafür sorgen, daß niemand ins Haus kommt und schwätzt. Marei –“ er umfaßte seine Frau innig. „Daß ich nur wieder bei Dir bin! ’s wär’ doch recht hart gewesen!“

„Mein Tod!“ schluchzte sie unter heißen Thränen.

Willy verließ das Haus, eine Begegnung mit Loni sorgfältig vermeidend.

Jetzt galt es für Marei, sich zu fassen. Sehen durfte die Mutter den Toten wenigstens nicht; erfuhr sie später davon, war der Eindruck doch kein so mächtiger. Die Liebe zur Mutter, die Furcht vor dem drohenden Schatten, der sich unheilschwanger wieder heranwälzte gegen ihr Haus, verlieh ihr die Kraft der Verstellung.

Der kleine Hansel war zum guten Glück heute so bös und schreiig, daß die beiden Frauen vollauf beschäftigt waren. Dazu gab’s Regen, man war auf das Haus angewiesen. Marei warf wiederholt verstohlene Blicke zum Fenster hinaus. Es entging ihr eine gewisse Unruhe im Dorf nicht, Gruppen bildeten sich; über den Kirchhof, welchen man vom obern Stock aus überblickte, gingen beständig Leute. Sie wußte wohin – in die Totenkapelle, wo die Leiche des Anderl lag.

Um 6 Uhr läutete es zum Rosenkranz, und alles eilte zur Kirche.

„Heut’ an Rosenkranz? Am Dienstag? Is denn wer g’storb’n?“ fragte Loni. „Da muaß i do aa mal ’nüberschau’n.“

Marei hielt sie mit zu großer Hast davon ab. Da stutzte [163] Loni. Zwar blieb sie daheim, aber es fiel ihr jetzt manches auf, eine gewisse Unruhe an ihrer Tochter – und wo blieb denn der Willy, er war doch kein Wirtshausgänger?

Endlich kam er zum Abendbrot. Er sah schlecht aus und aß nichts. Sie fing vom Hirsch an – was denn mit ihm gewesen sei? Der Flori habe doch schießen gehört. Der Förster erzählte eine verworrene Geschichte, und Blicke wurden gewechselt zwischen den beiden Eheleuten, die ihr auffielen. Flori kam heute auch nicht. Dann drängte Marei mit auffallendem Eifer zum Schlafengehen. Was war nur vorgefallen?

In ihrer Stube allein, überdachte Loni den ganzen Tag. „Weg’n einem g’fehlt’n Hirsch’n bringt ma’ kei solche Unruh’ ins Haus!“

Sie öffnete das Fenster und blickte in die regnerische Nacht hinaus. Es stürmte jetzt, wie damals, als sie ihren Mann zurückerwartete mit Anderl, und dieselbe rätselhafte Angst befiel sie.

Als eine dunkle Masse erhob sich die Kirche. Dicht neben der Kirchhofsmauer, deren Umrisse nur verschwommen sichtbar waren, glühten zwei rote Punkte. Ihr Auge blieb daran haften, sie schienen frei in der Luft zu schweben. Was war das nur? Sie waren ihr sonst nie aufgefallen. Allmählich unterschied sie die Umrisse der Kapelle, die innerhalb der Kirchhofsmauer stand. Die roten Punkte waren die erleuchteten Fenster. Aber in der Kapelle brannte ja nur Licht, wenn ein Toter darin lag. Sie diente als Leichenhaus.

Also lag heute der Tote darin, dem vorhin der „Rosenkranz“ gegolten hatte. Warum hatte nur Marei ihr so abgeraten, dran teilzunehmen? Doch was lag ihr am End’ an einem Toten? Sie hatte ja keine Freunde in Hagenberg. Doch – einen! Den Flori! Wo war der heute geblieben? „Mein Gott – der Flori!“

Die Thränen traten ihr in die Augen, sie empfand einen herben Schmerz. Aber wozu das verheimlichen, sie muß es ja doch erfahren! – – Der Willy war so blaß, so unstet herein gekommen, gerad so wie –. Sie hielt die Hände vor das Antlitz, um das Bild nicht zu schauen, das sich ihr aufdrängte – der Anderl, wie er die Leiter bestieg!

Der Anderl! – Es fröstelte sie – noch einmal sah sie hinüber zu der Kapelle, dann schloß sie leise das Fenster, warf ein Tuch über den Kopf, öffnete vorsichtig die Thüre und schlich barfuß die Stiege hinab.

Der Förster ging noch immer in seinem Zimmer auf und nieder.

Die Hausthüre war offen – es war stockfinster, niemand konnte sie sehen, wie sie die Straße hinauf zum Kirchhof eilte.

Der Sturm trieb sein Spiel auf den Gräbern mit den Messingkreuzen, den klingenden kupfernen Weihbrunnkesseln.

Jetzt stand sie vor der Kapelle. Grauen erfaßte sie, namenlose Angst. Die Thüre war nur angelehnt, sie spähte durch die Spalte. In einer roten Ampel über dem kleinen Altar brannte das Licht. Vor diesem, auf einem bretternen Gerüste, in einem roh gezimmerten Sarge lag eine Leiche. Sie konnte den Kopf nicht sehen, es war ein Mann, unter einem grauen Lodenmantel ragten die Füße hervor.

Sie mußte erst nach Atem ringen, dann schob sie langsam die Thüre und trat ein.

Der Mantel bedeckte auch die untere Hälfte des Gesichtes – Flori war es nicht, das Haar war pechschwarz – rote Reflexe vom Ampellicht spielten darin. Mit einem raschen Griff riß sie den Mantel weg – – – „Anderl!“

Es war ein geller, übermenschlicher Schrei, der sich ihrer Kehle entrang. Ihr Körper geriet ins Wanken.

Da sprang ein Mann herzu, der im Schatten gestanden hatte.

Doch er erhaschte sie nicht mehr, sie fiel vornüber mit dem Kopf auf die Steinfliesen. Es war der Flori, der, einem unabweislichen Drange folgend, zu der Leiche seines einstigen Todfeinds gekommen war und in tiefes Sinnen versunken stand. – –

Der Anderl ruhte schon zwei Tage unter der Erde, als Loni aus ihrer Geistesumnachtung erwachte. Alle ihre Lieben standen um ihr Bett in banger Erwartung, wie sie die unerbittliche Wahrheit aufnehmen werde. So rein von aller Schuld sich auch Willy fühlte – die Umstände hatten ihn im Augenblick der That gar nicht an Rache denken lassen – es war ihm doch zu Mute, als stände er vor seinem Richter. Wenn sie ihn fortan haßte wegen der That? Sollte denn der Mentnerhof ewig fort seine düstern Schatten werfen auf sein Leben?

Loni sah lange im Kreise umher – auf Marei mit dem Kleinen, welcher seine Aermchen ausstreckte nach der Großmutter – ein Lächeln verklärte ihr Antlitz – auf Flori – –

Da knüpfte sichtlich ihr Gedächtnis an und das Lächeln verschwand – Thränen traten in ihre Augen. Dann blieb ihr Blick auf Willy geheftet, sonderbar prüfend. Er schämte sich seiner Bangigkeit – er war ja in seinem Recht – da reichte sie ihm die Hand.

„Red’! Wie war’s?“

Und Willy erzählte, wie er schon lange auf Anderl Verdacht gehabt aus verschiedenen Anzeichen, und wie er sich immer wieder vorgenommen habe, die Rache nicht Herr sein zu lassen über sich, wenn’s so weit käme. Wie sie dann zusammengestoßen seien und ihm die Kugel vom Anderl gleich um die Ohren gepfiffen, wie er dann besser getroffen habe, den Gegner mitten ins Herz. „Habe ich unrecht gethan, so mag unser Herrgott richten. Ich fühle mich rein von aller Schuld!“

„Und Du bist rein von aller Schuld,“ sagte Loni festen Tones. „Das Schicksal hat sich erfüllt. Der Mentnerhof ist verschwund’n, der Anderl ist tot! Warum’s g’rad vor mir still halt?“

Sie stockte.

„Warum? das fragst aa no?“ sprach da der Flori. „Weil – no weil – ja, i kann’s wohl net so sag’n – weil’st halt das G’wisse g’rett’ hast in Dir – Du weißt es schon, was i mein’.“

„D’Liab!“ flüsterte Marei.

Doch Flori machte eine abwehrende Bewegung. „Ach was, d’Liab! Die kann nur Unglück anricht’n –“ Seine Stimme zitterte, er fuhr sich mit dem Aermel über die Augen. „Und do’ – d’Liab, i kann’s net anders nenna.“ Er fiel vor dem Bett auf die Knie und barg sein Haupt schluchzend in die Kissen.

Loni legte ihre Hand auf das Haupt des Weinenden.

*               *
*

Am Farrenbach steht jetzt ein kleines Haus, angebaut an den Kalkofen, der früher zum Mentnerhof gehörte. Hier haust der Stoanerflori und sein Weib, die rote Loni.

Ihrer Natur hatte es nicht auf die Länge genügt, beglückt zu werden, sie wollte selbst noch Glück bereiten und er verdiente es, der Flori, der treue Freund!