Liederproben aus Ernst Ziel's „Gedichten“
Leise rauschend durch Ruinen zieht der Abendwind,
Flüstert alte, düstre Mären, die vergessen sind.
Von den Bäumen, herbstestraurig, sinkt nun Blatt auf Blatt,
Sucht in der Ruine Schweigen eine Grabesstatt.
Fallen wird auch sie, die trotzig manch’ Jahrhundert stand;
Ziehen werden, wo sie ragte, Nebel über’s Land.
„Märchenhaft ist dieses Leben,“ seufzt der Abendwind;
In der heißen Brust erglommen mir zwei Wünsche sind:
Meinem Leben eine Seele, die sich meiner eint,
Meinem Grabe eine Thräne, die die Liebe weint!
Im Seegras, fluthenbefeuchtet,
Der Bernstein schimmert und scheint,
Eine Thräne, die, schmerzdurchleuchtet,
Die ferne Vorzeit geweint.
Vor Zeiten auf einsamem Thule
Am wogenumbrandeten Strand –
Da wuchs auf dem Klippenstuhle
Eine Föhre im Küstensand.
Die Wellen rauschten ihr Lieder
Vom Süden so schön und so hehr –
Da neigte die Zweige sie nieder
Und weinte die Thräne in’s Meer.
Das Meer trug durch die Sunde
Geronnen die leuchtende hin –
Nun freut sich am köstlichen Funde
Nach tausend Jahren mein Sinn.
Verschollen im Fluthengeschwemme
Die Thräne der Vorzeit war –
Heut trägt sie als glitzernde Gemme
Mein Mädchen im schwarzbraunen Haar.
- ↑ Soeben in zweiter Auflage (Leipzig, Ernst Keil) erschienen und der Beachtung für den Weihnachtstisch empfohlen. D. Red.