Liebeserwachen
[180] Liebeserwachen. (Zu unserer Kunstbeilage.) Als leichtbeschwingten kecken Götterknaben hat sich die Phantasie der Griechen den Gott der Liebe vorgestellt. Mit Pfeil und Bogen bewaffnet, schwebt Amor auf goldnen Flügeln durch die Welt, an wem er seine Macht erweisen will, den trifft sein Pfeil, und wen sein Pfeil getroffen hat, der ist unrettbar seiner Macht verfallen. Aber für das holde Wunder des ersten Liebeserwachens genügte dem heiteren Griechensinn dies Gleichnis nicht, neben Amor erschuf er ein fröhliches Heer ihm gleichartiger junger Liebesgötter, von Amoren und Amoretten, und bevölkerte damit die Welt zwischen Himmel und Erde. Sie gingen der Menschheit mit gutem Beispiel voran: nicht scharfes Gewaffen, ihr Kuß weckte in dem Erwählten die Liebe, und in Gruppenbildern solch seliger Götterkinder, die zum ersten Kuß sich einander zuneigen, haben Poesie und Kunst alter und neuer Zeit am anmutigsten und lieblichsten den keuschen Zauber dargestellt, der dem ersten Erwachen reiner Herzensliebe heiligende Weihe giebt. Unser Bild hat das schöne Motiv in eigenartiger reizvoller Weise neugestaltet. Die jungen Genien befinden sich inmitten der blühenden Natur. Das zurückgeneigte Lockenhaupt der Amorette ist mit Rosen geschmückt und Rosen bedecken den blühenden Wiesengrund. So ist die zärtliche Gruppe zugleich eine Allegorie des Lenzeserwachens im Süden. Läßt doch der Kuß der Frühlingssonne dort neben Veilchen gleich auch die Rosen erblühen!