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Letzte Stunden, Tod und Begräbniß des hochwürdigen Herrn Pfarrers Wilhelm Löhe

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Autor: Johannes Deinzer
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Titel: Letzte Stunden, Tod und Begräbniß des hochwürdigen Herrn Pfarrers Wilhelm Löhe
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Erscheinungsdatum: 1872
Verlag: Gottfried Löhe
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Erscheinungsort: Nürnberg
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Letzte Stunden,
Tod und Begräbniß
des


hochwürdigen Herrn Pfarrers


Wilhelm Löhe
in Neuendettelsau.

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|  Es ist dem Schreiber dieses der Auftrag zu Theil geworden, die letzten Stunden und den Tod des sel. Herrn Pfarrers Löhe zu Lieb und Dienst der vielen Tausende, die ihn im Leben kannten und verehrten, in diesen Blättern zu beschreiben. Mit Wemut und doch auch seliger Freude sich in die Erinnerung der unvergeßlichen Tage versenkend, die wir in der ersten Woche des Januar mit einander durchlebten, schickt er sich an, dieses Auftrags sich zu entledigen.

 Die Einleitung und Einweihung zu dem letzten Abschnitt des großen Lebens, das sich nun vor unsern Augen geschlossen hat, die Bereitung des Seligen für seinen Todesgang, war sein letztmaliger Empfang des heil. Sakraments am 24. Dezember, den IV. Adventssonntag. Nach dem Schluß der Frühkirche gieng ich, der Schreiber dieses, ins Pfarrhaus, um mich nach dem Befinden des kranken Pfarrers zu erkundigen. Es hatte sich nämlich in Folge heftigen Erbrechens bei ihm ein Zustand der Schwäche eingestellt, der indessen – weil als Folge eines Diätfehlers erkannt – weder dem Arzte noch den Seinigen besondere Besorgniß einflößte. Ich war daher auf den ernsten Empfang, den ich bei ihm fand, nicht gefaßt. Er allein beurteilte sich an jenem Tage richtig. „Herr Vicar – sagte er, mit jenem eigentümlichen Beben, das in den Jahren seiner Schwachheit bei jeder Gemütsbewegung die Glieder durchschauerte, reichen Sie mir das Sakrament. Man sagt mir zwar, daß mein Zustand nicht so ernst sei, ich aber glaube es, ich will mich auf meinen Tod bereiten, ich will für alle Fälle gefaßt sein.“ „Herr Pfarrer, wann soll ich es Ihnen reichen? Ich stehe Ihnen jeden Augenblick zu Diensten.“ Wieder jenes Beben, das uns allen bekannt in den Jahren der Schwachheit die sonst so heldenstarke Seele erschütterte, und darauf sagte er mit großer Bestimmtheit: „Jetzt gleich.“ Ich eilte, seinen Willen zu thun. Mit jenem großen Ernst der Andacht, der ihm eigen war, empfing er das h. Sakrament.

 Ich rief ihm um der Weihnachtsnähe willen beim Weggehen jenen schönen Vers des lateinischen Kirchenliedes ins Gedächtniß:

Se nascens dat in socium,
Convescens in edulium,
Se moriens in pretium,
Se regnans dat in praemium.


|  Ihr Bruder in der Geburt, Ihre Speise beim Mahle, Ihr Lösegeld im Tode und Ihr Lohn in Seinem ewigen Reiche – das ist Er, das sei Er. Ich weiß nicht, ob Sie sich und Ihren Zustand richtig beurteilen, aber wenn Ihr Gefühl der Todesnähe Sie nicht trügen sollte, dann sei der HErr Ihr Beistand auf Ihrem Todesgange, und wie Er sich erhob von seinem himmlischen Sitze, um dem Todesleiden seines Märtyrers Stephanus zuzuschauen, so reiche Er Ihnen aus Seiner ewigen Höhe die durchbohrte Hand und stärke Sie, wenn Sie in Todesnot geraten. So etwa waren meine Worte, worauf er kräftig „Amen“ sagte. Selbst tief ergriffen, gieng ich weg und heute noch, ja alle Tage meines Lebens will ich mich freuen, daß ich ihm zum letzten Male die Speise des Lebens reichen durfte, die ich so oft aus seinen Händen empfieng.
.
 Es trat in den folgenden Tagen eine Wendung zur Besserung ein. Am Neujahrstage fühlte er sich so kräftig, daß er in seiner Sophaecke sitzend die Menge der Glückwünschenden, die sich wie alle Jahre in Schaaren zu ihm drängten, in Empfang nehmen konnte“ Es war ein Tag, den ihm Gott bereitet hatte – ach! wer ahnte es, daß es ein Abschiedstag sein, und daß am andern Tag seiner Seele ein Freudenempfang im Himmel bereitet, Glückwunsch und Willkomm ihm von den Seligen gesagt werden würde. Die strahlende Heiterkeit, die an diesem Tage sein Angesicht verklärte, fiel dem und jenem auf, doch niemand ahnte Schlimmes. Ganz besonders erfreute ihn der Neujahrswunsch einer Schwester, die ihm wünschte, er möchte im neuen Jahre das Gehen wieder lernen. So groß war nämlich in den letzten Wochen seine Schwachheit geworden, daß die Füße (die „Unterthanen“, wie er scherzend sich ausdrückte) ihm den Dienst versagten. Heiter lächelnd erzählte er ein paar Freunden, die sich glückwünschend bei ihm zusammengefunden hatten, wie sehr ihn jener Wunsch erfreut hätte. Ich wünschte, Sie könnten wieder einmal an die frische Luft gehen – sagte einer der anwesenden Freunde. Da wäre es noch besser, wenn ich wieder predigen könnte – erwiderte er. Und ein anderer versetzte: Da wäre es noch besser, wenn Du lieber gar fliegen könntest. Es lag ein unbewußter Ernst im heiteren Scherz. Bald wuchsen der Seele die Flügel, aufzufahren wie ein Adler in die ewigen Höhen. „Der Geist ist ein Vogel, ein geflügelt Wesen – hatte er oft gesagt. Aber hienieden sucht er vergebens, sich aus den Banden seines Leibes zu entschwingen. Er versucht den Flug, sinkt aber immer wieder zur Erde nieder, es geht ihm wie es Homer in jenem schönen Gleichniß von den jungen, noch nicht flügge gewordnen Vögeln schildert. Aber im Sterben bekommt die Seele Flügel, um der Erde zu entrinnen, wie ein Vogel entrinnt dem Stricke des Voglers.“ Er lernte nun Gang und Flug zur Ewigkeit. Aber wie schön und wie von Gott ihm bescheert war es, daß seine glückwünschende Heerde wie zur letzten Musterung noch einmal an ihm vorüber gehen, und daß er| sie bei dieser Gelegenheit zum letzten Male segnen durfte. Möge Gott ihm geben, daß von der ganzen vollen Zahl derer, die da an ihm vorübergiengen, ihm keines fehle an jenem großen Tage! Mittag setzte er sich noch fröhlich zu Tische und begab sich dann, wie er pflegte, auf ein Stündchen zur Ruhe in seinen Lehnstuhl.

 Kaum hatte er sich ein wenig in denselben zurückgelehnt, so hörte der treue Sohn, der im Nebenzimmer weilte, ein Geräusch. Er eilte zu seinem Vater, den er eben im mühsamen Versuche traf, sich von seinem Ruheort zu erheben. Das Weh des Todes hatte ihn bereits angefaßt. Er begehrte zu Bette gebracht zu werden – ein unerhörtes Verlangen bei ihm, den kaum in den Tagen der größten Schwachheit der Wille auch des kräftigsten Arztes auf dem Lager zurückzuhalten vermochte.

 Kaum war er zu Bette gebracht, als er mit beiden Händen nach dem Haupte griff und sie dann über das Angesicht gleiten ließ – des HErrn Hand hatte ihn angerührt, er lag in der Betäubung des Schlages besinnungs- und regungslos da. Im Betsaal, wo eben die Neujahrschristenlehre gehalten werden sollte, ereilte mich die Schreckensbotschaft. Die Thränen im Auge des Sohns, die tiefe Bekümmerniß der Tochter, die sich mühsam vom eignen Krankenlager aufgerafft hatte, der Ernst des Arztes, der Anblick des Kranken selbst, dessen Angesicht bereits von der Hand des Todes gezeichnet war, ließen keinen Zweifel, das wir das Bette eines Sterbenden umstanden. Kein Moment der Besinnung, kein lichter Augenblick kam mehr. Einfach, recht gering war darum auch der Menschendienst, der an diesem Sterbebette einzig möglich war. Wir konnten nichts thun als seufzen und schreien für die im Todeskampfe ringende Seele. Wie einfach, wie bescheiden, wie gar nicht glorios war der Todesgang dieses Knechtes Jesu, der vielleicht nirgends größer war, als wenn er an Sterbelagern stand. Wie haben wir ihn oft gesehen an Sterbebetten waltend in voller liturgischer Majestät, feurige Gebete opfernd und durch Trost und Zuspruch die Lampen der sterbenden Seelen schmückend zur Begegnung des ewigen Bräutigams. Wie manchem, der solchen Feierstunden an Sterbebetten anwohnen durfte, war es da, als sähe er im Geist den Himmel offen, wie schwand da die Furcht vor „dem bischen Tod“, wie heimatlich, wie mit Kräften der Heimat anziehend wurde da die Ewigkeit, wie wurden da auch die am Leben hangenden Seelen erfüllt von Sterbensmut und Sterbenslust! Nichts indessen von all der Herrlichkeit, mit der er Sterbebetten zu verklären wußte, war bei seinem Todesgang zu spüren. Unnahbar für Menschenwort, schon wie abgeschieden und abgestorben der Außenwelt, regungs- und empfindungslos lag er im Schlummer der Betäubung da. Aber wenn auch keine Herrlichkeit, so war doch tiefer Friede, feierlicher Sterbensfriede um ihn her. „Seinen Freunden gibt Er’s schlafend“ und „HErr nun lässest Du Deinen Diener im Frieden fahren – das war| der Eindruck, den man an diesem Sterbebett bekam. Wir priesen Gott für diesen Todesgang; wenn Wünschen gälte, möchten wir ihm heute kein andres Sterben wünschen, so und nicht anders war es recht und wohlgethan. Wir waren gewissermaßen innerlich froh an diesem Sterbelager zur Unthätigkeit verurteilt zu sein, wir hätten uns alle miteinander nicht im Stande gefühlt, dieser Seele sterben zu helfen und ihr mit Gottes Wort heimzuleuchten zum ewigen Frieden. So thaten wir was allein möglich war, wir hielten an am Gebet und schrieen zu Gott um Bewahrung der Seele vor dem Geiste der Anfechtung, um süßen, inwendigen Zuspruch des h. Geistes, Verkürzung des Todesleiden, selige Hinfahrt etc. Die Stimme des Anrufens verstummte nicht an diesem Todtenbette.

 Auf die Kunde von dem tödtlichen Erkranken des geliebten Hirten hatte eine große Schaar Theilnehmender in den Abendstunden des Neujahrtages sich in die Räume des Pfarrhauses gedrängt. Alles wollte dem theuren Manne noch einmal ins sterbende Angesicht schauen. Wir beteten, da nun die Versammlung größer geworden war, den 90. Psalm, mit dem der Sterbende sich am Morgen des Neujahrs eingesegnet hatte. Unterdessen schien die Todesnot sich einzustellen. Der Athem gieng stoßweise ein und aus, wurde kürzer und röchelnd, man meinte, es nahe der letzte Kampf.

 Wir beteten die Sterbelitanei, sangen mit thränenreicher Stimme das Lied: O Lamm Gottes etc., unter dessen Klängen er wie seine Mutter zu verscheiden gewünscht hatte, und der dienende Geistliche segnete ihn mit den feiernden, majestätischen Worten seiner eigenen Agende zum Todesgange ein. Da siehe – unter den segnenden Worten des Gebet; trat Stille und Friede ein, es kam Ruhe von der Todesarbeit. Es schien die Einsegnung eine verfrühte und übereilte Sache gewesen zu sein. Und doch meinte mehr als Einer, es sei dies gerade der richtige Moment gewesen. Denn von da an nahm die Krankheit einen so ruhigen Verlauf und gleichmäßigen Charakter an, daß für die Einsegnung kaum mehr eine Stelle sich gefunden hätte, zumal der letzte Todeskampf kurz und so voll Aufregung war (es erfolgte noch wenige Minuten vor dem Tod ein heftiger Gallenerguß), daß für eine liturgische Feier kein Raum und keine inwendige Ruhe mehr vorhanden gewesen wäre.

 Am späten Abend gieng man vom Krankenbette bekümmert nach Hause. Eine Nacht voll ängstlicher Spannung folgte, wo der Schlaf die Augen floh; stündlich fürchtete man durch die Todesnachricht aufgeschreckt zu werden. Der anbrechende Morgen fand den Kranken anscheinend unverändert. Im Laufe des Vormittags kam der einzige Bruder und die einzige noch lebende Schwester an das Sterbelager des Bruders geeilt, während der jüngere Sohn schon in der Nacht eingetroffen war. Man saß im Vorzimmer in feierlicher, erwartungsvoller Stille,| trat von Zeit zu Zeit hinaus an das Sterbelager, schickte einen Seufzer empor und setzte sich dann wieder abseits, der Stunde harrend, wo der HErr die Erlösung aus Zion senden würde. „Ein Spaß, so einem Sterben zuzuschauen“ meinte der treue Bruder. „Unsre Mutter ist drei Tage lang im Sterben gelegen und wurde in den letzten acht Tagen noch dreimal vom Schlage gerührt. Aber wie friedlich liegt mein Bruder da. Die Seele ist schon so gut als daheim beim HErrn, und auch der Leib liegt im Frieden und seliger Empfindungslosigkeit.“ So war es und so blieb es, bis in den Nachmittagsstunden des 2. Januar die letzte Not sich einstellte.

 Man sah, daß die sterbliche Hütte nun bald abgebrochen werden sollte. Noch einmal nahmen wir die Harfen von den Weiden und sangen das Lied des Lammes Gottes, beteten auch noch einmal die Sterbelitanei. Gegen 5 Uhr begann der letzte Kampf und Strauß. Ernster, angespannter, ringender wurde das Gebet der Umstehenden für die selbst im Todeskampfe ringende Seele, sehnlicher das Seufzen nach Erlösung des Geistes vom Leibe dieses Todes. Endlich 51/4 Uhr Abends schlug die Stunde der Erlösung. Einige schwere Todesstöße, ein paar röchelnde Athemzüge, ein Aufschlagen des großen Auges – da war es vollbracht, da gieng die große Seele aus ihrem bereits verfallenen Tempel.

 Nun trat der treue Bruder wieder ans Sterbebett und sprach in seiner schlichten und doch so ergreifenden Weise: „Im Namen der heiligen Dreifaltigkeit, des Vaters, Sohnes und heiligen Geistes drücke ich Dir, geliebter Bruder, Deine Augen zu, bis Du sie über ein Kleines wieder öffnen wirst am großen Tage der Auferstehung, wo sie leuchten werden wie die Sterne immer und ewiglich.“

 Unterdessen versammelten sich die Brüder mit ihren Posaunen im Pfarrhofe, und durch die Stille der Nacht tönten die feierlichen Klänge des Chorals: Wachet auf, ruft uns die Stimme etc., dessen dritter Vers ein Lieblingsvers unseres seligen Hirten war, an dem er so oft sich gehoben und begeistert hatte, wenn er beim Sakramente vor der Consecration unter Orgelklang und Posaunenton von der feiernden Gemeinde angestimmt wurde. Nachdem wir dies hohe Lied unter Thränen des Schmerzes und der Freude gesungen und Gott gelobt hatten über dem Leben und Sterben seines Knechtes, erschallte das Geläute aller Glocken, der Gemeinde zu verkündigen, daß ihr Hirte nicht mehr sei. Es war die Stunde des abendlichen Gottesdienstes im Betsaal – da sammelte sich nun die verwaiste, hirtenlose Heerde. Es wurde der 116. Psalm herausgeweint mehr denn gesungen und das Lied Nr. 556 von dem hellglänzenden Jerusalem, da die Patriarchen wohnen und man lieblich Lobgetöne hört in sanfter Ruh. Weißest du auch, daß der HErr heute deinen Meister von deinen Häupten genommen hat? sagte man sich unter einander. Ich weiß es schon, schweiget nur stille! Ich will euch nicht Waisen| lassen, ich komme zu euch – mit diesem Wort des scheidenden Erlösers an Seine Jünger tröstete man sich. Ein Halleluja über dem Leben und Sterben des Mannes, der unter uns war wie ein brennend und scheinend Licht, in dessen Glanz wir eine Weile fröhlich sein durften – ein Hosianna für uns, seine verlassene, verwaiste Heerde – dann giengen wir heim, ein jeder in das Seine.

 Das war der 2. Januar 1872 in Neuendettelsau, der Tag der uns unvergeßlich bleiben wird alle Tage unsres Lebens, der die Erinnerungen an den Seligen wecken wird, so oft er im Laufe der Zeiten sich jähret, der ihm frische Kränze auf sein Grab und in unsere Herzen ein nie welkendes Andenken schaffen wird, bis der letzte von uns allen gleich ihm versammelt sein wird zu seinen Vätern.

 Der 5. Januar war der Tag der Bestattung der theuren Leiche. Von fern und nah waren sie herbeigeeilt, die dem großen Todten das Geleite geben wollten zu seiner letzten Ruhestatt. Von Ansbach waren die beiden Herrn Consistorialräthe gekommen, die theol. Facultät von Erlangen hatte in der Person des Herrn Professor v. Zezschwitz einen Vertreter gesendet, auch Freiherr v. Eyb, der Patron der Pfarrei, war persönlich erschienen, und sonst noch eine große Menge hoch und niedrig aus allen Ständen. Alles begehrte noch einmal die geliebte Leiche zu sehen, die im Vorplatze des Pfarrhauses umgeben von Blumenschmuck und brennenden Kerzen im offnen Sarge lag, freilich nicht mehr so schön anzusehen wie in den ersten Stunden nach dem Tode, sondern bereits entstellt von des Todes Ungebärde. Schwer fand man sich von allen Seiten in den so oft und so bestimmt ausgesprochnen Wunsch des Seligen, daß an seinem Grabe alles Gedränge und Menschenwort unterbleiben sollte. Allein dieser Wille war zu entschieden ausgesprochen worden, als daß man ihn durch irgend eine Deutung hätte umgehen dürfen. Mit aufgehobenem Finger hatte er noch einige Monate vor seinem Tode seinen Kindern eingeschärft: „Niemand soll an meinem Grabe reden. Ich will keine Leichenpredigt haben. Eine Diakonissenleiche laßt ihr mir halten.“ Wir erkannten es deshalb alle für Pflicht den Willen unseres Todten zu ehren. Verachtet man doch eines Menschen Testament nicht. Es war diese Bestimmung nicht blos Demut, sondern auch Weisheit, und wenn sie auch eine Verlegenheit herbeiführte, so half sie andrerseits über viele Verlegenheiten und Schwierigkeiten hinüber. Freilich fehlte es bis in die letzte Stunde hinein nicht an Versuchen, die Festigkeit unseres Entschlusses auf die Probe zu stellen. Da aber trat Herr Decan Müller von Windsbach ins Mittel und sagte, er habe als Capitelsvorstand doch zunächst Recht und Pflicht am Grabe zu reden, aber er füge sich dem auch ihm kund gegebenen Wunsch des Seligen. „Menschenlob – sagte er – wollte er abschneiden, und es ist Sinn und Weisheit hinter dieser Anordnung. Was wäre auch unser armes Menschenwort| an diesem Grabe!“ Damit war das endgültige Wort gesprochen. Die beiden Vicare des Pfarrers, die nach seiner Anordnung ihm die Leiche halten sollten, theilten sich nun in den liturgischen Dienst; der ältere übernahm die Aussegnung, der jüngere die Einsegnung.

 Gegen 12 Uhr begann die Feierlichkeit der Aussegnung. Der Schwesternchor sang im Nebenzimmer unter den sanften Tönen des begleitenden Harmoniums den 116. Psalm, den tiefgefühlten und herzinnigen Psalm, der uns allen bei ähnlichen Gelegenheiten sich so tief in Gedächtniß und Gemüt gelegt hatte mit seinem in der lateinischen Übersetzung so wunderschön lautenden 7. Vers Revertere, anima mea, in requiem tuam, quia Dominus benefecit tibi (Kehre ein, meine Seele, zu deiner Ruhe, denn der HErr hat dir Gutes gethan).

 Darauf las der dienende Geistliche die hohe Lection Dan. 12, 2. 3. 13: Und Viele, so unter der Erde schlafen liegen, werden aufwachen; Etliche zum ewigen Leben, Etliche zur ewigen Schmach und Schande. – Die Lehrer aber werden leuchten wie des Himmels Glanz; und die, so Viele zur Gerechtigkeit weisen, wie die Sterne immer und ewiglich. – Du aber, Daniel, gehe hin, bis das Ende komme; und ruhe, daß du aufstehest in deinem Theil am Ende der Tage. Die Schwestern sangen hierauf die schöne Antiphon: Ego sum resurrectio et vita. Alternatim beteten wir dann den 130. Psalm, darauf sprach der Geistliche die bei unsern Aussegnungen übliche Doxologie in folgender Weise:

 Gelobt und gebenedeit sei Gott der Vater, der deinen Leib und die mit ihm verbundene Seele geschaffen und im Rathe seiner heiligen Vorsehung dich verordnet hat, ein auserwähltes Rüstzeug zu sein zu predigen seinen Namen den Menschenkindern;

 Gelobt und gebenedeit sei Gott der Sohn, der große Hirte der Schafe und Bischof der Seelen, der deinen Leib und die mit ihm verbundene Seele erlöst hat von allen Sünden mit seinem theuren Blute und dich gesetzt hat zu weiden die Gemeinde Gottes, die er durch sein eigen Blut erworben hat;

 Gelobt und gebenedeit sei Gott der heilige Geist, der deinen Leib und die mit ihm verbundene Seele in der h. Taufe zu seinem Tempel geweiht und dich geziert hat mit edlen Gaben, mit Fülle der Weisheit und mit königlichem Geiste;

 Gelobt und gebenedeit sei über dir und deinem Leben der dreieinige ewige Gott

 Und angerufen sei Er über uns:

 Angerufen sei Gott der Vater, daß Er uns, das Werk seiner Hände, nicht lasse, sondern mit Vatergüte und Treue uns leite, an unsrer rechten Hand uns führe und uns endlich mit Ehren annehme;

 Angerufen sei Gott der Sohn, der gute Hirte, daß Er uns führe und leite| mit seinem Hirtenstabe durch dies arme Leben, bis wir unter seiner persönlichen Führung gehen werden auf ewigen Auen;

 Angerufen sei Gott der heilige Geist, daß Er uns heimsuche mit seinem kräftigen Troste, uns mit Gnaden beiwohne, von uns nicht weiche im Leben und im Sterben und dereinst uns aus diesem Jammerthal aushelfe zu dem himmlischen Reiche unsers HErrn Jesu Christi, der mit dem Vater in Einigkeit desselbigen heiligen Geistes sei hochgelobt in Ewigkeit! Amen.

 Darauf beteten wir wieder abwechselnd den 51. Psalm nach gewohnter Sitte bis zum 10. Vers: „Laß mich hören Freude und Wonne, daß die Gebeine fröhlich werden, die du zerschlagen hast. Der Schwesternchor stimmte das Nunc dimittis an und darauf bliesen langtönend die Posaunen der Brüder zum Aufbruch.

 Unter den Klängen des Reiseliedes: O Jesu Christ, meines Lebens Licht etc. setzte sich um die Mittagsstunde der endlose Zug vom Pfarrhause aus in Bewegung zum Gottesacker, dem auf seiner kleinen Anhöhe so feierlich und friedlich gelegnen Cömeterium. Voran das Bild des Gekreuzigten, dann die Brüder mit ihren Posaunen, darauf die gesammte Schuljugend mit den Lehrern des Distrikts, dann die zum Leichenbegängniß erschienenen Capitularen, hinter den funktionirenden Geistlichen die theure Leiche, getragen von den Kirchenvorständen, denen die Missionsschüler zur Seite giengen. Zunächst nach dem Sarg giengen die drei Kinder des Entschlafenen und die Verwandten, eine Vertretung des Diakonissenhauses, dann die Freunde des Seligen und die zum Leichenbegängniß erschienenen Fremden, die Gemeindeverwaltungen des Pfarrdorfs und der imparochierten Ortschaften, sodann das gesammte Diakonissenhaus, endlich die Dorfgemeinde und wer sich sonst anschließen wollte. Eine große Menschenmenge hatte bereits den der Gruft benachbarten Raum des Gottesackers und den angrenzenden Theil der Kirchhofmauer besetzt.

 Der Sarg wurde vor der Gruft niedergesetzt, und der jüngere Vicar des Pfarrers nahm nun die liturgische Feier der Einsegnung ganz nach der Löhe’schen Agende vor.

 Nach geschlossener Feier sangen die Lehrer des Distrikts unsers seligen Hirten Lieblingschoral: HErr, wie du willst, so schicks mit mir etc., darauf wurde der Sarg mit den sterblichen Überresten des großen Todten in die Gruft gesenkt, seine Nächsten und Freunde stiegen die Stufen der Gruft hinab und legten Gewinde und Blumenschmuck die Fülle und Palmenzweige der Überwinder auf den Sarg. Noch ein letzter Blick in die Ruhestatt und das Schlafkämmerlein des hochgeliebten Todten, dann schloß der älteste Sohn die Gruft, und der Zug kehrte heimwärts. Gar mancher wollte sich auch jetzt noch nicht darein finden, daß es an der Kirche vorüber, statt in die Kirche zur Anhörung der nach Gewohnheit erwarteten| Leichenpredigt gieng. Unbefriedigt und vielleicht sogar verstimmt durch die übergroße Einfachheit und Anspruchslosigkeit dieses Leichenbegängnisses ist am Ende der eine und andere heimgekehrt, den weiten und schwierigen Weg, den er hatte zurücklegen müssen, bereuend. So dachte jener alte Pfarrer und treue Freund unsres seligen Herrn Pfarrers nicht, der an den Pappelbaum zunächst der Gruft gelehnt so bitterlich weinte und der dem Schreiber dieses im Heimgehen erzählte: er sei selbst erst vom Krankenlager aufgestanden, habe es mit Mühe und genauer Not erreicht, gerade noch rechtzeitig zum Begräbniß zu kommen und müsse sofort den Heimweg antreten, um am andern Tag seine Epiphanienpredigt zu halten. Der war vollkommen befriedigt, lobte seinen seligen Freund im Tode noch, daß er an seinem Grabe keinen Prunk eines Menschenworts, sondern nur die hehre Majestät des Gotteswortes walten lassen wollte, und fand gerade diese einfache Weise des Begräbnisses schön und einzig würdig des Fürsten und Großen in Israel, dessen Verlust wir betrauern.

 Dennoch war es uns allen ein süßer Trost, daß wir wenigstens im engsten Kreise am stillen Abend dem Drange unseres Herzens folgen und den gewohnten abendlichen Gottesdienst in unserm lieben Betsaal dem Andenken unseres entschlafenen Hirten und Meisters weihen konnten. „Eine Diakonissenleiche sollt ihr mir halten lassen“ hatte er gesagt, und dies gab Recht und gutes Gewissen im Abendgottesdienst ihm eine Parentation zu halten, wie sie bei unsern Diakonissenleichen üblich ist und selbst bei den Leichen unsrer armen Geisteskranken und Epileptischen kaum unterlassen wird. Zur Stunde des Abendgottesdienstes versammelte man sich im Betsaale, aus dem man den Weihnachtsschmuck der Blumen, Fichtengewinde und Lichter entfernt und ihn in Trauerfarbe gekleidet hatte. Man sang den 90. Psalm und Lied Nr. 552, dann trat der bisherige Conrector an das Pult und gab in gedrängtester Übersicht die wichtigsten Data aus dem Leben unseres sel. Herrn Pfarrers in folgender Weise:

 Da mir den ganzen Tag nichts anderes im Sinne ist als den Willen unsres großen Todten zu ehren, so kann ich auch keinen Lebenslauf geben, wie man ihn bei Leichen erwartet, sondern nur eine knappe Aneinandereihung der wichtigsten Thatsachen aus dem Leben des Entschlafenen, einen Lebenslauf im Chronikenstyl.

 Der hochwürdige Herr Johannes Konrad Wilhelm Löhe ist geboren zu Fürth am 21. Februar 1808 und getauft am 24. desselben Monats. Zum erstmaligen Genuß des heil. Abendmahls wurde er zugelassen am 10. Juni 1821. Am 6. September des Jahres 1826 absolvirte er das Gymnasium zu Nürnberg und am 23. October desselben Jahres bezog er die Universität Erlangen. Am 23. April 1828 wurde er an der Universität Berlin immatriculirt, an der er ein Semester zubrachte und von wo er wieder nach Erlangen zurückkehrte, um dort| sein theologisches Studium zu vollenden. Im October 1830 bestand er die theologische Aufnahmsprüfung zu Ansbach.

 Von nun begann seine geistliche Wanderschaft im Amt und Dienst seines HErrn. Vom October 1830 bis Mai 1831 half er in Unterleinleiter aus und am 29. Juni 1831 wurde er als Vicar des Pfarrers Ebert in Fürth bestätigt, dem er in dieser Stellung bis zum 9. October 1831 diente. Ordinirt wurde er am Tage St. Jacobi des Älteren, den 25. Juli 1831. Am 24. October 1831 trat er als Vikar bei dem ersten Pfarrer zu Kirchenlamitz, Sommer, ein, in welcher Stellung er bis zum 1. März 1834 verblieb, an welchem Tage er wider den Willen seines Pfarrers und der Gemeinde von dort weggeschickt wurde. Die Zeit, in der er dort mit jugendlicher Kraft und Eifer wirkte, hat er gern als die Blütezeit seines Lebens bezeichnet.

 Am 5. Juni 1834 wurde er als Vicar und am 14. Juli darauf als Verweser bei St. Ägydien in Nürnberg bestätigt, welche Stelle er bis zum 18. August 1835 bekleidete, so jedoch, daß er vom 18. April 1835 an auch bei der Verwesung der Pfarrei Behringersdorf aushalf. Im gleichen Jahre 1835 bestand er vom 3. bis 8. August die Anstellungsprüfung zu Ansbach. Vom September 1835 bis April 1836 war er Verweser in Altdorf und vom 19. April 1836 an verwaltete er die Verwesung der Pfarrei Bertholsdorf. In Merkendorf endlich, wo er die erste Hälfte des Jahres 1837 als Verweser zubrachte, endete seine geistliche Wanderschaft. Am 16. Dezember 1836 wurde er durch Rescript des Freiherrn von Eyb für die Pfarrstelle in Neuendettelsau präsentirt, am 18. März 1837 bestätigt und am 26. August 1837 installirt.

 Am Tage St. Jacobi, den 25. Juli 1837, wurde er getraut mit seiner bereits am 24. November 1843 ihm durch den Tod wieder entrissenen Gattin Helene geb. Andreä-Hebenstreit aus Frankfurt, aus welcher Ehe vier Kinder hervorgiengen, von denen eins verstarb, drei aber noch leben.

 Im Juli 1840 machte er den Anfang zum Werke der amerikanischen Mission.

 1849 stellte er den bekannten Antrag an die Generalsynode „die Wahrung des Bekenntnisses und Einführung desselben in seine Rechte betreffend“. Dies war der Anfang der durch ihn hervorgerufenen kirchlichen Bewegung in Baiern.

 Im gleichen Jahre 1849 gründete er die Gesellschaft für innere Mission.

 Am 27. Februar 1854 stiftete er den Verein für weibliche Diaconie.

 Am 23. Juni 1854 legte er den Grundstein des Diakonissenhauses.

 Am 20. August 1858 wurde der Grund des Betsals gelegt.

 Am 28. Mai 1862 weihte er das Öconomiegebäude ein, am 9. Juni 1862 das Leichenhaus, am 6. Dezember 1862 das Rettungshaus.

|  Am 11. August 1864 wurde die neue Blödenanstalt, am 23. Juni 1865 das Magdalenium, am 14. October 1867 das Männerhospital und am 1. November 1869 das Frauenhospital eingeweiht.

 Im August des Jahres 1865 war die Filialanstalt Polsingen gegründet worden.

 Dies sind die Bausteine seiner Thätigkeit für das Reich Gottes. Nun ist er erlöst von der großen Arbeit seines Lebens und der bittern Schwachheit seiner beiden letzten Lebensjahre und ist eingegangen zu seines HErrn Freude, wo er ruht von seinen Werken, die ihm nachgefolgt sind in die Ewigkeit.

 Er ruhe im Frieden und das ewige Licht leuchte ihm! Amen.

 Hierauf folgte die Lection: Jesaia Kap. 6, woran sich die nachstehend mitgetheilte Parentation anschloß.

 „Ich hätte es nicht gewagt und wagen dürfen, diesen Text zu wählen, aber Gott der Herr selbst, – ich darf es sagen – hat diesen Text als Überschrift über das Leben seines Knechtes geschrieben. Wie das geschehen, will ich euch erzählen. In einer mir unvergeßlichen Stunde erzählte er einmal von seiner Ordination in der leichten und halb scherzenden Weise, die ihm eigen war, wenn er von sich und seiner Vergangenheit redete. „Ich war, sagte er, eben damals auch ein Leser und Verehrer der Dichter und da fiel mir die Stelle ein, daß im Menschenleben Augenblicke sind, wo der Mensch eine Frage frei hat an das Schicksal und da bat ich Gott um ein Wort aus seinem Munde an meinem Ordinationstag. Ich schlug meine Bibel auf, und Hand und Auge gerieth auf die Stelle: Jesaia 6, 8–10. Da dachte ich: Der Text paßt nicht, der gefällt mir nicht; ich muß einen andern haben. Da schlug ich ein zweitesmal die Bibel auf, und diesmal fiel mein Auge auf Apostelgesch. 28, 25-27. Da hatte ich ein zweitesmal denselben Text. Aber in meiner Thorheit sagte ich: Erst recht mag ich den Text nicht. Ich muß einen anderen haben. Da schlug ich zum drittenmal die Bibel auf und diesmal bekam ich die Stelle Joh. 12, 38–41. Da wurde es mir feierlich zu Mut, sagte er, zumal ich nun las: Solches sagte Jesaias, da er seine Herrlichkeit, Jesu Herrlichkeit sah. Nun hatte ich genug und ich sagte: Hie bin ich, HErr sende mich“ So hat also wie eine Stimme aus dem Heiligthum diesen Knecht des HErrn in den Weinberg seines HErrn gesandt. Warum erzähle ich euch das wieder? Nicht deswegen, weil auch ein feierlicher Ton des Himmels, eine Stimme aus der andern Welt in seine Berufung, wie in die des Propheten herniederklang; auch nicht, weil seine Lippen gleichfalls wie von der Kohle des Seraph berührt waren, nicht weil ihm der Strom der feurig begeisternden Rede gegeben war, mit der er uns so oft über dies arme Erdenleben hinaushob, daß unsere Seele innerlich jauchzte und alle Herzen brannten. Ich denke nicht daran,| obwohl dies auch mit Wahrheit gesagt werden könnte, sondern was ich meine, ist das: In diesem Text hat Gott der Herr unserem Hirten seine Mission und seine kirchliche Stellung und den Erfolg seiner Lebensarbeit geweissagt.

 Stand er nicht in seiner Zeit, wie Jesaia in der seinen? Nicht verstanden von der großen Masse, auf welche und für welche seine Wirksamkeit nicht berechnet war, ein Fremdling in der Gegenwart, ein Bürger der Zukunft, ihr angehörig mit ganzem Verlangen und hingezogen zu ihr mit mächtigen Seilen der Sehnsucht, hingetragen zu ihr, wie auf Flügeln der Hoffnung. War er nicht so, und ist das nicht in der That seine Gleiche mit dem großen Propheten des alten Bandes? Eine Wirkung auf die Massen wie dem Elias war ihm nicht gegeben, obwohl er ja in der großen Erweckungszeit im 3. und 4. Jahrzehnt dieses Jahrhunderts auch Tausende, wirklich Tausende wie Elia auf Karmels Spitze um sich versammelte und den Baalsdienst jener Zeit mit mächtigen Streichen stürzen half; aber diese Zeit gieng bald vorüber und einsam und einsamer wurde sein Lebensweg und im Vergleich zu dem großen Gedränge, das im Anfang ihn umgab, ist die Schaar, die sich bleibend um ihn sammelte, immerhin eine geringe. Das kam daher, weil er der Zeit mit seinen Gedanken und mit seiner Sehnsucht voraneilte. Zwar hielt er ans unter den Übelständen der Gegenwart, aber unbefriedigt von dem, was sie bot, – ein Wegweiser, ein Wegbereiter, ein Bahnbrecher der Zukunft. Meine Zeit, sagte er oft scherzend in den Jahren seiner Kraft, kommt erst nach dreißig Jahren.

 Aber wenn ihm nun auch nicht eine Wirksamkeit auf die großen Massen vergönnt war, war nicht doch auch zu ihm gesagt, was zu Jesaia gesprochen wurde: Jes. 8, 16: Binde zu das Zeugniß, versiegele das Gesetz meinen Jüngern? Ist es ihm nicht gegeben worden zwar nicht eine Schule, aber was mehr ist denn eine Schule, einen Jüngerkreis um sich zu sammeln, einen Kreis, von dem er wünschte, daß er Same der Kirche der Zukunft werden möchte? Nicht in Überhebung, nicht in Hochmut, der uns allen miteinander an keinem Tage ferner ist, als an dem heutigen Tage, sei das gesagt. Es ist dies ja auch nur eine Ausgabe, ein hoch gestecktes Ziel für die Seinen.

 Es war – äußerlich angesehen – sein Erfolg, wenn man so sagen will, ein geringer wie der des Propheten Jesajas, wie er denn selbst oft und vielfach von dem Mißlingen seines Lebens zu reden pflegte, aber mit richtigem Auge angesehen war es ein großer Erfolg, ja der einzig mögliche Erfolg in einer Zeit, die so, sehr wie die seine, der des Propheten Jesaia ähnelte. Eine Zeit des Abfalls, eine Zeit der Auflösung der theokratischen Verhältnisse, eine Zeit der Verweltlichung des staatlichen Regiments im Volke Israel, wobei man die Hoffnung auf die Rettung des Ganzen aufgeben mußte – das war Jesaias Zeit, und wer sieht nicht, daß dies auch die Charakteristik unserer| Zeit ist. Leben wir nicht auch in der Zeit des Abfalls der Massen, der Entchristlichung des Staates und des öffentlichen Lebens, und kann in einer solchen Zeit es Wunder nehmen, wenn sein Erfolg eben auch nur dem des Propheten Jesaias ähnlich war? Demungeachtet hielt er aus wie der Prophet Jesaia unter den Übelständen der Gegenwart in der Hoffnung besserer Zeiten. Deßwegen war er doch kein Sturmläufer gegen das Bestehende, nicht auf Zertrümmerung der geschichtlich gewordenen Kirchenbestände gieng er aus. Er hielt aus, wie er sich und anderen Langmuth des Ausharrens und des Aushaltens predigte. Aber wenn er nicht gekommen wäre, wo wäre unter uns eine Bereitung auf die Dinge, die da kommen sollen und sicher kommen werden und sich schon merklich ankündigen? Wie stünde es mit uns und wie stünde es im ganzen Lande, wenn er nicht in die Posaune gestoßen hätte, wenn er nicht gepredigt hätte: Den Gurt an die Lenden, die Stäbe in die Hände, die Schuhe an die Füße und innerlich sich losgelöst von den bestehenden Verhältnissen, damit man bereit sei, aus dem Hause, wenn es einstürzt, auszuziehen. Gott hat es gefügt, daß seine Gedanken, wenn nicht Anklang, so doch Raum fanden und sich entwickeln konnten, ohne die alten Schläuche zu zersprengen, und wir verehren darin eine göttliche Fügung. Aber nichts destoweniger sagen wir: Er ist auch in dem Stück ein Mann der Zukunft gewesen. Der Zukunft hat er entgegengelebt, und nach ihr sich gesehnt. „Wenn fünf Minuten vor meinem Tode“, hat er einmal mir gesagt, „ich höre, daß irgend wo eine bessere Kirche entsteht, als die lutherische, verschreibe ich mich sterbend noch der neuen Kirche, noch fünf Minuten vor meinem Tod.“ Eine prophetische Erscheinung, ein Mann der Zukunft war er – oder soll ich sagen: ein Mann der Vergangenheit? Es ist eines so wahr, wie das andere, es schließt eines das andere nicht aus. Es gieng eines mit dein andern zusammen bei ihm. Er hat nie eine pure Wiederherstellung des Alten gewollt, nicht auf Repristination der Vergangenheit stand sein Sinn. Die Wiederherstellung des Alten war bei ihm immerdar eine Wiedergeburt im Sinn und Geist und Bedürfniß der Neuzeit. Es verneuerte sich, was er angriff, und der verdorrte Mandelstab Aarons blühte wieder unter seinen Händen, so daß auch seine Erweckung der Gedanken der Vergangenheit im Grunde eine Anbahnung der Zukunft war. Er hat die ihm von Gott gegebnen Gedanken als Samenkörner in die Zukunft eingestreut, als Samenkörner, die die Zukunft reifen wird, und die das Schicksal aller großen Ideen haben werden, daß sie dann erst recht fruchtbar werden, wenn sie abgelöst sind von der Person ihres menschlichen Trägers, sintemal auch hier das Wort gilt, das der HErr mit Bezug auf sich selbst sagt: Es sei denn daß das Waizenkorn in die Erde falle, und ersterbe, so bleibt es allein; wo es aber erstirbt, so bringt es viele Früchte. Nicht mehr geht der Säemann unter uns, auszustreuen seinen Samen, seinen letzten Samenwurf| hat er gethan; aber nichts ist auch jetzt mehr nöthig, als weiches, gutes Erdreich, das die Samenkörner in sich aufnehme. Wir wollen das weiche, das empfängliche, das gute Erdreich werden, das seine Samenkörner, die Samenkörner der Zukunft aufnimmt und zum Leben erweckt.

 Und einen Theil dieser Gedanken, dieser Samenkörner der Zukunft, sollt auch ihr hüten und pflegen und zum Leben erwecken, denen eigentlich dieser Gedächtnißgottesdienst gilt, ihr Schwestern von Dettelsau. Euch hat er den Gedanken des Diakonissentums gegeben und ihr sollt ihn fassen in seiner Fülle. – Ihm war das Diakonissentum nicht blos ein Institut der Wohlthätigkeit, der Abhülfe des leiblichen Elends der leidenden Menschheit. Es bedeutete ihm mehr. Es bedeutete ihm auch nicht blos Hebung des weiblichen Geschlechtes, dessen Heranziehung zum kirchlichen Dienst, Einführung des jungfräulichen Standes in seine apostolische Werthschätzung. Es stand das Diakonissentum bei ihm in Verbindung mit höheren, größeren Gedanken. Daß er sich siebzehn Jahre lang der Diakonissensache widmete, war nicht, wie manche gemeint haben, ein Entgleisen aus seiner kirchlichen Bahn. Ihm war die Diakonissensache von kirchlichen Gedanken getragen. Was wollte er eigentlich im letzten Grund mit der Stiftung einer Diakonissenanstalt? Er wollte eine Möglichkeit der Verwirklichung seiner Zukunftsideale im kleinen Kreis, eine Sammlung williger Seelen, eine Sammlung von Jüngern und Jüngerinnen wollte er, in deren Kreis die Gedanken vom apostolischen Leben Eingang und Ausführung finden sollten. Samen der Kirche der Zukunft suchte er. Damit Niemand sage: Das ist deine Deutung, das ist Unterlegung fremder Gedanken, lese ich euch einige Worte von ihm vor, die er vor ein paar Jahren sprach, und die eine Freundeshand unmittelbar darnach niederschrieb. „Wenn man wissen will, was wir eigentlich wollten, so muß man die Diakonissenanstalt ansehen – nur daß man nicht bloß an Schwestern denken müßte. Wir wollten eine apostolisch-episcopale Brüderkirche. Das Luthertum ist uns nicht Parteisache. Worin wir aus voller Seele lutherisch sind, das ist das Sakrament und die Lehre von der Rechtfertigung. ... Wir sind keine Lutheraner im Sinne der Missourier, auch nicht im Sinne der Altlutheraner. Fragt man uns: Seid ihr antik? so sagen wir: Nein. Fragt man uns: Seid ihr modern? so sagen wir wieder: Nein. Und doch sind wir ganz antik und ganz modern. Eine Fortbildung des Luthertums zu einer apostolisch-episcopalen Brüderkirche – das ists, was wir im letzten Grunde wollten.“

 Damit hat er euch und uns armen Dettelsauern überhaupt die Auffassung unseres Berufes und Licht über die Aufgabe unserer Gemeinschaft gegeben, und wir werden sein Andenken nicht besser ehren können, keine heiligere und Gott wohlgefälligere Pietät gegen sein Andenken haben, als wenn wir diese Gedanken uns| aneignen und in die Seele legen und so viel Gott uns armen Sündern Wachstum und Gedeihen geben will, sie fröhlich keimen und sprossen lassen. Wenn wir diese Gedanken zu Herzen nehmen, dann ist Löhe für uns nicht gestorben, dann grünen seine Gebeine, wie die der zwölf Propheten grünen in den Gräbern, da sie liegen; dann ist mir auch nicht bang für die Zukunft. Wir dürfen nur das Menschliche abstreifen von seinen Gedanken und das Göttliche, das Bleibende, das Unvergängliche uns aneignen, als heiliges Vermächtniß pflegen, seine Samenkörner in uns legen und sie zum Leben erwecken. Damit wir aber das können, haben wir Nöthigeres nichts zu thun, als uns innigst zusammnenzuschließen, den Bund untereinander und den Bund mit Gott dem HErrn zu erneuern. Je ärmer, je verwaister und je verlassener wir geworden sind, desto mehr thut uns die innigste Verbindung noth. Ich will unsere kleine Sache mit einer großen vergleichen. Denkt ihr nicht an die Jünger, wie sie in den Tagen waren, als der HErr auf Erden wandelte, wie es da gar nicht an kleinlichem Gezänke, an Reibungen und Eifersucht unter ihnen fehlte. Als aber unser HErr von ihnen genommen war, wie ganz anders finden wir sie da. Wie einmüthig sind sie da bei einander im coenaculum, in dem durch sakramentliche Erinnerungen geweihten Ort! So muß es auch bei uns werden. Es muß uns Gott der HErr den Geist der Liebe, des Friedens, der Eintracht, des Wohlwollens, der Aufrichtigkeit geben. Wir müssen diesen Geist uns stärken lassen im coenaculum, das Gott uns bereitet hat. Aus dem Sakrament der Liebe und Gemeinschaft muß uns Stärkung dieses Geistes zufließen. Dann ist mir nicht bang für das, was mit uns und den nun unser gewordenen Werken unseres seligen Meisters werden wird; dann dürfen wir sagen: Ich werde nicht sterben, sondern leben und des HErrn Werk verkündigen. Dann mag man Dettelsau nennen, wie jene Mutter ihren Sohn nannte: „Ikabod“ d. h. die Herrlichkeit ist weg; denn die Herrlichkeit die da war, ist weg auf Nimmerwiederkehr; aber es werden dennoch von diesem Orte die Wasser Siloah nach wie vor ausgehen, die stille fließenden, und geräuschlos Segen spenden, und es werden unsere Freunde und Feinde es merken, daß der HErr nicht von uns gewichen ist, sondern bei uns wohl auf dem Plane ist mit seinem Geist und Gaben.
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 Damit sei es genug. Obwohl ich mir noch lange nicht genug gethan habe und noch viel zu sagen hätte, so sei es doch genug. Ich habe mich gefreut, daß ich meinem entschlafenen Hirten und Meister diese Worte des Gedächtnisses habe nachrufen dürfen. Ich preise es als das Glück und die Herrlichkeit meines Lebens, daß durch Gottes Fügung mein armer Lebensweg mit dem seinigen sich kreuzen durfte, daß ich zwölf Jahre lang neben ihm hergehen und sieben Jahre lang ihm dienen durfte. Mir reicht die Vergangenheit einen duftenden Blumenstrauß der Erinnerung und an ihm mich erlabend gehe ich froh, in Hoffnung froh und getrost| der Zukunft entgegen, und freue mich der Zeit, die über kurz oder lang mir anbrechen wird, wo ich mit meinem Meister wieder werde vereinigt sein und gemeinsam mit ihm den Heiland anbeten, den er euch und mich hier auf Erden anbeten, lieben und ehren gelehrt hat. Amen.

 Nach dem Schluß der Parentation sangen die Schwestern ihrem entschlafenen Hirten zu Ehren den feiernden Gesang:

 „O wie hoch und herrlich strahlt das Reich, da sich mit Christo freuen alle Frommen, geschmückt mit weißen Kleidern, folgen dem Lamme auf immer ewiglich“, und mit Gebet und Segen schloß die ernste Feier.

 Doch auch die Dorfgemeinde hatte die Sehnsucht und den Wunsch, daß auch in ihrer Mitte das Gedächtniß ihres Hirten gefeiert würde. Diesem Bedürfniß der Herzen kam Herr Professor v. Zezschwitz entgegen, indem er sich zu aller Dank und Freude bereit finden ließ, die auf den nächsten Tag fallende Epiphaniaspredigt zu übernehmen. Leider war keine Hand im Stande, die Predigt, in welcher das Gedächtniß des entschlafenen Hirten so schön in die Gedanken des Epiphanienfestes hinein verwoben war, so nachzuschreiben, daß wir die Erlaubniß des verehrten Herrn Verfassers zur Mittheilung seiner Worte in diesen Blättern nachzusuchen gewagt hätten; wir müssen uns daher an diesem Orte mit einem dürftigen Auszuge begnügen, und hoffen, daß uns hiezu die Genehmigung des verehrten Herrn Professors nicht fehlen wird.

 Zwei Gedanken – sagte er – treten in dem Festevangelium hervor. Der eine ist: Das Licht der Weihnachten wird scheinend in der Heidenwelt. Die Strahlen vom Christuskind in der Krippe leuchten ins Morgenland und scheinen die Erstlinge der Heiden an. Der andre Gedanke ist: Für die Gabe, die Gott der Menschheit in der Christnacht geschenkt hat, für die Gabe seines eingebornen Sohnes – nimmt die Menschheit nun in die Hand was sie hat, und bringt ihr Opfer: Gold, Weihrauch und Myrrhen.

 Ein schöner Festschluß – das Epiphanienfest am Ende des Weihnachtscyclus: Er hat gegeben, Er ist gegeben, und wir geben nun auch, geben was wir haben, was wir sind, opfern uns selbst und legen uns mit unsrer Gabe Ihm zu Füßen. Das ist die Summa unsers heutigen Evangeliums. Nur wie ein dunkler Hintergrund steht das freudentodte Jerusalem neben der hell erleuchteten, freudenvollen Heidenwelt, und der listige, falschherzige, feindselige König Herodes, der Vertreter der Weltmacht, mit dem heuchlerischen Opfer vor dem Christuskinde neben den Weisen mit dem Opfer ihrer Gaben und Herzen. Das ist unser Fest. Und wie pflegte es sonst an dieser Stätte gefeiert zu werden! Wie wart ihr gewohnt, daß man euch die Kerzen der Freude anzündete! Und wie wart ihr gewohnt, nicht blos das volle Opfer des Odems zu genießen, sondern vielmehr Gabe und| Opfer selber freudig an Jesu Krippe niederzulegen. Der Epiphaniastag war ja in eurer Gemeinde ein Opfertag, wo von fern und nah die Leute kamen und ins Pfarrhaus ihre Gaben trugen. Soll das nun anders werden? Sollen wir heute in geschwächter Freude feiern und ein ärmeres Opfer haben, deshalb weil wir am Vorabend des Dettelsauer Opfertages den Mann zu Grabe trugen, der hier pflegte die Lichter anzuzünden und die Opferfreude zu erregen? Dann dankten wir schlecht für die Gabe dieses Lebens. – Wir feiern keine Feste Menschen zu Ehren. Auch Marienfeste feiert unsre Kirche nicht anders als zu Jesu Ehren. Aber sollte es möglich sein, daß jemand heute an dieser Stätte, welche heute wie nie den Eindruck der Verwaisung macht, in einem andern Sinn und in einer andern Absicht auftrete, als in der: so viel als möglich im Namen und aus der Seele dessen zu reden, bei dem euer aller Herzen sind in dankbarer Liebe und der bei euch ist in unvergeßlicher Treue? Nun er am Vorabend des Dettelsauer Opfertags das Opfer seines Lebens vollendet hat, und ins Grab gesenkt ist, nun rede er in eurer Mitte. Aber er redet aus der verklärten Welt, er redet von der Herrlichkeit Gottes umleuchtet; er redet wie einer, der mit der Gemeinde der vollendeten Gerechten Priesterdienste thut und opfert vor dem Thron des Lammes. Er möge uns nun predigen, was Freude der Herrlichkeit ist im Anschauen Jesu, und was für Opfer des Danks und der Liebe von denen geopfert werden, die zu Jesu kommen im letzten, vollen Sinn des Worts. Alter Glaube ist, wie der heil. Jacobus schreibt, wenn er rechter Art ist, ein Glaube an den HErrn der Herrlichkeit. Alter Glaube hat es mit der Einigkeit, mit der zukünftigen, verborgenen Welt zu thun. An Jesum glauben heißt nicht blos einen Glauben haben wie ihn jene Juden hatten, die in Büchern bewundert nachschlagen konnten und wußten, daß Jesus sollte in Bethlehem geboren werden. Der Glaube ist selbst schon ein Kommen zu Jesu. Aber im vollsten Sinn zu Jesu kommen heißt zu dem erhöhten, verherrlichten Jesus kommen auf dem Weg über Golgatha durch die Pforte, durch die man eingeht in die Welt der Herrlichkeit.
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 Es war ganz der Weg der Heiden, daß sie durch eine Sternerscheinung vom Morgenlande herbeigezogen wurden. Auf dem Wege der durch die Geschichte beleuchteten Naturoffenbarung führt Gott die Heiden. Israel hatte die Weissagung, aber die Weissagung war auch nicht viel mehr als Sternenlicht. Wir haben das Wort und die heil. Taufe, dadurch wir zu Jesu kommen. Wenn dieser Stern dem Menschen aufgeht, so daß er an seinen Herrn Christum glaubt, dann freut er sich – wie es im Texte heißt „eine große Freude, sehr groß“ Der Stern schwindet auch nicht wieder, sondern geht vor dem Menschen her, wenn er gläubig geworden ist. Aber wißt ihr eine Stunde, wo es ist wie da in Bethlehem, wo man ihn wiedersieht mit ganz anderen Gefühlen und man sich sagt: Das ist mein| Stern, der mir am ersten erschienen in meiner Sündennacht, und ich sehe ihn nun wieder und freue mich eine große Freude, sehr groß?

 Das ist die Stunde, wo der Christ durch die finstern Thale des Todes geht. Da erscheint der Stern dann wieder und steht dann gerade über dem Orte, da Jesus ist und da man seine Herrlichkeit schaut.

 Da ist nun euer Hirte. Da ist nun unser lieber Freund, der euch in großer Treue das Wort gepredigt hat, das zum Glauben führt. Siehe nun predigt er stehend unter der scheinenden Herrlichkeit Jesu, nun feiert und opfert er in den ewigen Hütten, und es ist Vollendung worden, was hier nur Anfang war. Jeder treue Hirt, der der Gemeinde Mittel und Wege zu Jesu zeigt, ist ein Stern, der zur Sonne leitet. So sagt ja auch die Schrift: „Die Lehrer werden leuchten wie des Himmels Glanz, und die so viele zur Gerechtigkeit weisen wie die Sterne immer und ewiglich.“ Hier ein scheinender Stern, dort ein leuchtender Stern in Herrlichkeit – das ist euer Hirte, so dürft, so müßt ihr ihn ansehen. Laßt ihn euch scheinen zur Freude. Heute weggewischt die Thränen von gestern, den Abend lang währet das Weinen und des Morgens die Freude. Seht ihn, euren lieben, alten Leitstern, wie er euch grüßt seine alte Gemeinde.

 Aber er hat ja euch nicht blos geleuchtet als ein Stern, er war auch ein Priester, der euch anführte zum Opfer. Ihr habt einen großen Lehrer gehabt, aber er war mehr als ein Lehrer, er war ein Priester, in einer Zeit, in der es allenfalls noch Lehrer, wenn auch wenig gegründete, wenn auch wenig solche, denen der Geist die Zunge regt, aber kaum noch Priester gibt. Er aber war eine Priesterliche Seele, und so oft er den Glanz der erscheinenden Herrlichkeit sah, ist ein priesterlich Opfer seiner Seele entströmt. Das erste Opfer, das viel höher steht als das Gabenopfer, das ist das Opfer des Odems, das Lobopfer, das der inbrünstigen Seele entströmt. Denkt ihr da nicht an ihn, den Mann, der auf Kanzel und Altar nicht walten konnte, ohne daß sein Odem ausströmte wie eine Flamme. Das war keine Manier, keine angenommene Art bei ihm. Nein, Brüder, ihr wißt es, es war die Flamme der Seele, die sich entweder opferte im Beruf gegen die Gemeinde, oder Gott sich opferte im Amte.

 Das Lobopfer der Lippen, das Dankopfer der Seele, das ist das rechte, das größte Opfer. Die Gaben sind nur das Holz. Der Odem der Seele ist das Feuer, das über dem Holze lodert.

 Nun dieses Opfer der Lippen, die den Namen des HErrn bekennen, hat er geopfert lebenslang. Und wie wird ers nun droben opfern in Vollkommenheit. Er hat einmal gesagt: Hier auf Erden sei ihm die Gabe des Singens versagt, aber droben wolle er ein Hauptsänger sein. Wie wird er droben singen im vollen Chor, wie wird es aus dieser heiligen, einfältigen Seele schallen: „Ich freue mich| eine große Freude, sehr groß!“ Dieses Lobopfer ist schon ein Selbstopfer im heiligsten Sinn, wie wir arme Menschen es eben hier bringen können, wo wir selbst den Leib nach nicht in unsrer Gewalt haben und an ihm tragen wie an einer fremden Last. Doch nicht blos das Opfer des Odems, auch das Opfer des Leibes und Lebens hat er gebracht, der Mann, wie ich noch keinen gesehen habe, der immer Priester blieb auch im gewöhnlichen Leben bei aller auch ihm beiwohnenden Schwachheit. Er hat sich geopfert im Amte, hat sich bis zur letzten Stunde verzehrt im Priesterdienste seines Gottes. Alle die einst das heilige Amt auf sich nehmen wollen, dürfen getrost auf diese Stätte sehen und fragen, was es heißt „im Dienste Gottes sich opfern“ Ihr habt gestern, am Vorabend eures Opfertags, das Opfer dieses edlen Lebens mit zu seiner Vollendung bringen helfen, denn opfern heißt ja nach einer Seite hin: verlassen. So habt ihr Kirchenvorstände gestern euren Pfarrer opfernd hinausgetragen. Das Leichenbegängniß eines Hirten ist ein schönes Opfer, es bringt es die ganze Gemeinde. Wir haben es gebracht, unser Herzensopfer, wir haben unsern lieben Pfarrer hingeben und verlieren können. Und verlieren, hingeben können, das heißt opfern bei einem Christen.

 Wir haben ihn hingegeben, aber nun bringen wir unser Dankopfer über diesem Leben, und da soll sichs zeigen, ob wir was gelernt haben von ihm. Davon wird die Zukunft dieses Ortes abhängen, daß wir ihm in allem nachfolgen, daß wir, nachdem der Vater aller hiesigen Werke hingegangen ist, um so treuer alle zusammentreten und sprechen: Wir bleiben, wir sind das Opfer dafür. Er hat uns gelehrt, wie man sich opfern muß für eine heilige Sache, und wir wollen beweisen, daß wir in dem Stück von ihm gelernt haben.

 Wenn ihr so denkt, dann wird das Licht scheinend werden über euch, das so lange unter euch geschienen hat, und das ist Verklärung, wenn der Geist vom Werke eines Menschen scheinend wird auch nach seinem Weggang. Er lebe unter euch, sein priesterlicher Geist lebe unter euch fort. Dann könnten die Data aus seinem Leben, die ein Recht haben, in der Kirchengeschichte eine Stelle zu finden, meinetwegen vergessen werden; man wüßte dennoch, wer hier gelebt hat.

 Er ist nun daheim beim HErrn. Die Seele, deren Art es hier schon war, das Obere zu suchen, deren Auge Licht war, wahrlich Licht des edlen Leibes, sie schaut nun Jesu Herrlichkeit. Sie ist nun erlöst von der bittern Schwachheit der letzten Jahre. Wie mußte sie auf dem lasten, der durch und durch Kraft war und That. Nun ist er erlöst – wie gönnen wir’s der lieben Seele, daß sie nun in Himmelsluft baden kann. O meine l. Brüder, wir freuen uns eine große Freude, sehr große Freude, daß Gott in dem Dunkel der Kirche der Gegenwart noch Lehrer gibt und gegeben hat, von denen man mit freudigem Geiste sagen kann: Siehe,| der leuchtet wie ein Stern. Wir freuen uns mit großer, sehr großer Freude, daß in den Tagen des alternden Glaubenslebens, dieser Geistesschwäche, die die ganze Christenheit erfüllt, doch noch ein Zug apostolischen Lebens sich findet und offenbart, wo man nicht fragt nach dem Weltgesetz der jetzigen Kirche, nicht fragt was Herodes dazu sagt, sondern einfach fragt, wie man dem HErrn Christus am besten danken und dienen kann. Es scheine euch die Sonne Jesus auch durch den lieben Stern, der euch bisher geleitet hat und nun von der höhern Welt zu euch herniederleuchtet. Es gehe euch allenthalben voran das unvergeßliche Bild eures Hirten, der sein Leben aufgeopfert hat im Dienste der Kirche, der die Schmach mit Freuden auf sich genommen hat, ein geringer Dorfpfarrer, ein starrer Lutheraner und was sonst noch alles geheißen zu werden, weil er wußte, daß auch dies ein Opfer und ein Weg war, zum Ziele der Herrlichkeit zu gelangen. Des gedenket, meine Lieben, und der HErr lege es als einen Segen auf euer Haupt. Mache dich auf, werde Licht! Werdet Licht in eurem Licht und die Herrlichkeit des HErrn scheine über euch, daß ihr ihm danken könnt mit ganzem, vollen, ewigen Brandopfer! Amen.

 Darauf sagen auch wir ein herzlich Amen und schlagen unsere Hände darauf ein. Der Stern, von dem wir im Leben so gern uns leiten ließen, ist uns entschwunden, aber wir werden ihn wieder sehen, wie die Weisen ihren Stern wiedersahen; und wie er ihnen erschien am Ziel und Ende ihres Weges und gerade über dem Hause stand, da das Kindlein innen lag, so werden auch wir am Ende unseres Laufes unsern Stern wiederschauen und unsere Sonne dazu, in deren Licht er leuchtete und zu deren Licht er uns führte. Den Stern und die Sonne werden wir sehen. Halleluja. Amen.

J. D. 


Druck von E. Pöschel & Co.in Leipzig.


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Nürnberg.
Gottfr. Löhe.
1872.


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