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Lichtenstein/Zweiter Teil/II

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Kapitel I Lichtenstein von Wilhelm Hauff
Zweiter Teil, Kapitel II
Kapitel III
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[179]
II.


 „– Was kümmert’s dich? Du fragst
 Nach Dingen, Mädchen, die dir nicht geziemen.“
 Schiller.[1]


Als die runde Frau und Bärbele von der Bodenkammer herabstiegen, war ihr erster Gang nicht in das Gemach, wo ihr Gast war, sondern nach der Küche. Und zwar aus zweierlei Gründen. Einmal, weil jetzt dem Gast ein kräftiges Habermus gekocht werden mußte, und dann, – von der Küche ging ein kleines Fenster in die Stube, dorthin stellte sich die Mutter, um die Mienen des Junkers zu rekognoszieren.

Bärbele stellte sich auf die Zehen und schaute ihrer Mutter über die Schulter durchs Fensterlein. Sie staunte, und ihr Herz pochte seit siebzehn Jahren zum erstenmal recht ungestüm, denn so hübsch hatte sie sich doch den Junker nicht gedacht. Sie war zwar oft von seinem Anblick bis zu Thränen gerührt gewesen, wenn er mit starren Augen, ohne Bewußtsein, beinahe ohne Leben [180] da lag; seine bleichen, noch im Kampf mit dem Tode so schönen Züge hatten sie oft angezogen, wie ein rührendes, erhabenes Bild den frommen Sinn einer Betenden anziehet; aber jetzt, sie fühlte es, jetzt war es was anderes. Die Augen waren wieder gefüllt von schönem, mutigem Feuer, es wollte „dem Bärbele auf den Zehen bedünken“, als habe sie, so alt sie geworden, noch gar keine solche gesehen. Das Haar lag nicht mehr in unordentlichen Strängen um die schöne Stirne; es fiel geordnet und reich in den Nacken hinab.

Seine Wangen hatten sich wieder gerötet, seine Lippen waren so frisch wie die Kirschen an Peter und Paul; und wie ihn das seidengestickte Wams gut kleidete und der breite, weiße Halskragen, den er über das Kleid herausgelegt hatte. Aber das konnte das Mädchen nicht ergründen, warum er wohl immer auf eine aus weiß und blauer Seide geflochtene Schärpe niedersah, so fest, so eifrig, als wären geheimnisvolle Zeichen eingewoben, die er zu entziffern bemüht sei. Ja, es kam ihr sogar vor, als drücke er die Feldbinde an das Herz, als führe er sie an die Lippen voll Andacht und Inbrunst, wie man Reliquien zu verehren pflegt.

Die runde Frau hatte indessen ihre Forschungen durch das Fensterlein vollendet. „’S ist a Herr wie na Prenz“, sagte sie, indem sie das Habermus umrührte; „was er a Wammes a hot; dia Herra z’ Stuagerd kennets et schöner hau. Was duet er no mit dem Fetza, won er in der Hand hot? Er gukta jo schier ausenander! Es ist, ka sei, a bisle Bluat na komma, daß ens verzirnt.“[Hauff 1]

„Noi sell isch et“, entgegnete Bärbele, die jetzt bequemer das Zimmer übersehen konnte; „aber wisseter Muater wia mers fürkommt? er macht so gar fuirige Auga druf na; sell ist gwiß ebbes von seim Schaz.“[Hauff 2]

[181] Die runde Frau konnte sich nicht enthalten, über die richtige Vermutung ihres Kindes etwas weniges zu lächeln, doch schnell nahm sie ihre mütterliche Würde wieder zusammen, indem sie entgegnete: „A, was woist du von Schäz! So na Kind wia du muaß gar an nix so denka. Gang jetzt weg vom Fensterle dort, lang mir sell Häfele her. Der Herr wird a fürnehms Fressa gwohnt sei, i muaß am a bisle viel Schmalz in da Brei dauh.“[Hauff 3]

Bärbele verließ etwas empfindlich das Fenster: sie wußte, daß sie ihrer Mutter nicht widersprechen dürfe, aber diesmal hatte sie offenbar unrecht. Ging nicht das Mädchen schon seit einem Jahr in den Lichtkarz[2], wo von den Mädchen des Dorfes über Schätzchen und Liebe viel gesprochen und gesungen wurde? Hatten nicht einige ihrer Gespielinnen, die wenige Wochen älter waren als sie, schon jede einen erklärten Schatz, und sie allein sollte nicht davon sprechen, nicht einmal etwas davon wissen dürfen? Nein, es war recht unbillig von der runden Frau, ihrem Töchterlein, das, wenn sie sich auf die Zehen stellte, der Mutter über die Schultern sehen konnte, solche Wissenschaft geradehin zu verbieten. Aber wie es zu geschehen pflegt: das Verbot reizt gewöhnlich zur Übertretung, und Bärbele nahm sich vor, nicht eher zu ruhen, als bis sie wisse, warum der junge Ritter mit so gar „fuirigen Augen“ auf seine Feldbinde hinschaue.

Das Frühstück des Junkers war indessen fertig geworden, es fehlte nichts mehr als ein Becher guten, alten Weines; auch dieser war bald herbeigebracht, denn der Pfeifer von Hardt war zwar ein geringer Mann, aber nicht so arm, daß er nicht für feierliche Gelegenheiten ein Fäßchen im Keller liegen hatte; das Mädchen trug den Wein und das Brot, und die runde Frau ging im vollen Sonntagsstaat, die Schüssel mit Habermus in beiden Fäusten, ihrem holden Töchterlein voran in die Stube.

[182] Es kostete den jungen Mann nicht geringe Mühe, den vielen Knicksen der Pfeifersfrau Einhalt zu thun; sie hatte in ihrer Jugend einmal auf dem Schloß zu Neuffen gedient und wußte, was Lebensart war; daher blieb sie mit der rauchenden Schüssel an ihrer eigenen Schwelle stehen, bis ihr der gestrenge Junker ernstlich befahl, vorzutreten. Die Tochter aber stand errötend hinter der runden Frau, und ihr verschämtes Gesicht ward nur auf Augenblicke sichtbar, wenn die Mutter sich recht tief verneigte. Auch sie machte die gehörige Anzahl Knickse, doch mochten sie nicht so ungemein ehrerbietig sein, denn sie hatte ja schon ein halb Stündchen mit ihm geplaudert.

Das Mädchen deckte jetzt den Tisch mit frischen Linnen, setzte dem Junker das Habermus und den Wein an den Ehrenplatz in der Ecke der Bank unter dem Kruzifix; dann steckte sie einen zierlich geschnitzten hölzernen Löffel in das Mus, er blieb aufrecht darin stehen, und es war dies ein gutes Zeichen, daß das Frühstück delikat bereitet sei. Als der Junker sich niedergelassen hatte, setzten sich auch Mutter und Tochter an den Tisch zu ihrem Suppennapf, doch in bescheidener Entfernung und nicht ohne das Salzfaß zwischen sich und ihren vornehmen Gast zu stellen. Denn so wollte es die Sitte in den guten, alten Zeiten.

Georg hatte, während sie das Frühmahl verzehrten, Muße genug, die beiden Frauen zu betrachten. Er gestand sich, daß die Hausehre des Pfeifers von Hardt eine stattliche Frau sei, die vielleicht manchen weniger kühnen Mann als seinen Führer und Erretter unter die Stelzen ihrer gewichtigen Schuhe (Pantoffel hatte sie wohl nicht) gebracht hätte. Auch das Kind des Spielmanns dünkte ihm eine liebliche Dirne, und ein so schöner Kopf, solche freundliche Augen hätten vielleicht in seinem Herzen einen nicht zu verachtenden Raum gewonnen, wäre es nicht von einem Bild schon ganz erfüllt gewesen, wäre nicht die Kluft so unendlich groß gewesen, welche Geburt und Verhältnisse zwischen den Erben des Namens Sturmfeder und der geringen Tochter des Pfeifers von Hardt befestigt hatte. Nichtsdestoweniger ruhten seine Blicke mit Wohlgefallen auf ihren reinen, unschuldigen Zügen, und wäre die runde Frau nicht mit ihrer Suppe zu beschäftigt [183] gewesen, so wäre ihr wohl die Röte nicht entgangen, die auf den Wangen ihres Kindes aufstieg, wenn zufällig einer ihrer verstohlenen Blicke dem Auge des jungen Mannes begegnete.

„Der Napf ist leer, jetzt ist es Zeit zu schwatzen.“ Dieser richtige Spruch galt auch hier, sobald das Tischtuch weggenommen war. Georg lagen vornehmlich zwei Dinge am Herzen; er mußte gewiß sein, wann der Pfeifer von Lichtenstein zurückkommen würde, weil er nur seine Nachrichten über die Geliebte abwarten wollte, um dann sogleich zu ihr zu eilen; und zweitens war es ihm sehr wichtig, zu erfahren, wo das Heer des Bundes in diesem Augenblick stehe. Über das erstere konnte er keine weitere Auskunft erhalten, als was ihm das Mädchen früher schon gesagt hatte; der Vater sei etwa seit sechs Tagen abwesend, habe aber versprochen, am fünften Abend wieder hier zu sein, und sie erwarten ihn daher stündlich. Die runde Frau vergoß Thränen, indem sie dem Junker klagte, daß ihr Mann, seitdem dieser Krieg begonnen, kaum einige Stunden zu Haus gewesen sei; er sei von früheren Zeiten her schon als ein unruhiger Mann berüchtigt; jetzt murmeln die Leute auch wieder allerlei über ihn, und gewiß bringe er seine Frau und sein Kind durch sein gefährliches Leben noch in Unglück und Jammer.

Georg suchte alle Trostgründe hervor, um ihre Thränen zu stillen; es gelang ihm wenigstens insoweit, daß sie ihm seine Fragen nach dem Bundesheer beantwortete.

„Ach Herr“, sagte sie, „des ist a Graus und a Jomer; ’s ist grad wie wenn der wild’ Jäger uf de Wolka reitet und mit seine g’schpenstige Hund übers Land wegzieht. ’s ganz Unterland hent se schau, und jetzt goth’s mit em hella Haufa ge Tibenga.“

„So sind die Festungen alle schon in ihrer Hand?“ fragte Georg verwundert; „Höllenstein, Schorndorf, Göppingen, Teck, Urach? Sind sie alle schon eingenommen?“

„Älles hent se; a Mann vo Schorndorf hot’s g’sait, daß se de Höllastoi, Schorndorf und Göppenga hent. Aber von Teck und Aurich kane uich ganz gnau berichta, mer send jo koine drei, vier Stund davo.“ Sie erzählte nun, am dritten April sei das Heer vor Teck gezogen; sie haben einen Teil des Fußvolkes vor [184] das eine Thor gesetzt und sich mit der Besatzung über die Übergabe besprochen. Da seien alle Knechte zu diesem Thor geeilt und haben zugehört, und indessen sei das andere Thor von den Feinden bestiegen worden. Im Schloß Urach aber seien vierhundert herzogliche Fußknechte gewesen; diese habe die Bürgerschaft nicht in die Stadt lassen wollen, als der Feind anrückte. Es sei zum Gefecht zwischen ihnen gekommen, worin die Knechte auf den Markt gedrungen seien, dort aber sei der Vogt von einer Kugel getroffen und nachher mit Hellebarden niedergestoßen worden; die Stadt habe sich dem Bunde ergeben. „Es ist koi Wunder“, schloß die runde Frau ihre Erzählung, „älle Burga und Schlösser nemmet se ei; denn se hent lange Feldschlanga und Bombardierstuck, wo se Kugla draus schießet, graißer als mei Kopf, daß älle Maura zema brecha, und älle Tirn eifalle müaßet.“

Georg konnte nach diesem Bericht ahnen, daß eine Reise von Hardt nach Lichtenstein nicht minder gefährlich sein werde als jener Ritt über die Alb, denn er mußte gerade die Linie zwischen Urach und Tübingen durchschneiden. Doch war Urach schon seit mehreren Tagen von dem Heere verlassen; die Belagerung von Tübingen mußte notwendig viele Mannschaft erfordern, und so konnte Georg dennoch hoffen, daß keine eigentlichen Posten mehr den Strich Landes, den er zu durchreisen hatte, besetzt halten werden.

Mit Ungeduld erwartete er daher die Ankunft seines Führers. Seine Kopfwunde war geheilt; sie war nicht tief gewesen, denn die Federn seines Barettes und sein dichtes Haar hatten dem Hiebe, der nach ihm geführt worden war, seine Schärfe benommen; doch war der Schlag noch immer kräftig genug gewesen, um ihn auf so viele Tage des Bewußtseins zu berauben. Auch seine übrigen Wunden an Arm und Beinen waren geheilt, und die einzige körperliche Folge jener unglücklichen Nacht war eine Mattigkeit, die er dem Blutverlust, dem langen Liegen und dem Wundfieber zuschrieb; doch auch diese schwand von Stunde zu Stunde, denn ein frischer Mut und sehnsüchtige Gedanken in die Ferne verjagen gar bald solche schlimme Gäste.

Es gehörte übrigens dieser frische Mut und ein wenig jugendliche [185] Neugierde dazu, ihm die langsam hinschleichenden Stunden erträglich zu machen; es gehörte die muntere Tochter des Pfeifers dazu, um ihn vergessen zu lassen, wie unerträglich lange ihr Vater auf sich warten lasse. Er sah hier, was er sich schon lange zu sehen gewünscht hatte, eine echte, schwäbische Bauernwirtschaft. Wie drollig kamen ihm ihre Sitten, ihre Sprache vor; sein Franken, so nahe es an dieses Württemberg grenzte, hatte doch wieder einen anderen Schlag von Leuten; es deuchte ihm, seine Bauern seien pfiffiger, verschlagener, in manchen Dingen weniger roh als diese. Aber die gutmütige Ehrlichkeit dieser Leute, die aus ihren Augen, aus ihrer Sprache, aus ihrem ganzen Wesen hervorblitzte, ihre muntere, unverdrossene Arbeitsamkeit, ihre Reinlichkeit, die ihrer Armut ein ehrbares, sogar schmuckes Ansehen gab, dies alles machte, daß er zu fühlen glaubte, es haben diese Leute als Menschen mehr inneren Gehalt als die, welche er in seinen Gauen kennen gelernt hatte, wenn sie auch in manchen Dingen nicht so viel Verschlagenheit zeigten.

Bewundern mußte er auch die trauliche, gutmütige Geschwätzigkeit des Mädchens. Die runde Frau mochte schmälen wie sie wollte, mochte sie noch so oft ermahnen, den hohen Stand des Ritters zu bedenken, sie ließ es sich nicht nehmen, ihren Gast zu unterhalten, besonders da sie ihren geheimen Plan, zu erforschen, ob sie in Hinsicht auf die Feldbinde besser geraten habe als die Mutter, noch nicht aufgegeben hatte. Sie hatte hierüber noch ihre ganz besonderen Gedanken; als nämlich der Junker so gar krank gelegen, war sie in der Nacht noch lange aufgeblieben, um dem Vater Gesellschaft zu leisten, der am Bette des Verwundeten wachte. Doch bald schlief sie über ihrer Arbeit ein; es mochte ungefähr zehn Uhr in der Nacht sein, da sie von einem Geräusch im Zimmer aufgeschreckt wurde. Sie sah einen Mann mit dem Vater angelegentlich sprechen; seine Züge entgingen ihr nicht, obgleich er sich in eine große Kappe gehüllt hatte, sie glaubte einen Diener des Ritters von Lichtenstein, der schon oft auf geheimnisvolle Weise zu dem Pfeifer von Hardt gekommen war, und bei dessen Anwesenheit sie immer das Zimmer hatte verlassen müssen, in ihm zu erkennen.

[186] Neugierig, endlich einmal zu hören, was dieser Mann bei dem Vater zu thun habe, schloß sie ihre Augen wieder fest zu, denn es war ihr wahrscheinlich, daß ihr Vater sie nur im Zimmer ließ, weil er sie für fest eingeschlafen hielt. Der Mann erzählte von einem Fräulein, die über eine gewisse Nachricht untröstlich sei. Sie habe den fremden Mann gebeten und gefleht, nach Hardt zu gehen und Nachricht einzuziehen, sie habe geschworen, wenn er nicht gute Nachricht bringe, ihrem Vater alles zu sagen und zur Pflege des Kranken selbst zu kommen. Solches hatte der Lichtensteiner heimlich gesprochen; der Vater hatte darauf das Fräulein beklagt, hatte dem Boten den ganzen Zustand des Kranken geschildert und versprochen, daß er, sobald sich der Kranke gebessert habe, selbst kommen werde, um dem Fräulein diesen Trost zu bringen. Der fremde Mann hatte sodann dem Kranken ein Löckchen von seinen langen Haaren abgeschnitten, es in ein Tuch geschlagen und unter dem Wams wohlverwahrt; darauf war er, vom Vater geführt, aus der Stube gegangen, und kurz nachher hörte sie ihn bei Nacht und Nebel wieder wegreiten.

Diese Begebenheit hatten die vielerlei Geschäfte der folgenden Tage bald wieder aus dem leichten, jugendlichen Sinn der Tochter des Pfeifers von Hardt verdrängt, sie erwachten aber jetzt aufs neue, aufgeregt durch das, was Bärbele durchs Küchenfenster gesehen hatte. Sie wußte, daß der Ritter von Lichtenstein eine Tochter habe, denn die Schwester des Spielmanns war ja ihre Amme. Und dieses Fräulein mußte es wohl sein, die den Lichtensteiner Knecht gesandt hatte, um sich so angelegentlich nach dem Kranken zu erkundigen, die sogar selbst kommen wollte, um ihn zu pflegen.

Alle Sagen von liebenden Königstöchtern, von Rittern, die krank in Gefangenschaft gelegen und von holden Fräulein errettet wurden, alles, was über dieses Kapitel jemals in der traulichen Spinnstube erzählt worden war, – und es gab viele „grausige“ Geschichten hierüber – kam ihr in das Gedächtnis. Sie wußte nun zwar nicht, wie es mit der Minne so vornehmer Leute beschaffen sei, aber sie dachte, es werde den hohen Fräulein wohl ungefähr ebenso ums Herz sein wie den Mädchen von Hardt, [187] wenn sie an einen schmucken Burschen von Oberensingen oder Köngen ihr Herz verschenkt haben. Und in dieser Hinsicht kam ihr das Verhältnis, dem sie in Gedanken nachspürte, gar reizend vor, besonders dachte sie sich den Schmerz des Fräuleins auf ihrer fernen, hohen Burg recht grausam und rührend, wie sie nicht wisse, ob ihr Schatz lebendig oder tot sei, wie sie nicht zu ihm könne, um ihn zu sehen und zu pflegen.

Sie wußte ein Lied, das man oft im Lichtkarz sang; es hatte eine schöne Weise und kam ihr unwillkürlich auch jetzt in den Sinn; es hieß:

„Wenn i im Bett’ lieg und bi krank,
Wer führt mer mei Schäzle zum Tanz;
Und wenn i im Grab’ lieg und faule,
Wer kußt no ihr Honigmaule?“

Thränen traten ihr in die sonst so fröhlichen Augen, als sie bedachte, wie leicht der Junker seinem Liebchen hätte wegsterben können, und wie sie dann so einsam und ohne Liebe gewesen wäre, und doch war sie gewiß recht schön und eines vornehmen, reichen Ritters Kind. Doch ist nicht der Junker noch viel schlimmer daran? dachte das gutherzige Schwabenkind weiter; dem Fräulein hatte ja der Vater jetzt Nachricht von ihm gebracht, aber er, er wußte ja seit vielen Tagen kein Wörtchen von ihr; denn früher wußte er nichts von sich selbst, und seit er wieder ganz bei Leben war, konnte er auch nichts wissen; darum hatte er wohl die Binde, die er gewiß von ihr hatte, so beweglich angeschaut und ans Herz und den Mund gedrückt? Sie nahm sich vor, ihm zu erzählen, was in jener Nacht vorgegangen sei, vielleicht ist es ihm doch ein Trost, dachte sie.

Georg hatte bemerkt, wie die fröhliche Miene des spinnenden Bärbeles nach und nach ernster geworden war, wie sie über etwas nachzusinnen schien, ja er glaubte sogar eine Thräne in ihrem Auge bemerkt zu haben. „Was hast du, Mädchen“, sagte er, als die Mutter gerade das Zimmer verlassen hatte, „warum wirst du auf einmal so still und ernst und netz’st ja sogar deine Fäden mit Thränen?“

„Send denn Ihr so lustig, Junker?“ fragte Bärbele und sah [188] ihm recht fest ins Auge; „i han gmoint, es sei vorig ebbes aus Eure Auga grollt, was selle Binde dort gnetzt hot. Sell hent er gwiß vo Eurem Schätzle, und jetzt thuet Ichs loid, daß Er et bei er sind.“[Hauff 4]

Sie mochte nahe ans Ziel getroffen haben, denn der junge Mann errötete tief über ihre Frage. „Du hast vielleicht recht“ sagte er lächelnd, „doch bin ich deswegen nicht gar zu traurig, ich werde sie bald wiedersehen.“

„Ach, was des für a Freud sein wird in Lichtastoi“, entgegnete Bärbele mit einem schelmischen Seitenblick.

Georg erstaunte; sollte ihr der Vater von dem Geheimnis seiner Liebe etwas gesagt haben? „In Lichtenstein?“ fragte er sie, „was weißt du von mir und Lichtenstein?“

„Ach, i mags dem gnädigen Fräule wohl gönna, daß se wieder amol a Freud hot; mer hot mer gsait, se häb rechtschaffa g’jomeret, wie er so krank gwesend.“[Hauff 5]

„Gejammert sagst du?“ rief Georg, indem er aufsprang und zu ihr trat; „so wußte sie um meine Krankheit? O sage, was weißt du von Marie? kennst du sie? Was sagte der Vater von ihr?“

„Der Vater hot koi Sterbeswörtle zu mer gsait, und i wißt au net, daß es a Fräule von Lichtastoi geit, wenn et mei Bas ihr Amm wär. Aber Er müeßet mers et übel nemma, Junker, dasse a bissele g’horcht hau; guket, des Ding ist so ganga:“[Hauff 6] Sie erzählte dem Junker, wie sie hinter das Geheimnis gekommen sei, und daß der Vater, wahrscheinlich um guten Trost zu bringen, nach Lichtenstein gegangen sei.

[189] Georg wurde schmerzlich bewegt durch diese Nachricht, er hatte bis jetzt geglaubt, Marie werde die Nachricht seines Unfalls zugleich mit der tröstlichen Kunde seiner Genesung erhalten; und jetzt mußte er erfahren, daß sie mehrere bange Tage in Ungewißheit geschwebt sei; in der schrecklichen Ungewißheit, ob er nicht hier noch entdeckt werde, ob er gerettet werde, ob sie ihn je wiedersehen würde; er kannte ihr treues Herz, und wie lebhaft konnte er sich ihren Kummer denken! Wahrlich, sein eigenes Unglück schien ihm gering und nicht zu beachten, wenn er sich den Jammer des teuren Mädchens vorstellte. Wie viel hatte sie in Ulm gelitten, wie schmerzlich war ihr der Abschied von ihm geworden; und kaum hatte ihr Herz wieder freier geatmet in dem Gedanken, daß er des Bundes Fahnen verlassen werde, kaum hatte sie ein wenig heiterer in die Zukunft gesehen, so kam ihr die Schreckensbotschaft von der tödlichen Wunde. Und dieses alles vor den Blicken des Vaters verschließen zu müssen, diesen großen Schmerz allein tragen müssen, ohne eine, auch nur eine Seele zu haben, bei welcher sie weinen, bei welcher sie Trost suchen konnte. Jetzt fühlte er erst, wie notwendig es sei, schnell nach Lichtenstein zu eilen, und seine Ungeduld wurde zum Unmut, daß jener sonst so kluge Mann gerade in diesen kostbaren Augenblicken so lange ausbleibe.

Das Mädchen mochte seine Gedanken erraten, „i sieh wohl, Er möchtet gern von ich fort; wenn no der Vater do wär, denn alloi fendet Er da Weg noch Lichtastoi net; er send koi Witaberger, des merke an der Sproch, und so kennet Er leicht verirra. Wisseter was? i lauf em Vater entgege und mach, daß er bald kommt.“[Hauff 7]

„Du wolltest ihm entgegengehen?“ sagte Georg, gerührt von der Gutmütigkeit des Mädchens, „weißt du denn, ob er schon in der Nähe ist? Vielleicht ist er noch stundenweit entfernt, und in einer Stunde wird es Nacht!“

[190] „Und wär’s so Nacht, daß mer da Weg mit de Händ greifa müeßt, und müeßet e laufa bis Lichtastoi, i wetts gern dauh, Er kommet jo no bälder zu –“,[Hauff 8] errötend schlug sie die Augen nieder, denn trieb sie auch ihr gutes Herz, sich zum Liebesboten des Ritters anzubieten, so schämte sie sich doch, jenes zarte Verhältnis, das ihr heute so klar wie noch nie zuvor einleuchtete, zu berühren.

„Und willst du mir zulieb gehen bis Lichtenstein, so wäre es ja thöricht von mir, zurückzubleiben und erst deinen Vater zu erwarten. Ich sattle geschwind mein Roß und reite neben dir her, und du zeigst mir den Weg, bis ich ihn nicht mehr verfehlen kann!“

Das Mädchen von Hardt schlug die Augen nieder und spielte mit dem langen Zopfband; „aber es wird jo scho enera Stund Nacht“,[Hauff 9] flüsterte sie kaum hörbar.

„Ei, was schadet das, dann bin ich um den Hahnenschrei in Lichtenstein“, antwortete Georg, „du wolltest dich ja vorhin selbst bei Nacht und Nebel auf den Weg machen.“

„Ja, i wohl“, entgegnete Bärbele ohne aufzusehen, „aber Euch ist’s gwiß et gsund, wo ner erst krank gwä sent, so in der kühla Nacht en Weg von sechs Stund z’macha.“[Hauff 10]

„Das kann ich nicht beachten“, rief Georg, „und die Wunde ist ja geheilt, ich bin gesund wie zuvor; nein! rüste dich immer, gutes Kind, wir brechen sogleich auf, ich gehe mein Pferd zu satteln.“ Er nahm den Zaum von einem Nagel an der Wand, wo er aufgehängt war, und schritt zur Thüre.

„Herr! Euer Gnaden!“ rief ihm das Mädchen ängstlich nach; „lassets lieber geh. Gucket, ’s thuet se et, daß mer so selbander in der Nacht fortganget. D’Leut in Hardt send so gar wunderlich, [191] und mer thät mer gwiß ebbes ahänga, wenne –.[Hauff 11] Wartet lieber bis morga früh, so wille Ich meitwega führa bis Pfullinga.“

Der Junker ehrte die Gründe des guten Mädchens und hing schweigend den Zaum wieder an die Wand. Es möchte ihm freilich lieber gewesen sein, wenn die Leute von Hardt weniger geneigt waren, Böses zu denken; doch es war hier nichts zu thun, als sich schweigend in sein Schicksal zu ergeben. Er beschloß daher, diesen Abend und die folgende Nacht noch auf den Pfeifer zu warten; käme er nicht, so wollte er mit dem frühesten Morgen zu Pferd sein und unter Leitung seiner schönen Tochter nach Lichtenstein aufbrechen.



  1. „Die Jungfrau von Orleans“. Prolog, 3. Auftritt.
  2. Lichtkarz (schwäbisch), d. h. Spinnstube.

Anmerkungen (Hauff)

  1. „Es ist ein Herr wie ein Prinz, welch ein Wams er an hat; die Herren in Stuttgart können es nicht schöner haben; was thut er nur mit dem Fleckchen, das er in der Hand hat? er sieht es ja beinahe auseinander. Vielleicht kam ein wenig Blut dorthin, und er ist darüber erzürnt.“
  2. „Nein, das ist es nicht! aber wißt Ihr, was ich denke? er macht so feurige Augen darauf hin, es ist gewiß etwas von seinem Mädchen.“
  3. „Was weißt du von einem Schatz; ein Kind wie du soll nichts dergleichen denken. Gehe jetzt weg vom Fenster, reiche mir das Töpfchen dort. Der Herr wird vornehm zu essen gewohnt sein, ich muß ihm ein wenig viel Schmalz in den Brei thun.“
  4. „Seid Ihr denn fröhlich? ich meinte doch, es sei vorhin etwas aus Euren Augen gerollt, was jene Binde genetzt hat. Das habt Ihr gewiß von Eurem Liebchen, und jetzt thut es Euch weh, daß Ihr nicht bei ihr seid.“
  5. „Ach, ich mag es dem gnädigen Fräulein wohl gönnen, daß sie einmal wieder eine Freude hat. Man sagte mir, sie habe gejammert, wie Ihr so krank gewesen.“
  6. „Der Vater hat kein Wörtchen zu mir gesagt, und ich wüßte auch nicht, daß es ein Fräulein von Lichtenstein gibt, wenn nicht meine Muhme ihre Amme wäre. Ihr müßt es mir nicht übelnehmen, daß ich ein wenig horchte; sehet, die Sache ging so:“
  7. „Allein könnt Ihr den Weg nicht finden. Ihr seid kein Württemberger, man merkt es an der Sprache. Ihr könntet leicht verirren, doch ich laufe meinem Vater entgegen und bewirke, daß er schneller kommt.“
  8. „Und wäre es so Nacht, daß man den Weg mit den Händen greifen müßte, ich laufe bis Lichtenstein, ich wollte es gerne thun. Ihr kommet dann bälder zu –“
  9. „Es wird ja schon in einer Stunde Nacht!“
  10. „Ich wohl, aber Euch ist es gewiß nicht gesund, da Ihr kaum genesen seid, in einer kühlen Nacht den Weg von sechs Stunden zu machen.“
  11. „Lasset es doch! Es schickt sich nicht, daß wir zusammen in der Nacht fortgehen; die Leute in Hardt sind wunderlich, man könnt’ mir manches nachsagen, wenn ich –“
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