Lolas Töchter
Lolas Töchter.
Bitte, kommen Sie sofort; brauche Ihre Hilfe in persönlicher Angelegenheit! Lola Winter.“
Mit sehr gemischten Gefühlen blickte Helmuth auf das Berliner Telegramm, das auf dem breiten Schreibtisch des gediegen eingerichteten Privatcomptoirs lag. Die braunen Augen, in denen es einen Augenblick aufblitzte, schienen zu sagen: Ich möchte wohl, aber gescheiter wär’s, ich ginge nicht!
Natürlich ging er trotzdem. Eine Stunde später saß er in dem Hamburg-Berliner Schnellzug. Er war niemals ein Odysseus gewesen, der sich vorsichtig an den Mast binden ließ, wenn die Sirenen sangen. Immer hatte er sich ins Feuer gewagt – und sich manchmal verbrannt. Vorzüglich an diesem Feuer, welches Lola hieß. Manches Jahr war verflossen, seit er mit seiner erwachenden Leidenschaft für sie gerungen hatte. Ihr Gatte war, wie Helmuth selbst, ein großer Hamburger Geschäftsmann gewesen, ein unruhiger Geist und toller Spekulant, und seine bildschöne junge Frau hatte es meisterlich verstanden, ihm und seinen über Nacht verdienten Millionen die Honneurs zu machen. Solange diese Millionen vorhielten oder doch vorzuhalten schienen, gab es sogar Frauen, welche Lola Winter alles verziehen: ihre Schönheit, ihren Geist, ihr Glück – selbst ihre Koketterie. Denn sie besaß Takt und Anmuth genug, um Nachsicht zu finden. Außerdem – man unterhielt sich eben „himmlisch“ bei Winters. Die Geselligkeit dieses Hauses war glänzend ohne den geringsten Beigeschmack von Protzenthum; auch die Künstler, die Schriftsteller und Gelehrten, die man dort traf, schienen nicht zur Verzierung, sondern zu ihrem eigenen Vergnügen eingeladen zu sein. Erzwungen, gewollt schien nichts in Frau Lolas Zauberkreis; aus jedem der Stoffe, die unser heutiges Dasein durchsetzen, mußte ein Tröpfchen ausgepreßt und auf dem Herde des Hauses verflüchtigt sein, um seine entzückende Atmosphäre zu bilden. Daß bei all der verborgenen Arbeit, welche diese scheinbar sich von selber fügende, reizvolle Geselligkeit dennoch kostete, Frau Lola auch Augenblicke fand, in denen sie ihren beiden Töchterchen eine verständige Mutter war, mußte wunder nehmen. Sie hatte eine Perle von einem Kinderfräulein gefunden, deren einziger Fehler in übergroßem Pflichteifer bestand; ihr allzu häufiger Tadel verlor auf die übermüthige kleine Resi seine Wirkung und machte Hedwig, die ältere und schönere der beiden, herb und verschlossen. An der reizenden jungen Mutter dagegen hingen beide Kinder mit abgöttischer Verehrung. Voll eifersüchtigen Ehrgeizes trugen sie die von ihr gedichteten graziösen Verschen vor, mit denen sie, als Gärtnerinnen oder Zigeunermädchen ausstaffiert, Blumen vertheilend oder wahrsagend, die Gäste ihrer Eltern zu begrüßen pflegten, und mehr als die Liebkosungen der Fremden beglückte sie dann ein lobendes Lächeln der liebreizenden Mama.
Dies irae, dies illa – wie Helmuth sich der Ereignisse, die plötzlich hereinbrachen, so genau erinnerte! Er hatte es gesehen, schon seit längerer Zeit, daß das Haus Thomas Winter zu schwanken begann, daß es sich immer wieder stützte, sich zu halten schien, um schließlich doch mit einem furchtbaren Krache zusammenzubrechen. Unter ihm knickten die zu spät gewonnenen Stützen, neben ihm die Nachbarhäuser haltlos zusammen. Ja, Helmuth hatte es kommen sehen und vorgebeugt, so daß sein solides altes Haus nur leicht und nicht allzu nachhaltig erschüttert wurde. Aber noch jemand mußte diesen Sturz geahnt haben, eine Persönlichkeit, die sich also doch nicht nur mit ihren geselligen Angelegenheiten beschäftigt hatte – Lola. Als ein Schlaganfall dem Leben Thomas Winters ein plötzliches Ende bereitet hatte, fanden sich die Angelegenheiten der jungen Witwe in so musterhafter Ordnung vor, daß niemand, der ihres Gatten zerfahrenen Geist gekannt hatte, ihm selber diese Vorsorglichkeit zuschreiben konnte. Ein Jahr zuvor war die Gütergemeinschaft zwischen den Eheleuten aufgehoben worden; ihr Eingebrachtes und die künftige Mitgift ihrer Töchter hatte Lola bei der Reichsbank unantastbar sichergestellt. Diese „unangenehme Klugheit“ gab damals Helmuths verzehrender Leidenschaft einen kleinen Stoß, von dem sie sich jedoch unselig schnell wieder erholte. Lola war ernst und ruhig. Sie hatte mit dem Verstorbenen keine unglückliche Ehe geführt; in der ihm eigenen zerstreuten Weise hatte er während seiner seltenen geschäftslosen Stunden zu ihren ergebensten Anbetern gezählt, mit dem Vorzug, dableiben zu dürfen, wenn die übrigen das Haus verließen.
Um sich das Einleben in die wenn auch noch reichlichen, so doch wesentlich veränderten Verhältnisse zu erleichtern, siedelte die junge Witwe mit ihren Töchtern nach Berlin über, die Trümmer eines umgestürzten Hauses unbekümmert hinter sich zurücklassend. Wußte sie doch, daß treue Freunde, Helmuth voran, sich die Entwirrung des gordischen Knotens unter eigenen Opfern angelegen sein ließen. Mit einem wehmüthig dankbaren [412] Lächeln, in welchem Helmuth etwas wie eine Verheißung las, nahm sie Abschied.
Als er sie jedoch in Berlin nach Jahr und Tag mit ungebrochener Leidenschaft an diesen verheißungsvollen Blick mahnte, wollte sie nichts dergleichen wissen. Sie hielt ihm eine freundschaftliche kleine Predigt und wies auf die heranwachsenden Töchter hin. Hedwig, ein langaufgeschossener Backfisch von fünfzehn Jahren, immer noch sehr zurückhaltend, mit großen aufmerksamen Augen, machte Miene, sich bei zunehmender Fülle in ein ungewöhnlich schönes Mädchen zu verwandeln; Resi, lebhaft und freundlich, aber von unbedeutender Erscheinung, zählte nur ein Jahr weniger. Konnte Lola als gute Mutter sich selbstischen Gedanken hingeben, da die Mädchen in ihrem jetzigen Alter ihrer mehr als je bedurften? Und dann, aufrichtig gesagt, sie genierte sich vor ihnen. So große Töchter im Hause – Hedwig’s beobachtende Augen – es war zu peinlich. Ja, wenn die Kinder sich früh verheirathen würden, so lange der Mutter noch ein Rest von Jugend verbliebe, dann – wer weiß! – vielleicht wäre sie thöricht genug, sich ein zweites Mal ins Joch zu begeben.
Und immer dieselbe Antwort, Jahr um Jahr. Er konnte ihr nicht einmal Unrecht geben. Ihn selber verwirrte häufig der fragende Blick aus Hedwigs blaugrauen Augen, den er so oft, so beharrlich auf sich ruhen fühlte. Das Mädchen hatte sich in der That zu einer Schönheit entwickelt, nicht so pikant wie die der Mutter, dafür aber zarter, ernster, seelischer – eine Uebersetzung Lolas ins Blonde und Aufrichtige. Infolge ihrer Wortkargheit hatte sie nur wenig Freunde und Verehrer, und die unscheinbare, aber zuthuliche Resi erfreute sich einer weit größeren Beliebtheit als ihre schone, stolze Schwester. Von einem ernsthaften Freier war keine Rede. Stand die schönere Mutter den Töchtern, standen diese sich gegenseitig im Lichte?
Ob jetzt der Zeitpunkt gekommen war, der den lang gehegten Traum verwirklichen sollte? Wohl zwanzigmal während der Reise zog Helmuth das Telegramm hervor. „Brauche Ihre Hilfe in persönlicher Angelegenheit“ – – konnte sich das nicht auf eine Geldsache, einen gerichtlichen Handel beziehen? Doch das hatte nichts Wahrscheinliches. Auch in Berlin besaß Lola bereits einen näheren Freundeskreis; sie hatte nicht nöthig, sich um einer vorübergehenden Unannehmlichkeit willen einen freundschaftlich geprüften Beistand aus Hamburg zu verschreiben. Dann hatte sie ja auch noch den Gutsbesitzer Marboth, eine Reisebekanntschaft, die zu großer Freundschaft gediehen sein mußte; wenigstens wurde sein Name im Winterschen Hause oft genannt. Dieser Mann, welcher seine Besitzungen in der französischen Schweiz bewirthschaftete, war für den eifersüchtigen Helmuth ein verhaßter Begriff gewesen, bis er erfuhr, daß jener bereits fünfzig Jahre zähle. Helmuth selbst war nur um wenige Jahre älter als Lola; konnte sie ihm, der ihr schon lange Zeit in treuer Liebe und opferbereiter Freundschaft ergeben war, den älteren Mann vorziehen?
Die Nacht war hereingebrochen; in ihrem Dunkel verschwand die öde flache Winterlandschaft. Nur ein Streifchen des beschneiten Bahndammes flog, im Lichte des Wagens sichtbar, vorbei, und droben stiegen die Telegraphendrähte auf und nieder, schoben sich übereinander, verschwanden in der Finsterniß und tauchten wieder empor. Ein kalter Nachtwind drang durch die Ritzen der feucht beschlagenen Fenster; drinnen war die Luft schwer und warm, die Sitze fast heiß. Ein trübes halbverdecktes Gasflämmchen erfüllte das Coupé mit düsterer gelbröthlicher Dämmerung. Die Reisegefährten schlummerten, bis auf ein junges Ehepaar, das in herausfordernd neuen Reisemänteln dicht aneinandergeschmiegt in leisem Geflüster Helmuth gegenüber saß; beider Hände begegneten sich in dem zierlichen Pelzmuff der jungen Frau. Helmuth versuchte zu schlafen, aber seine Augenlider brannten, sein Kopf schmerzte ihn. Er lehnte sich in die Ecke und blinzelte, unwiderstehlich angezogen, wieder und wieder zu dem Pärchen hinüber. Mehrere beobachtende Blicke von drüben trafen seine gesenkten Lider; endlich schien man sicher zu sein, daß er schlafe. das schleierumrahmte Gesichtchen der jungen Frau hob sich, und ein langer, geräuschloser Kuß vereinigte die Lippen der Glücklichen. Hastig schloß Helmuth jetzt die heißen Augen; ein Schreck war ihm in die Brust gefahren, und wie ein Hungriger, der andere prassen sieht, fühlte er sein Herz von einem sehnsüchtigen Mitleid mit sich selber beklemmt. Bilder der Vergangenheit, der erhofften Zukunft jagten an seinem inneren Auge vorüber. Seit fünf Jahren hatte er niemals diese Strecke zurückgelegt, ohne sich lockenden Zukunftsgedanken hinzugeben, und immer hatten sie ihn genarrt. Dennoch kehrten sie auch diesmal zurück, und gewohnheitsmäßig unterlag er ihrem Zauber. Und ein neues Bild trat hinzu. Nicht mehr die beiden Fremden saßen ihm gegenüber: sich selber und Lola sah er drüben sitzen, Hand in Hand; er fühlte ihren zarten durchwärmten Handschuh, das weiche Seidenfutter des Muffs, der diskret und doch so verrätherisch die beiden ungleichen Hände verbarg.
Aber dieses innigen hingebenden Blickes, mit dem jene Frau dem Gatten ihre Lippen gereicht hatte, war Lola nicht fähig. Er kannte ihre schönen dunklen Augen so gut; sie konnten Blitze sprühen, Blitze des Geistes, der Heiterkeit, des Zornes – auch der Leidenschaft; aber Demuth, weibliche Unterordnung unter einen stärkeren Willen vermochten sie nicht auszudrücken. Und wie unsäglich müßte doch die Hingebung diese wundervollen Augen verschönen! Wer es verstünde, ihnen solch einen Blick zu entlocken! Er nicht, er ganz bestimmt nicht – sonst wäre es ihm wohl schon längst gelungen. Ein Thor war er, daß er ihrem Rufe gefolgt war; er wußte ja, sie liebte ihn nicht – und doch ließ sie ihn nicht los, sagte ihm kein bestimmtes „Nein“ auf immer. Weshalb? Nun, man konnte ihn vielleicht noch brauchen; solch einen grenzenlos gutmüthigen Freund durfte man nicht verscheuchen, schon aus praktischen Gründen nicht. Und schließlich, wenn sich durchaus kein besserer fand – er war der einzige, der warten würde, bis sie beide alt und grau geworden!
Gereizt und zornig sprang Helmuth auf, besann sich und öffnete etwas verlegen die Lüftungsschieber über den Fenstern. Im selben Augenblick waren die Köpfe der Liebenden auseinander gefahren und lehnten sich wie auf Kommando mit geschlossenen Augen gegen die Polster. Wäre es möglich gewesen, noch umzukehren, Helmuth hätte sich jetzt dazu entschlossen. – –
Am nächsten Vormittag verließ er in der Potsdamerstraße den Pferdebahnwagen; in einem stattlichen Hause stieg er zum zweiten Stock empor. Kaum hatte er das Einlaß gewährende Dienstmädchen nach der gnädigen Frau gefragt, als die Thür eines Vorderzimmers sich hastig öffnete und Hedwig erschien, um mit schneller fluchtartiger Bewegung den Vorplatz zu kreuzen. Auf Helmuths Anruf kehrte sie ihm ein erschrecktes Gesicht zu, zwei in Thränen schwimmende Augen blickten ihm freudig überrascht entgegen, dann wandten sie sich mit einem Ausdruck von Pein und Verwirrung von ihm ab.
Die Zofe verschwand im „Berliner Zimmer“, während Helmuth Hedwigs Hand ergriff und sie zurückhielt. Sie standen vor dem Garderobespiegel, in welchen Licht genug fiel, um Hedwig ihr verweintes Antlitz zu zeigen. Vor Beschämung erröthend, versuchte sie, es zu verbergen und ihre Hand aus der seinen zu befreien, während sie mit den kleinen Zähnen auf die volle untere Lippe biß. Ein dunkelrothes Wollkleid umschloß die biegsame Gestalt, deren mädchenhafte Anmuth ihm nie so lebhaft aufgefallen war als in diesem Augenblick.
„Was giebt es, Hedwig?“ fragte er besorgt. „Ihre Mama –“
„Ist wohl,“ entgegnete sie mühsam, mit halberstickter Stimme. „Bitte, treten Sie ein sie wird sehr angenehm überrascht sein.“ Sie deutete auf eine Thür. „Mich – entschuldigen Sie wohl – ich habe – ich muß –“
Sie wandte sich verwirrt gegen das „Berliner Zimmer“, aber er vertrat ihr den Weg.
„Darf ich nicht wissen, was Ihnen Kummer macht?“ fragte er warm und eindringlich.
Rasch zu ihm aufblickend und ebenso schnell die Augen wieder senkend, fragte sie zurück:
„Seit wann interessiert Sie das?“
Es war der herbe stolze Ton den er schon früher von ihr gehört hatte. Er fühlte sich ein wenig getroffen, denn er war sich bewußt, die Tochter über der Mutter stets vernachlässigt zu haben. Trotzdem versetzte er schnell gefaßt:
„Seit ich mir vorgenommen habe, mich nicht länger durch Ihre abweisende Art zurückschrecken zu lassen – Sie könnten sonst leicht dazu kommen, sich auch noch Ihre letzten besten Freunde zu verscherzen.“
Sie sah unsicher zu ihm auf, leicht erstaunt, aber voll Hoffnung und Erwartung.
[413] „Ist das wahr?“ fragte sie leise und hastig. Kommen Sie nicht mehr ausschließlich Mamas wegen – kommen Sie auch ein wenig um – um unsertwillen?“
Sie wartete seine Antwort nicht ab, sondern öffnete die Thür zum „Berliner Zimmer“ und trat mit ihm in die Dämmerung des großen Raumes, der sein Licht nur von einem einzigen, auf den Hof sich öffnenden Fenster empfing und die stattlichen Reste des einst so berühmten Winterschen Speisesaales zur Geltung kommen ließ. Auf dem gestickten Polsterbänkchen, das sich an zwei Seiten des riesigen Kachelofens hinzog, nahm sie Platz und winkte ihn zu sich.
„Sie haben recht,“ sagte sie mit verschleierter Stimme, die jeden Augenblick abzubrechen drohte, um sich in Weinen aufzulösen, „ich habe niemand mehr, gar niemand. Bis jetzt hatte ich doch Resi – aber die – die nimmt nun auch gegen mich Partei. Sie begreift gar nicht – aber ich kann doch nun einmal nicht – ich kann nicht!“
Jetzt brach das verhaltene Schluchzen wirklich hervor, mit einer wilden Leidenschaft, die den seltsamsten Gegensatz zu ihrer sonstigen Zurückhaltung bildete. Helmuth fühlte sich bewegt; von neuem ergriff er tröstend des Mädchens Hand. Sie zuckte zurück, überließ ihm dann aber willig die zitternden Finger, und er hatte die sonderbare Empfindung, daß diese schlanke schneeweiße Hand mit den bläulichen Adern in der seinen erkalte. Ihm war, als kenne er Hedwig erst seit den wenigen Minuten seines Hierseins; er warf sich vor, nie daran gedacht zu haben, daß diese Kinder, die von ihm unbeachtet neben der glänzenden Erscheinung ihrer Mutter wie schmächtige Schößlinge im Schatten eines vollblühenden Rosenstrauchs emporgewachsen waren, auch ein Seelenleben führten – vielleicht ein regeres und zarteres als die sich nach außen hin fortwährend ausstrahlende Mutter.
„Was begreift denn Resi nicht – was können Sie nicht?“ fragte er sanft, das kalte Händchen unausgesetzt streichelnd.
Hedwig sprang plötzlich empor, und ihr Taschentuch mit beiden Händen vor das Gesicht pressend, stürmte sie ans Fenster.
„O ich kann Ihnen ja nicht – es ist unmöglich –“ murmelte sie kaum verständlich.
„So glauben Sie nicht an meine Theilnahme? Soll ich gehen?“
Er hatte sich gleichfalls erhoben. Etwas wie Ungeduld war in ihm, zugleich eine wirkliche Furcht, sein jäh erwachtes Interesse an Lolas Tochter möchte eine Ablehnung erfahren. Nun wollte er auch einen tieferen Blick in diese junge Seele werfen; vielleicht ihr wohlthun, ihr helfen.
Langsam wandte sie das reine Profil vom Fenster ab; das kalte grauweiße Licht, welches von dem beschneiten Hofe hereinfiel, verschwand von ihrer Stirn und floß hell über das krause dunkelblonde Haar. Sie that ein paar Schritte ins Zimmer hinein und blieb dann unsicher stehen.
„Ich – nein – bleiben Sie! Mama wird ihnen ja doch – Sie sind ein bewährter Freund –“
Um ihn nicht ansehen zu müssen, trat sie ans Büffett und schien dort etwas zu ordnen. Ihr Gesicht war im Schatten.
„Sie wollen mich verheirathen,“ sagte sie absichtlich trocken und kurz abgebrochen. „Mit einem wildfremden gleichgültigen Menschen, mit einem, der von seinem Onkel hergeschickt wurde, um sich ein fremdes Mädchen zur Braut geben zu lassen. Wenn ich nur wüßte, warum! Sind wir denn auf eine so unwürdige Art der Versorgung angewiesen? Ich bin doch noch jung – nicht einmal ganz neunzehn. Weshalb quält Mama mich so – und Resi, die doch sonst –“
Helmuth fühlte, wie er erblaßte. Das also war es! Ein Gefühl der Beschämung stieg in ihm auf und zwang ihn, vor dem Mädchen die Augen niederzuschlagen. „Deine Mutter will glücklich sein, und deshalb sollst Du unglücklich werden!“ Das wäre die rechte Autwort auf ihr „Warum?“ gewesen. „Mit mir möchte sie glücklich sein, darum hat sie mich hergerufen, ich soll ihr helfen, Dich zu diesem Schritte zu bestimmen, denn sie hofft, die Selbstsucht werde mich beredt machen –“
Ein nagender Grimm gegen sich selbst, gegen Lola erfaßte ihn. Hatte dies Kind etwa weniger Anrecht auf Glück als er, als ihre Mutter, die doch schon manchen Becher schäumender Lebensfreude geleert hatte? Und um selber schnell zum Ziele zu gelangen, war die immer noch Lebensdurstige mit kalter Berechnung bereit, ihre Tochter gegen deren eigenes Gefühl zu verheirathen! Er selbst – er hatte ebenfalls eine möglichst schnelle Versorgung der Töchter gewünscht, ohne sich zu fragen, ob sie das als ein Glück ansehen würden! Aber – mein Gott – junge Mädchen sind eben dazu da, sich zu verheirathen, und je jünger sie sind, um so weniger wählerisch pflegen sie zu sein. Junge Mädchen – das ist so ein Allgemeinbegriff, zusammengesetzt aus Tanzlust, Schlittschuhlaufen, Theaterschwärmerei und Autographenalbums; giebt man ihnen einen beliebigen Bräutigam, so sind sie plötzlich närrisch verliebt und glücklich, erfinden die barocksten Kosenamen und sind nur noch in Konfektions- und Weißwarengeschäften anzutreffen. Allein dieser Schmerz der Kleinen! Es scheint also doch Ausnahmen zu geben – oder ob wirklich jedes dieser niedlichen Geschöpfchen so etwas wie eine Individualität besitzt?
Hier stand jedenfalls eine solche vor ihm, die ihren Antheil an Glück oder doch das Recht der freien Selbstbestimmung für sich in Anspruch nahm. Und er war gerecht genug, um gegen seine eigene Berechnung dieses Recht anzuerkennen. Sie sollte sich ihm nicht vergebens anvertraut haben, er wollte Lola klar machen – – was? Daß er das langersehnte gemeinsame Glück wieder auf unbestimmte Zeit, vielleicht auf Jahre, hinausschieben wolle?
[414] Ach – aber war das überhaupt ein Glück für ihn, sein Leben an der Seite einer Egoistin zu verbringen, die um eigenen Vortheils willen ihre nächsten Angehörigen preisgab?
Helmuths langes Schweigen[WS 1] veranlaßte Hedwig endlich, sich nach ihm umzublicken. Sie sah ihn bleich und erschüttert dastehen und eilte mit rascher Bewegung zu ihm.
„Weshalb sagen Sie nichts?“ fragte sie fast athemlos und sah mit zitternder Spannung zu ihm auf. In diesem Blicke lag soviel erwartungsvolles Vertrauen, daß es Helmuth wunderbar warm ums Herz wurde.
„Beruhigen Sie sich, Hedwig,“ sagie er herzlich. „Man wird Sie nicht zwingen. Ich will sofort mit Ihrer Mama reden –“
Er drückte ihr die Hand und verließ das Zimmer. Er hatte genug gehört. Um sein Glück auf dem Leiden anderer aufzubauen – dazu war er nicht der Mann. Und das wollte er Lola sagen, sofort. Mochte dann kommen, was wollte; hatte er dies Leben bis hierher ertragen, so war es wohl auch noch länger möglich. Wie sie ihn angeblickt hatte, diese Hedwig! Welche klaren guten gläubigen Kinderaugen! Und er sollte ihnen Thränen erpressen?
Er klopfte flüchtig an und trat in den Salon. Bei seinem Eintritt erhob sich Resi von einem niedrigen Sitz und eilte ihm mit einem Rufe der Ueberraschung freundlich entgegen. Ein sandblonder junger Mann verließ gleichfalls seinen Sessel und stand, die Vorstellung erwartend, ein wenig steif und ernsthaft, mit durchgedrückten Knien in Positur.
„O – Herr Helmuth – uns so zu überraschen – wie wird Mama sich freuen!“ rief die Kleine. „Die Herren erlauben: Herr Julius Marboth aus Braunschweg, der Neffe unseres Schweizer Freundes – Herr Helmuth Stolz, ein alter Freund unseres Hauses.“
Helmuth faßte den jungen Mann scharf ins Auge. Ein gewöhnliches Gesicht: wasserblaue weißbewimperte Augen, unter einer etwas formlosen Nase ein langausgezogener rother Schnurrbart, ein hübscher Mund und ein längliches Kinn; der Teint luftgebräunt und großporig. Eine nicht üble Gestalt, an der nur die Beine etwas lang und dünn gerathen waren, vervollständigte den Eindruck einer ziemlich männlichen, nicht unangenehmen Mittelmäßigkeit.
Neben ihm erschien Resis unbedeutender Wuchs fast noch kleiner. Sie trug gleich ihrer Schwester ein dunkelrothes Kleid, welches auf ihre graugelbliche Hautfarbe vortheilhaft einwirkte. Ihr schlichtes braunes Haar, das eingedrückte allzu kleine Näschen und das etwas vortretende Kinn wären nicht imstande gewesen, den Eindruck ihrer Erscheinung zu heben, wenn nicht die ungemein gutherzigen fröhlichen Augen und die blinkenden Zähne ein freundliches Licht über die unregelmäßigen Züge gebreitet hätten.
Alle diese Einzelheiten glaubte Helmuth bisher niemals beachtet zu haben; jetzt, während er des jungen Mädchens munterem Geplauder zuzuhören schien, studierte er sie – er wußte selbst nicht, weshalb – mit dem Scharfblick eines Malers. Sein Interesse an Lolas Töchtern war urplötzlich erwacht.
„Und wo finde ich Ihre Mama?“ fragte er schließlich.
Resi sprang auf, klopfte an die Thür des anstoßenden Zimmers, öffnete sie und ließ Helmuth eintreten; sie selbst kehrte zu dem sandblonden Braunschweiger zurück. Lola saß am Schreibtisch des mit raffinierter Behaglichkeit ausgestatteten Raumes.
„Guten Tag, lieber Freund,“ sagte sie lächelnd, ohne aufzublicken, indem sie mit fliegender Eile noch einige Worte auf den vor ihr liegenden, nahezu vollgeschriebenen Briefbogen warf. Dann erhob sie sich und streckte ihm mit bezaubernder Herzlichkeit die Rechte entgegen; die Linke wendete inzwischen wie spielend den vor ihr liegenden adressierten Briefumschlag mit der unbeschriebenen Seite nach oben. Helmuth war selbst verwundert, daß er diese kleine bezeichnende Bewegung im ersten Augenblick des heißersehnten Wiedersehens bemerkte. Was hatte plötzlich sein Auge für solche kleinliche Züge geschärft?
„Also wirklich, es war Ihre Stimme?“ fuhr sie mit Wärme fort. „Wie soll ich es Ihnen danken, daß Sie gekommen sind! Freilich, ich darf mich nicht über den neuen Freundschaftsbeweis wundern. Sie verwöhnen Ihre Freunde so sehr, daß es nur natürlich ist, wenn sie unbescheiden werden.“
Zerstreut seinen kurzen dunklen Bart streichend, horchte Helmuth mehr auf ihre helle Stimme als auf ihre Worte. Sein Auge überflog ihre feingebaute Gestalt. Wie schön sie war! Das zierliche Köpfchen mit dem Kameenprofil wuchs aus einer dichtgefältelten schwarzen Spitzenkrause empor, aus welcher der schlanke Hals schneeweiß hervorleuchtete. Ueber die üppigen Falten eines eleganten Negligées von grauem Plüsch floß bei jeder ihrer Bewegungen ein weiches silbernes Licht. Gehoben durch die vortheilhafte Kleidung, strahlte das schöne Gesicht in einer Frische, der man die herannahenden Siebenunddreißig nicht glauben mochte. Die Seele, die in diesem wohlerhaltenen Körper wohnte, hatte ihr Haus nicht abgenutzt, nicht gerungen und gelitten – kühl und ruhig hatte sie in ihrem Raume gewaltet, und was aus diesen dunklen Augen blitzte, war nichts als die Lust am Leben, am Herrschen – geistig verfeinert zwar, doch nicht seelisch durchwärmt.
Manchmal schon hatte er ähnliche Gedanken verscheucht, nicht nur, weil es ihm fast sündhaft erschienen war, an einem so herrlichen Gottesgeschöpf zu mäkeln, auch weil seine warmherzige Natur das Bedürfniß fühlte, den Gegenstand seiner Liebe zu idealisieren. Und die Liebe zu Lola schien ihm zur Lebensgewohnheit geworden. Woher nur heute, und gar in ihrer Gegenwart, diese kritische Stimmung, die von Minute zu Minute wuchs?
Er wurde erst aus diesen Beobachtungen aufgeschreckt, als er ihr gegenüber in einer der phantastisch arrangierten Zimmerecken saß und die Worte hörte:
„Und nun zu dem Zwecke Ihres Kommens!“
Hedwigs Bild trat vor seine Seele, ihre rührenden thränenvollen Augen. Er lehnte sich in seinen Sessel zurück und sagte, mit einer Möbelquaste spielend, im Geschäftston:
„Ja, lassen Sie uns davon reden! Ich fürchte, Lola, daß Sie mich vergebens gerufen haben.“
Sie richtete sich überrascht auf und ihre dunklen Augen spähten scharf zu ihm hinüber.
„Ich habe Hedwig gesprochen,“ fuhr er fort, „und bin durchaus nicht gesonnen, sie gegen ihr Gefühl in eine unpassende Heirath hineinzureden. Denn dazu hatten Sie mich ja doch ausersehen? Das Mädchen findet diese Art der Versorgung unwürdig, der Mann ist ihr fremd und gleichgültig. Mein Gewissen ist nicht weit genug, um die Verantwortung für die Folgen zu übernehmen.“
Lola sah ihn einen Augenblick stumm an. Er saß noch zurückgelehnt und hielt die Augen eigensinnig auf die in seiner Hand sich drehenden Fransen der Quaste gerichtet, als fürchte er, der Anblick der schönen Frau mochte ihn in seiner Weigerung wankend machen. Da schlugen leise Worte an sein Ohr, in denen ein räthselhafter Ton zitterte – war es Enttäuschung, war es Verheißung?
„Ich – ich glaubte, Sie selber wünschten –“
Helmuth fuhr empor. Da saß sie vor ihm, die Frau, deren Besitz ihm seit Jahren als das höchste Gut erschienen war. Sie hatte den Kopf abgewendet, so daß ihm nur die zarte lichtgeränderte Wangenlinie sichtbar war. Aber er sah ihre Brust sich in raschem Athem heben und senken – ein Taumel faßte ihn, und mit hastiger Bewegung riß er ihre Hand an sich.
„Lola – o Gott – Lola –“
Sanft entzog sie ihm die Hand. „Nein, mein Freund,“ sagte sie, wie er zu vernehmen glaubte, mit unterdrückter Bewegung, „wenn wirklich Ihr Gewissen in Frage kommt – ich bin nun schon fertig damit. Ich dachte nur, weil Hedwig stets eine solche Vorliebe für Sie gezeigt hat, und dann – habe ich mich denn auf andere Weise verheirathet und bin ich als Toms Gattin je unglücklich gewesen?“
Er sprang auf und schritt erregt hin und her.
„Sie sind eine andere als Hedwig, das Mädchen hat ein empfindliches vereinsamtes Gemüth, und Sie sind eine Weltdame!“
Ein erstauntes Lächeln flog über ihre Züge; dann legte sie den Finger auf den Mund und deutete auf die Thür zum Nebenzimmer, wo eben Resis helles Lachen erscholl.
„Etwas leiser, bitte, mein verehrter Psycholog!“ lächelte sie. „Ei, ei, da entdecke ich ja eine neue Tugend an Ihnen! Aber urtheilen Sie nicht zu schnell; ich bilde mir ein, meine Tochter auch ein wenig zu kennen. Diese drei verunglückten Tage wird sie Herrn Marboth und mir noch abbitten. Vielleicht hat sie eine sogenannte ‚Neigung‘ – wir alle leiden ja mit neunzehn Jahren an diesen erhabenen Thorheiten! Und wie viele von uns erleben die Erfüllung ihrer ersten Herzensträume? Nicht eine unter Hunderten! Und das ist gar kein Unglück! Guter Gott – man kennt ja diese am meisten angeschwärmten Männer! Allein da steift sich der romantische kleine Eigensinn auf einen Konzertmeister oder Posa-Darsteller und tobt gegen die elterliche Tyrannei, um ein Jahr später auf den Knien dafür zu danken.“
[415] Helmuth war am Fenster stehen geblieben und blickte finster hinaus. Der rechte Zeitpunkt war verrauscht; aalglatt wie immer war sie ihm entschlüpft – nachdem sie versucht hatte, neuen Brennstoff auf das schon erlöschende Feuer seiner Liebe zu häufen.
„Mein Himmel, wozu sage ich Ihnen das alles!“ fügte sie in leichtem Tone hinzu. „Ihr Gewissen läßt sich nicht überzeugen, das weiß ich ja; aber ich möchte Ihnen wenigstens erklären – muß ich Sie erst versichern, daß ich aufs gewissenhafteste zu Werke gegangen bin? Der junge Marboth ist der Neffe unseres schweizer Freundes – mit sechsundzwanzig Jahren schon als kaufmännischer Direktor in einer bedeutenden chemischen Fabrik angestellt, dabei der treuherzigste Charakter von der Welt. Doch das ist ja nun gleichgültig, er kann nur wieder abreisen. Und ich“ – sie lachte leise und bitter – „nun ja, ich will gar nicht leugnen, daß auch ein wenig Egoismus dabei war –“
„Quälen Sie mich nicht!“ sagte er gepreßt. „Quälen Sie auch Hedwig nicht! Warum haben Sie nicht an Resi gedacht? Sie ist anschmiegender, leichtlebiger –“
„Resi!“ fiel Lola mit fast geringschätzigem Mitleid ein. „Resi ist häßlich. So lange Hedwig im Hause ist, kommt Resi nicht in Betracht. Sie ist ja ein gutmüthiges offenherziges kleines Ding, nicht ohne Liebenswürdigkeit – das alles wird ihr einstweilen aber wenig nützen und mir auch nicht.“
Leise aufseufzend erhob sie sich, trat an den Schreibtisch und überlas den vorhin geschriebenen Brief; wie um noch ein Wort hinzuzufügen, ergriff sie die Feder, legte sie aber wieder fort und schloß den Brief in den Umschlag. Dann schellte sie und übergab ihn dem Dienstmädchen zur Besorgung. Mit einem eigenthümlichen Lächeln trat sie dann zu Helmuth und sah ihm ganz nahe in die Augen.
„Also – Sie wollen nicht mein Bundesgenosse sein? Um keinen Preis?“
Deutlich sah er in ihren Augen sein Spiegelbild.
„Um keinen Preis, Lola!“
Eine tiefe lastende Traurigkeit war in ihm. Er fühlte, daß er sie verloren hatte – nicht jetzt, schon lange, lange. Doch nicht nur diesem inneren Abschied galt seine Trauer, auch den warmen echten Gefühlen galt sie, die er jahrelang an ein schönes Bild ohne Seele verschwendet hatte. Das Glück, das er in ihrer Gegenwart empfunden, war so mit Qual gemischt gewesen, mit so großen Opfern erkauft worden, daß er nur mit dem Bewußtsein eines großen Verlustes den Strich unter die abgeschlossene Rechnung setzen konnte.
Und wozu lebte er jetzt, zu welchem Ende widmete er seine ganze Kraft seinem Geschäft, das nur seinem Thätigkeitstrieb Genüge that und sein Herz nicht befriedigte? Für Lola hatte er bisher gearbeitet. Und nun?
„Wie lange bleiben Sie in Berlin?“ unterbrach Lolas Stimme seinen Gedankengang.
Sofort war er wach. Durfte sie keinen Bundesgenossen in ihm sehen, so war er wohl für sie mehr als überflüssig, war er schädlich – sie wollte ihn fort haben! Aber nun blieb er, nun erst recht, wenn auch zu eigener Qual! Hedwig würde ihn vielleicht nöthig haben.
„Ich habe mir kein bestimmtes Ziel gesetzt,“ erwiderte er ausweichend. Dann folgte er ihr in den Salon. Dort war man ohne Zweifel bei einer äußerst lustigen Unterhaltung angelangt. Resi, mitten im Zimmer stehend, führte einige groteske Bewegungen aus und lachte von Herzen dazu, während der Sandblonde seinen hübschen Mund bedenklich in die Breite zog und sich mit hochrothem Gesicht und thränenden Augen aufs wohlerzogenste bemühte, nicht laut hinauszulachen.
„Mama, ich erzähle Herrn Marboth von unserer Tanzstunde!“ rief die Kleine, ein wenig beschämt, ertappt zu sein, und eine lebhafte Röthe stieg ihr bis zur Stirn empor. „Weißt Du – wie ich den Walzerschritt nicht herauskriegen konnte – und wie Hedwig mich zu Hause eindrillte – und wie ich vor Aerger weinte und gerade ein Tanzstundenherr zu Besuch kam –“
„Ach so,“ lächelte Frau Lola. Aber das Lächeln hatte etwas Gezwungenes, und in ihrer Stimme klang ein gereizter Ton. „Und Hedwig? Du thätest gut, sie zu rufen.“
Das Lachen erstarb auf Resis Munde. Wie konnte sie auch die Sachlage soweit vergessen! Nun erinnerte die Mutter sie daran, daß sie hier nur eine Nebenrolle, den Lückenbüßer, zu spielen hatte. Verschüchtert blickte sie zu der schönen Mama hinüber, welche mit der liebenswürdigsten Miene neben dem jungen Manne Platz nahm und sofort ein Gespräch begann. Er ging zerstreut auf ihr Geplauder ein, und verstohlen folgten seine Augen der neuen kleinen Freundin bis zur Thür.
Helmuth, den Lola vergebens in die Unterhaltung zu ziehen versuchte, verließ bald nach Resi das Zimmer. – –
Hedwig saß mit einer Handarbeit am Fenster des Speisezimmers; sie hatte die Stickerei in den Schoß sinken lassen und blickte zu der eifrig auf sie einredenden Resi empor, welche, den Rücken gegen die Thür, vor ihr stand.
„Ein Närrchen bist Du, ein wahres Närrchen!“ sagte sie kopfschüttelnd. „Sitzest hier allein und schmollst! Du sollst nach vorn kommen – Mama ist so böse! Und so ein lieber, netter Mensch – himmlisch habe ich mich eben mit ihm unterhalten – zu amüsant!“
Mit trübem Lächeln sah jetzt Hedwig an ihr vorbei nach Helmuth; von Resi unbemerkt, war er eingetreten und hatte ihren Erguß mit angehört. Auch diese wandte sich jetzt und erröthete lebhaft bei seinem Anblick.
„Du brauchst nicht zu erschrecken, Herr Helmuth weiß –“ sagte Hedwig mit ihrer weichen Altstimme. „Nun, was haben Sie bei Mama ausgerichtet?“
Er zuckte die Achseln. „Wir kennen jetzt gegenseitig unseren Standpunkt, das ist alles.“
Sinnend betrachtete er ihren schönen Kopf, in der Linie des Profils Lola so ähnlich, ihr so unähnlich in Ausdruck und Farbe. Es war ihm ein Trost, seinen lieblichen Schützliug zu sehen, ihren vertrauenden Blick zu fühlen. Unter der Wirkung desselben schien ihm die Wunde, welche die Mutter ihm geschlagen hatte, weniger schmerzhaft.
„Wollen Sie nicht in den Salon kommen?“ fragte er mit freundlichem Ernst.
Gehorsam legte sie ihre Arbeit zusammen und erhob sich. Voll Staunen nahm Resi die plötzliche Gefügigkeit ihrer sonst so halsstarrigen Schwester wahr, doch wagte sie keine Bemerkung und ging beiden voran in den Salon.
Das Aufleuchten, mit welchem die Augen des Sandblonden Resis Wiedererscheinen begrüßten, erlosch sofort, als er hinter ihr die schlanke Gestalt ihrer Schwester auftauchen sah. Augenscheinlich beklommen, wandte er rasch den Blick von ihr, und die stotternde Antwort, welche er in diesem Augenblick an Frau Lola richtete, legte Zeugniß ab von der unbehaglichen Verwirrung, in welche Hedwigs Gegenwart ihn versetzte. Ohne ihn anzusehen, schritt sie an ihm vorüber und nahm mit ihrer Arbeit am Fenster Platz. Trotz Resis freundlicher Bemühung, seine Laune wiederherzustellen, blieb Marboth verstimmt und einsilbig, so daß schließlich auch die Kleine betreten verstummte. Die Versuche der Mutter, Hedwig zur Theilnahme am Gespräch zu bewegen, wurden von dieser hartnäckig zurückgeschlagen. Auch Helmuth verhielt sich ziemlich schweigsam; wie von weitem hörte er Lolas Geplauder, die fast allein mit Gewandtheit und Tapferkeit gegen die allgemeine Verstimmung ankämpfte. Er blickte verträumt auf Hedwigs feine Finger und die unaufhörlich bewegte blinkende Nadel. Mit einer Ruhe, der er selbst nicht recht traute, parierte er von Zeit zu Zeit einen zornigen Blitz aus Lolas Augen. Nach einer Weile trat er zu Hedwig, und während er einen herabhängenden Zipfel ihrer Stickerei ergriff und angelegentlich zu betrachten schien, sagte er halblaut:
„Fühlen Sie nicht, daß Ihre Uebellaunigkeit auf uns alle geradezu lähmend wirkt?“
„Man hätte mich draußen lassen sollen,“ versetzte sie kurz, ohne den Blick zu erheben.
„Als Tochter des Hauses sollten Sie sich verpflichtet fühlen, Ihre Mutter in der Unterhaltung der Gäste zu unterstützen.“
„Mama hat meine Hilfe bisher nie vermißt. Sie wissen, daß ich nicht liebenswürdig bin – ich kann mir nicht geben, was mir die Natur versagt hat.“ Ihr Ton war schroff wie vorhin beim Empfang. Und den Kopf noch tiefer auf die Arbeit senkend, setzte sie mit bebender Stimme hinzu: „Uebrigens hätten Sie mir, als Sie mich hierher holten, gleich eingestehen sollen, daß Mama Sie umgestimmt hat.“
Erstaunt blickte er auf sie nieder. Er mußte lächeln.
[416] „Jetzt wissen Sie selbst, wie ungerecht Ihr Mißtrauen Sie macht, Hedwig. Woher denn diese pessimistische Anschauung vom Wankelmuth der Männer?“
Er bereute seine Worte auf der Stelle, denn er sah ihre vorwurfsvoll zu ihm aufblickenden Augen sich mit Thränen füllen.
„Glauben Sie nicht, daß – man zuweilen Gelegenheit hat, zu beobachten – –“
Sie unterbrach sich und fügte mit einem mißlungenen Versuch, einen trockenen Ton anzuschlagen, hinzu: „Mama hat bislang noch immer ihren Willen durchzusetzen verstanden.“
Er schwieg und fuhr fort, ihre Hände zu betrachten. Sie waren sehr weiß, nur die Nägel und die feinen Knöchel zeigten eine rosige Färbung, und er ertappte sich darauf, daß er ganz ernsthaft darüber nachdachte, ob sie in der Ruhe oder in der Bewegung schöner seien. Von der Mutter hatte sie diese zarten Hände nicht geerbt; Lolas Fingergelenke waren grob, die Nägel breit und flach – ein Schönheitsfehler, den sie sehr beklagte.
Ueberrascht fuhr Helmuth aus seinem thörichten Gedankenspiel empor, als er neben sich Hedwigs Stimme hörte, die sich plötzlich in das von ihm nicht beachtete Gespräch mischte.
„Ich kenne das Duett,“ sagte sie kühl und höflich. „Meiner Ansicht nach ist es das schönste, das Schumann geschrieben hat. Wenn Sie es mit meiner Schwester singen wollen, Herr Marboth, will ich gern die Begleitung übernehmen.“
Sich erhebend, legte sie die Handarbeit fort, und als sie an Helmuth vorüberging, schien ihr Blick zu fragen: „Bist Du mit mir zufrieden?“
Er lächelte und seine Augen begegneten Lolas mißtrauisch forschendem Blicke.
Herr Marboth war jetzt in seinem Element; er wurde beinahe lebhaft. Mit einem hübschen, wenn auch unausgebildeten Bariton begabt, dabei taktfest wie ein Tambourmajor, spielte er in einem Gesangverein seiner Heimath keine geringe Rolle. Da Resi mit dem Takte auf dem Kriegsfuß stand, brachte sie mehrmals Verwirrung in den Gesang, und mit Kopf, Fußspitze und Zeigefinger taktierend, bemühte sich der Sandblonde, das schöne Duett zu retten. Seine Grimassen erregten Resis Heiterkeit; sie brach ab, verschluckte sich, gerieth ins Husten, lachte und weinte zugleich über ihre Ungeschicklichkeit und eilte, dunkelroth vor Verlegenheit, aus dem Zimmer.
Marboth lachte in seiner geräuschlosen Art, daß ihm die hellblauen Augen voll Thränen standen, und äußerte: „Ich werde öfter mit dem gnädigen Fräulein üben; es liegt am Lehrer.“
Aus welchen Anzeichen er die mit solcher Sicherheit verkündete Ueberzeugung geschöpft hatte, war nicht recht ersichtlich. Jedenfalls war die Stimmung hergestellt, und verlor sich auch Hedwigs kühle Haltung nicht völlig, so verlief doch der Mittag in ziemlich heiterer Weise. Frau Lolas Gewandtheit gelang es, Herrn Marboth dauernd zum Mittelpunkt der Unterhaltung zu machen und seine schüchterne Steifheit ein wenig zu besiegen. Er nahm sogar einigemale einen Anlauf, Resi zu necken; gutmüthig keck hielt sie ihm Widerpart und blickte nur zuweilen etwas ängstlich nach ihrer Mama. Allein sie konnte doch wahrhaftig nichts dafür, daß Hedwig sich so ablehnend verhielt und daß inzwischen für des armen jungen Mannes Unterhaltung gesorgt werden mußte – es war wirklich zu nett von ihm, daß er sich so lange mit der ihrigen begnügte. Denn wenn Hedwig nur wollte – –
Aber sie wollte nicht. Auch abends während der Fahrt nach dem Theater hielt sie sich zu ihrer Mutter und zu Helmuth. Beim Verlassen der Pferdebahn nahm Lola sofort des Freundes Arm, und Hedwig beeilte sich, an seine linke Seite zu kommen. Einzelne Schneeflocken trieben sich in der Luft umher; Wagen auf Wagen fuhr vor dem Theater auf; und seine langen Beine zu kleinen Schritten zwingend, geleitete Herr Marboth die lustig plaudernde Resi sorglich durch das Wagen- und Menschengewirr dem Musentempel zu. Er deutete auf die elektrische Lampe, die wie ein bläulicher Stern über der Kuppel des Gebäudes schwebte, und Helmuth hörte, wie er mit tiefbewegter Stimme flüsterte:
„Sehen Sie das schöne Bogenlicht! Oder mögen Sie lieber Glühlicht? In unserer Fabrik haben wir –“
Helmuth mußte an der Kasse längere Zeit warten, ehe er ein Billet erlangen konnte. Als er den Saal betrat, hatte seine Gesellschaft bereits ihre Sperrsitze eingenommen, ziemlich entfernt von dem seinigen; er selber blieb bis zum Beginn der Vorstellung
stehen und beobachtete sie von weitem. Diesmal war es Lola gelungen, Hedwig neben Marboth zu bringen, während sie selbst mit Resi die Plätze dahinter in der folgenden Reihe einnahm. Wie suchend wandte Hedwig einigemal verstohlen den Kopf, und Helmuth meinte, ihre Augen aufleuchten zu sehen, als sie ihn entdeckt hatte; sie lächelte ihm flüchtig zu und vertiefte sich dann in das Lesen des Theaterzettels. Trotz der unbequemen Halsverrenkung war Marboths Kopf meist nach der hinter ihm sitzenden Resi gewendet, deren seltsames, fast immer lachendes Profil von Zeit zu Zeit neben dem ihrer Mutter auftauchte. Helmuths Auge schweifte von der einen zur anderen. Immer noch überstrahlte Lolas Schönheit selbst die ihrer ältesten Tochter um ein bedeutendes; ihre leuchtenden Farben, durch den Gegensatz zu den dunklen Haaren und Brauen noch wirksamer, zogen alle Blicke auf sich. Hedwigs Reiz, obwohl ihre Züge nicht minder schön waren, lag tiefer. Bis auf die blühend rothen Lippen ermangelte das Gesicht der Farbe und Fülle. Dafür bot es dem aufmerksamen Beobachter den wechselnden Ausdruck einer reichen Seelenthätigkeit; etwas wie eine fortwährende Aufmerksamkeit leuchtete still aus den langbewimperten graublauen Augen, eine Bereitwilligkeit, in Ernst und Scherz mit ihrer Umgebung zu empfinden – zugleich eine Scheu vor allem Zudringlichen und unedlen. Helmuth ertappte sich heute schon zum öfteren darüber, daß er Hedwigs Eigenart zu ergründen suchte. Vielleicht hatte seine Natur hier unbewußt ein Mittel gefunden, um sich von dem unfruchtbaren Schmerze über Lolas Verlust abzulenken.
Indessen, wer sagte ihm denn, daß Lola für ihn verloren sei! Eine augenblickliche Meinungsverschiedenheit hatte eine Abkühlung zwischen ihnen hervorgerufen; um so verheißungsvoller konnte die Versöhnung enden. Aber wünschte er denn eine solche Versöhnung? Was konnte sie ihm anderes bringen als eine Erneuerung der alten Ketten! Sie quälte ihn nur noch, diese alte Liebe, sie war ihm zur Last geworden; er fühlte eine trotzig frische, fast jugendliche Kraft in sich aufsteigen, eine Neigung, die alte ungesunde Leidenschaft abzustoßen, wie die Buche das überwinterte alte Laub abstößt, sobald im Lenze die jungen Triebe keimen. Ja, es war mehr als eine Meinungsverschiedenheit, was sich trennend zwischen Lola und ihm aufgerichtet hatte: es war der große, einschneidende Gegensatz zweier Naturen, die sich auf verschiedenster Grundlage aufbauen.
Grüblerisch wie er war, ward er plötzlich stutzig über seinen eigenen Gedankengang. Die Leidenschaft philosophiert nicht. War er denn wirklich seiner Bande ledig, da er sie sachlich zu betrachten vermochte? War er zum Begräbniß seiner eigenen Liebe hierher nach Berlin geeilt?
Er blickte zu Lola hinüber – ängstlich fast, als könne ihr Anblick ihn wieder in die ehemaligen Fesseln schlagen. Da saß sie, schön wie nur je; auf ihrem Haare spielte das gelbe Licht und zog gleißende Funken aus den darin verstreuten Brillantsternchen, einem Andenken an vergangene glänzende Zeiten. Ihr Profil mit den zum Lächeln leicht geöffneten Lippen hob sich fein und scharf von einem nahen weißen Bogenpfeiler; der reizende Theatersaal war wie geschaffen zum Schmuckkästchen für dieses Juwel. Und in vollem Genuß an ihrer Schönheit, der sich mit jeder Minute zu verstärken schien, studierte er das wundervolle Gesicht in allen seinen Einzelheiten. Zuweilen glitt sein Auge zu Hedwig hinüber, auf deren Zügen sich die Vorgänge des Lustspiels in Scherz und Ernst wiederspiegelten. Erst jetzt kam es ihm zum Bewußtsein, daß die Vorstellung längst begonnen, daß er mechanisch seinen Sitz eingenommen und verständnißlos die mehr oder minder geistreichen Wendungen des oft gesehenen Lustspiels an seinem Ohre hatte vorüberrauschen hören. Ja, jetzt fiel ihm ein, daß der Vorhang schon einmal gefallen war und er gewohnheitsmäßig mit dem übrigen Publikum Beifall geklatscht hatte. Um nachher auch seinerseits etwas über die Darsteller sagen zu können, zwang er jetzt seine Aufmerksamkeit auf die gewandt gruppierten Ereignisse des Stücks und fand sich rasch und angenehm genug in das wohlbekannte Gefüge hinein, um ihm bis zum Aktschluß zu folgen.
In der Pause verließ er seinen Sitz und wartete vor dem Eingang auf seine Freundinnen. Den übrigen voran bahnte Lola sich ihren Weg durch die nach außen drängende Menge und nahm mit einschmeichelnder Freundlichkeit Helmuths Arm.
[444] Kommen Sie, lieber Freund – der neugewonnenen Naiven zu Ehren ist ein Dutzend mir bekannter Journalisten hier, ich möchte Sie vorstellen.“
Damit zog Lola Helmuth in den Gang hinaus, wo sich bereits wandelnde und stehende Gruppen gebildet hatten und der Name des neuen Bühnenmitgliedes alle zwei Minuten an sein Ohr schlug.
Helmuth lachte und sah ihr frei ins Gesicht.
„Sie sind reizend, Lola – ich bewundere Ihre geduldige Bemühung, mich von Hedwig zu trennen. Glauben Sie etwa, ich reize die Tochter gegen die Mutter auf? Sie werden doch inzwischen eingesehen haben, daß Hedwig schwerlich in die Lage kommen wird, den bereit gehaltenen Korb an den Mann zu bringen.“
Lola warf einen raschen Blick umher und entdeckte ihre Töchter in einiger Entfernung mit dem Sandblonden gegen das Büffett vordringend.
„Sie meinen wegen der Komödie mit Resi?“ raunte sie dann, überlegen lächelnd.
„Komödie?“ wiederholte er betroffen.
„Was sonst? Ich selbst hätte ihm ein so kluges Manöver gar nicht zugetraut. Wie er nur darauf verfallen ist, Hedwigs Eitelkeit auf solche Weise zu reizen –“
„Herr Marboth ein Diplomat! Sie reden, als sei er in Ihre Schule gegangen.“
Das bitter betonte Wort war ihm fast wider Willen entfahren; er hätte es gern zurückgenommen, denn ihm selbst erschien es unedel, die neue Herzensfreiheit so schroff zu bekennen. Und doch konnte er dem Gelüste, ihr die zerrissenen Fesseln zu zeigen – ob aus Rache, ob aus Aufrichtigkeit? – nicht widerstehen.
Sie blickte groß und durchdringend zu ihm auf.
„Nun – Sie jedenfalls sind nicht ohne Nutzen in meiner Schule gewesen, das ist mir heute klar geworden!“ versetzte sie langsam und gedämpft.
„Aber zu lange,“ gab er zurück. „Es taugt nicht für den Schüler, die Kunst seines Meisters schließlich zu durchschauen. Es thut zu weh, wenn die Illusionen schwinden –“
In diesem Augenblick kam eine Gruppe von Herren und Damen heran und umringte Lola unter lebhaften Begrüßungen. Helmuth schloß und erneuerte einige Bekanntschaften und bewunderte aufs neue Lolas Kunst, trotz starker innerer Erregung ganz und gar liebenswürdige Weltdame zu sein. Von der anderen Seite nahten die beiden Mädchen mit ihrem Begleiter, den die schöne Frau ebenfalls ihren Freunden vorstellte. Mit unerschütterlichem Ernste ließ Marboth die zehnfache Vorstellung über sich ergehen, versicherte auf die üblichen Fragen, daß Berlin, das Theater und die neue Schauspielerin ihm ausgezeichnet gefielen, und wandte sich, sobald die Höflichkeit es erlaubte, wieder Resi zu, der er, wie Helmuth zu verstehen glaubte, halblaut und geheimnißvoll die Einrichtung seiner Fabrik schilderte. Helmuths belustigte Blicke begegneten denen Hedwigs, welche ebenfalls mit augenscheinlichem Vergnügen das Pärchen beobachtet hatte.
„Das Lustspiel scheint Ihren Beifall zu haben,“ sagte er, zu ihr tretend.
Ihr schalkhafter Aufblick zeigte ihm sofort, daß sie ihn verstand.
„Kein Wunder,“ erwiderte sie fröhlich; „der gute Ausgang i scheint mir nicht länger zweifelhaft.“
Sie lachte auf eine eigenthümliche Art, indem sie die Mundwinkel ein wenig herabzog; es war, als wage sie in ihrer natürlichen Zurückhaltung selbst ihre Heiterkeit nicht offen einzugestehen.
Langsam schritten sie nebeneinander den Gang hinunter.
„Haben Sie nicht Gelegenheit gefunden, mit Resi ein vertrauliches Wort zu wechseln?“ fragte er halblaut.
Sie zögerte einen Augenblick. „Ja,“ gab sie dann zu, „zwei Minuten lang.“
„Nun?“ forschte er weiter.
Hedwig blickte lächelnd vor sich nieder. „Das bescheidene gute Geschöpf!“ sagte sie erröthend. „Sie glaubt noch immer, er – er thue es mir zum Tort, und – und – sie opfere sich für mich auf –“
Sie brach ab und begann ziemlich unvermittelt über die heutige Vorstellung zu sprechen. Jetzt, da ihre Angst und Erregung sich gelegt hatten, schien ihre Scheu vor vertraulicheren Gesprächen zurückzukehren. Helmuth verstand und achtete diesen Zug. Lebhaft ging er auf das neue Thema ein und freute sich ihrer behenden, feinsinnigen Auffassung. Sie uberraschte nicht durch blendende Einfälle; dafür schmiegte ihr Geist sich willig und mit verständnißvoller Anmuth den Absichten des Verfassers an. Ein überblickendes Urtheil gab sie nur zögernd und anspruchslos ab und horchte aufmerksam auf die reifere Kritik ihres Begleiters.
Sehr befriedigt kehrten beide auf den Ruf der Glocke in den Theatersaal zurück. Hedwig war es wie die meisten jungen Mädchen ihres Kreises wenig gewohnt, daß ein gereifter Mann sich zu einem ernsthaften, eingehenden Gespräch mit ihr herabließ; sie fühlte sich geehrt und gehoben.
Nach Schluß des Theaters stellte Lola den Bitten der beiden Herren noch gemeinsam ein Restaurant zu besuchen, trotz Resis flehenden Blicken ein entrüstetes „Nein“ entgegen. Sie erklärte, noch nicht genug Berlinerin zu sein, um eine solche Unsitte statthaft zu finden. So nahm man Abschied bis zum nächsten Vormittag; und während eine herbeigerufene Droschke die drei Damen nach Hause trug, fanden die Herren Platz auf dem Hinterperron eines Pferdebahnwagens, der sie nach der Friedrichstraße führte. Fast taghell zog sich die glänzende, bunt belebte Zeile der Straße hin; die Herren sprangen ab und wandten sich dem nächsten Restaurant zu, um Hunger und Durst zu stillen.
Die Unterhaltung drehte sich um öffentliche Tagesfragen und zeichnete sich keineswegs durch besondere Lebhaftigkeit aus. Jeder war mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt – Helmuth vielleicht auch ein wenig mit denen seines Gefährten. Die Zerstreutheit des jungen Mannes schien zuzunehmen; aus längerem Nachsinnen raffte er sich von Zeit zu Zeit wie zu einem Entschluß auf, zog den Athem kurz an und öffnete den Mund, ohne das, was ihm [445] auf dem Herzen lag, auszusprechen. Endlich erhoben sich beide zum Fortgehen. Draußen auf der Straße blieb der Brauuschweiger stehen und sagte zögernd, indem er seinen Rockkragen in die Höhe schlug:
„Wenn Sie nicht durch irgend eine Verabredung gebunden sind, so möchte ich wohl um die Erlaubniß bitteu, Sie bis an Ihren Gasthof begleiten zu dürfen.“
Helmuth versicherte höflich, er stelle seine Zeit wie seine Aufmerksamkeit Herrn Marboth zur Verfügung.
Dieser blickte mit einem Athemzug der Erleichterung nach dem glühlichterhellten Lokal zurück, dessen durch Tabaksrauch und Speisegerüche verdorbene Luft sie soeben verlassen hatten.
„Entschuldigen Sie,“ nahm er etwas beklommen wieder das Wort und begann mäßig auszuschreiten, „ich wollte Ihnen schon vorhin – aber es ist eine etwas – etwas zarte Angelegenheit, und da drinnen ist wohl nicht der rechte Ort.“
Helmuth, welcher schon wußte, was kommen würde, murmelte eine Ermuthigung.
„Es ist sehr hübsch von Ihnen,“ sagte Marboth. „Sie können sich nicht vorstellen, wie ich mich freue, daß Sie gekommen sind; man kann nun doch frei von der Leber weg sprechen – Mann zu Mann – und Sie sind da nun schon so lange Hausfreund. Immer nur mit den Damen – offen gestanden, das ist nichts für mich. Und die Mutter, die hat so eine Art – ach, die macht einen reinweg mundtot.“ – Wieder ein tiefer Athemzug. Helmuth sah nach dem Himmel, an dem sich eben das Gewölk theilte und einigen Sternen Raum gab. O ja, er kannte diese Art, „einen mundtot zu machen“.
„Sie werden es wohl gemerkt haben, daß ich nicht bloß so – so zum Zeitvertreib hier bin, sondern weil – ja, sehen Sie, Sie müssen sich nicht wundern, ich bin auf Veranlassung meines Onkels Konrad Marboth hier, der da auch Hausfreund ist – unter uns: ich glaube, er hat ein Auge auf die Mutter. Na, das ist Geschmackssache. Nun sitz’ ich da in meinem Braunschweig – ich bin nicht weit davon zu Hause, vom Lande, wissen Sie, mein Vater war Gutspächter und ich sollte auch – bin auch zwei Jahre auf die Landwirthschaftsschule gegangen und stehe noch mit unserem Direktor in Briefwechsel. Aber der Kaufmann steckte nun ’mal in mir, und so habe ich denn noch rechtzeitig umgesattelt. Hat sich ja auch gezeigt, daß es das Richtige war; ich kann Gott sei dank zufrieden sein; nur das Häusliche – das fehlt, und das kann ich nicht gut missen. Der Gesangverein – na ja, das ist ja ganz schön; aber wenn man dann so nach Hause kommt – und mit dem Familienverkehr – Sie haben es ja gesehen: ein Weltmann bin ich nicht, und wenn einem auch manche Damen sehr entgegenkommen – das kann ich erst recht nicht ausstehen. Und so sprach ich denn letzthin mit Onkel Konrad darüber – er war vor sechs Wochen in Berlin und Braunschweig – und da fing er gleich von Fräulein Hedwig an und zeigte mir das Bild der Mutter und sagte, die Tochter wäre auch so ähnlich, nur blond. Na, das konnte einem ja schon gefallen, nicht wahr?“
Helmuth war vollständig der Meinung des Redners.
„Er setzte mir so zu,“ fuhr dieser fort, „daß ich kaum das Ende der Inventurarbeiten abwarten konnte. Vor drei Tagen kam ich hier an, aber –“
Die tiefen Athemzüge folgten einander in immer kürzeren Pausen.
„Daß es mit Hedwig nichts war, das sah ich gleich. Ein hübsches Mädchen ist sie, dagegen ist nichts zu sagen. Aber diese Unfreundlichkeit! Ob ihr nun meine Person nicht gefällt oder die Art, wie ich ins Haus gekommen bin – ich weiß es nicht; vielleicht hat sie auch einen anderen im Sinne. Das sind nicht meine Angelegenheiten. Aber wenn sie nur ins Zimmer kommt, so friert mir schon die Zunge im Munde fest. Na, Sie haben es ja gesehen – das heißt, eigentlich nicht, denn heute, seit Sie hier sind, ist sie ganz menschlich. Vielleicht daß sie sich vor Ihnen geniert, oder – wer weiß! Wie gesagt, ich wäre den nächsten Tag wieder abgereist, denn diese Art paßte mir natürlich nicht. Aber die Kleine! Sehen Sie, die Kleine – das ist nun doch das Reizendste, was man sich denken kann. Zuerst hab’ ich sie häßlich gefunden – ich begreif’ es gar nicht mehr. Die schönen freundlichen Augen und das herzliche Lachen und immer so gut und so munter und immer um mich herum, als ob sie mich trösten wollte. So hat sie es wohl auch zuerst gemeint; aber jetzt – ich hoffe wenigstens, daß – daß es ihr auch Vergnügen macht; kokett ist sie ja nicht die Spur – und – sie muß es auch merken, wie – wie sehr ich –“
Dem guten Jungen kam etwas in die Kehle; er machte einige so große hastige Schritte, daß Helmuth ihm kaum folgen konnte.
„Warum sagen Sie es ihr denn nicht?“
„Wenn ich das könnte!“ entgegnete der Verliebte nach bedenklichem Schlucken und Räuspern. Vielleicht ist es doch nur Mitleid – und einen Korb – nein, Herr Stolz! Und dann die Mutter, die immer noch zu glauben scheint, ich sei Hedwigs wegen hier geblieben – es wäre doch nicht anständig, so ohne ihr Vorwissen – und darum – darum sollen Sie es ihr sagen; ja, Sie müssen das für mich thun, ich kann es wahrhaftig nicht! Sie hat so eine Art, und es könnte mir zustoßen, daß ich heulen müßte wie ein Schuljunge!“
Auch jetzt schien er nicht allzuweit von diesem bedenklichen Augenblick entfernt; die Stimme brach ihm zuweilen bis zur Unverständlichkeit, und sein Athem ging in keuchenden unregelmäßigen Stößen – kein Wunder auch bei dem Sturmschritt, in den er verfallen war. Helmuth fühlte sich lebhaft berührt durch das warmherzige kindliche Vertrauen des jungen Mannes, dem eine natürliche Vornehmheit des Gefühls nicht abging. Gern versprach er, Lola vorzubereiten; ja er freute sich darauf, sie zu überführen, daß ihre verkünstelte Empfindung immer auf das Fernliegende verfalle. Julius Marboth ein Diplomat!
Unfähig, die heute so vielfach angespannten Seelenkräfte länger zu zügeln, horchte er nur noch zerstreut auf die Worte seines Begleiters, durch dessen einmal geöffnete Redeschleusen sich [446] jetzt unaufhaltsam die Fluth seines Vertrauens ergoß. Jedes Wort aus Resis Munde schien sich seinem Gedächtniß eingeprägt zu haben, und das unbedeutendste davon hatte Reiz und Bedeutung für ihn. Immer wieder fragte er Helmuth, ob er wohl glaube, daß „das niedliche Ding nicht ‚Nein‘ sagen würde.“ Helmuth suchte ihn möglichst zu beruhigen. Den Redefluß seines neuen Freundes, der immer noch etwas zu berichten wußte und durchaus noch mit ihm in ein Café gehen wollte, dämmte er durch ein freundliches Abschiedswort zurück und stieg durch das glänzend erleuchtete Treppenhaus seines Gasthofs in sein Zimmer empor. Dienstfertig zündete ihm ein sauberes Zöfchen die dünne Stearinkerze an und überließ ihn einer ungewohnt frühen Ruhe.
Ach, diese Gasthofsruhe! Draußen schallten Reden und Gegenreden, über die Läufer hasteten gedämpfte Schritte, Stiefel wurden mit lautem Gepolter vor die Thüren befördert, und von Zeit zu Zeit rauschte und gluckste eine nahe Wasserleitung. Mehr aber als diese äußeren Störungen, auf die Helmuth schon während des Auskleidens mit nervösem Ingrimm lauschte, erregte ihn der Rückblick auf seine heutigen Erlebnisse. Ein Lebensabschnitt lag hinter ihm: er hatte seine Hoffnungen auf eine Zukunft an Lolas Seite für immer verabschiedet. Nun galt es, ein neues Ziel zu finden, sollte nicht sein Lebensschiff haltlos, planlos auf den Wellen irren. Seine Eltern waren nicht mehr am Leben, die Geschwister, hierhin und dorthin verstreut, bedurften seiner nicht; sein altes solides Geschäft nahm nur einen Theil seiner Kräfte in Anspruch. Auch seine Liebhabereien – er galt für einen tüchtigen Reiter und besaß eine berühmte Waffensammlung – füllten seine Seele nicht aus. Er konnte sich öffentlichen Angelegenheiten widmen, Wohlthätigkeit in großartigerem Maßstab üben als bisher – indessen war er denn wirklich schon alt und befriedigt genug, um auf jedes eigene Glück zu verzichten? Eine gleichgültige Ehe eingehen, nur um eine Häuslichkeit und eine eigene Familie zu besitzen, dazu fühlte er sich außer stande. Zu lange hatte die Ehe ihm als glückseliges Endziel vorgeschwebt, als das gelobte Land, das ihm die vieljährige einsame Wanderung lohnen sollte. Und nun plötzlich ließ er dieses Endziel fahren. Hatte Lola ihm heute eine früher geweckte Hoffnung geraubt – war er der Wanderschaft müde? Oder hatte er sie etwa von neuen Seiten kennengelernt? Nein, immer hatte er sie gefunden wie heute: selbstsüchtig ihre Ziele verfolgend, ihn mit unbestimmten Hoffnungen hinhaltend; allein der blendende Glanz, in dem er früher ihre Gestalt gesehen hatte, war zerflossen, und ohne diesen Schimmer erschienen ihm ihre Fehler abstoßend und unverzeihlich. Die Liebe war dahin, und nur die Erinnerung an soviel Schmerzen konnte es sein, was ihn noch quälte. Doch – was es auch sei, eine fremde Macht hatte in sein Leben eingegriffen, hatte die Schrift gelöscht, die er unvergänglich glaubte. Oder war trotz allem diese Schrift nur auf Augenblicke unsichtbar, um plötzlich aufs neue in erhöhter Klarheit und Helle hervorzutreten? Denn die gähnende Leere, die nach dem Verlust einer langen Liebe das beraubte Herz mit ihrer Trostlosigkeit heimzusuchen pflegt – er fühlte sie nicht in sich. Im Gegentheil, eine sonderbar erwartungsvolle Stimmung war in ihm, er war begierig, etwas Neues, Wundervolles zu erfahren, wie ein Kind neugierig ist auf die nächste Seite im neuen Bilderbuch.
Grübelei und kein Ende!
Helmuth tastete nach den Streichhölzern und zündete das Licht wieder an. Gleich darauf war er aus dem Bette und in den Kleidern; dann hob er seinen kleinen Handkoffer empor und leuchtete hinein, so daß einige Stearintropfen auf dessen Inhalt fielen. Es mußte doch da sein, nie war er ohne diesen Talisman gereist – richtig, da war’s. Ein flaches Ledertäschchen kam zum Vorschein, das, entfaltet, eine Reihe Ausschnitte mit Kabinettphotographien zeigte. Lola, Lola, und immer wieder Lola. Lola im Ballkostüm, im Hauskleid, im Promenadenanzug, Lola auf der Maskerade, Lola als zärtliche Mutter – immer schön, immer in bewundernswürdiger Pose, in der modernsten Kleidung des betreffenden Jahrganges – eine wahre Geschichte der Mode aus den letzten dreizehn Jahren.
Helmuth stellte den Leuchter auf die grüne Plüschdecke des Tisches, setzte sich auf das Sofa und betrachtete lange und aufmerksam prüfend jedes einzelne Bild. So sah sie aus, als er sie zum ersten Male erblickte; so schwermüthig sinnend schaute sie drein, als er ihr den „Ekkehard“ vorlas. Und beim Anblick jeder Photographie, beim Heraufbeschwören jeder dieser alten Erinnerungen lauschte er in sich hinein, ängstlich fast, ob die wohlbekannte Stimme sehnsüchtiger Leidenschaft nicht wie immer laut würde.
Und plötzlich zieht er den Leuchter näher heran. Er hat die letzte Falte des Täschchens geöffnet, und wie eine Ueberraschung blickt ein Bild ihn an, das er vor Monaten erhalten und vielleicht nicht ein einziges Mal wieder betrachtet hatte. Ein Schreck, ein süßer fremder, und ach! so wohlbekannter Schreck durchzuckt ihn, und sein Herz beginnt so schnell, so ängstlich zu klopfen, als ertappe er sich auf einem Unrecht – –
Vor seinen Augen wird es klar, aber um so schwerer legt es sich auf sein Herz. Wozu nun all das! Beklommen athmend, starrt er brennenden Blickes auf das Bild. Er drückt es verstohlen an seine Lippen und blickt hastig um sich, als fürchte er, beobachtet zu werden – dann schiebt er es beschämt von sich, um es im nächsten Augenblick wieder zu betrachten. Er wird des Ansehens nicht müde. Der Docht des Lichtes wird lang und biegt sich zur Seite; Tropfen auf Tropfen löst sich durchsichtig neben der Flamme, fließt an der Kerze herab und erstarrt zu hügeligen Streifchen. Helmuth merkt es nicht; er blickt auf das Bild, bis bunte Kreise sich vor seinen Augen drehen.
Was hatte er nun gewonnen? Er glaubte sich aus dem Abgrund gerettet und war nur noch tiefer hineingestürzt. Nur Flucht, eiligste Flucht konnte ihn vor einer gefährlichen Thorheit bewahren. Mit beiden Händen hielt er die schmerzende Stirn. Draußen schlurfte bereits der verschlafene Hausknecht, mit Stiefeln beladen, über die Gänge, als Helmuth endlich einschlief. Der Stumpf der Kerze war tief in den Leuchter hineingeschmolzen. –
Als er am nächsten Vormittag die Klingel an der Winterschen Wohnung in Bewegung setzte, versuchte er sich einzureden, es sei ihm mit dem Fluchtgedanken wirklich Ernst gewesen, und nur sein Versprechen dem jungen Marboth gegenüber, Frau Lola von der veränderten Lage der Dinge in Kenntniß zu setzen, habe ihn verhindert, abzureisen. Nun, da er doch einmal hier war, konnte er auch in seiner eigenen Sache ein wenig beobachten.
Er traf Lola allein im Speisezimmer, beschäftigt, einen Fruchtkorb mit heimischem und ausländischem Obste zu füllen. Sie war noch in einem einfachen Hauskleid von grauem Flanell, dessen schwarzer Sammetbesatz ihre heute morgen etwas matte Gesichtsfarbe ein wenig hob. Unter einem zierlichen Morgenhäubchen quollen einzelne dunkle Löckchen hervor.
„Sie scheinen sich zum Nachtwandler ausbilden zu wollen,“ begrüßte sie ihn, ohne sich in ihrer Beschäftigung stören zu lassen. „Ich glaubte, es sei die Friseurin. Kommen Sie so früh, um Abschied zu nehmen?“
„Diesen Wunsch erfülle ich Ihnen heute noch nicht,“ erwiderte er und lehnte sich, ihr zusehend, an das Büffett. „Sie werden doch nicht so ungastlich sein, mich vor der feierlichen Verlobung über die Grenze zu befördern?!“
„Sie haben sich also für die nächsten Monate in Berlin niedergelassen?“ gab sie in etwas spitzem Tone zurück.
„Behüte, schönste Frau – soviel Geduld können Sie von Herrn Julius Marboth nicht erwarten,“ lächelte Helmuth. „In seinem Auftrag bin ich hier. Er läßt Sie höflichst um die Erlaubniß bitten, Ihrer jüngsten Tochter, Fräulein Therese Winter, seine Liebe erklären zu dürfen.“
Lolas Hände sanken so plötzlich herab, daß der rothwangige Apfel, den sie eben mit einem weißen Tuche abgerieben hatte, zur Erde fiel. Helmuth bückte sich danach und überreichte ihn Lola mit einer tiefen Verbeugung.
„Gnädigste Frau Venus – Ihr ergebener Paris erlaubt sich gehorsamst –“
Mechanisch nahm Lola den Apfel. Ihr Gesicht war erblaßt; ihre Augen, noch größer und dunkler als gewöhnlich, blickten achtungsvoll und doch fast feindselig zu Helmuth empor.
„Ah,“ sagte sie langsam, „also haben Sie es durchgesetzt – das muß Sie viel Mühe gekostet haben!“
„Nicht die mindeste!“ lachte Helmuth. „Nur ein bißcheu Geduld. Herrn Marboths Verliebtheit ist etwas wortreicher Natur –“
Lola beachtete den Einwurf nicht. „Gut, mir kann es einerlei sein,“ fuhr sie fort, „ja, ich gönne Hedwig die Demüthigung. Nur eins möchte ich wissen –“
Sie ergriff plötzlich Helmuths Hand und führte ihn gegen [447] das Fenster. Ihre Blicke maßen seine ruhig dastehende Gestalt und hefteten sich durchdringend auf seine Züge.
„Was ist mit Ihnen vorgegangen?“ fragte sie mit leiser, weicher Stimme. „Seit gestern – die Stunde könnt’ ich Ihnen nennen – – ich habe etwas in Ihnen entdeckt, was Ihnen bisher zu fehlen schien: Sie haben einen Willen!“
Helmuth verbeugte sich verbindlich.
„Einen Willen sogar, der den meinen kreuzt,“ setzte sie hinzu, und die Spannung ihrer Züge löste sich in ein feines, kokettes Lächeln. „Wissen Sie nicht, daß das Neue mich reizt? Ich könnte wahrhaftig Lust bekommen –“
In der ihr eigenen halb herausfordernden Weise brach sie ab. Diese Art, verheißungsvoll anzudeuten, ohne etwas Bestimmtes zu versprechen, hatte noch selten ihre Wirkung verfehlt, am wenigsten auf Helmuth. Und heute?
„Verzeihung – Sie meinten?“ fuhr er plötzlich wie aus einem Traume auf.
Lola sah ihn groß an. War das berechnetes Spiel, war es Wahrheit? Ihr Herz begann zu klopfen. Die beleidigte Eitelkeit wollte den gesichert geglaubten Besitz, den sie so lange aus Herrschlust und Eigennutz festgehalten hatte, so leichten Kaufes nicht fahren lassen. Und es konnte ja nicht sein; er war nur in der That zu lange in ihrer Schule gewesen, hatte gelernt, sie mit ihren eigenen Waffen herauszufordern noch gestern morgen hatte er mit feurigem Blicke und Worte ihre Hand ergriffen –
„Mir fiel ein,“ sagte sie mit vollkommener Haltung, „daß ich Sie um einen Rath bitten könnte; Sie wissen, daß ich nicht gewohnt bin, einen wichtigen Schritt zu thun ohne Ihre freundschaftliche Meinung gehört zu haben.“
Er sah sie fragend an.
„Der Gutsbesitzer Konrad Marboth hat um meine Hand angehalten. Es ist ein glänzendes Los, das er mir bietet, wir würden im Sommer auf seinen Gütern, im Winter in Paris oder im Süden leben. Aber er ist ein wunderlicher Junggesell von fünfzig Jahren, eine etwas tyrannische Natur – was rathen Sie mir?“
In mühsam beherrschter Erwartung stand sie vor ihm. Die sieggewohnte Eitelkeit lechzte nach ihrem Triumph mit einer zitternden Begierde, die ihr ganzes Wesen wie eine neue Leidenschaft ergriff. In diesem Augenblick hätte sie alles drum gegeben, ihn zu ihren Füßeu zu sehen, ihn bebend stammeln zu hören. Keines anderen sollst Du werden, sei mein, endlich mein!
Er stand wieder ans Büffett gelehnt und strich sich bedächtig das dunkle Bärtchen. Eine Weile herrschte so tiefe Stille, daß das schwere Ticken der Uhr hörbar ward; dann hob Helmuth den Kopf und sagte mit einer Ruhe, der ein ironischer Beigeschmack nicht fehlte: „Sie haben ja heute Ihren Kolumbus-Tag: in mir haben Sie einen Willen entdeckt – vielleicht entdecken Sie in sich ein Herz. In diesem Falle rathe ich Ihnen: folgen Sie Ihrem Herzen!“
Abermals zurückgeschlagen! War das auch noch Spiel?
„Sie fangen an, sehr boshaft und amüsant zu werden,“ bemerkte Lola mit geschickt erheuchelter Munterkeit. „Wie schade, daß diese Begabung so spät zur Geltung kommt! Für jetzt erlaube ich Ihnen, mir Resi zu schicken und Ihre Freundin Hedwig von dem erfochtenen Siege in Kenntniß zu setzen. Die Kinder sind in ihrem kleinen Zimmer – Sie wissen ja – die vorletzte Thür im Gange!“
Als Helmuth an die bezeichnete Thür klopfte, erscholl ein kleiner Schrei, dann wurde sehr geräuschvoll mit Papier geraschelt, und schließlich riefen zwei helle Stimmen zu gleicher Zeit „Herein!“
Beide Mädchen, in einfachen Hauskleidern und Schürzen, standen ein wenig verlegen vor dem Eintretenden, doch sogleich ging über Hedwigs Gesicht eine lichte Röthe, und freundlich reichte sie ihm die Hand. Er behielt diese Hand in der seinen und sagte, zu Resi gewendet, daß ihre Mama sie zu sprechen wünsche.
„Sie sind’s – wie hübsch! Aber erschreckt haben Sie uns, weil wir gerade unsere große Arbeit für Mamas Geburtstag vorgenommen hatten. Wollen Sie einmal sehen? Es giebt eine Fensterdecke; ein Zweig ist schon fertig – schön, nicht wahr?“
Resi hob einen großen Papierbogen vom Mitteltisch, und ein riesiger Stickrahmen wurde sichtbar; der eingespannte blaßgelblich schillernde Seidenplüsch zeigte eine gestickte Blumenranke.
„Reizend,“ sagte Helmuth. „Aber nun gehen Sie zu Ihrer Mama, Sie ungehorsames Kind, sie hat zur Revanche auch solch eine sandfarbene Ueberraschung für Sie bereit.“
Resi riß die Augen weit auf, zuckte die Achseln und schlenderte vergnüglich und ahnungslos aus dem Zimmer.
„Es wird doch nicht schon – ist – ist Herr Marboth bei Mama?“ fragte Hedwig erregt und versuchte vergebens, ihm ihre Hand zu entwinden.
Helmuth schüttelte den Kopf und hielt Umschau in dem behaglichen Raume, der mit den zierlichen, in Schwarz und Gold lackierten Möbeln, den fächergeschmückten Wänden und dem Ueberfluß an Nippes den Typus eines Mädchenzimmers darstellte.
„Wie hübsch Sie es hier haben!“ sagte er fast beklommen und athmete andächtig den unbestimmten Duft ein, der jedem Gegenstand dieses Zimmers anzuhaften schien.
„Sie waren doch früher schon öfter hier,“ versetzte Hedwig verlegen und blickte zagend auf ihre gefangene Hand.
„Ja – früher! Da war auch alles anders. Der Schreibtisch zum Beispiel stand früher da, wo jetzt der Blumentisch steht.“
„O nein, Sie täuschen sich – der stand immer dort.“
„Dann fehlten die Fächer und die Vasen mit Wetterdisteln.“
„Nur zwei der Fächer sind neu – die großen japanischen. Die Vasen haben Sie uns ja selbst vor zwei Jahren mitgebracht; wissen Sie nicht mehr?“
„Nein wahrhaftig, das weiß ich nicht mehr. Uebrigeus sind sie nicht sehr schön, Sie sollen andere dafür haben. Was mögen Sie am liebsten? Meißener?“
„O – Herr Helmuth –“
„Und mein Bild habe ich Ihnen auch geschenkt?“
Er nahm von einem Borte ein neues Stehrähmchen mit einer etwas verblaßten Photographie. Hedwig wurde glühend roth und mit verdoppelter Anstrengung bemühte sie sich, ihre Hand aus der seinigen zu befreien.
„Das ist – Sie müssen es Mama nicht übelnehmen – als Sie ihr das neue Bild schenkten, da haben wir – da hat sie uns das alte gegeben – wir hatten ja keins von Ihnen – sind Sie Mama böse?“
„Nein!“ Er sah sie an, sie wandte hastig das Gesicht ab.
„Hören Sie nur, wie laut der Kanarienvogel singt,“ stammelte sie in steigender Verwirrung. „Er merkt, daß ein Fremder da ist – da vermuthet der eitle kleine Künstler ein besonders dankbares Publikum –“
Er hielt unverwandt den Blick auf sie gerichtet. Sie vermuthete, daß er sich innerlich über sie lustig mache, und fügte heftig hinzu: „Warum sehen Sie mich denn so an, wie – wie ein Hofmeister?“
Da wurde plötzlich die Thür aufgerissen, und laut weinend stürzte Resi ins Zimmer. Sie warf sich in die Sofaecke, verbarg das Gesicht im Polster und schluchzte herzbrechend.
Im selben Augenblick hatte Hedwig sich freigemacht und stand an der Schwester Seite, sich voll Schrecken über sie beugend.
„Um Gotteswillen – Resi – Resi –“
Die Kleine fuhr eine Weile fort, ununterbrochen zu schluchzen. Mit einem Male richtete sie sich empor und enthüllte ein vom Weinen verschwollenes rothfleckiges Gesicht von erschütternder Komik. Unter zusammengezogenen Brauen hervor trotzte ein Paar gerötheter Augen bitterböse auf die Schwester, und ein Querfältchen über der kleinen Nase machte die drolligste Wirkung.
„Du bist schuld!“ rief sie, noch halb weinend, „Du ganz allein mit Deinem – Deinem abscheulichen Hochmuth! Aber ich thu’ es nicht – ich will nicht – und wenn Mama Hi – Hi – Himmel und Erde in Bewegung setzt!“
Bestürzt blickte Hedwig abwechselnd auf die Weinende und auf den belustigt dreinschauenden Helmuth.
„So gut hab’ ich’s gemeint – ich wollte all Deine Unfreundlichkeit wieder gut machen,“ fuhr Resi fort, „und nun – nun meint er, ich hätte ihn Dir wegfischen wollen – ich hätte es drauf angelegt – oder gar will er mich aus Mi – Mitleid heirathen, weil er glaubt, ich – ich hätte mich in ihn ver –“
Ein wildes Schluchzen schnitt das Wort mitten entzwei. Hedwig, noch von eigener Herzensnoth erregt, war nicht imstande, die heitere Auffassung Helmuths zu theilen, der lächelnd ans Sofa herantrat.
„Sie unvernünftiges kleines Mädchen!“ sagte er. „Alles, was Sie da vorbringen, ist reine Einbildung. Herr Marboth hat mir sein ganzes Herz ausgeschüttet, es war sehr inhaltsreich; er betet Sie an, er denkt von Ihnen so gut, wie man von seinem Ideal [448] nur denken kann. Und Sie – Sie lieben ihn auch – wenigstens finden Sie ihn ‚amüsant‘ oder ‚himmlisch‘ – warum wollen Sie ihn nun aus kindischem Eigensinn kränken und fortschicken?“
Er hatte in ein Wespennest gestochen. Resis Zorn wandte sich plötzlich gegen ihn.
„Kindisch? Eigensinn?“ sprudelte sie hervor. „Und wie hat sich denn Hedwig benommen? Wie Luft – puh! – hat sie ihn behandelt, den armen lieben Menschen – aber das war natürlich kein ‚kindischer Eigensinn‘, wie? O – aber ich, das ist freilich etwas anderes; was mein Fräulein Schwester nicht mag, ist für mich noch lange gut genug! Allein Ihr irrt Euch, ich halte mich doch für zu kostbar, um die – Ersatzreserve zu spielen!“
Hedwig, zwischen Lachen und Weinen, fühlte ihre Kehle sich zusammenschnüren. Wankend stützte sie beide Hände auf den Tisch. Langsam ging Helmuth zur Thür.
„Ist das Ihr letztes Wort, Resi?“
Das Mädchen nickte.
Er hob die Achseln. „So bleibt mir nichts anderes übrig als die beneidenswerthe Aufgabe, Herrn Marboth, dem ‚armen lieben Menschen‘, entgegenzugehen und ihm Ihren Entschluß mitzutheilen. Ich möchte ihm doch wenigstens den peinlichen Abschiedsbesuch in diesem Hause ersparen.“
Er hielt den Drücker in der Hand und blickte erwartungsvoll zu Resi hinüber. Sie hatte beide Ellbogen auf den Tisch gestützt und preßte ihr Tuch gegen die Augen.
„Resi –“ begann Hedwig, „Du hast ihn doch so gern –“
„Was kümmert’s Dich?“ rief Resi wüthend.
„Und haben Sie ihm nichts mehr auszurichten, keinen Gruß?“ fragte Helmuth.
„Einen Gruß, meinetwegen!“ murrte die Kleine. Dann, als sie ihn wirklich die Thür öffnen sah, schnellte sie vom Sofa empor und stammelte verwirrt:
„Und – und – auch noch, daß es mir so schrecklich leid thut – und – er soll mir nicht böse sein –“
Lächelnd ging Helmuth hinaus. Hedwig breitete plötzlich in heftiger Bewegung ihre Arme aus, und Resi flüchtete hinein. So standen sie fest umschlungen und weinten, weinten – ob vor Leid, vor Glück, vor Liebe? Sie wußten es selber nicht. –
Beim Durchschreiten des „Berliner Zimmers“ fand Helmuth Lola in vollem Aerger mit gekreuzten Armen auf und abgehend. Einen Augenblick hielt er ihren Klagen über die empörende Unvernunft der beiden Mädchen stand, dann versicherte er sie ernsthaft seines Beileids über den Besitz zweier ihrer Mutter so ungleicher Töchter und verließ eilig Zimmer und Haus.
Draußen lachte ein heller Himmel; ein leichter Frost überzog die Straßen, auf denen das geräuschvolle Gewühl der hin und her eilenden Menschen, der Wagen und Pferdebahnen in jedem Augenblick sich bunt und fröhlich erneute. Helmuth spähte rechts und links, wanderte ein Weilchen vor dem Hause auf und nieder und blieb endlich vor dem Schaufenster eines nahen Blumenladens stehen. Ein blaßlila Fliederzweig, aus gleichfarbiger spitzer Papierdüte seine zarten Dolden vorstreckend, fesselte seine Aufmerksamkeit. Er stellte sich vor, wie gern Hedwig ihr niedliches Zimmer mit dem zarten Frühlingsboten schmücken würde, und nachdem er sich nochmals überzeugt hatte, daß der Erwartete sich noch nicht nähere, trat er schnell in den Laden. Zu seiner Ueberraschung fand er hier Herrn Julius Marboth auf einem Stuhle, einen strahlend blanken Cylinderhut zwischen den Knien, die Hände von ebenso neuen, gelben Handschuhen bedeckt, welche genau nach seiner Haarfarbe ausgesucht zu sein schienen.
„Sie Unglücksvogel!“ begrüßte Helmuth den sich erfreut Erhebenden, „Sie lassen hier wohl den Verlobungsstranß binden?“
„Warum nicht?“ schmunzelte der Blonde.
„Mein lieber Freund,“ sagte Helmuth gelassen, „selbst hier in Berlin giebt es noch Gebiete, auf denen die elektrische Geschwindigkeit sich einstweilen nicht nutzbar machen läßt. Bezahlen Sie Ihren Strauß und hoffen Sie mit mir, daß wir ihn später zur Erfüllung seines eigentlichen Zweckes abholen lassen können!“
Gleich darauf trat Marboth halb betäubt neben seinem Gönner auf die Straße und horchte verstört auf die Beschreibung der Scene von vorhin. Resis Gruß und ihre letzte Bestellung nahm er mit einer Miene entgegen, in der es voll zärtlicher Rührung und schmerzlicher Bitterkeit verdächtig zuckte.
„Und nun,“ schloß Helmuth, „werde ich mich hüten, Ihnen irgend einen Rath zu ertheilen. Ein anderer würde Ihnen vielleicht sagen: die Welt ist übervoll von Mädchen; reisen Sie ab und halten Sie sonstwo Umschau –“
„Und das thäte ich auch,“ fiel Marboth mit bewegter Stimme ein, „wenn – wenn sie es mir nicht angethan hätte. Und außerdem – sehen Sie – ich glaube es nicht.“
„Was glauben Sie nicht?“
„Daß sie es ernst meint mit dem ‚Nein‘. Das muß ich erst aus ihrem eigenen Munde hören. So kann sie sich nicht verstellen. Sehen Sie – gestern im Theater –“
Und er machte Miene, die gestern unterbrochene Wiedergabe von Resis Aeußerungen fortzusetzen. Helmuth jedoch, den es drängte, ein ganz anderes Gespräch, das er vor einer halben Stunde hatte unterbrechen müssen, wieder aufzunehmen, führte ihn gegen das Haus zu.
„Aufrichtig gestanden,“ sagte er, „bin ich ganz Ihrer Meinung. Wissen kann man es freilich nicht; ich gehöre nicht zu den Narren, die behaupten, die Frauen zu kennen. Als ob die Frauen nicht untereinander ebenso verschieden wären wie wir – und als ob nicht jede einzelne von ihnen unberechenbar wäre!“
Oben erfuhr Helmuth von dem Dienstmädchen, daß die gnädige Frau mit ihrer Toilette beschäftigt sei. Nachdem er seinen vor Erregung bleichen Schützling im Salon untergebracht hatte, klopfte er unverweilt an das Zimmer der beiden Mädchen.
Diese waren, einander mit den Armen umschlingend, auf und ab gewandert und hatten sich im Drange der stürmenden Gefühle die vertraulichsten Geständnisse gemacht. Hedwig trug Helmuths Bild in der Hand und stellte es bei seinem Eintritt eiligst auf den nächstbesten Tisch, freilich zu spät, um die verrätherische Bewegung seiner Beobachtung zu entziehen. Mit einem trostlosen Blick ihrer verweinten Augen suchte Resi in den Zügen des Eintretenden zu lesen.
„Ist er abgereist?“ fragte sie in einem Tone, als erkundige sie sich nach seiner Beerdigung.
„Er benutzt den nächsten Zug,“ antwortete er ernsthaft.
Resis Augen füllten sich aufs neue mit Thränen.
„Wenn er nur gesund nach Braunschweig kommt!“ fuhr Helmuth mit einem übertriebenen Ausdruck von Mitleid fort, welcher Hedwigs Aufmerksamkeit erregte, so daß sie mit steigender Spannung und zum Lächeln sich öffnenden Lippen ihn anblickte. „Ich verließ ihn in einem Zustand – es war zum Erbarmen!“
Schluchzend warf Resi sich in einen Stuhl; über sie hinweg trafen sich zwei verständnißvolle Blicke. Leise trat Helmuth zu der Weinenden und legte seine Hand auf ihren Scheitel.
„Armes Kind!“ sagte er weich. „Drüben im Salon liegt sein Abschiedsbrief – gehen Sie, weinen Sie sich in der Einsamkeit aus!“
Resi sprang auf und tastete sich, das Tuch vor die Augen gedrückt, aus dem Zimmer. Hastig ergriff Helmuth Hedwigs Hand und führte sie leise bis zur Thür, welche er öffnete. Sie sahen die weinende Resi langsam das Speisezimmer kreuzen und die Schiebethür zum Salon zurückstoßen – dann ertönte plötzlich ein Schrei, ein Schluchzen, halb erstickte jubelnde Laute einer männlichen Stimme. –
Erglühend riß Hedwig ihre Hand aus der des Freundes und stürmte in wilder Flucht zurück in ihr Zimmer; hinter ihr drehte sich der Schlüssel im Schlosse.
Helmuth eilte ihr nach. „Hedwig!“ rief er flehend, „Hedwig!“
Aber alles blieb still; nur aus der nahen Küche hörte er das unterdrückte Kichern der Dienstboten.
Drinnen stand das junge Mädchen, beide Hände auf das laut pochende Herz gepreßt. Was war das – wollte er sie demüthigen, weil er sein Bild in ihrer Hand gesehen hatte? Wollte er studieren, ob sie ihrer Schwester das plötzlich gewonnene Glück gönnte? Oder – – nein, o nein! Er hatte sie ein wenig gern, weil sie die Tochter ihrer Mutter war, die er verehrte; es machte ihm Vergnügen, die thörichten kleinen Mädchen zu necken oder zu hofmeistern, je nachdem. Und nun ärgerte es ihn, daß sie nicht wieder kam. Aber sie wollte nicht – nein, um keinen Preis konnte sie ihm jetzt in die Augen sehen. Mochte er nur rufen!
Und er rief – bis sich mit einem Male eine andere Thür aufthat und Lola frisch frisiert in ihrem grauen Plüschgewand vor ihm stand und ihn verwundert ansah.
„Helmuth – wie sehen Sie aus! Was machen Sie denn da?“
[450] Er strich mit bebender Hand über sein Haar und seine feuchte Stirn.
„Ich muß Sie sprechen, Lola, sofort – kommen Sie!“
Er sagte es ernst, fast befehlend, obwohl Mund und Kehle ihm kaum gehorchen wollten. Betroffen blickte sie ihn an; dann ging sie ihm rasch voran ins Speisezimmer. Sollte ihr doch noch der ersehnte Triumph beschieden sein?
Auf einem Stuhle am Fenster nahm sie Platz, während er hastig auf und nieder schritt. Jetzt blieb er stehen und deutete auf die wieder geschlossene Schiebethür, die in den Salon führte.
„Dort driunen ist ein glückliches Brautpaar – Resi und der junge Marboth,“ begann er. „Bleiben Sie!“ fuhr er fort, als sie sich in freudigem Schrecken erheben wollte, „die werden schon kommen, sobald sie Sehnsucht nach Ihrem mütterlichen Segen verspüren werden. Ich habe Ihnen noch etwas anderes zu sagen. Es drängt mich, Frieden mit Ihnen zu machen, Lola. Sie haben mir übel mitgespielt, jahrelang – Sie haben meine Liebe nicht einschlafen lassen, mich mit eitlen Hoffnungen hingehalten, ohne die Absicht, sie zu erfüllen – ist das so?“
Sie strich mit der Hand schmeichelnd über den weichen Plüsch ihres Gewandes.
„Mein Gott, lieber Freund, Sie werden tragisch. Vielleicht hatte ich dennoch so halb und halb die Absicht, das heißt, ich ließ mich von den Verhältnissen treiben und war schließlich selber neugierig, an welchem Ufer ich landen würde. Eigentlich konnte es ja für Thomas Winters Witwe nichts Verlockendes haben, nach Hamburg zurückzukehren und den Lästerzungen Gelegenheit zur Erneuerung eines alten Themas zu geben. Und Sie zu veranlassen, Hamburg und Ihrem Beruf den Abschied zu geben, dazu waren Sie zu jung. Ein junger Mann ohne geregelte Berufsthätigkeit ist eine Qual für sich und seine Umgebung.“
„Wenn Sie mich geliebt hätten, wie Sie mich manchmal glauben ließen – doch das liegt nun hinter uns. Ich danke Ihnen für das, was Aufrichtiges in Ihren Worten war – es thut mir nicht mehr weh. Aber für die langen schweren Leidensjahre, die ich Ihnen jetzt von Herzen verzeihe, sind Sie mir eine Genugthuung schuldig, eine Entschädigung, die, wenn Sie sie mir gewähren, Sie selbst Ihrem Ziele näher bringt –“
Weit vorgebeugt, ihm mit erwartungsvollen Blicken die Worte vom Munde holend, saß sie da.
„Geben Sie mir Hedwig!“ fuhr er tief bewegt fort. „Ich glaube hoffen zu dürfen, daß ihr Herz an mir hängt – vielleicht haben Sie das gewußt, vielleicht nicht, es kommt auch nichts darauf an. Was mir dies Mädchen ist, ich kann es nicht ausdrücken. Alles Glück, das ich je erhoffte, erwarte ich jetzt von ihr – alles, was rein und schön und innig ist, verkörpert sich mir in Hedwig. Wollen Sie uns glücklich machen?“
Ein Schatten gekränkter Eitelkeit lag auf Lolas Zügen; sie preßte die Lippen zusammen und sah eine Weile vor sich hin. Doch sie fühlte, daß das Gute und das Nützliche hier zusammenfiel; es war leicht, das Nothwendige mit Liebenswürdigkeit zu thun. Sie stand auf, und mit sonnigem Lächeln reichte sie Helmuth die Hand.
„Ich freue mich, daß ich eine Gelegenheit finde, wieder gut zu machen, was ich mit oder ohne Absicht an Ihnen verbrach,“ sagte sie mit einer Freundlichkeit, der eine kokette Schelmerei beigemischt war. „Zugleich fühle ich, wie seltsam es ist, daß mein allzeit hilfsbereiter Freund selbst in dem Augenblick, da er sich von mir abwendet, mich in meinem Wünschen und Wollen unterstützt. Geständniß gegen Geständniß – und ein bißchen Rachegefühl müssen Sie mir dabei noch gönnen – vor sechs Wochen habe ich Konrad Marboth mein Wort gegeben.“
Leicht kopfschüttelnd sah er sie an. „So hätten Sie, als Sie mich herbeiriefen, absichtlich die falsche Voraussetzung in mir verstärkt, ich solle Hedwig in meinem Interesse überreden –“
Lola lachte. „Keine Bitterkeit, mein Freund! Sie werden glücklich werden, vielleicht glücklicher als ich – lassen Sie das Vergangene vergangen sein! Haben Sie schon mit Hedwig gesprochen?“
„Noch nicht; sie hat sich geflüchtet, in ihr Zimmer eingeschlossen.“
„Kommen Sie!“
Sie ging ihm voran und klopfte an Hedwigs Zimmer.
„Mach’ auf, Hedwig, ich bin es, Deine Mama!“
Der ungewohnt weiche Ton der Stimme Veranlaßte Hedwig, die Thür zu offnen. Vor ihr stand die Mutter, die Augen freundlich auf sie gerichtet. Und ein anderer tauchte dahinter auf und drang ins Zimmer und zog das scheu zurückweichende Mädchen in seine Arme.
„Hedwig – Geliebte!“
Sie wehrte sich nicht mehr. Stumm und selig duldete sie seine Liebkosungen, während die Mutter sich still zurückzog.
Als Lola den Salon betrat, wand sich Resi aus Marboths Armen und warf sich lachend und weinend an ihre Brust.
„Mama – Mama – denk’ nur, ich bin verlobt! Ist das nicht – nicht köstlich?“
Und Lola lachte und weinte mit ihrem Kinde.
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