Zum Inhalt springen

Land und Leute/Nr. 52. Die Zuydersee und ihre Anwohner

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Textdaten
<<< >>>
Autor: Julius von Altenau
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Die Zuydersee und ihre Anwohner
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 49, S. 814–818
Herausgeber: Ernst Ziel
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1882
Verlag: Verlag von Ernst Keil
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer:
Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung: Reisebericht aus der Artikelserie Land und Leute, Nr. 52
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
[[Bild:|250px]]
Bearbeitungsstand
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite


[814]
Land und Leute.
Nr. 52. 0 Die Zuydersee und ihre Anwohner.
Von Julius von Altenau.

Zu den merkwürdigsten Flecken europäischer Erde gehört unstreitig das Königreich der Niederlande. Einem alten Sprüchworte zufolge sind bekanntlich diejenigen Frauen die besten, von denen am wenigsten gesprochen wird. Ist der Satz richtig und darf man, was er von den Frauen behauptet, auch auf die Länder anwenden, so wäre das Gebiet zwischen Nymwegen und Rotterdam, zwischen Groeningen und Breda ohne Zweifel den vortrefflichsten Ländern der Welt beizuzählen; denn gesprochen wird von den Niederlanden und ihren Bewohnern schon seit Langem selten genug, und noch seltener verirrt sich der Fuß des Reisenden in diese so nahen und doch von den großen Heerstraßen des europäischen Verkehrs so weit abseits gelegenen Gegenden. Dennoch bietet auch dieses kleine Stück unseres Erdtheils, wie in geschichtlicher und cultureller, so namentlich auch in geographischer und ethnographischer Beziehung des Bemerkenswerthen und Interessanten eine so reiche Fülle, daß eine kurze Beschäftigung mit ihm wohl kaum zu den unfruchtbaren Aufgaben gerechnet werden darf.

Was hier von den Niederlanden im Allgemeinen gesagt wurde, das gilt in verstärktem Maße von den flachen, unwirthlichen und melancholischen Gestaden, welche die Zuydersee umrahmen, jene tiefe, beinahe herzförmige Einbuchtung der Nordsee, welche das Königreich Holland sozusagen in zwei, an Größe sehr ungleiche Hälften trennt, die nur durch den schmalen Streifen der südlichen Provinzen mit einander in Verbindung stehen. Die heute einen Flächenraum von etwa sechszig Quadratmeilen bedeckende Zuydersee liegt demnach zwischen den Provinzen Nordholland, Utrecht, Gelderland, Overyssel und Friesland und wird von der Nordsee durch eine bogenförmige Inselreihe, die sogenannten friesischen Inseln, geschieden, welche auf den ersten Blick sich als die ursprüngliche Küste des Landes darstellt und somit die Zuydersee eigentlich nur als einen großen Binnensee erscheinen läßt.

In der That gab es eine Zeit, da die geographische Formation des nördlichen Theiles der Niederlande ein von der gegenwärtigen sehr verschiedenes Bild darbot. Wo heute die Zuydersee ihre trüben und von riesigen Sandbänken durchzogenen Fluthen wälzt, da prangten einst lachende und fruchtbare Fluren, da standen blühende Dörfer, da erhoben sich reiche und mächtige Städte, deren Ruhm weit hinaus drang in die Lande. Wer hätte nicht von der alten Hansastadt Stavoren gehört und von der stolzen Frau, deren frevelhafter Uebermuth der Sage zufolge den Zorn Gottes auf die ganze Stadt herabbeschwor?

„Im Südersee Stavoren, wer hat die Stadt geschaut?
Mit Thürmen und mit Thoren gar stolz ist sie gebaut;
Paläste siehst Du ragen noch heut’ so hoch als eh’,
Doch Alles hat beschlagen die unermeßliche See.“

Heute ist Stavoren nichts als ein verfallenes Nest von wenigen hundert Seelen, in dessen Straßen das Gras wächst, aber wenn das Bewußtsein, Unglücksgenossen zu haben, irgend welchen Trost zu verleihen vermag, so steht solcher den ärmlichen Einwohnern Stavorens in besonders hohem Maße zu Gebote, denn Enkhuizen, Medemblik, Hindeloopen und viele andere einst blühende Gemeinwesen theilten Stavorens Geschick und sind, wie dieses, heute kaum noch ein trostloser Schatten ehemaliger Größe. Ihre Häfen sind versandet: die Zeiten des Glanzes, der Macht und des Reichthums sind unwiederbringlich vorüber, und die lethargische Ruhe, welche seit Jahrhunderten das eigenthümliche Merkmal jener öden Ufer und ihrer Anwohner bildet, ist die unheimliche Ruhe eines einzigen großen Kirchhofs.

Was der Zuydersee ein ganz eigenthümliches Interesse verleiht, ist der Umstand, daß sie sozusagen ein historisches Meer ist; ihr Entstehen fällt durchweg in den Bereich der menschlichen Geschichte. Aus positiven Quellen wissen wir, daß, wie bereits [815] bemerkt, die niederländischen Küsten einst eine ganz andere Bildung als heute aufzuweisen hatten, und wir vermögen das Entstehen und die allmähliche Formation dieses Meerbusens fast Schritt vor Schritt zu verfolgen, wennschon manche Einzelheiten noch immer in Dunkel gehüllt oder streitig sind. Da jedoch die Geschichte der Zuydersee mit jener des Niederrheins unzertrennlich verschlungen ist, so werden wir des besseren Verständnisses halber auch die letztere mit der nachfolgenden Darstellung verbinden müssen.

Im Alterthume, zur Zeit der Römer, bestand die „Zuydersee“ noch nicht in ihrem gegenwärtigen Umfange. Der Name deutet jedenfalls auf friesischen Ursprung, da das Attribut „südlich“ nur vom Standpunkte Frieslands aus zutrifft; der mittelalterliche Name ist „lacus Almeri“ oder „Almari“. Wohl aber war schon zur Römerzeit ein See, „Flevo“ genannt, vorhanden, und in Willibald’s „Leben des heiligen Bonifacius“ wird erzählt, daß Letzterer über ein stillstehendes Wasser („stagnum Almeri“) gezogen sei. Hieraus darf gefolgert werden, daß die Zuydersee zu jener Zeit, das heißt im achten Jahrhundert nach Christus, noch keinen Meerbusen mit Ebbe und Fluth darstellte und daß damals der Durchbruch der Nordsee zwischen Stavoren und Enkhuizen ebenfalls noch nicht stattgefunden hatte, wennschon eine Verbindung mit der Nordsee durch eine schmale Meerenge bestanden haben mag. Ebenso war damals Friesland von der heutigen Provinz Nordholland noch nicht getrennt, sondern erst im dreizehnten Jahrhundert erhielt die Zuydersee im Wesentlichen ihre jezige Gestalt, wobei es sich natürlich von selbst versteht, daß schon frühere Ereignisse und Durchbrüche ihre definitive Bildung vorbereiten halfen. Im Jahre 839, am St. Stephanstage (26. December), überströmte eine gewaltige Wasserfluth ganz Friesland, sodaß sie beinahe die Höhe der Dünen erreichte, und wahrscheinlich hat damals schon ein theilweiser Durchbruch der Nordsee stattgefunden; eine zweite große Ueberfluthung aber trat im Jahre 1170 ein, in Folge deren die Meereswellen sogar bis nach Utrecht vordrangen, wo man bei dieser Gelegenheit Seefische unmittelbar vor den Stadtmauern fing.

Weitere Ueberschwemmungen werden sodann aus den Jahren 1195, 1203, 1237, 1250 und 1282 gemeldet, obwohl die gedachten Jahreszahlen, der sich häufig widersprechenden Angaben wegen, auf chronologische Genauigkeit keinen Anspruch machen können. Ob sonach, wie Manche behaupten, die Zuydersee schon im neunten Jahrhundert, und zwar in Folge der oben erwähnten Ueberfluthung von 839, im Wesentlichen ihre gegenwärtige Ausdehnung erhalten, oder ob allmählich jede neue Sturmfluth immer mehr Land von dem nördlich von Enkhuizen-Stavoren gelegenen Gebiete fortgespült habe, bis endlich im dreizehnten Jahrhundert auch noch das letzte Stück Land zwischen Stavoren und Enkhuizen hinweggerissen und so die Nordsee mit dem Flevosee zur Zuydersee vereinigt wurde, ist heute mit Sicherheit nicht mehr festzustellen. Nimmt man jedoch Letzteres an, so wäre den vorhandenen spärlichen Urkunden zufolge das Jahr 1282 aller Wahrscheinlichkeit nach als der eigentlich entscheidende Zeitpunkt und sozusagen als das Geburtsjahr der Zuydersee zu betrachten, die sonach gerade heuer das sechste Jahrhundert ihrer Existenz zurückgelegt hätte.

Dieselbe Ungewißheit wie hinsichtlich der Zuydersee herrscht auch bezüglich der näheren Bestimmung der Richtung, welche früher der Rhein in seinem Laufe durch die Niederlande genommen hat. Unbestreitbar ist die Thatsache, daß in jenen Zeiten der Niederrhein einen von seinem gegenwärtigen verschiedenen Lauf gehabt und wenigstens mit einem bedeutenden Arme seine nördliche Richtung beibehalten hat; allein die Angaben über die Mündung dieses Armes in die Nordsee sind außerordentlich verworren und widersprechend.

Während nach der Darstellung des Römers Plinius die heutigen Niederlande ein Delta bildeten, welches er eine Rheininsel nennt, die von zwei in nördlicher und westlicher Richtung strömenden Armen des Flusses gebildet wurde, läßt der spanische Geograph Pomponius Mela, ein Zeitgenosse des Kaisers Claudius, den Rhein durch den Flevosee in die Nordsee münden. Die letztere Annahme dürfte schon deshalb die meiste Wahrscheinlichkeit für sich haben, weil die Yssel und die Vecht, welche beide in die Zuydersee münden, thatsächlich gar nichts Anderes sind, als wahre Rheinarme mit veränderten Namen. So viel steht jedenfalls fest, daß der eigentliche Rhein längs Arnheim, Wageningen, Renen bis nach Wyk-by Duurstede gelaufen ist, wo er sich mit dem Lek vereinigte, um von hier aus über Woerden, Bodegraven und Alfen die Richtung nach Utrecht zu verfolgen. Ob der Rhein zwischen Alfen und Leyden ein festes Bette gehabt habe, ist mit Sicherheit nicht mehr zu bestimmen. Vermuthlich bildete er auf dieser Strecke verschiedene Eilande, während die Frage, ob er sich auch weiter bei Katwyk durch die Dünen einen Weg in die Nordsee gebahnt habe, wiederum sehr zweifelhaft, aus triftigen Gründen jedoch füglich zu verneinen ist. Ueber den uns hier vorzugsweise interessirenden nördlichen Stromarm giebt übrigens der schon erwähnte Pomponius Mela ziemlich deutlichen Aufschluß. „Nicht weit von der See,“ sagt er, „theilt sich der Strom; aber das linksseitige Bett behält den Namen Rhein bei bis zu seinem Ausfluß in’s Meer. Zur Rechten dagegen ist der Fluß zuerst eng und sich selten gleich; dann, seine Ufer gewaltig ausdehnend, ist er nicht mehr ein Strom, sondern ein großer See.“

Hiermit wäre also der Flevosee deutlich genug gekennzeichnet und zugleich gesagt, daß der Rhein mit ihm in Verbindung stehe.

„Nachdem er die Felder bedeckt hat,“ fährt Mela fort, „wird er Flie genannt, und nachdem er ein Eiland dieses Namens umflossen, fällt er, nunmehr wieder ein Strom geworden, in die See.“

Aus den angeführten beiden Stellen haben nun zwar Manche entnehmen wollen, daß schon zu Tacitus’ Zeiten die Zuydersee nicht allein ein großer See, sondern sogar schon ein offenes Meer gewesen sei, das vor seiner Eindeichung von Zeit zu Zeit seinen Busen vergrößert und durch das Abnagen der Ufer seine Grenzen mehr und mehr ausgedehnt habe: gleichwohl aber dürfte aus jenen Stellen mit Sicherheit nur so viel hervorgehen, daß damals ein starker Rheinarm nach Norden gegangen und den Flevosee durchflossen habe; dieser nördliche Arm aber wird, wie schon bemerkt, heute durch die Yssel repräsentirt.

Daß auch die Gestaltung der friesischen und nordholländischen Küsten während der ersten Jahrhunderte unserer Zeitrechnung eine von der gegenwärtigen sehr abweichende gewesen sein muß, ergiebt sich aus vorstehender Darstellung von selbst. Wir wissen, daß durch Stürme und Hochfluthen Dünen hinweggefegt und Inseln verschlungen wurden, daß sich von Zeit zu Zeit Sandbänke vor dem Strande und in den Fahrwässern ansetzten, von denen viele sich dauernd über Wasser erhielten und später eingedeicht wurden, während andere wieder verschwanden oder an andere Punkte sich verschoben, wodurch sich selbstverständlich auch jedesmal das Fahrwasser und die Meeresströmung an der Küste verändern mußten; da jedoch verläßliche historische Berichte über die nähere Art und Weise dieser Vorgänge fehlen und namentlich von den damaligen Strandbewohnern selbst aus naheliegenden Gründen keinerlei urkundliche Aufzeichnungen vorliegen, so sieht man sich auch in dieser Beziehung meistens auf bloße Muthmaßungen beschränkt.

Schon die Frage, ob die holländische Nordseeküste bereits vor dem elften Jahrhundert ebenso wie heute von einer Reihe selbstständiger, vom festen Lande losgetrennter Inseln umgeben gewesen, oder ob letztere mit dem Festlande zusammengehangen und vielleicht nur durch unbedeutende Untiefen von ihm getrennt gewesen seien, wird von den Chronisten verschieden beantwortet. Die Alten, besonders Plinius und Strabo, kennen und erwähnen eine Anzahl Inseln am „Cimbrischen Vorgebirge“, und ebenso werden im früheren Mittelalter verschiedene solcher Eilande namhaft gemacht, wobei jedoch zu bemerken ist, daß der von ihnen eingenommene Flächenraum damals ungleich bedeutender gewesen zu sein scheint, als gegenwärtig. Vor Allem gilt dies von den Inseln Texel und Wieringen, und gerade diese beiden sind es, die sich, wie ein Blick auf die Karte lehrt, schlagbaumähnlich quer vor die Einmündung der Zuydersee in die Nordsee legen, und die sonach als die nächstgelegenen Trümmerreste der früher bestandenen festländischen Verbindung zwischen den heutigen Provinzen Nordholland und Friesland zu betrachten sind. –

Ernst und schweigsam, düster und fast melancholisch wie die flachen Ufer der Zuydersee, ist auch der Charakter der Menschen, welche die umliegenden Gebiete bewohnen. Rauschenden Vergnügungen abhold, finden sie fast nur im winterlichen Schlittschuhlauf über unabsehbare beeiste Flächen ihre Lust und ihre Erholung. Aber es ist ein stolzer und überaus stattlicher Menschenschlag, diese Friesen, ein echter und unverfälschter Urtypus nordländischer Kraft und germanischen Selbstbewußtseins – man betrachte nur die kräftigen, schlankgewachsenen Gestalten auf der trefflichen Abbildung, die unsern Artikel schmückt! Der Jahrhunderte lange Kampf mit [816] einem tückischen Elemente hat sie gestählt. Besonders die Friesinnen standen von jeher und stehen noch heute mit vollstem Rechte im Rufe großer Schönheit. Hoher Wuchs und weiße Haut, blaue Augen und rosige Wangen sind ihre zumeist hervortretenden Vorzüge, die durch derbkräftige und breitschulterige Körperformen keineswegs beeinträchtigt werden. Schon zur Römerzeit war dieses Volk berühmt wegen seines „goldigen Haupthaares“, dessen künstliche Nachahmung in den vornehmen Gesellschaftskreisen der Hauptstadt Rom zum guten Ton gehörte und das selbst einen Kaiser Antoninus zum Anlegen einer blonden Perrücke bestimmte.

Durch alle Wechselfälle der Zeiten wußten die Friesen ihre Freiheit und Unabhängigkeit zu behaupten, und ebenso hielten sie von jeher auf eine gewisse individuelle Ueberlegenheit der Angehörigen ihrer Rasse; denn wenn bereits das alte friesische Volksrecht aus dem achten Jahrhundert christlicher Aera sich vor allen andern germanischen Gesetzgebungen damaliger Zeit durch das höchste „Wergeld“ auszeichnete, das heißt die Tödtung eines freien Friesen mit der höchsten Geldbuße belegte, so darf auch hierin ein unverkennbares Symptom jenes gesteigerten Selbstbewußtseins, durch welches sich dieses Volk von allen übrigen germanischen Stämmen unterschied, erblickt werden.

Auch die bis auf den heutigen Tag festgehaltene, wenn schon je nach der Verschiedenheit der einzelnen Gegenden mehr oder weniger von einander abweichende nationale Tracht der Anwohner der Zuydersee ist ein Beleg für die zähe Eigenart dieses Volkes und, namentlich bei der in den jetzigen Provinzen Nordholland und Friesland bemerkbaren großen Aehnlichkeit in der äußeren Erscheinung der Menschen, zugleich ein drastischer Beweis für die weiter oben motivirte Annahme, daß der gesammte nördliche Theil der Niederlande einstmals in unmittelbarem Zusammenhange gestanden hat. Erst neuerdings beginnt die erwähnte interessante Volkseigenthümlichkeit hier und da den modernen Nivellirungsbestrebungen zum Opfer zu fallen und namentlich beim männlichen Geschlechte der charakterlosen Tracht der übrigen europäischen Landbevölkerung zu weichen.

Aber noch heute, wie vor Jahrhunderten, herrscht bei den nordholländischen Bäuerinnen die merkwürdige, fast möchten wir sagen, barbarische Sitte, sich am Hochzeitstage das Haar abzuschneiden und sich so ihres schönsten natürlichen Schmuckes zu berauben. Der haarlose Kopf wird dann in eine helmähnliche goldene Haube (sogenannte oorijzer) eingekerkert, und Verzierungen aller Art werden verschwendet, um jenen Act des Vandalismus möglichst abzuschwächen: metallene Stirnbänder und goldene Korkzieher umschließen die Stirn, welche außerdem durch zwei nicht gerade geschmackvolle Zöpfe von schwarzem Pferdehaar verunziert wird, die mit den blonden Brauen und blauen Augen im sonderbarsten Contraste stehen. Dieser Goldschmiedsladen wird dann unter einer zierlichen Mütze versteckt, die aber ihrerseits sofort wieder unter einem riesigen, mit bunten Blumen und Bändern überladenen Hute verschwindet.

Aehnlich wie in Nordholland ist die Tracht der Bäuerinnen im eigentlichen Friesland. Auch sie haben den althergebrachten glänzenden Kopfputz beibehalten, und noch jetzt umfängt der Goldhelm ihr Haupt, nur daß letzteres hier von einer Mütze mit ungeheuren Spitzenbarben eingerahmt wird.

Besondere Eigenthümlichkeiten in Bezug auf nationales Costüm bieten die von der Zuydersee umschlossenen kleinen Eilande, von denen hier nur der nördlich von der Ausmündung des Y gelegenen Insel Marken um deswillen gedacht sein möge, weil die äußere Erscheinung ihrer Bewohner merkwürdiger Weise in fast gar nichts an die Bekleidung der übrigen Nachbarschaft erinnert. Auch hier ist die Tracht der Männer die bei weitem einfachere: auch sie ist übrigens schon im Verschwinden begriffen, wozu vermuthlich die Nähe der Hauptstadt Amsterdam das Ihrige beitragen mag. Gleichwohl ist der Markener noch heute regelmäßig mit einem Wamms von braunem Tuche mit zwei Reihen Knöpfen, zum Theil aus edlem Metall, Gold oder Silber, auch wohl aus alten Denkmünzen bestehend, bekleidet. Dieses Wamms wird in ein Beinkleid gesteckt, welches, weit und bauschig, kaum über das Knie hinabreicht und die Wade, die ihrerseits durch dicke, schwarzwollene Strümpfe geschützt wird, unbedeckt läßt: bei Fischern tritt als Untergewand noch ein rothes Tuchhemde hinzu. Die Füße stecken in weißen Holzschuhen oder auch in Schuhen, die mit türkischen Pantoffeln eine gewisse Aehnlichkeit haben, während als Kopfbedeckung im Sommer eine schwarze Kappe oder ein kleiner brauner Filzhut, im Winter aber eine niedrige Pelzmütze benutzt wird.

Ungleich complicirter und bunter als die der Männer ist die Kleidung der Markener Frauen. Die Unsitte des Haarabschneidens herrscht hier nicht, sondern die Marknerin läßt der natürlichen Zierde ihres Hauptes ihr ungeschmälertes Recht. Gold und Schmucksachen sind wenig bemerkbar, wohl aber eine gewisse Vorliebe für auffallende und grelle Farben. Als Kopfbedeckung dient eine ungeheure weiße, fast einer Bischofsmütze vergleichbare Haube, darunter ein brauner Stoff, welcher den Spitzen und Stickereien gestattet, ihre Arabesken wirksam hervortreten zu lassen. Unter dieser Mütze hervor, zu beiden Seiten des Gesichts, quellen zwei riesige Zöpfe natürlichen blonden Haares, welche, in Korkzieherform geflochten, bis mitten auf die Brust niederfallen, während auf der Stirn die nach vorn gekämmten Haare in gerader Linie oberhalb der Augenbrauen abgeschnitten sind, genau so, wie es die europäische Mode noch vor wenigen Jahren für das schöne Geschlecht insgemein vorschrieb. Die eigentliche Kleidung besteht aus einem ärmellosen Leibchen und einem Rock, beide von verschiedenem Stoff und Farbe, wobei sich jedoch Roth eines entschiedenen Vorzugs erfreut. Namentlich das Leibchen ist mit rothen Handstickereien reich verziert: die Aermel aber, welche einem Unterkleide angehören, zerfallen in zwei ungleiche Theile, deren einer, mit senkrechten rothen oder schwarzen Streifen, oberhalb des Ellenbogens aufhört, während der andere, dunkelblau, sich bis zum Handgelenke hinabzieht. Auch der eigentliche Rock selbst zerfällt in zwei ungleiche Hälften. Der längere, obere Theil stellt eine Art Rockschoß von heller Farbe mit schwarzen Streifen dar, wogegen das kürzere, untere Stück von dunkelblauem Stoffe ist und in einem doppelten braunrothen Streifen endet. Unsere sachverständigen Leserinnen werden zugeben, daß diese Tracht, deren Herrschaft sich, wie gesagt, auf die kleine Insel Marken beschränkt, eine ebenso eigenthümliche wie malerische genannt zu werden verdient; zu bemerken ist noch, daß dieselbe - wie dies vielfach im Umkreise der Zuydersee üblich ist - von allen Altersclassen der Bevölkerung, von den Kindern bis zu den Greisinnen, gleichmäßig angelegt wird.

Kehren wir jedoch nach dieser kleinen Abschweifung auf das Gebiet der Völker- und Costümkunde nochmals zur Zuydersee selbst zurück! Daß dieselbe in ihrem gegenwärtigen Umfange einen Flächenraum von nahezu 60 Quadratmeilen gleich 500,000 Hectaren, also genau den zehnten Theil des ganzen Königreichs der Niederlande bedeckt, wurde schon weiter oben bemerkt. Veranschlagen wir den ehemaligen Flevosee auf etwa 140,000 Hectaren, so ergiebt sich, daß ungefähr 360,000 Hectaren Land, das heißt ein Gebiet von der Größe der jetzigen Provinz Friesland, im Laufe der Jahrhunderte an das Meer verloren gegangen sind. Seit einem vollen Menschenalter beschäftigt unsere niederländischen Nachbarn die naheliegende Frage, ob und auf welchem Wege dieses bedeutende Territorium, entweder ganz oder wenigstens zum Theile, der menschlichen Cultur zurückzuerobern sei. Seit im Jahre 1849 ein holländischer Ingenieur zuerst einen flüchtigen Entwurf veröffentlichte, der die Zuydersee in ihrer gesammten Ausdehnung abdämmen und trocken legen wollte, ist über diesen Gegenstand unendlich viel gesprochen und geschrieben worden. Eine Anzahl Sachverständiger erwog die Schwierigkeiten des Unternehmens; Andere hoben das Wünschenswerthe der Sache hervor; während der Eine die Möglichkeit einer Bändigung der Wasserfläche prüfte, untersuchten Andere die Beschaffenheit des Bodens. Die Hydrographie gab Aufschlüsse durch ihre wissenschaftlichen Aufnahmen; die Wasserbau-Ingenieure begutachteten besonders schwierige Probleme der Technik; Gesellschaften bildeten sich, um sich die Concession zur Ausführung zu sichern - kurz, die Sache begann in Fluß zu kommen. Gleichwohl sollten noch Jahrzehnte verfließen, bevor diese hochwichtige Frage zum Eintritte in ein neues, praktisches Stadium gereift war.

Erst im Jahre 1875 veröffentlichte eine niederländische Staatscommission einen Bericht über die Möglichkeit und das Wünschenswerthe des großartigen Werkes, und bald nachher reichte die Regierung beim Staatsrathe einen Gesetzentwurf, die Trockenlegung der Zuydersee betreffend, ein, der in seinen wesentlichen Punkten von der Volksvertretung gebilligt und angenommen wurde. Seitdem darf das Unternehmen im Princip als gesichert betrachtet werden; die vorbereitenden Arbeiten haben begonnen, und die endgültige

[817]

An der Zuydersee. Nach dem Oelgemälde von R. Jordan.

[818] Durchführung des Riesenwerkes erscheint lediglich noch als eine Frage der Zeit. Freilich nicht einer kurzen; umfaßt doch die Wasserfläche, welche man zu bändigen beabsichtigt, einen Raum von beinahe 200,000 Hectaren, wovon ungefähr 146,000 Hectare oder 32 geographische Quadratmeilen dem Grundgebiete des Staates als Bauland zu Gute kommen würden. Man denke sich nämlich eine ziemlich gerade Linie, welche von Enkhuizen über die Insel Urf nach der Mündung der Yssel führt: die gesammte südlich von dieser Linie gelegene Wasserfläche ist es, welche abgedämmt und trocken gelegt werden soll, während zahlreiche Canäle die Wasserverbindung zwischen den bedeutenderen Ortschaften aufrecht erhalten werden.

Man pflegt zu sagen: das Meer trennt nicht, es verbindet. Von der Zuydersee, wie sie heute ist, gilt das Umgekehrte. Es wird als ein großes Verdienst gelten müssen, diese hemmende Schranke des mitteleuropäischen Verkehrs wenn nicht ganz beseitigt, so doch möglichst eingeengt zu haben. Hoffen also auch wir das Beste und beschließen wir demgemäß diese Zeilen mit dem Ausdrucke der Zuversicht, daß unsern niederländischen Stammesverwandten der Sieg in dem aufgenommenen Kampfe mit einem feindlichen Elemente beschieden sein möge! Dieser Sieg wird dem kleinen Nachbarstaate eine neue Provinz eintragen, aber es wird eine Eroberung sein, die Niemanden neidisch verstimmt und die das „europäische Gleichgewicht“ nicht erschüttert.