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Lob des Demosthenes

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Textdaten
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Autor: Lukian von Samosata
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Titel: Lob des Demosthenes
Untertitel:
aus: Lucian’s Werke, übersetzt von August Friedrich Pauly, Vierzehntes Bändchen, Seite 1752–1784
Herausgeber:
Auflage:
Entstehungsdatum: 2. Jahrhundert
Erscheinungsdatum: 1831
Verlag: J. B. Metzler
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Erscheinungsort: Stuttgart
Übersetzer: August Friedrich Pauly
Originaltitel: Δημοσθένους Ἐγκώμιον
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Scan auf Commons
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[1752]
Lob des Demosthenes.
Lycinus und Thersagoras.[1]

1. Ich lustwandelte den sechszehnten dieses Monats, kurz vor Mittag, in der Säulenhalle links von hier aus, auf und ab, als mir der Dichter Thersagoras begegnete, den ohne Zweifel Einige von Euch kennen. Er ist ein kleiner Mann mit einer Habichtnase und etwas blassem Gesicht, übrigens von energischem Wesen. Wie ich ihn auf mich zukommen sah, grüßte ich ihn und fragte: „woher und wohin?“

Thersagoras. Gerade von Hause hieher.

Lycinus. Also wohl auch nur, um spazieren zu gehen?

Thersagoras. Auch Das, mein Freund. Ich bin heute früh noch vor Tag aufgestanden, weil ich mir vorgenommen [1753] hatte, dem Homer, dessen Geburtstag heute ist, ein Product meiner Dichtkunst zu seinem Preise darzubringen.

Lycinus. Das ist schön von dir, daß du das Lehrgeld an deinen Meister auf diese Art zu entrichten suchst.

Thersagoras. Und wie ich einmal zu arbeiten angefangen hatte, vertiefte ich mich so, daß ich nicht merkte, schon in den Mittag hineingerathen zu seyn: es ist mir also wohl Bedürfniß, ein wenig umher zu gehen.

2. Wiewohl mein eigentliche Absicht war, Diesen hier zu begrüßen – indem er auf Homer’s Bildsäule wies, die, wie ihr wißt, rechts vom Tempel der Ptolemäer steht, und durch das lange lockigte Haupthaar bemerklich ist – zu ihm wollte ich mein Gebet verrichten, daß er mir die Gabe des Gesanges recht reichlich zutheilen möge.

Lycinus. Wenn es mit dem Bitten gethan wäre, so hätte ich meinerseits dem Demosthenes längst schon und unaufhörlich angelegen, mir auf seinen Geburtstag zu Etwas behülflich zu seyn. Nun denn, wenn du meinst, daß wir nur zu beten brauchen, so wollen wir unsere Wünsche vereinigen. Und halbpart alsdann den Gewinn!

Thersagoras. Was mich betrifft, so glaube ich Ursache zu haben, der Gunst Homer’s die Leichtigkeit zuzuschreiben, womit in dieser Nacht und diesen Morgen die poetischen Gedanken mir zuströmten. Ich fühlte mich in der That göttlich begeistert, von wahrer dichterischer Wuth ergriffen. Du sollst selbst urtheilen. Denn absichtlich habe ich meine Handschrift zu mir gesteckt, auf den Fall, daß ich irgend einen meiner Freunde träfe, der Zeit hätte, mich anzuhören: [1754] und wie ich sehe, befindest du dich eben in schönster Muße.

3. Lycinus. O du Glücklicher! Dir ist, wie Dem, der im Wettlauf gesiegt, und nachdem er sich den Staub abgewaschen, sich nun hinsetzte, um den übrigen Wettspielen behaglich zuzusehen, und mit einem Ringkämpfer plaudern wollte, der mit jedem Augenblick den Aufruf zum Kampf erwartete. „Vor der Schranke, wie ich, würde dir das Plaudern vergehen,“ sagte Dieser. So erscheinst du mir gerade. Du hast den poetischen Dauerlauf siegreich bestanden, und willst nun deinen gnädigen Scherz mit einem Manne haben, der zaghaft das ungewisse Glück des Stadiums erst noch versuchen will.

Thersagoras. (lachend) Was doch der Mann für ein verzweifeltes Unternehmen vorhaben muß!

4. Lycinus. Scheint dir etwa Demosthenes in Vergleichung mit Homer so unbedeutend zu seyn? Und hast du allein das Recht, auf dein Lob Homer’s dir Etwas einzubilden; mein Demosthenes dagegen soll wenig oder Nichts gelten?

Thersagoras. Boshafter! Das sey ferne, einen Streit zwischen diesen beiden Heroen erregen zu wollen: wiewohl ich geneigter bin, mich auf Homer’s Seite zu stellen.

Lycinus. Nun gut; ich aber werde es mit Demosthenes halten, meinst du nicht?

5. Wenn es aber nicht des Gegenstandes wegen ist, daß du mein Beginnen gering achtest: so liegt am Tage, daß in deinen Augen nur ein poetisches Werk Etwas gilt, und daß du auf unsere rhetorischen Aufsätze eben so vornehm herabsiehst, [1755] wie der Reiter auf die Fußgänger, an welchen er vorbei galoppirt.

Thersagoras. Vor diesem Wahnsinn möge ich bewahrt bleiben, mein Freund; so viel Wahnsinn übrigens Derjenige vonnöthen hat, der in die Pforten der Poesie eingehen will.

Lycinus. Doch bedürfen auch prosaische Schriftsteller eines gewissen göttlichen Anhauches, wenn ihre Werke nicht gemein, geistlos und gedankenarm erscheinen sollen.

6. Thersagoras. Das weiß ich, mein Freund, und es gewährt mir öfters großes Vergnügen, Stellen des Demosthenes und anderer Redner in Hinsicht auf die Stärke, Schärfe und den Schwung des Ausdrucks mit Homerischen zu vergleichen. Z. B. des Demosthenes Ausfälle auf des Philippus Trunkenheit, unzüchtige Tänze, und Schwelgerei[2] mit dem Homerischen

Trunkenbold, mit dem Blicke des Hunds, und dem Muthe des Hirsches!

Ferner das bekannte:

Ein Wahrzeichen nur gilt, das Vaterland zu erretten, u. s. w.

mit jener schönen Demosthenischen Stelle: „Wackere Männer müssen, mit guter Zuversicht gewappnet, nur um das Rühmliche sich bemühen,“ u. s. w.[3] Wiederum:

Weinen ja würde vor Schmerz der graue, reisige Peleus;

[1756] und bei Demosthenes: „Wie würden sie seufzen, jene Männer, welche für Ruhm und Freiheit starben.“ u. s. w. Oder des Demosthenes „überfluthenden Redner Python“ mit des Ulysses „Gedräng der Worte, wie stöbernde Winterflocken.“ Oder das Homerische:

Lieber! vermöchten wir sonst, unsterblich Beid’ und unalternd,
Immer zu blühen u. s. w.

mit Demosthenes „Jeglichem Menschen ist der Tod zum Ziele des Lebens gesetzt, und wenn er sich in einem Käficht verschlossen hielte.“ Und so begegnen sich Beide an unzähligen Stellen in denselben Gedanken.

7. Auch bemerke ich an diesem Redner mit besonderem Vergnügen das Affectvolle, die schöne, klare Ordnung der Darstellung, die geschickten Wendungen des Ausdrucks, die allem Ueberdruß begegnende Mannichfaltigkeit und Abwechslung, die gefälligen Uebergänge, die angenehmen und treffenden Gleichnisse, und die über sein ganzes Wesen verbreitete classische Reinheit.

8. Und es wollte mich schon oft bedünken – um die Wahrheit zu gestehen – Demosthenes, der doch dafür gilt, seiner Freimüthigkeit nirgends den Zügel angelegt zu haben, habe gleichwohl in den Vorwürfen, die er den Athenern ihrer Schlaffheit wegen macht, den Anstand noch mehr beobachtet, als Jener bei Homer,[4] der die Achäer Achäerinnen schilt, und fülle die Rolle, die er in jenem großen Trauerspiele Griechenlands zu spielen hatte, mit nachhaltigerer Kraft und vollerer Brust aus, als wir an dem Dichter gewahren, der [1757] seine Helden oft mitten in der Hitze der Schlacht lange Zwiegespräche halten läßt, und ihren Ungestüm mit breitem Geschwätz verschwächt.

9. Nicht selten tritt auch bei Demosthenes eine gewisse Symmetrie der Glieder, ein gefälliger Rhythmus und Sylbentanz ein, welcher den Reizen der poetischen Form sich nähert; während es dem Homer wiederum nicht an oratorischen Figuren, Gegensätzen, Gleichklängen und anderen Schönheiten fehlt, welche bald die Stärke, bald die Lieblichkeit des Ausdrucks erhöhen. So scheint es in der Natur dieser beiden Künste zu liegen, daß sie ihre Schönheiten gegenseitig austauschen. Wie sollte ich also von deiner Muse verächtlich denken, da sie mir in dieser Gestalt erscheint?

10. Nichts desto weniger schlage ich die Aufgabe, den Homer in einem Gedichte zu preisen, doppelt so hoch an, als die deinige, eine Lobschrift auf den Demosthenes zu verfassen, und dieß nicht der Verse, sondern des Gegenstandes wegen. Denn ich habe für mein Lobgedicht keine feste (geschichtliche) Grundlage: nur Homer’s Poesie selbst kann mein Stoff seyn: alles Uebrige, seine Heimath, seine Herkunft, seine Zeit, ist im Ungewissen. Wäre dieß nicht,

Dann gäb’ es keine Zweifel und kein Hadern mehr; [5]

während man ihm jetzt bald Colophon in Ionien, bald Cumä, bald Chios oder Smyrna, oder Theben in Aegypten, und Wer weiß was für andere Städte noch als Heimath anweist; und ihm zum Vater der Lydier Mäon, oder gar, in Ermanglung menschlicher Eltern, einen Flußgott [Meles], und zur [1758] Mutter die Melanope, oder eine Nymphe vom Dryadengeschlechte gibt; sein Leben endlich bald in die Heroenzeit, bald in die Periode der Auswanderung der Ionier verlegt.[6] Seine Glücksumstände, daß er arm gewesen und das Gesicht verloren, alles dergleichen wird, als gänzlich ungewiß, am Besten bei Seite gelassen. Das Feld für mein Lobgedicht ist somit sehr beschränkt; indem mir nichts übrig bleibt, als die müssige Poesie meines Helden (statt sein Leben und seine Thaten) zu preisen, und seine weiten Maximen aus seinen Gesängen zu erschließen und aus denselben zusammenzusuchen.

11. Dein Stoff dagegen ist schon zur Hand: seine Bearbeitung geht leicht und bequem von Statten, und hält sich innerhalb schon bestimmter und geläufiger Namen und Ausdrücke: kurz das Gericht ist schon fertig, du brauchst es nur zu würzen. Denn was hat nicht schon das Glück gethan, den Demosthenes mit Glanz und Größe zu umgeben? Was wäre hier noch unbekannt? Ist nicht Athen seine Vaterstadt, das herrliche, das vielbesungene, das Bollwerk Griechenlands? Geriethe dieses Athen mir in die Hände, ich würde mir die poetische Freiheit nehmen, die alten Liebesgeschichten der Götter, ihre Richtersprüche, Ansiedelungen, Geschenke, und die ganze Geschichte von Eleusis herbeizuziehen. Und würden vollends die Gesetze dieser Stadt, ihre Gerichtshöfe und Volksfeste, der Piräeus, die Colonieen, die Siege zu Wasser und zu Land, mit ins Spiel gebracht: [1759] so wäre „alles dieß nach Gebühr in Worte zu fassen, Eines Mannes Sache nicht,“ spricht Demosthenes. So reichlich aber dieser Stoff mir zuströmte, so würde ich doch nicht dafür angesehen werden, als setzte ich den Zweck der Lobrede selbst hintan, indem es ja stehender Gebrauch dieser Lobredner ist, ihre Helden durch den Ruhm ihrer Vaterstädte zu verherrlichen. Isocrates hat uns in seiner Lobschrift auf die Helena noch den Theseus mit in den Kauf gegeben. Nun vollends wir Dichter – sind wir nicht ein freies Volk? Du vielleicht müßtest freilich befürchten, bei einem solchen Mangel an Proportion den Spott des Sprüchworts dir zuzuziehen, du habest die Ueberschrift größer gemacht als den Pack.

12. Ich hingegen, wenn ich mit Athen fertig wäre, ginge auf den Vater des Demosthenes über, einen gewesenen Trierarchen. Wahrlich ein goldenes Fundament, um mit Pindar zu sprechen. Denn es gab in Athen keine angesehenere Rangclasse, als die der Trierarchen. Wenn aber gleich dieser Mann schon starb, als Demosthenes noch ein kleiner Knabe war, so muß man diesen seinen Waisenstand darum doch für kein Uebel halten, sondern vielmehr auch daraus Stoff zu seinem Ruhm hernehmen, weil sich seine edle Naturanlage dadurch nur um so schöner offenbarte.

13. Von Homer’s Jugend, Erziehung und Bildungsgang hingegen hat uns die Geschichte keine Nachricht aufbewahrt: sein Lobredner also muß sich sogleich an seine Werke halten, ohne daß ihm in der Geschichte seines Mannes ein weiterer Stoff zu Statten käme. Nicht einmal zu jenem Lorbeerzweig Hesiod’s kann er seine Zuflucht nehmen, der auch einfältige Hirten ohne ihr Zuthun mit dem Dichtergeist [1760] anweht. Du hingegen kannst dich weitläuftig über Callistratus auslassen, und über die glänzende Reihe der Musterredner, Alcidamas, Isocrates, Isäus, Eubulides. Und während in einer Stadt wie Athen tausend lockende Vergnügungen selbst solche Jünglinge in ihre Netze ziehen, die noch unter dem Zwange der väterlichen Gewalt stehen, während das jugendliche Alter so sehr geneigt ist, auf die Bahn der Wollust sich zu verirren, behauptete bei Demosthenes, dem die Nachlässigkeit seiner Vormunder Nichts in den Weg gelegt haben würde, wenn er seinen Gelüsten freien Lauf gelassen hätte, gleichwohl das Streben nach Weisheit und politischer Tüchtigkeit die Oberhand, und führte ihn statt in die Arme einer Phryne, in die Hörsäle des Aristoteles, Theophrast, Xenokrates und Plato.

14. Und hier, mein Bester, könntest du deiner Darstellung eine philosophische Betrachtung einflechten über den zweifachen Liebeszug im menschlichen Herzen, und darthun, wie der eine, als Wirkung des aus dem Ocean stammenden Amor, die Stürme wilden Wahnsinns aufjagt im Gemüth, der gemeinen Venus Wallung in Jünglingen voll brausender Leidenschaft aufregt, und ganz und gar dem Ocean angehört; der andere aber, als der Zug irgend einer himmlischen goldenen Kette, statt mit Pfeilen und Feuerbränden unheilbar zu verwunden, zu der unverwelklichen und reinen Uridee des Schönen emporzieht, und einen gewissen nüchternen Wahnsinn in den Seelen anregt, welche „dem Zeus nahe sind, und den Göttern stammverwandt,“ wie der Tragiker sagt.

15. Diese Liebe ist’s, die sich auch die schwierigsten Wege bahnt. Jenes Abscheren der Haare, jene Höhle, der [1761] Spiegel, das Schwert, die Bemühungen, seine Zunge zu deutlicher Aussprache zu nöthigen, das Einstudiren der Action noch in reiferen Jahren, die Angewöhnung, nicht auf eine stürmische Menge zu achten, die Beharrlichkeit, die Arbeiten des Tages auch in der Nacht noch fortzusetzen – Wer weiß nicht, zu welcher Größe alles Dieses deinen Demosthenes erhoben hat? Wie gedrängt ist er in Gedanken und Worten? Wie sehr erhöht er die Ueberzeugungskraft seines Vortrags durch dessen treffliche Anordnung? Großartig und prächtig, heftig bisweilen und ungestüm, ist er gleichwohl sehr besonnen und enthaltsam im Gebrauch seiner Gedanken und Ausdrücke, und im höchsten Grade reich und mannichfaltig an Wendungen und Figuren. Er ist, wie Leosthenes zu sagen wagte, der einzige Redner, dessen Werke nicht kalten, todten Standbildern, sondern Wesen voll Leben und Seele gleichen.

16. Denn nicht, wie Callisthenes irgendwo von Aeschylus sagt, er habe seine Trauerspiele bei’m Weine geschrieben, um seinen Geist anzufeuern und zu spannen, nicht also Demosthenes: er trank blos Wasser, wenn er seine Reden ausarbeitete. Darauf bezog sich der Scherz des Demades, der einmal gesagt haben soll, die übrigen Redner sprechen beim Wasser [nach der Wasseruhr[WS 1]]; Demosthenes aber schreibe dabei. Meinte doch sogar Pytheas, des Demosthenes gewaltige Reden röchen nach der Lampe! – Doch was diesen Theil deiner Lobrede betrifft, so sind unsere Aufgaben gleich. Denn über die Vortrefflichkeit der Homerischen Poesie zu sprechen, habe ich nicht minder reichlichen Stoff.

[1762] 17. Allein nun könntest du übergehen auf den edlen Charakter des Mannes, auf den rühmlichen Gebrauch, welchen er von seinem Vermögen machte, auf die glänzenden Tugenden seines öffentlichen Lebens – – –

Und so sprach der Mann, indem er so neben mir herging, in einem Zuge fort, und war nun schon einmal daran, den ganzen Demosthenes abzuhandeln. Da fiel ich ihm lachend in die Rede:

Lycinus. Heh! heh! guter Freund! Du gießest mir ja ein ganzes Bad über die Ohren. Willst du mir denn allen Stoff für meine Lobrede vorweg erschöpfen?

Er aber kehrte sich nicht daran und sagte weiter:

Thersagoras. – Ferner auf die Mahlzeiten, die er dem Volke gab, den freiwilligen Kostenaufwand für öffentliche Spiele, für Ausrüstung von Schiffen, Ausbesserung der Mauern und Gräben, Auslösung von Gefangenen, Ausstattung armer Mädchen, und andere treffliche Dienst, die er dem Staat geleistet, seine Gesandtschaften und Gesetzesvorschläge u. s. w. In der That, wenn ich die Menge und Wichtigkeit seiner öffentlichen Leistungen erwäge, so muß ich über den Menschen lachen, der ein bedenkliches Gesicht macht und besorgt, es möchte ihm an Stoff gebrechen, wenn er über Demosthenes sprechen soll.

18. Lycinus. Wie, mein Freund? Du glaubst vielleicht gar, ich sey unter Allen, die ihr Leben mit der Rhetorik zubringen, der Einzige, dem nicht die Ohren von den Thaten des Demosthenes gellten?

Thersagoras. Ich muß es wohl glauben, da wir ja, wie du sagst, zu einer solchen Rede eines besonderen Beistandes [1763] vonnöthen haben. Oder ist etwa der Uebelstand ganz anderer Art, und der strahlende Glanz des Ruhmes, in welchen der große Demosthenes gehüllt ist, ist so stark und blendend, daß du ihm nicht ins Gesicht sehen kannst? Etwas Aehnliches ist mir selbst anfänglich mit Homer begegnet, und es hätte wenig gefehlt, so hätte ich mein Vorhaben aufgegeben, weil es mir vorkam, als wäre ich nicht im Stande, meinen Gegenstand fest im Auge zu behalten. Allmählig aber stärkte sich mein Gesicht, ich weiß selbst nicht wie, und gewöhnte sich so sehr an dieses Anschauen, daß ich nun gerade aus in diese Sonne sehen kann, ohne die Augen niederzuschlagen, und daran für einen Bastard des Homeriden-Geschlechts erkannt zu werden.

19. Und dir sollte dieß noch viel leichter werden, sollte ich denken. Denn Homer’s Ruhm, der ganz allein auf seiner dichterischen Meisterschaft beruht, mußte nothwendig auf Einmal und in seiner Ganzheit erfaßt werden. Wenn du nun freilich deine Betrachtung gleich auf den ganzen Demosthenes richtest, so kann es nicht fehlen, du irrest unschlüssig und verlegen an deinem Gegenstand herum, weißt nicht, wo du anfangen sollst, und es geht dir wie den Leckermäulern an Syrakusischen Tafeln, oder hör- und schaulustigen Leuten, wenn sie auf einmal irgend wohin kommen, wo es eine Menge Schönes zu hören und zu sehen gibt, da wissen sie nicht, wohin sie sich zuerst wenden sollen, und lassen sich bald nach Diesem, bald nach Jenem gelüsten. So, scheint es mir, springst auch du von Einem aufs Andere, und kannst zu keinem festen Haltpunkte kommen: denn das Vielerlei deines Stoffes zieht dich im Kreise herum, der großartige Geist [1764] des Mannes, seine feurige Kraft, seine weisen Lebensgrundsätze, die Gewalt seiner Rede, sein muthiges Handeln, die edle Verachtung des eigenen, auch noch so großen Vortheils, seine Rechtlichkeit, Menschenliebe, Ehrlichkeit, erhabene Denkart und kluge Einsicht; ferner jede einzelne der vielen und höchst wichtigen Verrichtungen seines politischen Lebens, indem du dir auf der einen Seite die vielen Volksbeschlüsse vorstellst, die er herbeigeführt, seine Gesandtschaften, seine öffentlichen Vorträge, seine Gesetze; auf der anderen Seite die Expeditionen, die er veranlaßte, Euböa, Megara, Boötien, Chius, Rhodus, den Hellespont, Byzanz – wenn dir dieses Alles auf Einmal vor die Seele tritt, so ist nicht zu verwundern, daß dir schwindelt, ob der Fülle deines Stoffes.

20. Und wie einst Pindar unschlüssig hin und herrieth, und nicht wußte, ob er

Ismenos preisen soll, ob die goldspinnende Melia,
Ob Cadmos, ob der Sparten heiliges Geschlecht,
Ob die dunkelverschleierte Thebe,
Ob Heracles alleswagende Kraft,
Ob Dionysos Ruhm, des Freudengebers,
Ob der lilienarmigen Harmonia Brautfest:

so bist auch du offenbar in Verlegenheit, ob du die Reden oder das Leben, die Rhetorik oder die Philosophie, die Demagogie oder den Tod deines Mannes beloben sollst.

21. Es ist übrigens nicht schwer, dieses unschlüssigen Schwankens sich zu entschlagen. Du brauchst nur eine bestimmte der Seiten, welche sich der Betrachtung darbieten, welche sie auch sey, zum Beispiel seine Beredtsamkeit, festzuhalten und dich in deiner Darstellung darauf zu beschränken. Du wirst sie alsdann so hoch stellen, daß auch die gerühmte [1765] Eloquenz des Pericles dir zu einer Vergleichung, mit jener unzureichend erscheinen wird. Denn die Blitze und Donnerschläge in den Reden des Pericles,[7] das Stachelnde seiner Ueberredung kennen wir nur vom Hörensagen, wir lesen ihn nicht selbst: und so ist von seiner Beredtsamkeit außer unserer Vorstellung nichts Reelles übrig geblieben, an welches der kritische Maßstab der Nachwelt gelegt werden könnte. Hast du dir aber diese Seite an Demosthenes zu schildern gewählt, so mußt du dich entschließen, alles Uebrige, was an ihm zu loben ist, zu übergehen.

22. Willst du aber das Lob der Tugenden seines Charakters oder seiner vortrefflichen Staatsverwaltung zu deiner Aufgabe machen, so wird es auch hier gut seyn, nur eine einzelne Seite herauszuheben und dabei zu verweilen. Willst du aber recht freigebig seyn, nun so wähle zwei, höchstens drei seiner Eigenschaften, und du wirst hinreichenden Stoff für eine Rede haben. Denn jeder Zug an ihm ist groß und glänzend. Wenn wir sonach unseren Helden nicht nach seiner Ganzheit, sondern nach einzelnen Zügen schildern, so kommt uns Homer’s Brauch zu Statten, der ja auch oft das Lob seiner Heroen von einzelnen Theilen des Körpers entlehnt, von den Füßen, dem Kopfe, dem Haupthaar, zuweilen auch von Dingen, die sie an sich tragen, z. B. dem Schilde. Fanden es doch sogar die Götter nicht tadelnswerth, wenn die Dichter an ihnen nicht etwa einen körperlichen oder geistigen Vorzug, sondern Dinge, wie eine Spindel, eine Aegide, Pfeile und Bogen und dergleichen rühmten; da es ja doch [1766] nicht möglich wäre, alles Gute und Wohlthätige an ihnen einzeln aufzuführen. So wird es also auch Demosthenes nicht verübeln, wenn er auch nur nach einer einzigen seiner vortrefflichen Eigenschaften gelobt wird, in Betracht, daß zu einer angemessenen Lobrede auf den ganzen Inbegriff seiner Vorzüge sein eigenes Rednertalent kaum hinreichte.

23. So differirte Thersagoras, als ich endlich einfiel und sagte:

Lycinus. Es will mich bedünken, Freund, du wollest mir mit allem Diesem blos Das beweisen, daß du noch mehr seyn kannst, als ein guter Dichter: sonst hättest du mir wohl nicht den ganzen Demosthenes zum Besten gegeben, und dich außer deiner Poesie noch obendrein mit Prosa befaßt.

Thersagoras. Indem ich dir nur die Leichtigkeit deines Unternehmens vorstellen wollte, wurde ich unvermerkt veranlaßt, den Gegenstand weiter zu verfolgen: vielleicht auch, daß du jetzt deiner Sorge in Etwas entledigt, und nun geneigter bist, mein Gedicht anzuhören?

Lycinus. Du hast gleichwohl Nichts ausgerichtet, glaube mir’s, lieber Freund. Im Gegentheil – ich besorge, das Uebel ist noch ärger geworden.

Thersagoras. Meinst du? Du hätte ich eine schöne Kur gemacht.

Lycinus. Du scheinst mir gar nicht zu wissen, wo mir’s fehlt: und da hast du’s denn gemacht, wie manche Aerzte, die den faulen Fleck nicht finden, und auf einen gesunden Theil loskuriren.

Thersagoras. Und wie so?

Lycinus. Du hast Dasjenige unschädlich zu machen [1767] gesucht, was etwa den Ersten, der sich diesem Gegenstande näherte, außer Fassung bringen könnte. Allein diese Wirkung ist seit langen Jahren vorüber: und somit ist deine Medicin gegen eine Rathlosigkeit dieser Art längst verbraucht.

Thersagoras. Desto besser: der gebrauchteste Weg ist der sicherste.

24. Lycinus. Aber ich habe mir vorgenommen, es nicht zu machen, wie man von Anniceris aus Cyrene erzählt. Dieser setzte eine Ehre darein, für einen geschickten Wagenlenker zu gelten, und wollte einst dem Plato und seinen Freunden eine Probe davon geben. Er fuhr also mehreremale hinter einander in einem und demselben Geleise, ohne je im Mindesten aus demselben zu gerathen, um die Academie herum, so daß nur die Spur einer einzigen Fahrt auf dem Boden zurückblieb. Meine Absicht geht gerade auf das Gegentheil: ich will alle früheren Geleise vermeiden; und dieß, meine ich, ist nicht leicht, allen betretenen Wegen auszuweichen und neue zu bahnen.

Thersagoras. Da lobe ich mir den Einfall des Pauson.

Lycinus. Was für einen?

25. Thersagoras. Der Maler Pauson sollte einst auf Bestellung ein Pferd malen, das sich auf dem Boden wälzt. Allein er malte ein Pferd in vollem Laufe, und um dasselbe her eine große Staubwolke. Er war noch an der Arbeit, als der Mann, der es bestellt hatte, dazu kam und ihm Vorwürfe machte; denn Das sey nicht, was er verlangt habe. Da befahl Pauson einem seiner Lehrburschen, das Gemälde umzukehren, und siehe da, das Pferd lag auf dem Rücken und wälzte sich.

[1768] Lycinus. Du bist sehr artig, Thersagoras, wenn du glaubst, ich hätte in so vielen Jahren nur eine einzige geschickte Umwendung gefunden, und nicht vielmehr mit allen möglichen solchen Drehungen und Wandlungen gewechselt, und am Ende doch befürchten müssen, daß es mir gehe, wie dem Proteus.

Thersagoras. In wiefern?

Lycinus. Auch wieder zu werden, was ich vorher war. Denn Proteus, der sich seiner menschlichen Gestalt entziehen wollte, hatte alle möglichen Formen von Thieren, Pflanzen und Elementen angenommen, um am Ende, nachdem er alle Gestalten erschöpft hatte, aus Mangel an einer fremden, doch wieder Proteus zu werden.

26. Thersagoras. Wenigstens wendest und drehest du dich mannichfaltiger noch, als Proteus, um der Vorlesung meines Gedichtes auszuweichen.

Lycinus. Das nicht, mein Lieber. Ich bin recht gerne bereit, aller Gedanken an mein Vorhaben mich zu entschlagen und dir zuzuhören. Vielleicht wirst du, wenn du der Sorge für deine eigene Geistesfrucht entledigt bist, mit theilnehmender Sorge mir auch in meinen Wehen beistehen.

Wir setzten uns also, da er dessen zufrieden war, auf die nächste Steinbank, und ich ließ mir vorlesen. Sein Gedicht war in der That geistreich. Aber noch war er nicht zu Ende, als er wie ein Begeisterter aufsprang, seine Handschrift zusammenrollte, und sagte: „Du sollst für dein Zuhören belohnt werden, Freund, so gut als der Athenische Bürger, der einer Gerichtssitzung oder Volksversammlung anwohnte. Und du wirst mir Dank wissen für diesen Sold.“ [1769] „Das werde ich,“ versetzte ich, noch ehe ich wußte, worin mein Sold bestehen würde. „Es ist mir,“ fuhr er fort, „zufälligerweise eine Schrift, Denkwürdigkeiten der Macedonischen Königs-Familie enthaltend, in die Hände gerathen, woran ich so ungemeines Gefallen fand, daß ich das Buch um einen ziemlich hohen Preis käuflich an mich brachte. Eben fällt mir bei, daß unter anderen Erzählungen aus dem Privatleben des Antipater, auch eine darin enthalten ist, welche den Demosthenes angeht, und welche ohne Zweifel Interesse für dich haben wird. Ich habe das Buch zu Hause.“ „Nun,“ erwiederte ich, „für diese angenehme Nachricht kann ich dir nicht anders danken, als daß ich dich bitte, mir auch das Uebrige deines Gedichtes vorzulesen. Und dann werde ich dir nicht eher von der Seite gehen, bis du dein Versprechen ins Werk gesetzt hast. Wie schön, daß du mir, nachdem ich von dir, Homer’s Geburtstag zu Ehren, so herrlich bewirthet worden, nun auch wegen Demosthenes dasselbe Fest bereiten willst!“

27. Thersagoras las mir jetzt seine Handschrift vollends zu Ende, und nachdem ich seiner Dichtung das verdiente Lob gespendet hatte, gingen wir zusammen nach seiner Wohnung. Nach langem Suchen fand er endlich das Buch und gab es mir. Ungesäumt ging ich damit nach Hause, las, und fand, daß das Beste seyn würde, euch dasselbe, so wie es ist, ohne ein Wort daran zu ändern, vorzulesen. Ist darum Aesculap weniger geehrt, wenn man, statt immer mit neuen und selbst gefertigten Hymnen in seinen Tempel zu kommen, die Gesänge des Alisodemus aus Trözen, oder des Sophocles absingt? [1770] Dem Bacchus auf sein Fest neue Lieder, neue Comödien und Tragödien zu dichten, ist längst abgekommen: und Wer die von Anderen verfaßten Stücke zur rechten Zeit zur Vorstellung bringt, erwirbt sich auch durch diese Weise, den Gott zu ehren, nicht geringern Dank.

28. Der hieher gehörige Theil dieser Denkwürdigkeiten also ist ein Gespräch zwischen Antipater und Archias, und betrifft den Demosthenes. Dieser Archias – wenn er etwa den Jüngern unter meinen Zuhörern unbekannt seyn sollte – war von Antipater beauftragt worden, die Verwiesenen [Attischen Redner] in Empfang zu nehmen, und es mehr durch Ueberredung als mit Gewalt dahin zu bringen, daß Demosthenes Calauria verließe und zu Antipater käme. Antipater sah der Ankunft des Redners mit gespannter Erwartung entgegen. Endlich hörte er, Archias sey von Calauria zurück. und ließ ihn sogleich, wie er war, zu sich kommen. Wie er eintrat … doch das Weitere möget ihr aus dem Büchlein selbst vernehmen.

29. Archias. Ich wünsche dir Freude, Antipater.

Antipater. Freude genug, wenn du mir Demosthenes mitbringst.

Archias. Ich bringe ihn, so gut ich konnte. Hier sind seine Reste in einer Urne.

Antipater. Wie sehr hast du meine Hoffnung getäuscht. Archias! Was sollen mir diese Gebeine und diese Urne, wenn ich Demosthenes nicht habe?

Archias. Sein Geist, o König, ließ sich nicht mit Gewalt zurückhalten.

[1771] Antipater. Warum habt ihr euch seiner nicht lebendig bemächtigt?

Archias. Wir thaten es.

Antipater. Er ist also auf der Reise gestorben?

Archias. Nein, er starb, wo er war, zu Calauria.

Antipater. Unfehlbar in Folge eurer Nachlässigkeit? Ihr habt wohl für den Mann keine Sorge getragen?

Archias. Es stand nicht in unserer Macht.

Antipater. Du sprichst in Räthseln, Archias, ich verstehe dich nicht. Ihr habt ihn lebendig ergriffen, und hattet ihn nicht in eurer Gewalt?

30. Archias. Du hattest uns befohlen, keine Gewalt gegen ihn zu brauchen. Und wirklich wären wir mit Gewalt auch nicht weiter gekommen. Gleichwohl waren wir im Begriffe, welche anzuwenden.

Antipater. Schlimm genug, daß ihr dieß versuchtet! Gewiß hat diese Gewalt seinen Tod herbeigeführt.

Archias. Wir haben ihn nicht getödtet. Aber Zwang anzuwenden waren wir genöthigt, weil Zureden Nichts helfen wollte. Uebrigens, mein König, was hättest du dabei gewonnen, wenn er auch lebend angekommen wäre? Du wolltest doch wohl nichts anders, als ihn tödten lassen.

31. Antipater. Ihn tödten lassen? Nein, Archias, da kennst du mich nicht, und bedenkst auch nicht, Wer Demosthenes war. Glaubst du etwa, daß es das Nämliche sey, einen Demosthenes bei sich zu sehen, und jene heillosen Bursche den Himeräus aus Phalerus, Aristonicus aus Marathon, Eucrates aus dem Piräeus, in seine Gewalt zu [1772] bekommen, die wie Regenbäche für einen Augenblick aufschwellen, verächtliche, kleine Seelen, die sich jeden Volkstumult zu Nutzen machen, trotzig ihr Haupt zu erheben und oben zu schwimmen, dann aber gleich wieder sich ducken und geräuschlos verschwinden, wie leise Abendwinde? so einen treulosen Hyperides, der sich kein Gewissen daraus machte, um dem Pöbel zu schmeicheln, an dem Freunde zum Verräther zu werden, den Demosthenes anzuschwärzen, und sich zum Werkzeuge von Schändlichkeiten herzugeben, welche Diejenigen selbst bald genug bereuten, denen er zu Willen gewesen. Denn nicht lange nach jenen Verläumdungen ward Demosthenes, wie wir wissen, ehrenvoller noch als einst, Alcibiades in seine Vaterstadt zurückberufen. Aber den Hyperides ließ dieß gleichgültig, und er entblödete sich nicht, gegen seine besten Freund eine Zunge zu gebrauchen, welche dem Schurken längst hätte ausgeschnitten werden sollen.

32. Archias. Aber war denn Demosthenes nicht der feindseligste unter unsern Feinden?

Antipater. Nicht in den Augen Desjenigen, der auf einen aufrichtigen Charakter Etwas hält, und ein Freund ist jeder ehrlichen und unwandelbaren Denkungsart. Das Löbliche ist auch am Feinde löblich, und jede Tugend, Wer sie auch besitze, ist ehrenwerth. Ich denke nicht niedriger als Xerxes, der die Lacedämonier Bulis und Sperchis aus Bewunderung ihrer Tugend freiließ, da er sie hätte tödten lassen können. Wenn ich je einen Sterblichen bewunderte, so war es Demosthenes, mit welchem ich zweimal zu Athen selbst, wiewohl eben nicht in behaglicher Musse, zusammen gewesen war, und den ich theils aus Schilderungen Anderer, [1773] theils aus seinem öffentlichen Leben unmittelbar kennen gelernt habe. Was ich aber an ihm bewunderte, war nicht blos, wie man vielleicht vermuthet, seine gewaltige Rednergabe, wenn gleich unser Python gar Nichts, und die übrigen Attischen Redner nur Kinder gegen ihn waren, wenn wir sie vergleichen mit seiner volltönenden Kraft, mit dem rythmischen Wohlklang seines Ausdrucks, der Bestimmtheit seiner Gedanken, dem bündigen Zusammenhang seiner Beweisführung, dem Treffenden und Zwingenden seiner Ueberredung. Damals hatten wir es sehr zu bereuen, daß wir die Griechen zu einem Congreß nach Athen eingeladen hatten, wo wir, im Vertrauen auf Python und seine Vorspiegelungen, die Athener ihres Unrechtes zu überführen hofften, wo wir aber dem Demosthenes in die Hände geriethen, dessen Beweisen und dessen überlegener Beredtsamkeit nicht beizukommen war.

33. Gleichwohl erschien mir dieses Rednertalent an ihm nicht als das Erste und Hauptsächlichste: vielmehr sah ich dann ein bloßes Werkzeug. Demosthenes selbst wars, was ich anstaunte, sein erhabener Geist, seine Weisheit, die Festigkeit, mit welcher sein Gemüth unter allen Stürmen und Wogen des Geschicks immer seine stete Richtung behauptete, und keinem noch so furchtbaren Andrange nachgab. Ich wußte, daß auch Philippus diese meine Ansicht von dem Manne hatte. Einst wurde von Athen aus berichtet, Demosthenes habe in einer Rede an das Volk den König heftig angegriffen. Parmenio ereiferte sich darüber, und ließ einige spöttische Bemerkungen über den Demagogen fallen. Aber Philippus entgegnete ihm: „Parmenio! Demosthenes hat ein Recht dazu, so frei von der Brust zu reden. Er ist der einzige [1774] Demagoge Griechenlands, dessen Name nicht in den Rechnungen meiner Ausgaben geschrieben steht. Und dennoch wollte ich mich ihm lieber anvertrauen, als den Schreibern der Marine. Jene Anderen sind Alle in meine Bücher eingetragen entweder für Geld, das sie von mir erhalten, oder für Bauholz, oder gewisse jährliche Einkünfte, oder auch Viehheerden und Ländereien in Böotien oder hier zu Lande. Glaube mir, es wäre ein Leichteres für uns, die Mauern von Byzanz mit unseren Maschinen zu brechen, als den Demosthenes mit Geld zu erobern.“

34. „Wenn ein Athener“, fuhr er fort, „der in Athen zum Volke spricht, es lieber mit mir hält, als mit seinem Vaterlande, so kann ich zwar Geld an ihn verschenken, aber nicht meine Freundschaft. Wer aber um seines Vaterlandes willen mich haßt, diesen Mann bekämpfe ich, wie ich eine Burg, eine feste Stadt, eine Verschanzung oder einen feindlichen Seehafen angreife; aber des Mannes Charakter achte ich hoch, und wünsche der Stadt Glück zu seinem Besitze. Jenen feilen Menschen möchte ich, wenn ich sie nicht mehr brauche, am liebsten das Verderben auf den Hals schicken: Diesen aber auf meiner Seite zu wissen, wäre mir lieber als die ganze Illyrische und Triballische Reiterei und alle meine Miethvölker, weil ich überzeugt bin, daß Ueberredungskraft und geistiges Gewicht ungleich mehr gilt als Waffengewalt.“

35. So sprach Philippus zu Parmenio. Auch gegen mich äußerte er sich einmal hierüber. Die Athener hatten unter Diopithes ein Truppencorps nach dem Chersones geschickt, was mich sehr beunruhigte. Aber lachend sagte Philippus: [1775] „Wie? du befürchtest wirklich Etwas von einem Obersten oder ein Paar Soldaten aus Athen? Pah! alle ihre Trieren, ihre Arsenale sammt ihrem ganzen Piräeus sind Narrenspossen! Was können Leute ausrichten, die aus Spiel und Tanz, aus Schmausereien auf Staatskosten, und Saufgelagen niemals herauskommen? Ja! wäre nur der einzige Demosthenes nicht zu Athen, wir bekämen diese Stadt leichter noch, als einst Theben und Thessalien, mit List oder Gewalt, durch einen Ueberfall, oder um baares Geld in unsere Hände. So aber hat dieser Einzige die Augen beständig offen, lauert auf jeden uns ungünstigen Augenblick, ist bei jeder unserer Bewegungen hinter uns her, und stellt sich allen unseren Operationen entgegen. Nichts ist ihm verborgen, was wir noch so künstlich anlegen, was wir vorhaben und was wir beschließen: kurz dieser einzige Mensch steht uns im Wege und hat es allein verhindert, daß wir nicht Alles gleich im ersten Anlauf gewannen. Hätte es nur an ihm gelegen, wahrlich, Amphipolis, Olynth, Phocis und Thermopylä wären nie in unsere Hände Gefallen, noch hätten wir je des Chersones und des Hellesponts uns bemächtigt.“

36. „Aber er jagt seine Mitbürger auf aus ihrem lethargischen Schlafe, und bringt sie auf die Beine, sie mögen wollen oder nicht: unbekümmert um Das, was sie gerne hören, bedient er sich seiner freien Zunge und kurirt sie von ihrem Leichtsinn mit Schneiden und Brennen. Die Staatsgelder, die man sonst zu Schauspielen verbrauchte, wendet er dem Kriegsheere zu; die Seemacht, welche durch die eingerissene Unordnung fast gänzlich zu Grunde gerichtet war, bringt er durch seine trierarchischen Gesetze wieder empor; [1776] die Ehre des Staates, dessen Dienst zu dem Sold von einer Drachme und von drei Obolen erniedrigt worden, hat er wieder aufgerichtet; er belebt den längst gesunkenen Muth seiner Landsleute durch die Erinnerung an ihre Voreltern, spornt sie zur Nachahmung der großen Thaten von Marathon und Salamis an, und stiftet Bündnisse unter den Griechen zu gegenseitiger Hülfleistung. Dem Scharfblicke dieses Mannes können wir uns nicht entziehen, wir können ihn nicht täuschen; und ihn mit Geld zu erkaufen ist eben so wenig möglich, als einst der Perserkönig den Aristides kaufen konnte.“

37. „Diesen also, mein Antipater, haben wir mehr zu fürchten, als alle Trieren und Flotten. Denn was Themistocles und Pericles den älteren Athenern waren, das ist Demosthenes den heutigen, vergleichbar dem Themistocles an kluger Einsicht, dem Pericles an Großartigkeit der Denkungsart. Es ist sein Werk, daß Euböa, Megara, die Städte am Hellespont und Böotien ihnen gehorsam sind. Und für uns ist es ein großes Glück, daß sie nur einen Chares, Diopithes, Proxenus und Andere dieses Schlages zu ihren Feldherrn wählen, den Demosthenes hingegen daheim auf dem Rednerstuhle behalten. Denn wenn sie es diesem Manne eingeräumt hätten, frei zu schalten über Waffen, Schiffe, Heere und Gelder, und alle Umstände gegen mich zu benützen, so hätte er mich wohl längst schon in die Lage gebracht, für mein eigenes Macedonien besorgt zu seyn, er, der jetzt, da er mit seinen bloßen Volksbeschlüssen gegen mich zu Felde zieht, doch überall mir auf dem Nacken ist, über allen meinen Planen mich ertappt, immer Geld aufzutreiben weiß, Streitkräfte zusammenbringt, zahlreiche Flotten und Landheere [1777] ausschickt, und sich bald da bald dort mir in den Weg stellt.“

38. So sprach sich Philipp damals und sonst noch öfter über diesen Mann gegen mich aus, und immer rechnete er unter die Gunstbezeugungen des Glückes gegen ihn auch dieß, daß Demosthenes nie Feldherr geworden sey. Denn schon seine Reden erschütterten von Athen her wie Sturmböcke und Katapulte alle seine Anschläge und warfen sie über den Haufen. Auch sogar nach seinem Siege von Chäronea konnte er nicht aufhören, von der Gefahr zu sprechen, in welche der einzige Demosthenes uns gestürzt hätte. „Wir haben,“ sagte er, „gegen Erwartung den Sieg davon getragen, und verdanken ihn allein der Ungeschicklichkeit der feindlichen Anführer, der zerrütteten Zucht ihrer Truppen, und der unverhofften Wendung des Glücks, das uns so oft und vielfältig schon zu Hülfe kam. Denn wie hat nicht Demosthenes meinen Thron und mein Leben auf das gefährliche Spiel dieses einzigen Tages gestellt, da er die bedeutendsten Städte zur Einigkeit vermochte, die gesammte Macht Griechenlands auf Einem Punkte versammelte, die Athener, Thebaner und übrigen Böotier, die Corinthier, Euböer, Megareer, kurz Alles, was wehrhaft war in Griechenland, zwang, den entscheidenden Kampf mit mir zu wagen, und mir das Eindringen in das Attische Gebiet verwehrte!“

39. Dieß waren jederzeit seine Aeußerungen über Demosthenes. Und wenn man sagte, daß er an dem Volke zu Athen einen gefährlichen Widersacher habe, so pflegte er zu sagen: mein einziger Widersacher ist Demosthenes; ohne ihn wären die Athener, was Aenianen und Thessalier auch sind.“ [1778] Wenn er Gesandtschaften zu den Congressen schickte, und Athen ordnete irgend andere Redner gegen ihn ab, so war es ihm immer ein Leichtes, die Unterhandlungen zu meistern. Aber wenn Demosthenes dabei erschien, so sagte er gewöhnlich: „Wir haben unsere Gesandte vergeblich geschickt: wo Demosthenes gegen uns spricht, sind keine Lorbeeren zu holen.“ So Philippus.

40. Und wirklich, Archias, so weit ich auch in Allem unter Philippus stehen mag, wenn dieser große Demosthenes in meine Hände gefallen wäre, kannst du wohl glauben, ich hätte ihn wie einen Stier zur Schlachtbank führen lassen, oder ich hätte ihn nicht vielmehr in den Griechischen Angelegenheiten und in Allem, was meine Regierung betrifft, zu meinem Rathgeber gemacht? Von jeher fühlte ich zu dem Manne eine große natürliche Zuneigung, sowohl wegen seiner hohen Vorzüge als Staatsmann, als auch des Zeugnisses wegen, welches Aristoteles von ihm ablegte. Bei jeder Gelegenheit äußerte Dieser gegen Alexander und gegen mich, daß er unter den Vielen, die seinen Unterricht besuchten, Keinen je so hoch geachtet habe, als den Demosthenes, sowohl seiner außerordentlichen Naturanlage wegen, als auch wegen der Willenskraft und Ausdauer, mit welcher er sich übte, wegen der Energie und Gewandtheit seines Geistes, und der edlen Freimüthigkeit und Festigkeit seines Charakters.

41. „Ihr denkt von diesem Manne, sagte er, wie von einem Eubulus, Phryno oder Philocrates, und glaubt auch ihn mit Geschenken auf eure Seite bringen zu können, der doch sein ganzes väterliches Erbgut den Athener, theils, für einzelne Bedürftige, theils für Staatszwecke, aufgeopfert [1779] hat. Und da euch dieses nicht gelang, gedenkt ihr ihn einzuschüchtern, den Mann, der längst schon entschlossen ist, sein Leben an das Schicksal seines Vaterlandes zu knüpfen? Ihr nehmt es ihm übel, wenn er eure Unternehmungen heftig angreift; mit doch hat er sich nie gescheut, auch dem Athenischen Demos die derbsten Wahrheiten zu sagen. Ihr wisset also nicht, daß Demosthenes aus reiner Vaterlandsliebe für den Staat arbeitet, und daß ihm das öffentliche Leben nur Uebungsschule seiner Weisheit ist.“

42. Alles Dieses, mein Archias, hat mir das lebhafte Verlangen eingeflößt, ihn bei mir zu haben, seine Ansichten über die gegenwärtige Lage der Dinge aus seinem eigenen Munde zu vernehmen, und so oft ich das Bedürfniß fühlte, von den zudringlichen Schmeichlern, die mich immer umgeben, mich loszumachen, die aufrichtige Meinung eines freisinnigen Mannes mir sagen zu lassen, und einen wahrheitsliebenden Rathgeber an ihm zu besitzen. Denn ich hätte nicht Unrecht, ihm bemerklich zu machen, wie wenig es die undankbaren Athener um ihn verdienten, daß er sein ganzes Leben daran setzte, ihnen zu dienen, während es ihm frei gestanden, wohlgesinntere und treuere Freunde zu haben.

Archias. O, mein König, das Uebrige möchtest du vielleicht von ihm erhalten haben. Aber mit diesem Letzten hättest du gewiß Nichts bei ihm ausgerichtet, so leidenschaftlich war er für sein Athen eingenommen.

Antipater. Nun denn, mag dem also seyn. Aber sage mir, Archias, wie starb er denn?

43. Archias. Du wirst ihn nun nur noch mehr bewundern, o König. Wir selbst, die Augenzeugen seines Todes, [1780] staunten, und fanden die That fast eben so unglaublich, als Die nicht zugegen waren. Unverkennbar hatte er den Entschluß, sein Leben so zu beschließen, längst schon gefaßt gehabt. Seine Vorbereitung dazu beweist es. Er saß im Innern des Tempels, nachdem wir vergebens einige Tage damit zugebracht hatten, ihm zuzureden.

Antipater. Und was sagtet ihr ihm denn?

Archias. Ich versprach ihm von dir Verzeihung und die menschenfreundlichste Behandlung, wiewohl ich selbst nicht daran glaubte, sondern der Meinung war, du seyest heftig gegen ihn aufgebracht: allein ich hoffte ihn so am leichtesten zu überreden.

Antipater. Und wie nahm er deine Vorstellungen auf? Verschweige mir Nichts. Ich wünschte mir die Scene so lebhaft zu deuten, als ob ich Alles mit eigenen Ohren hörte; daher übergehe auch nicht den kleinsten Umstand. Denn es ist von hoher Bedeutung, den Character eines großen Mannes im letzten Augenblick des Lebens zu beobachten, ob er seine Haltung und Spannkraft verlor, oder ob sich seine Seele unveränderlich auf ihrer Höhe hielt?

44. Archias. Demosthenes wenigstens sank nicht. Er lächelte sogar ganz heiter, und scherzte über mich und meinen früheren Schauspielerstand. „Du spielst deine Rolle nicht geschickt genug,“ sagte er zu mir, „um die Lügen des Antipater mir glaublich zu machen.“

Antipater. Er nahm sich also deßwegen das Leben, weil er meinen Versprechungen nicht traute?

Archias. Das nicht. Du wirst dich überzeugen, wenn du das Weitere hören willst, daß es nicht blos Das war. [1781] Weil du mir befiehlst, mein König, Alles zu sagen, so vernimm denn, was er sprach: „Die Macedonier,“ sagte er, „sind zu Allem fähig, und es ist mir gar nicht unerwartet, wenn sie den Demosthenes mit denselben Mitteln, wie einst Amphipolis, Olynth und Oropus in ihre Hände zu bekommen suchen.“ Dergleichen Aeußerungen that er mehrere. Und ich habe Schnellschreiber zu Hülfe genommen, die Alles aufzeichnen mußten, was er sprach, damit Nichts für dich verloren ginge. „Allerdings,“ sagte er unter Anderem zu mir, „mag ich schon deßwegen nicht in Antipaters Nähe kommen, weil ich Folter und Tod zu befürchten habe. Aber auch wenn es so wäre, wie du sagst, so hätte ich mich nur um so mehr vor Antipater zu hüten, damit ich mich nicht durch das Geschenk des Lebens von ihm bestechen ließe, die Sache Griechenlands, auf dessen Seite ich mich gestellt, im Stiche zu lassen, und auf die Macedonische überzuspringen.“

45. „Es wäre rühmlich für mich, Archias, wenn ich mein Leben dem Piräeus und der Triere verdankte, welche ich dem Staate geschenkt, oder der Mauer und den Gräben, die auf meine Kosten gezogen worden, der Pandionischen Zunft, für welche ich freiwillig die Choregie leistete, dem Solon und Dracon und dem Volke, dessen Freiheit ich wahrte, dem Rednerstuhle, auf welchem ich so offen sprach, den Kriegsbeschlüssen und trierarchischen Gesetzen, welche ich zu Stande brachte, den Tugenden und Trophäen der Voreltern, an welche ich erinnerte, der Liebe meiner Mitbürger, die mir so oft mit ihren Kränzen lohnten, der Macht Griechenlands, die durch mich bis jetzt aufrecht erhalten worden – ja! wenn ich es auch nur dem Mitleiden verdankte, so [1782] wäre es zwar demüthigend; doch könnte ich es mir Gefallen lassen, dieses Mitleiden der Freunde, deren Söhne oder Verwandte ich aus der Gefangenschaft auslöste, der Väter, deren Töchter ich ausstattete, der Bekannten, deren Schulden ich zahlen half.“

46. „Und wenn auch die Herrschaft über Inseln und Meere, zu welchen ich den Athenern verholfen, mich nicht retten kann, so erbitte ich meine Rettung von Neptun, dem Gotte dieses Tempels, von diesem Altar und von den heiligen Gesetzen! Wofern aber Neptun die Unantastbarkeit seines Heiligthums nicht bewahren kann, oder es seiner nicht für unwürdig hält, den Demosthenes an den Archias zu verrathen, nun, so will ich auch dem Antipater eben so wenig schmeicheln als diesem Gotte, und sterben. Es stand nur bei mir, die Macedonier mir zu bessern Freunden zu machen, als es die Athener sind, und so glücklich zu werden, als ihr jetzt seyd, wenn ich mit Callimedon, Pytheas und Demades mich hatte zusammenstellen wollen. Es wäre auch jetzt noch nicht zu spät, meine Gesinnung zu ändern, wenn mich nicht der Töchter des Erechtheus und des Codrus Beispiel beschämte. Ich mag darum nicht untreu werden, weil es mir das Glück geworden ist. Das ehrenvollste Asyl ist der Tod: er gewährt Sicherheit gegen jegliche Schmach. Und so will ich, so viel an mir ist, den Athenern die Schande nicht anthun, freiwillig in die Sclaverei zu gehen, und die Freiheit, das schönste Sterbegewand, von mir zu werfen.“

47. „Wie erhaben ist, was der tragische Dichter von der geopferten Polyxena sagt:

[1783]

– – – – aber sie, auch sterbend, trug
Doch große Sorge, hinzufallen, wie es ziemt.[8]

Dieß that ein Mädchen. Und Demosthenes wird ein ehrlos Leben einem ehrenvollen Tode vorziehen, und die Lehren Plato’s und Xenokrates von der Unsterblichkeit so gänzlich vergessen?“ Noch sprach er Manches und nicht ohne Bitterkeit gegen Diejenigen, welche sich ihres Glückes überheben. Allein – wozu dieses Alles jetzt? Genug, ich bat, ich drohte, ich mischte gute und rauhe Worte; da sagte er endlich: „Ich würde gehorchen, wenn ich Archias wäre: da ich aber nun einmal Demosthenes bin, so verüble mir’s nicht, mein Bester – die Natur hat mich nicht so schlecht geschaffen.“

48. Jetzt machte ich Miene, ihn mit Gewalt vom Altare wegreißen lassen zu wollen. Wie er dieß merkte, lachte er laut auf und sagte, indem er zum Gotte emporsah: „Wie es scheint, kennt Archias keine andere Macht und kein anderes Rettungsmittel für den Menschengeist, als Waffen, Schiffe, Wälle und Kriegsheere; meine Rüstung dagegen verachtet er, und doch wird sie gegen Illyrier, Triballer und Macedonier nicht zu Schanden werden, da sie noch unüberwindlicher ist, als jene hölzerne Mauer, zu welcher einst das Orakel, als zu einer unzerstörbaren Schutzwehr, gerathen hatte. Dieses einzige Verwahrungsmittel ließ mich während meines ganzen öffentlichen Lebens, und läßt mich auch jetzt von meinem Trotze gegen die Macedonier Nichts befürchten. So wenig mich je ein Eucremon und Aristogiton, ein Pytheas, Callimedon und selbst Philippus anfechten konnten, so wenig schreckt mich jetzt ein Archias.“

[1784] 49. Aber gleich darauf setzte er hinzu: „Legt keine Hand an mich; so viel an mir liegt, soll dieser Tempel durch keine Gewaltthat entheiligt werden. Noch einmal erhebe ich meine Blicke zu dem Gott, und folge euch dann freiwillig.“ Schon hoffte ich, ihn gewonnen zu haben. Er hielt die Hand an den Mund, und ich dachte nichts Anderes, als daß er bete.

Antipater. Was war es denn sonst?

Archias. Nachher brachten wir von einer Sclavin, die wir folterten, das Geständniß heraus, er habe seit lange schon Gift bei sich getragen, um sich durch Trennung seines Geistes von dem Körper in Freiheit zu setzen. Kaum waren wir über die Schwelle des Tempels getreten, als er mit einem Blicke auf mich sagte: „Nimm Diesen hier, und bring’ ihn dem Antipater; den Demosthenes wirst du ihm nicht bringen können, ich schwör’ es bei den“ … ich glaube, er wollte hinzusetzen: „bei den Helden von Marathon!“ aber die Rede versagte ihm, und mit dem Worte Lebewohl! ward sein Geist entrückt. Dieß, mein König, ist der Erfolg, den ich dir von der Belagerung und Eroberung des Demosthenes zu berichten habe.

Antipater. Auch Dieß, mein Archias, gehört zum ganzen Demosthenes. Wahrlich ein unüberwindlicher, ein seliger Geist! welch heldenmüthiger Entschluß, welche Vorsicht, würdig des freien Bürgers, das Unterpfand seiner Freiheit stets bei sich zu tragen! Er ist nun hingegangen, um unter den Heroen auf den Inseln der Seligen ein neues Leben zu beginnen; oder er hat die Wege betreten, auf welchen die Geister nach dem Glauben Vieler zum Himmel wandeln, und dient nun als Genius dem freiheitschirmenden Jupiter. Seine Ueberreste will ich nach Attica senden: sie sind diesem Lande ein theureres Kleinod, als selbst die Leiber Derer, die bei Marathon fielen.



  1. Die Aechtheit dieser geistreichen Schrift ist hauptsächlich wegen der Unähnlichkeit ihres Styls mit dem der übrigen Compositionen Lucian’s bestritten worden, und noch in neuester Zeit sind die Meinungen sehr getheilt. S. Allg. Schulzeit. 1831. S. 596. Diese Unähnlichkeit ist nicht zu läugnen, betrifft aber größtentheils nur die, dem Thersagoras in den Mund gelegten Reden, dessen poetisirende und gezierte Diction offenbar absichtlich ist, und vielleicht eine persönliche Beziehung hat. Mir scheint die Schrift wirklich Lucian anzugehören und in die letzte Zeit seiner rhetorischen Laufbahn zu fallen. Daß sich seine Diction mit den Jahren und mit der Richtung seiner Studien änderte, läßt sich aus seinen Werken erweisen.
  2. Olynth. II, pag. 23. ed. Reisk. Hom. Il. I, 285. Voß.
  3. Il. XII. 243. Demosth. für den Kranz, Cap. 28. Da Folgende Il. VII, 125. Demosth. gegen Aristocrates pag. 690. – Für d. Kranz Cap. 43. Il. III, 222. – Il. XII, 323. Für den Kranz, Cap. 28.
  4. Thersites. Il. II, 235.
  5. Eurip. Phöniz. 456. Bothe.
  6. Im Original folgt der sonderbare Satz: „Geschweige daß man genau wüßte, wie er sich zu Hesiod hinsichtlich des Alters verhält, da man ja den Namen Melesigenes dem bekannten vorzieht.“
  7. Sie waren nicht geschrieben vorhanden.
  8. Eurip. Hecuba. 530. f.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Wasserruhr