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Liebesgeschichte

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Textdaten
Autor: Alexander Solomonica
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Titel: Liebesgeschichte
Untertitel:
aus: Pan, 3. Jahrgang, No. 4, S. 79–86
Herausgeber: Alfred Kerr
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 25. Oktober 1912
Verlag: Hammer-Verlag G.m.b.H.
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Erscheinungsort: Berlin
Übersetzer:
Originaltitel:
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Quelle: Michigan-USA*, Commons
Kurzbeschreibung:
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Liebesgeschichte
Von Alexander Solomonica

Ich mußte vierzehn Tage lang das Bett hüten und faßte in dieser Zeit den Entschluß, mein allnächtliches Café fortan zu meiden. Dieses Lokal, das nicht etwa leer, sondern recht gut besucht war, langweilte mich über die Maßen. Trotzdem war ich, wie gesagt, in jeder Nacht dort anzutreffen. Auch in der Nacht meiner Genesung. Ich saß wieder auf demselben Fleck; das wunderte mich nicht, denn ich hatte überhaupt allen Grund, mit mir unzufrieden zu sein. Ich war also abermals allerlei widerwärtigen Stimmen ausgeliefert. Nicht nur, daß ich gezwungen war, meine Zeit in ganz lächerlicher Weise zu verschwenden, auch der Anblick der häßlichen Gesichter so vieler hoffnungsvoller junger Menschen war meiner Gesundheit nicht dienlich. Zudem streiften mich die Blicke meiner Nachbarschaft mit demselben Ausdrucke von Dummheit und Haß, der es mir verbot, ihnen auch nur mit freundschaftlicher Gelassenheit zu begegnen. Aber ich hatte doch wenigstens das Gefühl, in vertrauten Verhältnissen zu sein. Nur die eine oder andere Veränderung war eingetreten. Ein neuer Kellner, dem man Respekt beibringen muß. Auch Gäste sind da, die ich nicht kenne.

Nicht weit von mir sitzt ein mir unbekanntes Mädchen, das sich gebärdet, als kenne es mich. Das Fräulein nickt mir zu, was die Aufmerksamkeit so mancher meiner Bekannten erregt. Ich verneige mich lächelnd, wie es sich gebührt, aber der Gruß galt gar nicht mir. Ich habe mir also eine unerwünschte Blöße gegeben, kein Wunder, daß ich ein fernes Gelächter auf mich selbst beziehe. Der Irrtum war übrigens nicht der Rede wert, und ich gebe mich geradezu der Hoffnung hin, daß er unbemerkt geblieben ist. Ich blicke also unbekümmert nach dem Fräulein hinüber; ganz hübsch, denke ich mir, wiewohl ich ihr Gesicht nicht deutlich sehe. Ich habe begreiflicherweise ein Interesse daran, daß sie sich nicht einfach zur Partei meiner Gegner schlägt. Nichts leichter als das; übrigens wurde meine Abwesenheit ohne Zweifel zu besonders übler Nachrede benutzt. Sie wendet den Kopf und ich bin enttäuscht: ein gleichgiltiges Gesicht, wenn ich auch nicht leugnen kann, daß mir ihre geheimnisvollen Augen recht gut gefallen. Auch ihr Haar ist hübsch, aber es verlohnt sich nicht der Mühe, länger hinzusehen. Nun verabscheue ich zwar mein Café, will aber wenigstens die Rechte [80] des Stammgastes gewahrt wissen. Gleichwohl muß ich sie mit unzähligen Besuchern teilen, denen dies Lokal, wie es scheint, eine angenehme Abwechslung bedeutet. Es fehlt mir infolgedessen nicht an Gelegenheit, meiner Langeweile neue Nahrung zuzuführen. Bald wird die Unbekannte für immer verschwunden sein; denn sie ist aller Wahrscheinlichkeit nach zum ersten Male hier, ahnt auch nichts von den Gepflogenheiten, die hier gelten. Doch ich will mir darüber Gewißheit verschaffen. Da rückt sie sich zurecht, ein Kellner bringt ihr Schreibzeug, und sie beginnt ihre Korrespondenz zu erledigen. Also ein Stammgast. Das hätte ich schon aus der nachlässigen Art schließen sollen, mit der sie bedient wird. Den einmaligen Besuchern kommt man hier mit großer Zuvorkommenheit entgegen. Sie aber hat sich schon völlig eingebürgert.

Doch was kümmert mich dieses Fräulein? Sie ist nicht mein ‚Typ‘ und scheint mir auch sonst keiner besonderen Beachtung wert zu sein. Andern Tags ist sie freilich wieder da, wird sogar von meinen Gegnern wie von allen Freunden begrüßt. Das gilt mir gleich; aber ich muß der Situation immerhin meine Aufmerksamkeit zuwenden. Mein Blick fällt auf die Unbekannte. Ihr Gesicht, das nicht nach mir hinsieht, ist sehr hübsch. Auf meinen früheren Eindruck kann ich mich mit bestem Willen nicht mehr besinnen, kein Zweifel, daß gestern irgend ein Schatten sie entstellt hat. Sie blickt ruhig vor sich hin, ohne die Lippen zu bewegen, und ich frage einen Kellner:

‚Wer ist die junge Dame mit dem großen schwarzen Hut?‘

‚Die Schauspielerin Eva H.‘ Ein unbekannter Name, doch er gefällt mir. Wahrscheinlich eine Anfängerin, denn sie ist sehr jung, und noch stellenlos, da sie auch während der Theaterstunden das Café nicht verläßt. Ich überlege, ob ich mich ihr vorstellen lassen soll; es würde mich wohl nur geringe Mühe kosten. Aber ich bin nicht unternehmungslustig, gehe auch früher als sonst nach Hause.

Jetzt suche ich mein Café allabendlich schon zur Zeit der Dämmerung auf, voller Ungeduld, wenigstens das Ziel der Langeweile zu erreichen. Da gibt es wenige Gäste, nicht einmal alle Lampen sind angezündet. Ich wähle einen großen runden Tisch, um mich dahinter zu verschanzen. Es verleiht mir ein Gefühl der Beruhigung, ganz allein über einen Tisch zu verfügen, wenngleich noch niemandes Nachbarschaft mir lästig fallen könnte. Die Zeitung jedoch, die ich durchblättere, unterhält mich nicht und erweckt beinahe das Verlangen nach Geselligkeit in mir. Uebrigens erfreue ich mich meiner Geborgenheit nicht mehr lange. Die ersten Stammgäste gehen an mir vorüber, [81] schauen mir feindselig ins Gesicht, einige grüßen sogar, ohne sich jedoch in ihrer Gesinnung von den anderen irgendwie zu unterscheiden. Mein Tisch wird streng gemieden; aber bald ist es eine Insel in dem Raum, den ich durchaus zu überblicken vermag und der sich rasch mit Besuchern füllt. Jetzt kommt die Schar jener flüchtigen Gäste, Familien, die hier nichts zu suchen haben, doch immerhin das Café auf ein Stündchen mit ihrer Anwesenheit beehren. Man lagert sich rechts und links an meine Seite, und wie durch Hexerei bin ich plötzlich nur das geduldete, ja unwillkommene Mitglied einer mir gleichgiltigen Gesellschaft. Man macht allerdings vergebliche Versuche, mich in ein Gespräch zu ziehen. Ich lasse mich nicht verwirren, sehe niemanden an und behalte den Eingang im Auge. Eine mittelgroße, schlanke Gestalt kommt herein, Eva H., mit Federboa und schwarzem Hut. Wie seltsam, daß ich ihren Namen weiß! Meinen hat man ihr wohl desgleichen hinterrücks genannt, denn man pflegt sich hier über alles Wissenswerte gegenseitig aufzuklären. Ich könnte wetten, daß man es dabei nicht verabsäumt hat, mich, den hoffärtigen Menschen, ins rechte Licht zu rücken. Sie geht langsam und unsicher zwischen den Stuhlreihen hindurch, sucht wahrscheinlich irgendwen. Hoffentlich läßt sie ihre Kurzsichtigkeit die Köpfe nicht bemerken, die sich nach ihr umdrehen; es fröstelt mich, wenn ein Kellner an sie streift. Ich muß gestehen, daß ich vor einigen Tagen ohne Grund manches an ihr auszusetzen hatte. Ihr Gang, zum Beispiel, gefiel mir nicht, doch ich war in einer Täuschung befangen.

Jetzt sollte ich mich allen Ernstes über das Gedränge, das einem hier sonst den Aufenthalt verleidet, freuen. Man schreit, gestikuliert; und unter dem Nicken der Frauenhüte darf ich meine Beobachtungen anstellen, solange es mir irgend beliebt. Fräulein Eva ahnt gewiß nichts davon, daß ich sie über einige Tische hinweg anstarre. Ich halte mich übrigens für den Fall, daß sie hersehe, bereit, meinem Blick rasch eine andere Richtung zu geben, doch damit hat’s keine Not. Sie kümmert sich weder um mich, noch, wie mir scheinen will, um ihre zahllosen, aber flüchtigen Bekannten, die sie eilfertig begrüßen. Daß ich hier nichts Besseres zu tun finde, als mich mit ihr zu befassen, ist nicht weiter verwunderlich. Sie ist nämlich unter den vielen die einzige, die weder geschmacklos gekleidet ist, noch lärmt oder sich aufdringlich benimmt. Sie liest Zeitungen oder spricht mit einem alten Herrn, der ihr Gesellschaft leistet. Dieser Herr macht einen guten Eindruck auf mich. Er hat schöne lange graue Haare, sieht vornehm und freundlich aus. Ab und zu unterhält sie sich auch mit einem jungen Menschen, der eine Brille trägt [82] und dessen Manieren sich mir vorteilhaft von den hier üblichen abzuheben scheinen.

Ein vernünftig aussehender, eleganter Herr, der nichtsdestoweniger den Anschein der Biederkeit erweckt, kommt gerade hinzu, und sie besprechen wohl etwas vertraulich miteinander. Ich rufe den Kellner, der damit Bescheid weiß, drücke ihm ein Trinkgeld in die Hand und beginne ihn über den Gegenstand meiner Beobachtung leise auszufragen. Weiß Gott warum, denn ich horche gar nicht auf das, was er mir sagt. Ich überlege, ob es nicht angezeigt sei, hinzugehen und sie um eine der Zeitungen zu bitten. Doch ich würde mich dabei jedenfalls recht ungeschickt benehmen, zumal da ich seit langem des Umgangs mit Menschen entwöhnt bin. Auch mein ewiges Fixieren mag ihr schon aufgefallen sein. Der Hut verdeckt jetzt ihr Gesicht ganz und gar. Ich bleibe in unbeschreiblicher Erwartung, bis sie sich zurücklehnt, dann ein wenig vornüberneigt, um eine Tasse an den Mund zu führen. Diese einfache Bewegung bringt plötzlich eine Veränderung in mir hervor. Ein starkes Gefühl der Glückseligkeit durchrieselt mich; ich behalte nur soweit meinen klaren Verstand, um darüber erstaunt zu sein. Auch muß ich unwillkürlich lächeln, weil ich mich vorhin vor meiner eigenen Ungeschicklichkeit gefürchtet hatte. In Wahrheit und zu meiner Befriedigung bin ich von allem erdenklichen Wagemut erfüllt. Für den Bruchteil einer Sekunde schweifen meine Gedanken weit ab, kehren aber ohne Zögern zu ihrem Ausgangspunkte zurück. Doch nun ist Fräulein Eva überhaupt verschwunden, denn irgend eine Tafelrunde hat sich zwischen uns gedrängt. Wahrscheinlich ist die Zahl der Gäste aufs höchste gestiegen; kein Plätzchen mehr frei, man ist gut gelaunt und in eifriger Unterhaltung begriffen. Ich betrachte meine Nachbarn, die indessen, wer weiß wie oft, mit ihresgleichen gewechselt haben. Sie scheinen in der Tat über eine unerschöpfliche Reserve zu verfügen. Ihre Züge sind von fröhlicher Erregtheit unangenehm verzerrt, entschwinden mir aber sogleich, wenn ich die Augen schließe. An wen erinnert mich dieses Mädchen? Ich sinne nach, um mir darüber klar zu werden. Doch wenn ich im Augenblick auch nicht folgerichtig zu denken vermag (schon der Lärm verhindert mich daran), empfinde ich doch so etwas wie Freude, wie ein Aufschub den Verurteilten erfreut, der seinen Henker noch nicht kennt. Sie ist nicht zu erblicken und auf einmal erfaßt mich das leidenschaftliche Verlangen sie zu sehen. Es herrscht allerdings ein solches Gedränge, daß mir die Lust vergeht, mich auch nur von meinem Platze zu erheben. Das Fieber steigt mir zu Kopf, denn meine Krankheit ist noch nicht ganz [83] überstanden. Ich lasse mich hinreißen, stampfe mit dem Fuße auf, obgleich der Arzt mir jede Aufregung verboten hat. Und mir ist wahrhaftig nicht wohl zumute; das Stimmengewirr dringt jetzt gedämpft, aber wenig beruhigend auf mich ein. Da wende ich mich zur Seite und erblicke in einem Pfeilerspiegel, der die Aufgabe hat, die grellen elektrischen Lampen zu verdoppeln, ihr ruhiges, bleiches Gesicht, das hier von irgendwoher zurückgeworfen wird. Das ist Rettung in der Not: ich darf also in heftiger Ergriffenheit dieses mir abgekehrte vornehme Mädchen betrachten. Vor allem erkenne ich auch ihren kindlich verträumten Ausdruck, als sei sie gleich mir bemüht, eine entgleitende Erinnerung festzuhalten. Niemand weiß, daß meine zusammengekrampften Lippen sich unsichtbar lösen und der Schmerz in meinen Schläfen erträglich zu werden beginnt; denn ich fiebere noch immer, bin aber von Dankbarkeit erfüllt. Sie selbst ist nirgends zu sehen.

Nun sitze ich vielleicht stundenlang in schwächlicher Laune da, woran wahrscheinlich mein Unwohlsein die Schuld trägt. Indessen ist es spät geworden, so daß nur drei oder vier kleine verstreute Gruppen zurückgeblieben sind. Auch Eva H. ist noch da. Sie fühlt, während sie an mir vorbeigeht, meinen Blick auf sich ruhen: es fällt mir ein, daß ein einsamer Gast wie ich in einem gewissen Grade die Aufmerksamkeit auf sich ziehen muß. Ich bin also fast allein mit ihr zusammen und werde sogleich ihre Stimme hören, die ich noch nicht kenne. Sie tritt zu Bekannten hin, in meine Nähe, ein Gefühl des Zweifels und der Angst erfaßt mich. Sie sagt:

‚Ist der Herr Doktor hier? Ich habe heute lange auf Sie gewartet, gnädige Frau!‘ Aber ihre Stimme klingt mir vertraut und schön, wie ich es nicht anders hätte erwarten sollen!

Andern Tags unternehme ich einen ganz planlosen Spaziergang, bevor ich mit Herzklopfen das Café betrete, denn mein Entschluß ist gefaßt. Ohne nach rechts oder links zu sehen, begebe ich mich also geradewegs zu einem unserer gemeinsamen ‚Freunde‘.

‚Willst du die Güte haben, mich mit Fräulein Eva H. bekannt zu machen?‘

‚Ach, mit dieser kleinen Schauspielerin? Gewiß, setz dich nur zu uns, wir wollen warten, bis sie kommt.‘

Ich aber fühle mit Bestimmtheit ihre Nähe, keine halbe Minute vergeht, da wird sie sichtbar. Man winkt ihr zu, sie kommt lächelnd an unseren Tisch. Ich berühre zum ersten Male ihre Hand, wundere mich jedoch über mich selbst. Dieser Augenblick hatte in meiner Einbildungskraft eine große Rolle gespielt, aber [84] das Fräulein ist der Situation gewachsen, und auch meine Befangenheit verfliegt. Ich suche nach Anknüpfungspunkten, wir alle plaudern in der gewöhnlichen Weise. Eva H. widmet ihre Aufmerksamkeit einem Kritiker, der ein Maulwurfsgesicht hat, und sagt, indem sie mit heiterem Lachen die Hand auf seine Schulter legt:

‚Sie werden doch morgen im X-Theater sein, wenn ich das Röschen spiele?‘

Das X-Theater ist eine Vorstadtbühne letzten Ranges. Und schon flüstert mir der Freund, der mich vorgestellt hat, heimlich zu:

‚Sie hat ganz und gar kein Talent!‘

Eva H. scheint diese Ansicht nicht zu teilen, und ich bin vorläufig geneigt, ihr zu vertrauen. Sie ist mit Recht auf Protektion bedacht, um die Mißgunst zu bekämpfen, die sie wahrscheinlich nicht minder bedrückt als mich. Sie hat nichts als ihre Laufbahn im Sinn, läßt sich Papier und Tinte geben, um in unserer Gegenwart an Direktoren und Schauspieler irgend ein Anliegen zu richten. Ihr Gespräch dreht sich stets um diesen einen Punkt. Und plötzlich erzählt sie mir mit leiser Stimme die Geschichte ihres letzten Engagements, ohne sich um die andern zu kümmern. Ich betrachte sie, unterscheide kaum die einzelnen Sätze, die sie spricht. Ihre Verhältnisse sind mir nicht klar; wie mag sie nur zu all diesen Bekanntschaften gekommen sein? Wir werden unterbrochen, der Herr mit den schönen grauen Haaren hat sich an unserem Tische niedergelassen. Der alte Professor drückt kräftig meine Hand, bleibt aber nahezu stumm. Seine Augen sind klein, in eigentümlicher Weise verklebt; niemand schenkt ihm Beachtung. Ich habe ferner das Vergnügen, Evas intimen Freund kennen zu lernen, einen wohlerzogenen Herrn N., der eine goldene Brille trägt. Er reißt das Wort an sich und verteidigt in phrasenreicher Rede seinen Standpunkt in einer mir gleichgiltigen Angelegenheit.

Ich begreife, daß ich Opfer bringen muß, um mit Eva beisammensein zu dürfen, nehme daher manchen Händedruck hin, mit der Verpflichtung, ihn des öfteren zu wiederholen. Doch ich bin wenigstens für kurze Zeit imstande, allen Schwierigkeiten wie ein Traumwandler zu begegnen. Und das, obgleich mich der Kopf schmerzt, da ein gelindes Fieber nicht von mir weichen will. Ich bedauere, daß die Theaterkritik nicht zu meinen Gewohnheiten gehört. Vielleicht wird sich dies ändern lassen. Jedenfalls bringe ich sie heute nach Hause, da der elegante Herr, mit dem ich sie gestern habe vertraulich sprechen sehen, ihr seine Begleitung nur bis zur nächsten Straßenecke angeboten [85] hat. Auf diesem kurzen Wege hängt er sich ungeniert in ihren Arm, macht schlüpfrige Witze, spielt den Trunkenbold und kneift sie in die Wange. Sie ist voller Nachsicht, ich darf also dagegen nicht einschreiten. Nach einem kameradschaftlichen Abschied gehen wir allein auf der dunklen Straße weiter:

‚Warum lassen Sie sich das gefallen, Fräulein H.?‘

‚Ach, wir sind gute Freunde, ich verzeihe ihm das. Er war übrigens ein wenig angeheitert, merkten Sie es nicht?‘ Ich schweige. Es beginnt zu regnen und ich bemühe mich, mit meinem Schirm nicht an ihren großen Hut zu stoßen. Der Lichtkreis einer Laterne zeigt mir sekundenlang ihr Profil und einen mir unbekannten Zug darin. Vielleicht stammt sie aus niedriger Familie. Dann sage ich:

‚Sie sollten oft mit mir beisammen sein, und zwar mit mir allein. Ich mag die vielen Leute nicht, wenn ich aufrichtig sein soll. Aber Ihre Gesellschaft würde mir Freude machen, meine Arbeit fördern.‘

‚Ja, ich hoffe, Sie bald wiederzusehen! Sind Sie nicht jeden Abend im Café?‘

‚Das wohl; aber ich wäre sehr froh, wenn wir uns anderswo treffen könnten!‘

Darauf komme ich noch mehrmals zurück. Es wird aber ausweichend geantwortet und unser Gespräch verstummt. Doch bald ist von der morgigen Aufführung die Rede, und das Versprechen wird mir abgenommen, pünktlich zur Stelle zu sein.

Das X-Theater ist in der Vorstadt gelegen, ich bin aber trotz meinem Unwohlsein pünktlich zur Stelle. Das Spiel hat noch nicht begonnen, ich gehe in die Garderobe, um Eva H. meine Aufwartung zu machen. Die Garderobe ist schmutzig, überdies lehnen schadhafte Kulissen an jeder Wand. Eva macht mich mit ihrer Kollegin, dem Fräulein Finny Meier bekannt. Beide tragen die gleichen Kleider, ähneln einander fast wie Schwestern. Fräulein Meier ist zwar kürzer und dicker, aber die Gesichter dieser Schauspielerinnen sind stark überschminkt, ihre Augen von Kohlenstreifen umschattet. Der Direktor, ein großer Mann mit Künstlerlocken, eilt fluchend hin und her, der Vorhang wird gleich in die Höhe gehen. Ich begebe mich in den Saal, der sich allmählich füllt. Proletarische Gestalten in reinen, aber schlechtsitzenden Anzügen, Frauen im Sonntagsstaat um mich herum. Wenig angenehme, viel ordinäre Mienen, Reden, Bewegungen. Das Spiel beginnt. Eva H. verkörpert die Hauptrolle in dem Drama ‚Das Röschen von Bernau‘. Ich beobachte sie aufmerksam; sie hat in der Tat wenig Talent, deklamiert unnatürlich, bewegt sich hölzern, macht sogar auf meine Umgebung nur geringen [86] Eindruck. Am Ende des zweiten Aktes übertreibt sie einen Verzweiflungsschrei allzusehr und erzielt Heiterkeit, statt Rührung hervorzurufen. Ich warte die Pause nicht ab, sondern laufe in die Garderobe, um sie zu trösten. Aber sie ist nicht da, nur das Fräulein Meier ist gerade unbeschäftigt. Sie spricht davon, daß ihre Freundin heute nicht disponiert sei, dabei drängt sie sich an mich, weil sie mich für einen Kritiker hält. Ich kann Eva nur ganz flüchtig sehen und darf sie nach der Vorstellung nicht abholen, denn der Direktor hat sie um eine Unterredung ersucht.

Das Theater diente also nur wenig zu meiner Unterhaltung, zudem muß ich bei schlechtem Wetter allein nach Hause gehen. In meinem Zimmer machen sich die Folgen des Spazierganges auch sogleich bemerkbar. Das Fieber verstärkt sich, so daß ich heute verzichten muß, mein Stammlokal aufzusuchen. Unschlüssig besehe ich mir bei Kerzenlicht mein Bett und die Stühle und bleibe in der Stimmung eines Menschen stehen, der zu nichts auch nur die geringste Lust verspürt. Alle Verdrießlichkeiten fallen mir ein, auch jeder Händedruck von gestern und heute, der mir unwillkommen war. Eva H., die ich erst vor kurzem verlassen mußte, kommt mir wieder in den Sinn. Das erweckt Sehnsucht in mir, doch zugleich die Vorstellung des alten Professors mit den verklebten Augen und Triefsäcken, den sie Onkelchen nannte. Etwas schnürt mir die Kehle zusammen. Aber ich denke auch daran, wie der Pfeilerspiegel im Café sie mir damals gezeigt hat.

Nein, nein, ich lasse mich nicht betrügen! Der Spiegel hat die Wahrheit gesagt, wie könnte es anders sein? Und morgen will ich, mit einem Blumenstrauße bewaffnet, ein zweites Mal mit ihr um meine Seligkeit kämpfen.