Londoner Nebel
Londoner Nebel.
Es ist eine auf dem Kontinent viel verbreitete Ansicht, London sei jahraus jahrein in einen mehr oder weniger dichten Nebelschleier gehüllt. Das ist durchaus irrig. Wie das Grün einer englischen Landschaft, die Hautfarbe eines englischen Mädchenantlitzes an Frische unübertroffen bleiben, so ist auch die Atmosphäre in England im Allgemeinen von einer Frische, Klarheit und Heiterkeit, um die manche Länder es beneiden könnten. Wohl ist das Klima feucht, aber das kommt mehr von der Nähe des Meeres, als von vielem Regen; denn der Statistik gemäß hat England im Durchschnitt nur 150 Regentage, also gerade nur so viele wie das nördliche Deutschland und kaum 20 Tage mehr als die etwas südlicher gelegenen Lande. So weist auch selbst London, namentlich im Sommer, häufig ein überaus klares heiteres Himmelsgewölbe auf, durch das freilich seine Millionen von Schornsteine recht garstige schwarze Striche ziehen. Aus Linien werden dann zuweilen Flächen und aus der Fläche ein großer Körper, ganz nach den Gesetzen der Geometrie. Das geschieht, wenn der Nebel mit dem Rauch sich vermischt.
Der Nebel entsteht vornehmlich, wenn die oberen Schichten der Luft kälter sind als die unteren und auf diese Weise das Aufsteigen des wässerigen Dunstes verhindern. Dieser saugt dann Rauch und Schmutz in sich auf und das Gemengsel bleibt in mehr oder weniger dichtem Zustande in der Nähe der Erdoberfläche gelagert. Am dichtesten wird dasselbe durch ein plötzliches Umschlagen des Windes. Wie dem Dampfer auf hoher See der ausgestoßene Rauch in einem oft viele Meilen langen Wolkenstreif nachhängt, so kann man häufig auch beobachten, daß der Rauch einer Großstadt wie London in einer oft dreißig bis vierzig Kilometer weit sich erstreckenden Wolkenschicht vom Winde davongetragen wird. Schlägt dieser nun plötzlich nach der entgegengesetzten Seite um, so muß die ganze Masse in immer dichterem Zustande wieder in die Stadt zurück, und vermengt mit dem einfachen Nebel, wird nun ein „Londoner Nebel“ daraus.
Die schlimmsten Nebel stellen sich gewöhnlich zu Anfang und zu Ende des Winters ein, im November und im Februar. Sie dauern dann oft mehrere Tage und bleiben auf ihrem Höhepunkt gewöhnlich nur einige Stunden, lange genug immerhin, um in das ganze öffentliche Leben störend einzugreifen. Sahen wir noch vor Kurzem die Sonne wie eine kleine röthliche Kugel ohne allen Glanz und von der Größe einer dicken Wallnuß matt durch die Nebelmasse schimmern, so ist dieselbe nun unserm Auge gänzlich entrückt.
Es ist Nacht ringsum, dunkle Nacht, die um so unerträglicher ist, als Niemand darauf vorbereitet war; denn diese Nacht kommt ganz unversehens. Es vermögen selbst die angezündeten Straßenlaternen nicht die geringste Helle zu verbreiten, die überhaupt nur sichtbar werden, wenn man gerade darunter steht, und der hohen eisernen Pfähle wegen in diesem Falle dem Verkehr mehr hinderlich als dienlich sind. Es laufen auch wohl Männer mit brennenden Pechfackeln umher, die uns ihre Begleitung anbieten; doch diese verbreiten nur ein Minimum von Helle, dagegen einen gewaltigen Qualm und schützen uns höchstens davor, daß wir nicht gegen Häuser und Menschen anrennen. Denn eine unbeabsichtigte – oder von Seiten der Strolche oder Gassenjungen bezweckte – „Anrempelei“ gehört zu den unerläßlichen „Nebel-Ereignissen“. In dem ersteren Falle ist dann gewöhnlich eine gegenseitige Entschuldigung, ein gegenseitiges Befragen nach dem Wege und das Bekenntniß beiderseits, daß man selbst nicht recht wisse, wo man sich befinde, die Folge dieser Berührung. Weit unangenehmer sind indessen die Folgen eines solchen Zusammenrennens mit Strolchen und Dieben, denen ein richtiger Nebel als ein wahres Mannafest erscheint. Er lockt dieselben in großer Zahl aus ihren Schlupfwinkeln, und sie sind unter seinem schützenden Deckmantel überaus – thätig. Dort klagt ein Unglücklicher, daß man ihm seine Uhr entwandt, ein anderer, daß ein Vorübergehender ihm einfach den Hut vom Kopfe genommen, um damit im Nebel zu verschwinden. Oft aber wird dieser Ruf von Gaunern ausgestoßen, die durch ihn arglose Opfer heranlocken wollen, und eine innere Stimme mahnt uns, unsere Schritte zu beschleunigen, um nicht auch ein Opfer solcher Diebesgelüste zu werden.
Wer zu solcher Zeit nicht ganz dringende Geschäfte zu verrichten hat, bleibt natürlich zu Hause oder sucht, wenn er fern von seiner Wohnung sich vom Nebel hat überraschen lassen, ein nahes Obdach, selbst ein Nachtquartier zu erreichen. Seltener begiebt man sich auf die Straße, um, vom Reiz der Neuheit verführt, diese immerhin interessante Erscheinung genauer kennen zu lernen. Man hat dann aber an einem Male gerade genug und sehnt sich, sein schützendes Heim zu erreichen.
Vorsichtig tappt man vorwärts, froh, daß heute nur wenig Menschen auf der Straße sich befinden, froh auch wohl, daß die Londoner Rinnsteine nicht so tief sind, wie man sie in mancher Großstadt des Kontinents antrifft, froh endlich, an der Ecke einen „Policeman“ zu finden, der freundlich genug ist, die nothwendigsten Kenntnisse lokaler Geographie dem Verirrten beizubringen oder doch in seinem Gedächtnisse aufzufrischen; denn er verliert sie fast bei jedem Schritte. Sämmtliche Fuhrwerke haben natürlich ihre Fahrten eingestellt. Keine Droschke, kein Omnibus ist zu solcher Stunde zu haben; die Läden werden „am hellen Tage“ geschlossen; alles Leben einer Großstadt hört auf.
Die Farbe des Nebels ist je nach Menge und Beschaffenheit des Zusatzes, den er aus den Schornsteinen erhält, eine verschiedene. Sie wechselt von einem schmutzigen Weiß bis zu einem dunklen Grau, von einem zarten Krême bis zu einem schwärzlichen Braun, welch letztere Art etwa in ihrem Mittelstadium auch wohl pease soup genannt wird. „Erbsensuppe“ nach englischer Art ist indessen wesentlich verschieden von der unseren. Die Engländer bereiten dieselbe so dick und kompakt, daß sie einen Brei bildet. Der „Erbsensuppe“, die durch die Londoner Straßen sich ergießt, fühlt man sich aber auch durchaus nicht versucht, mit dem Löffel in der Hand gegenüber zu treten. Man hat vielmehr das Gefühl, als brauche man ein zweischneidiges Schwert, um sich durch die dichte Masse Bahn zu schlagen. Ueberdies besitzt diese Masse die unsaubere Eigenschaft, die unverkennbarsten Spuren auf Gesicht und Kleidung zurückzulassen.
Diesen Zustand seiner höchsten Vollkommenheit erreicht indessen der Nebel – oder das Kompositum von Nebel, Rauch und sonstigem Schmutz – nur selten. Ja, es geht zuweilen ein ganzer Winter vorüber, ohne daß dies Triumvirat in seiner ganzen Glorie auftritt, während es in anderen Jahren London die Ehre wieder zum Oefteren erweist. Schlimm aber wäre es, wenn es auf dem Höhepunkte seiner Leistungsfähigkeit je länger als einige Stunden verweilen wollte. Denn dieses liebliche Gemengsel ist doch für die Dauer seines Besuches der Londoner Athmungsstoff, der sich in keiner Weise von seinen schädlichen Zuthaten reinigen läßt. Mag man auf der Straße auch ein Tuch vor Mund und Nase halten, um die Luft gewissermaßen zu filtriren; mag man zu Hause auch Thür und Fenster noch so fest schließen: das Gemengsel dringt überall durch und macht sich peinlich genug fühlbar durch einen brandigen Geruch, einen unangenehmen bittern Geschmack auf der Zunge, ein prickelndes, Thränen erzeugendes Gefühl in den Augen und nicht selten auch durch Schmerzen in der Lunge.
Unter diesen Umständen darf es nicht Wunder nehmen, daß zu dieser Zeit die Sterblichkeit in London wächst, daß Sterbefälle von Asthmakranken um 220 Procent und solche von Bronchitispatienten gar um 331 Procent sich vermehren! Mehr vereinzelt, aber darum nicht minder empfindlich sind die mehr mittelbaren Schäden und Nachtheile, die aus dem Nebel erwachsen.
Viele Personen werden überfahren; denn wenn auch während des stärksten Nebels der Verkehr fast ganz eingestellt wird, so kann dieses doch nicht auf einmal, nicht so plötzlich geschehen, wie [780] der Nebel heranzieht. Die Schifffahrt auf der Themse wird äußerst gefährdet; Unglücksfälle auf der Eisenbahn vermehren sich in entsetzlicher Weise trotz der besonderen Nebelsignale, die dadurch gegeben werden, daß man an besonderen Stellen an den Schienen Pulverpatronen anbringt, die, sobald die Räder der Lokomotive darüber gehen, sich selbst entladen und so dem Lokomotivführer kund thun, wo er sich befindet. Tausend andere Uebelstände sind im Gefolge dieser seltsamen Erscheinung, von der London wohl niemals ganz frei werden kann, deren schädlichste Auswüchse aber immerhin sich wesentlich abschwächen ließen.
Bis zur Zeit Eduard’s II. wurde in London nur Holz gebrannt und bis dahin gab es keine Nebel der schlimmen Sorte. Unter seiner Regierung begann man aber Kohlen von Newcastle einzuführen, und sofort stellte sich der verdickte und vermengte Nebel ein, so daß schon im Jahre 1316 das Parlament sich veranlaßt sah, dem König eine Petition gegen den Gebrauch der Kohlen einzureichen. Dieser verbot denn auch ihre Verwendung, belegte die seiner Verordnung zuwider Handelnden mit einer Geldstrafe und ließ ihnen im Falle einer Wiederholung einfach die Oefen niederreißen. Was war aber der Schaden, den die paar tausend Tönnchen Kohle von damals anrichten konnten, im Vergleich zu dem Unheil, das jetzt aus den alljährlich von London verbrauchten 5 000 000 Tonnen erwächst! Gleichwohl aber ist jene strenge Verordnung längst in Vergessenheit gerathen. Wohl hat man auch in neuerer Zeit im Parlament sich damit befaßt, dem Uebel Einhalt zu thun, und es sind längst sämmtliche Dampfschiffe und Fabriken in und um London zur Konsumirung des eigenen Rauches genöthigt worden, allein das große Heer der Privathäuser ist von ähnlichen Bestimmungen bislang immer noch verschont geblieben. So lange man diese aber ähnlichen Verordnungen nicht unterwirft, wird der Londoner Nebelkalamität kein Abbruch geschehen. Wilh. F. Brand.