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Land und Leute/Nr. 20. Wurzelgraben und Rautenholen

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Textdaten
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Autor: A. P.
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Titel: Wurzelgraben und Rautenholen
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 31, S. 492-494
Herausgeber: Ernst Keil
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1865
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung: Reisebericht aus der Artikelserie Land und Leute, Nr. 20
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Land und Leute.
Nr. 20. Wurzelgraben und Rautenholen.

Wir haben die trefflichen Aufsätze des Doctor Bock in der Gartenlaube oft mit Vergnügen gelesen, ein Universalmittel kennt er aber trotz aller Gelehrsamkeit doch nicht. Und das wäre?

Du kannst es im ganzen Land Tirol erfragen, jede Kellnerin weiß es, und kommst Du Abends müde im Achenthal bei der Scholastika an oder seufzest Du über Uebelkeit, so schaut Dich das blonde Moidele mitleidig an und sagt: „Trinken’s Enzeler, der ist für Alles gut!“ Sie bringt Dir ein kleines Gläschen, neben dem einige überzuckerte Mandeln liegen, Du riechst daran. „Puh! und das soll man trinken?“

Ja freilich, es ist Enzeler, und noch dazu echter, den man nicht überall kriegt. Trink nur, lieber Freund; hast Du so viel überstanden, bringt Dich dieses Schnäpschen auch nicht um und Du bist dann halb und halb in den Alpen naturalisirt oder nationalisirt.

Wie der Schotte seinen Whiskey, der Berliner seinen Kümmel, so preist der Tiroler den Enzeler und betrachtet diesen Branntwein und das Murmentelschmalz – das Fett des Murmelthieres – als Universaltincturen; wer’s glaubt, wird gesund, wenn ihm nicht viel fehlt. Wir wollen kein zweites Gläschen Enzeler verlangen, sondern gehen in den Wald; bald führt ein Pfad über den Abhang neben dem schäumenden Wildbach vorbei, wir erreichen eine Hütte, die wie ein Blockhaus aus behauenen Balken aufgeführt ist. Die Wände sind vom Wetter gebräunt, aus den Fugen hängt das Moos, durch jede Ritze dringt ein unangenehmer Qualm. Zu hinterst lodert ein Feuer unter einer kupfernen Destillirblase, ein alter Mann in zerlumptem Gewand tritt uns entgegen.

„Grüß Gott, Hies, ich hab Dich lang nicht mehr gesehen; das letzte Mal haben wir auf Stegen miteinander geredet.“

„Ja, ja, auf Stegen!“ erwiderte Hies traurig. „Da krefle ich auch nicht mehr hin; mit dem Sennern ist’s aus, ich bin zu alt und schwach geworden. Seht, da hab ich mir das Hüttel gepachtet und brenn’ Schnaps; bring’ mich just schon durch. Aber kosten mußt ihn doch, ich hab’ einen prächtigen Enzeler!“

„Enzeler!“ rufst Du schaudernd.

Wer A gesagt hat, soll sich vor dem B nicht fürchten. „Bring’ ein Glasl, Hies – sollst leben!“

Wir setzen uns auf einen Block vor die Thür. Dort droben prangen im herrlichsten Grün üppige Alpenmatten, ein leises Bimmeln klingt zu uns herab und hellauf jauchzt der Senner von der Höhe. Auf jenen Bergwiesen wachsen die Gentianen. Die Familie ist sehr zahlreich, nicht alle Glieder derselben sind so vornehm, wie das Tausendgüldenkraut oder der blaue Enzian mit dem großen, tiefen Kelche, den der Tourist, welcher die Alpen besucht, so gern betrachtet. Auf allen Wiesen Deutschlands legt im Frühling das Schusternägelein (Gentiana verna) die blauen Sternchen auf und die Rispen einer violetten Art schmücken Hochsommer und Herbst, der König des Geschlechtes bleibt jedoch der gelbe Enzian (Gentiana lutea). Schon Albrecht von Haller, dessen „Alpen“ an Werth so manches neuromantische modische Gedicht à la Amaranth weit überstrahlen, wenn sie auch nunmehr selten Leser finden, besingt ihn; da wir seine Schilderung nicht zu erreichen hoffen, entlehnen wir ihm die Verse:

„Dort ragt das hohe Haupt vom edlen Enziane
Weit übern niedern Chor der Pöbelkräuter hin,
Ein ganzes Blumenvolk dient unter seiner Fahne,
Sein blauer Bruder selbst bückt sich und ehret ihn.
Der Blumen helles Gold in Strahlen umgebogen,
Thürmt sich am Stengel auf und krönt sein grau Gewand,
Der Blätter glattes Weiß mit tiefem Grün durchzogen
Bestrahlt der bunte Blitz vom feuchten Diamant.
Gerechtestes Gesetz, daß Kraft sich Zier vermähle,
In einem schönen Leib wohnt eine schönre Seele.“

Der Vetter dieser prächtigen Pflanze ist der violette Enzian (Gentiana pannonica), ebenfalls von hohem Wuchse mit großen Blättern, welche in Quirlen um den Schaft gereiht sind. Diesem nahe steht der röthliche Enzian (Gentiana purpurea), eine schöne Pflanze, die jedoch den Arlberg nicht übersteigt und auf die Mähder westlich desselben beschränkt bleibt. In diesen Kreis gehört auch der gefleckte Enzian (Gentiana maculata); seine Blüthe ist fahl mit dunklen Tupfen.

Der Leser wird bei diesem botanischen Excurs ungeduldig; nun, wir sind zu Ende und haben denselben auch nur begonnen, um ihm zu sagen, daß diese Arten den Enzeler liefern. Ihre derben und großen Wurzelstöcke, deren Bitterstoff ihnen einen Ruf als magenstärkende Mittel verschaffte, werden sorgfältig aufgesammelt, zerhackt und mit Wasser begossen, um den köstlichen Schnaps zu destilliren. Das Geschäft des Wurzelgrabens ist nur dann gefährlich, wenn die Pflanzen, welche nicht steile Felsen erklimmen, an stark geneigten Berglehnen wachsen. Die Alpenreviere werden verpachtet

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Das Rautenholen in Tirol.
Originalzeichnung von Mathias Schmid.

und nicht von Jahr zu Jahr, sondern nach längeren Zeiträumen abgesucht. Das Wurzelgraben trägt nicht viel, es wird daher meistens von älteren Weibern betrieben, die in den Almen übernachten und dort mit dem Abhub der Milchwirthschaft zufrieden sind oder ihn auch manchmal mit den Schweinen theilen. Will man im Zillerthal eine arme Haut bezeichnen, so sagt man: „Sie ist halt eine Wurzelgräberin!“ Hie und da fällt aber ein kleiner Nebengewinnst ab. In Tirol braut man aus allen möglichen Dingen Schnaps; jede Art hat ihre besondere Wirkung, der Enzeler hilft freilich für Alles. Dort im Bottich gährt die Maulbeere, hier die Heidelbeere, in jenem Winkel sollen große Geschirre die Wachholderbeere, die Schlehe, die Preißelbeere aufnehmen, da giebt es Arbeit vollauf bis zum November, wo es einschneit. Auch die Köpfchen der Arnica werden geklaubt und für Tincturen benützt; bisweilen bestellt ein Schütz die Zwiesel von Allermannsharnischwurz (Allium victoriale), einem Lauch, der beim Wildern Glück bringen soll. Wäre nur erst die alttirolische Indolenz, die sich starrköpfig in ihre Glaubenseinheit verpuppt, überwunden, man könnte den armen Leuten noch manche Erwerbsquelle öffnen: die Versteinerungen der Alpen würden gewiß um theures Geld gekauft und mancher Fremde möchte gern ein Album seltener Gebirgspflanzen heimbringen. Die Schweizer verstehen dies besser, und man braucht unsern Tirolern nicht gerade die Routine zu wünschen, mit der jene Aelpler Geld zu schneiden wissen, es könnte aber gar Vieles besser sein. Was das Schnapsbrennen betrifft, so wird es sehr durch die österreichischen Finanzgesetze beeinträchtigt; diese sind, um jeden Pfennig herauszuzwicken, mit so vielen Quälereien verbunden, daß mancher Bauer lieber die Beeren im Wald [484] verfaulen läßt, anstatt daraus die zwei Eimer Branntwein, die er für sein Haus destilliren darf, zu ziehen. Leider hat in den letzten Jahren der Branntweintrunk in Tirol sehr um sich gegriffen; in Folge der Traubenkrankheit, welche so manches Bäuerlein des Etschlandes mit Pfändung und Gant bedroht, war der Wein theuer und schlecht und das Bier wegen der hohen Accise weder gut noch wohlfeil, da griff man denn zur Schnapsflasche oder mischte einfach Alkohol, aus dem das Fuselöl stinkt, mit Wasser, das ist der sogenannte „Eisenbahneler“.

Auch die Mädchen verschmähen bei uns den Schnaps nicht; ja es ist sogar nationale Sitte, daß der Bub, wenn er fensterln geht, eine tüchtige Flasche Branntwein mitbringt. Dieses geschieht vorzüglich beim Heimgarten zu Weihnacht; er stellt der Geliebten den Schnaps auf, sie holt aus dem Schrank einen großen Gelten oder Kletzenbrod, in dessen Teig Mandeln, Rosinen und trockene Birnen eingebacken sind. Der Bua muß anschneiden; hat er den Besuch versäumt, so gilt das als Aufkündigung der Liebe und dann ist das Mädchen los und ledig. Los und ledig! ja, es fließt aber dabei manches Thränchen, vielleicht wird es im Fasching getrocknet. Auch im Hochsommer giebt es einen Feierabend, wo der Bursch seinem Dirndl die Flasche ans Fenster bringt, er hat sie diesesmal mit „echtem“ gefüllt, bei dem keine Faser vom Glöcklkraut, einem schönen Enzian, der auch an den Felsen des Thales wächst, verwandt wurde. Der Hies hat ihn aus dem besten Faß gezapft, und so wird auch ihm ein Hoch gebracht. Der Abend oder die Nacht. an der das geschieht, ist vor dem Feste der Himmelfahrt Mariä, welche die Landmädchen als Beschützerin der Jungfrauen – wenigstens im Gebet brünstig verehren. Ob sie aber gerade mit dem Buben, wenn er fensterlt, Rosenkranz beten, lassen wir dahingestellt: Kenner der Volkssitte sind so ungalant, das Gegentheil zu behaupten. Die jungen Bursche, welche sich auf den Almen den ganzen Sommer mit dem Vieh beschäftigen, wollen wenigstens diesen Feiertag, wo die Blumen in der Kirche geweiht werden, im Thal zubringen. Da ist es nun ihr Stolz, den Hut mit einem Strauß geschmückt vor die Geliebte hinzutreten.

„Mit Edelweiß!“ denkt mancher.

Dieses zierliche Blümchen, welches jetzt fast jeder Berliner Gemsenjäger am Hut trägt, wird in Tirol nicht so sehr geschätzt wie in Baiern. in neuester Zeit suchen es jedoch die Kräutersammler und Wurzelgräber auch dort sehr emsig, um durch den Handel einige Kreuzer zu verdienen. Im Flachland meint man freilich, daß sich fast an jeden Stern von Edelweiß ein Abenteuer knüpfe, als ob, wie am Kaffee der Schweiß des Negers, das Blut des Aelplers daran klebe. Dem ist nicht so, es giebt Gegenden, wo man es mit der Sense mähen kann, da hat es eben so wenig Werth wie die Almrose, von welcher der Tiroler behauptet, daß sie nicht blos schnell welke, sondern auch den Blitz anziehe.

Edelweiß und Almrose schätzt ein kecker Tirolerbua selten; sein Stolz ist eine Staude der Jochraute, die er mit der goldenen Hutschnur befestigt. Oft schon mehrere Wochen vor Mariä Himmelfahrt späht er das steile Geschröf aus, um einen schönen Stock auszufinden; weiß er einen, so schweigt er, damit ja Niemand davon erfahre. So Mancher stürzte schon von der Wand und lag zerschmettert, die Jochraute in blutiger Hand, auf der Schutthalde. Wer sich vermißt, Jochraute zu bringen, und leer zurück kehrt, wird lang ausgelacht, daher wagen die kecken Bursche Leib und Leben, um vor dem Mädel zu prangen. Wo es unmöglich ist barfuß oder mit Steigeisen hinzuklettern, wird ein Seil angepflöckt oder von einem Cameraden gehalten, an dem man sich in den schrecklichen Abgrund hinabläßt. Sind Buben und Dirnen in der Höhe um Wildheu zu holen und hat einer Rauten entdeckt, so nimmt er wohl den Schatz an Ort und Stelle. Wie bebt da das Mädchen, wenn es dem kecken Gesellen auf seiner Fahrt zuschaut, und küßt ihn, kehrt er zurück, um so lieber. Eine Episode bei einem solchen Rautenzug hat unser hochwürdiger Freund Mathias Schmid, ein wackerer Tirolerkünstler, in der beigefügten Zeichnung mit viel Humor dargestellt; das Mädchen hält den Buben, der sich in den Abgrund beugt, ängstlich bei der Joppe. Ein verliebtes Dirndl heißt seinen Buben wohl auch: „Mein Rautenstock.“

Wie sieht denn aber dieser gepriesene echte Rautenstock aus? Wie eine Wermuthstaude, mit der er, was schon sein Name: Artemisia glacialis und mutellina, verkündet, nahe verwandt ist. Also sehr unansehnlich, dafür hat er einen würzigen Geruch und wird an manchen Orten dem Branntwein zugesetzt. Der Werth desselben besteht daher, wie bei so vielen Dingen dieser Welt, in der Einbildung, aber:

„Ein lebfrischer Bua
Muß an Rautenstock hab’n!“

A. P.