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Lizzie’s Schwur

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Textdaten
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Autor: Rosenthal-Bonin
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Titel: Lizzie’s Schwur
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 2, S. 35–38
Herausgeber: Ernst Ziel
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1883
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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[35]

Lizzie’s Schwur.

Eine New Yorker Novellette von Rosenthal-Bonin.

Miß Castor war schon durch mehrere Saisons die stolzeste Schönheit von New-York, nicht nur ihrer äußeren Erscheinung wegen, obwohl sie mit ihrer hohen, vollen Gestalt, den großen schwarzen, siegfesten Augen, der edlen weißen Stirn, dem weichen dunklen Haare und dem charakteristischen rothen Munde in dem blassen Gesichte völlig diese Bezeichnung verdiente; sie verdankte diesen Ruf hauptsächlich ihrer kalten, unnahbaren Gemüthsart, dem stolzen, ablehnenden Wesen, welches sie besonders der Herrenwelt gegenüber zur Schau trug.

Während Lizzie Castor gegen die Frauen die Liebenswürdigkeit selbst war und sich sanft und gutherzig zeigte, hatte sie für die Männer und vorzüglich für die jungen, die sie mit Huldigungen überhäuften, nichts als ironisches Lächeln und spöttische, kühle, kurze Worte. Sie reichte ihren glühendsten Verehrern kaum die Fingerspitzen und behandelte sie, als ob sie Luft wären – und doch waren unter diesen jungen Leuten viele ernsthafte Freier, reiche, schöne, gescheidte Männer, die jedes andere Mädchen als „vortreffliche Partie“ mit Vergnügen angenommen hätte – und Lizzie Castor war doch schon dreiundzwanzig Jahre alt.

Allerdings konnte Miß Castor stolz sein. Ihr Vater gebot über Millionen; er gehörte als politische Person zu den ersten der Stadt; er führte ein fürstliches Haus und „herrschte“ als Industrieller über mehrere Tausende von Arbeitern und Angestellten aller Art. Lizzie selbst hatte eine ausgezeichnete Erziehung genossen: sie sprach die vier Weltsprachen und war eine talentvolle Dilettantin in fast allen Künsten; denn die Natur hatte sie an Geist und Körper in gleich hervorragender Weise begabt. Jedoch das allein konnte – wie man sich ganz richtig sagte – nicht die Ursache dieser ablehnenden Kälte gegen die Herrenwelt sein; sie widersprach zu sehr allen übrigen Eigenschaften dieses Mädchens. Man schloß deshalb, daß Lizzie tief in ihrem stolzen Herzen eine unglückliche Liebe trüge, daß Derjenige, welchen sie wollte, sie nicht möchte, und ihr Herz deshalb für alle Anderen gänzlich todt wäre. Das Gerücht brachte ihr Herz in Verbindung mit John Dobson, einem eigenthümlichen Manne, der früher ein überaus häufiger Gast im Hause Castor gewesen war, aus dem man jedoch nie recht klug wurde, ob er wirklich zu den Verehrern des Fräuleins gehört hatte. Dobson war durch Speculationen in Silberbergwerksactien sehr reich geworden; er hatte den Ruf eines unglaublich glücklichen Geschäftsmannes; er war die Ruhe selbst; nichts brachte ihn in Aufregung; er sprach wenig und handelte bedächtig und sicher. Der Erfolg heftete sich an seine Sohlen, und was er in seiner ruhigen, entschlossenen Manier in die Hand nahm, gelang und schlug zu seinem Glücke aus.

John Dobson war kein ganz junger Mann mehr; er mochte schon in der Mitte der Dreißiger sein – er tanzte nicht, rauchte nicht, spielte nicht, trank nicht und sah keine Dame so an, daß sie je an seinen Blick Hoffnungen irgend welcher Art knüpfen konnte. Er begegnete allen gleich höflich; seine Unterhaltung war stets ernst, und seine Bemerkungen zeugten von einem durchdringenden scharfen Verstande und überraschend feinen Beobachtungsvermögen und seltsamer Weise von viel Phantasie. Wer von allen Damen konnte sich aber rühmen, mit ihm mehr als fünf Minuten gesprochen zu haben? Lizzie allein. Diese würdigte er in seiner gemessenen Manier seiner stets still und wenig laut geführten Unterhaltung – und Lizzie hörte ihm zu mit weitgeöffneten glänzenden Augen: sie bevorzugte ihn, soweit ihr Stolz dies zuließ, sichtbar: Dobson zeichnete sie in seiner Art vor allen übrigen weiblichen Wesen aus – und dennoch erschien er plötzlich nicht mehr an den Gesellschaftsabenden im Hause Castor, und man sah ihn fortan nirgends, wo Lizzie zugegen war.

Es muß etwas zwischen ihnen gegeben haben – sprach man in der Gesellschaft – und das Gerücht hatte Recht: es hatte etwas gegeben.

Eines Tages war Dobson zu einer ungewöhnlichen Zeit, am Vormittag, bei Lizzie erschienen; er hatte ihr gerade und fest in die Augen gesehen und dann gesprochen:

„Fräulein Lizzie, Sie müßten kein Weib sein, wenn Sie nicht wüßten, wie es mit mir stände. Ich glaube bemerkt zu haben, daß Sie mehr Antheil an mir nehmen, als an den anderen Männern, welche Sie umschwärmen. Ich biete Ihnen Hand, Herz und Vermögen – können Sie sich entschließen, mein Haus zu theilen?“

Zornsprühend hatte ihn darauf Lizzie angesehen. Sie ergriff die Hand nicht, die er ihr bot; sie trat einen Schritt zurück, und geisterbleichen Gesichts, mit glühenden Augen und bebenden Lippen rief sie ihm entgegen:

„Nein – nie, nie!“

Dobson sagte nichts: er schaute sie nur verwundert und etwas blässer als sonst, im Uebrigen so ruhig, sicher und klar wie immer an.

Lizzie wurde noch blässer: ihr Athem flog.

„Zehntausend Fuß unter der Erde will ich Ihr Weib werden,“ rief sie höhnisch lachend. „Ja, wenn wir uns zehntausend Fuß unter der Erde wiederfinden, dann wiederholen Sie Ihren Antrag“ – fuhr sie zornbebend fort – „dort bieten Sie mir Ihre Hand, und ich werde sie dann nehmen, John Dobson,“ schloß Lizzie mit vor Ingrimm und Spott funkelnden Augen.

Ueber Dobson’s ruhige Züge huschte jetzt etwas wie Licht, und um seinen feinen Mund spielte ein fast humoristisches Lächeln. Nur eine Secunde! Er war wieder so ruhig, bedächtig und sicher wie immer.

„Sie sprechen im Ernst, Fräulein Castor?“ fragte er höflich.

„Ja – zehntausend Fuß unter der Erde – das schwöre ich!“ antwortete Lizzie mit fast wildem Blicke und mit zuckendem Munde. [36] „Ich habe Ihr Wort,“ erwiederte darauf freundlich John Dobson und entfernte sich mit einer tiefen und höflichen Verbeugung.

Als er fort war, eilte Lizzie in ihr Zimmer, warf sich auf ihr Bett und preßte das Gesicht in die Kissen, um ihr heftiges Schluchzen und Weinen zu ersticken; denn sie hatte Dobson geliebt, heiß, wild, leidenschaftlich, wie sie nur lieben konnte, und liebte ihn noch. Sie hatte ihn abgewiesen, weil seine Ruhe und würdige Männlichkeit sie tief beleidigte.

Sie hatte gehofft, ihn als Liebhaber zu ihren Füßen zu sehen, wie ihre anderen Anbeter, und was sie bei jenen verachtete, ja haßte, das ersehnte sie mit der ganzen Kraft ihres heißblütigen, stolzen Herzens von diesem Manne. Sie hätte sich ihm mit jubelndem Herzen in die Arme geworfen, wenn er ihr nur ein wenig die Cour gemacht, sie bewundert, ihr ein schmeichelndes Wort gesagt haben würde, nur einmal, nur auf eine Stunde den Anbeter, den Liebhaber ihr gegenüber gezeigt hätte; sie hätte ihr Leben gegeben für einen schwärmerischen Aufblick aus seinen Augen, für einen Handkuß, für eine Minute Schmachtens, für ein Zeichen, daß seine ruhige, stolze, in sich gefaßte Männlichkeit besiegt sei durch ihren Zauber. Nur ein Atom von dem seinerseits, womit sie überschüttet wurde von Anderen – aber nichts von dem gewann sie ihm ab. – Er hatte keinen Blick für ihr heißes Wünschen, für ihr Sehnen, welches schon monatelang ihr Inneres verzehrte.

Gegenüber ihrer heißen Liebe – so sah Lizzie dies an – behielt er seine empörende Gleichgültigkeit und zeigte eine Sicherheit, wie ein Basilisk, der einen kleinen Vogel gebannt hat und ihn verschlingt, wenn es ihm gutdünkt. Dieses Vögelchen wollte sie nicht sein; er sollte sich in seiner unfehlbaren Sicherheit doch getäuscht haben, und als er nun ohne weiter vorhergegangene Annäherungen – in Lizzie’s Sinn – so mir nichts dir nichts mit seiner Werbung kam, da explodirte der seit Langem angehäufte Zündstoff der Leidenschaft und des Verdrusses bei Lizzie in der Art, wie wir das gesehen haben.

Lizzie war nach diesem verhängnißvollen Vormittag noch bleicher als sonst, ihr Mund fester geschlossen und ihre Haltung noch stolzer und ablehnender als früher.

Dobson schien Lizzie nie näher gekannt zu haben.

In der Gesellschaft jedoch hieß es von der Zeit an: Miß Castor habe eine unglückliche Leidenschaft für John Dobson, und das sei die Ursache ihrer Gleichgültigkeit und Kälte gegen alle anderen Männer.

Herr Castor, der Vater, hätte John Dobson sehr gern als seinen Schwiegersohn gesehen. Er sprach sich nach der Katastrophe, von der er nichts Näheres, weder von seiner Tochter noch von Dobson, erfahren, gegen Lizzie deshalb aus.

„Dobson kommt nicht mehr in unser Haus,“ begann Herr Castor diplomatisch. „Ihr müßt Euch gezankt haben.“

„Wir haben uns gezankt,“ erwiderte darauf eiskalt Lizzie.

„Er ist ein ehrenhafter, reicher, nobler Mann, den ich vor Allen gern als Deinen Gatten gesehen hätte,“ fuhr Herr Castor mit mehr Gefühl, als er sonst merken zu lassen pflegte, fort.

„Er hat einen Leberfleck an der linken Wange,“ warf Lizzie scheinbar frivol und spöttisch leicht hin.

„Es ist nicht der Leberfleck, der Euch trennt,“ sprach darauf ernst Herr Castor und richtete seine klugen, scharfen Augen auf seine Tochter: „das ist nicht Deine Art, um eines Leberfleckes willen einen Mann wie Dobson zurückzuweisen; es ist die Eitelkeit und der Hochmut Deines Herzens, der auch diesen edlen Mann verwirft. Du machst Dich sehr unglücklich,“ schloß darauf der kluge, starre Geschäftsmann auffallend weich. „Es ist mir leid um Dich, wie um Dobson.“

Darauf sprachen Vater und Tochter nicht mehr über diesen Gegenstand.

Herr Castor jedoch verkehrte jetzt mehr mit dem abgewiesenen Freier seiner Tochter als früher, stets jedoch außer seinem Hause, und Dobson lebte so ruhig und dem Anschein nach mit sich und der Welt durchaus zufrieden, wie bisher.

Und Lizzie?

Wer in ihr Herz hätte blicken können, der würde unter ihrem Stolz und ihrer Kälte eine heiße Gluth entdeckt haben, deren Gewalt noch geschürt wurde durch Reue und Verzweiflung darüber, einen Mann wie Dobson , den sie jetzt ganz zu erkennen anfing, dessen so ruhige, männliche Entsagung und Treue – denn er näherte sich keiner anderen Frau – ihr immer mehr imponirte, immer mächtiger ihre Achtung gewann und ihr eine immer tiefere Leidenschaft einflößte, von sich gestoßen zu haben.

So vergingen zwei Jahre.

In dieser Zeit näherte sich Dobson Fräulein Castor nicht; jedoch fiel es scharfen Beobachtern – und solche giebt es in der Gesellschaft immer – auf, daß der Mann, welchen eine schon halb verklungene Sage mit der stolzen Schönheit in Verbindung gebracht, diese sozusagen umkreise, allerdings in einem sehr weiten Kreise und so vorsichtig, zurückhaltend und unmerklich, daß nur wenige dies wahrnahmen; denn andere, gleichfalls feine und geschickte Beobachter des vornehmen New-Yorker Lebens bestritten das entschieden.

Da reiste Dobson plötzlich nach der alten Welt; er unternahm eine Vergnügungstour, und wenige Wochen später hieß es, daß auch Herr Castor eine Tour nach Europa machen wollte.

Das Gerücht log nicht.

Eines Tages eröffnete Herr Castor Lizzie seine Absichten.

„Ich mache eine Sommertour nach London, Paris, Neapel und so weiter,“ begann er ziemlich kurz und geschäftsmäßig beim Diner zu Lizzie. „Ich will und kann Dir nicht verhehlen,“ fuhr Herr Castor fort, „daß Dobson schon drüben ist und mich eingeladen, ihm zu folgen: ich sage nicht, daß ich mich ihm anschließen werde für die ganze Reise – ein Zusammentreffen mit ihm ist jedoch sicher und unvermeidlich, und ich frage Dich deshalb, ob Du mit willst.“

Lizzie wurde blaß, und dann flog eine flüchtige Röthe über ihr Gesicht – jedoch ohne einen Moment sich zu besinnen, antwortete sie:

„Ich werde Dich begleiten, Pa! Europa ist groß; wir werden nicht immer beisammen sein, und eine Begegnung mit Dobson fürchte ich nicht –“

In Herrn Castor’s unbeweglichem, hartem Gesicht leuchtete etwas wie Befriedigung, ja fast wie verhaltene Freude.

Lizzie merke dies nicht; denn sie schaute beharrlich zu den großen, grellen, weißen Wolken draußen am Himmel auf und suchte mit aller Macht ihre Erregung und das heftige Klopfen ihres Herzens niederzukämpfen.

Als sie in ihrem Boudoir war, seufzte sie aus tiefster Seele, und in ihre starrblickenden leidenschaftlichen Augen kam ein Ausdruck von Schmerz, und dann wurde deren Feuer milde; um den festen Mund zuckte es verrätherisch, und die stolze Schönheit weinte lautlos und heiß.

„Ich liebe ihn heut wie vor Jahren,“ sprach es in ihrem Herzen; „aber ich werde ihm nie angehören können – ich Thörin! Es steht ein Schwur zwischen ihm und mir, und ich werde mich nie so demüthigen können, ihm zu zeigen, daß ich wünschte, jene hohen Worte damals nicht ausgesprochen zu haben. Er hat es auch so ernsthaft genommen, wie es ihm entgegengeschleudert wurde – diese zwei Jahre haben mir bewiesen, daß er fest an meinen Worten hält; sonst hätte er doch versucht, sich mir wieder zu nähern. Gelegenheiten boten sich ja in Fülle. Ich habe, grausam gegen mich selbst, aus Thorheit, Eitelkeit, Laune mein Lebensglück verscherzt, aber ich werde ihn wiedersehen, vielleicht sprechen, in seiner Nähe weilen – und schon das erscheint mir ein Glück, wenn es auch ein sehr schmerzliches sein dürfte.“

So sprach Reue, Gram und resignirte Hoffnung in dem Herzen des leidenschaftlichen Mädchens.

Dem schnellen Entschluß des Herrn Castor folgte amerikanisch rasch die That, und drei Wochen später waren Herr Castor und Fräulein Tochter schon in Paris und trafen alsbald Dobson. Die Männer sprachen sich öfter, und auch Lizzie traf mit Dobson zusammen.

Die Begegnung war jedoch flüchtig; sie wanderten einige Mittagsstunden durch den Louvre. Er war so ruhig, höflich, freundschaftlich und leidenschaftslos wie immer, und Lizzie, deren Brust fast zu zerspringen drohte vom Uebermaß sich widersprechender Empfindungen, benahm sich, ein Raub dieses inneren Kampfes, ganz gegen ihren Willen steif und theilnahmlos.

Dobson verließ Paris und reiste gen Süden; auch Castor fand bald die Metropole Frankreichs nicht mehr interessant genug, um ihn noch ferner zu fesseln, und wandte sich der Schweiz zu.

In Luzern trafen Dobson und Castors sich wieder, und man wohnte zufälliger Weise sogar in dem gleichen Hotel. Lizzie und [38] Dobson saßen bei der Mittagstafel neben einander, und Lizzie barst fast das Herz von der ruhigen Freundlichkeit und der stets sich gleichbleibenden, unstörbaren Sicherheit des geliebten Mannes. Herr Dobson erklärte, daß er auf der neueröffneten Gotthardbahn nach Mailand reise – morgen schon.

Herr Castor freute sich, daß er dieselbe Tour am nächsten Tage auch anzutreten gedenke und sie dann wahrscheinlich zusammen reisen würden.

Herr Dobson verbeugte sich artig und sprach schlicht und einfach und ohne jede Erregung aus, daß ihm das sehr angenehm sei.

Lizzie saß still und schaute auf ihren Teller nieder; sie kämpfte bei dem so heiteren Tone der Worte ihres Nachbars mit Thränen.

Am nächsten Morgen traf man sich auf dem Dampfschiffe und in Fluelen bestieg man die Eisenbahn.

Der Zug war sehr besetzt. Die drei Reisegefährten konnten nicht bei einander sitzen. Dobson mußte seinen Platz am Ende des Waggons suchen.

Er ließ sich dort ruhig nieder und beschäftigte sich mit seinem Feldstecher und seinem Reisebuch.

Der Zug stieg in die Höhe, über Wiesen, durch Wald und Felsen, an Wasserstürzen vorbei, über Brücken und Viaducte: der mächtige Koloß, der Gotthard, mit seinen Gletschern trat näher, und Göschenen war erreicht.

Hier hielt der Zug, die Maschine wurde gewechselt; die Lampen im Wagen wurden angezündet, ein langgezogener Pfiff, das Läuten verschiedener elektrischer kleiner und großer Glocken, und hinein fuhr der Zug in den gigantischen Erdwall, der, zehntausend Fuß hoch bis an die Wolken seine ewig eisbekränzten Gipfel erhebend, Italien vom germanischen Lande trennt. Die Erregung der Passagiere war stark; die Temperatur im Wagen stieg, und die zuerst hellbrennenden Lampen bekamen nun röthliches Licht: das gab dem Inneren der Wagen einen feierlichen, fast düsteren Charakter.

Die Fahrt sollte vierzig Minuten dauern. Zwanzig Minuten waren schon unter dem erwartungsvollen Schweigen der Reisenden verflossen, seitdem man in dem Berge war, und weiter brauste das Dampfroß und dröhnten dumpf die rollenden Wagen.

Da ereignete sich etwas Seltsames.

Ein bisher still auf seinem Platze sitzender Herr hatte sich erhoben und schritt durch den Wagen, bis dahin, wo Herr Castor und, stark verschleiert, die junge Dame, seine Tochter saß.

Es war Herr Dobson, der seinen Platz verlassen.

Er stellte sich hochaufgerichtet vor Fräulein Lizzie hin und sprach mit lauter Stimme:

„Fräulein, wir sind zehntausend Fuß unter der Erde. Ich erinnere Sie an Ihr Wort. Ich biete Ihnen meine Hand, mein Herz, mein Vermögen – wollen Sie mein Weib werden?“

Eine seltsame Pause trat ein; die Wagen rollten; rothes Fackellicht fiel von draußen schwankend in den Wagen und beleuchtete den großen Mann, der da stand. Er hatte Englisch gesprochen; es waren Engländer im Zuge, auch die andern Passagiere mußten ihn verstanden haben; denn Alle hatten sich jetzt von den Sitzen erhoben und starrten verwundert nach dem seltsamen Fremden und der jungen Dame hin, der seine Anrede galt. Athemlos lauschte man den Dingen, die sich da entwickeln würden.

Man bekam nicht viel zu hören, und die Scene fand einen so schnellen Abschluß, wie sie plötzlich und überraschend begonnen.

Die junge Dame erhob sich hastig von ihrem Platze, schlang die Arme um den vor ihr stehenden Mann und flüsterte ihm mit bebender Stimme in’s Ohr:

„Ich will Dich tausend – zehntausendmal will ich Dich!“

Plötzlich ertönte ein langgezogener Pfiff; das Tageslicht begann zu leuchten; die sonderbare Scene war vergessen; alle Passagiere stürzten an die Fenster, um den Ausgang des Riesentunnels zu sehen.

Der Zug hielt, und bevor die neugierigen Reisenden sich wieder des Abenteuers, dessen Zeugen sie eben gewesen, erinnern und nach den handelnden Personen dieses originellen Dramas ausschauen konnten, hatten diese eiligst den Wagen verlassen und ihre Plätze waren leer.

Man sah aber noch den blauen Schleier der Miß hinter dem Gerüst von der Alberga di San Gotardo in Airolo verschwinden.

Der Zug fuhr ab, weiter in’s italische Land hinein, zu Cypressen und Oelbäumen.

Herr Castor mit seiner Tochter und Herr Dobson machten einen kleinen Spaziergang.

Lizzie ging am Arme Dobson’s etwas voraus, indeß Herr Castor eifrig die Gesteinsarten hier zu untersuchen schien.

„Und Du hast die ganzen zwei Jahre daran gedacht?“ hören wir jetzt Lizzie ganz glückselig fragen.

„Von dem Moment an, als Du von den zehntausend Fuß unter der Erde sprachst, setzte ich meine Hoffnung auf diesen Augenblick und habe sehnsüchtig auf die Eröffnung der Bahnlinie gewartet.“

„Und bautest so felsenfest auf mein Wort?“ frug Lizzie weiter.

„Ich kenne Deinen Charakter und baute auf Dein Wort, weil ich fest glaubte, daß Du mich nur aus Stolz und Laune abgewiesen, da ich fast ein Wenig zu hinterwäldlerisch vorging. Das konnte Dich beleidigt haben – so überlegte ich bei mir – weil ich aber sah und fühlte, daß Du mich liebtest, so schien es mir unmöglich, daß Du mir ewig zürnen könntest – und die zwei Jahre, in welchen Du alle Freier abwiesest, haben mich in meiner Ansicht, in meinem Glauben, in meinem Vertrauen bestärkt.“

„Und so hast Du mich in meiner Pein gelassen und zwei Jahre lang auf diesen Moment gelauert?“ sprach darauf schmollend, wie jedes andere zärtliche Mädchen, Lizzie.

„Nicht gelauert – aber gewartet,“ erwiderte Dobson. „Ich glaubte bestimmt, daß, wenn ich mich Dir wieder genähert, Du mich zum zweiten Mal abgewiesen hättest, und dann wäre ich ein einsamer Mann geblieben. So hatte ich schon Dein Wort und konnte Dich beim Wort nehmen, ich wußte, daß Dein Stolz wiederum es nicht zulassen würde Dein Wort zu brechen. In der Secunde, als Du das Spottwort von den zehntausend Fuß aussprachst, stieg bei mir die Idee auf, daß dies das Mittel wäre, Dich Dir selbst abzutrotzen.“

„Du bist ein schrecklicher Mensch,“ sagte Lizzie, einen innigen Gluthblick in die Augen des neben ihr dahinschreitenden großen Mannes werfend.

„Nicht schrecklicher als Du, Mädchen. Du hast zwei Jahre mit keiner Wimper gezuckt und fortgeblickt, wenn Du mich gesehen – darauf habe ich ruhig die paar Jährchen abgewartet und Dich schmollen lassen. Du hast in der Zeit Dein Herz kennen gelernt, und ich eine Million Dollars gewonnen, sodaß wir jetzt ohne Geschäft leben können, wo wir wollen, wenn es Dir gefällt, aus Dankbarkeit gegen den Vater Gotthard, unseren zweiten Schwiegervater, sogar hier in Airolo“ – schloß Dobson mit dem ihm oft eigenen ironisch drolligen Humor.

„Nun, zuerst setzen mir doch unsere Reise nach Mailand fort,“ mischte sich jetzt Herr Castor, der mittlerweile das Paar eingeholt und die letzten Worte gehört hatte, in das Gespräch. „Ich möchte doch nicht als Dritter im Bunde diesen ganzen Sommer hier sentimental mit Euch spazieren gehen – das heißt Steine betrachten,“ fügte Herr Castor sehr heiter gestimmt hinzu.

„Natürlich, Pa,“ antworteten darauf die beiden Glücklichen lachend.

„Weißt Du übrigens,“ warf jetzt Lizzie mit ernster Miene ein, „daß dreitausend Fuß an den zehntausend fehlen. Göschenen und der Tunnel liegen gegen dreitausend Fuß über dem Meere, wie ich mich erinnere im Reisebuch gelesen zu haben. Ich habe also dreitausend Fuß noch zu gut und, wenn Du Dich nicht gut beträgst, kann ich diese als Scheidungsgrund geltend machen.“

„O, Deine Rechnung stimmt nicht,“ gab darauf lachend Dobson zurück, „ich wußte sehr wohl, daß diese dreitausend Fuß noch fehlen, aber als alter gewiegter Kaufmann habe ich sie verdienen wollen – der Handel ist abgeschlossen und unsere Rechnung quitt.“

Die amerikanische Colonie in Rom, wohin die Familie Castor mit Dobson als Verlobtem des Fräulein Lizzie einige Wochen später kam, war nicht wenig überrascht durch das fast gleichzeitige Eintreffen der Verlobungsanzeige im „Herald“ und der beiden „unglücklichen“ Liebenden, an deren Zusammenfinden sich höchst seltsame Legenden knüpften.

Was wir davon erlauscht, haben wir unsern Lesern hier mitgeteilt.