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Kunstpflege und Kunsterziehung

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Autor: Peter Jessen
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Titel: Kunstpflege und Kunsterziehung
Untertitel:
aus: Handbuch der Politik Dritter Band: Die Aufgaben der Politik, Fünfzehntes Hauptstück: Bildung, 85. Abschnitt, S. 164−170
Herausgeber: Paul Laban, Adolf Wach, Adolf Wagner, Georg Jellinek, Karl Lamprecht, Franz von Liszt, Georg von Schanz, Fritz Berolzheimer
Auflage:
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Erscheinungsdatum: 1914
Verlag: Dr. Walther Rothschild
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Erscheinungsort: Berlin und Leipzig
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Quelle: Commons
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[164]
85. Abschnitt.


Kunstpflege und Kunsterziehung.
Von
Geh. Regierungsrat Dr. Peter Jessen,
Direktor am Kgl. Kunstgewerbemuseum, Berlin.

Die Kunst, die freieste und persönlichste Äusserung der Menschenseele, ist am gesundesten solange sie der bewussten Pflege nicht bedarf und keine Aufgabe der Politik bildet; dort etwa, wo der Liebende der Geliebten zu Gefallen singt und der Gläubige das Bild seines Gottes schnitzt. [165] Aber auch die führenden Mächte, die einst den Völkern zum monumentalen Ausdruck ihres künstlerischen Dranges verhalfen, die Kirche, die Fürsten, die Stadtgemeinden, bauten Tempel, Schlösser und Rathäuser nicht, um die Kunst zu fördern, sondern um ihres Glaubens, ihrer Macht, ihres Ruhmes wegen; die Kunst war die selbstverständliche Beigabe. Zwar hatte Colbert den volkswirtschaftlichen Wert des Geschmacks entdeckt und durch planmässige Fürsorge für die Handwerkskunst seinem Lande auf Generationen hinaus den Vorrang in Europa gesichert. Aber noch waren die grossen Besteller, der Hof und der Adel, kunstsicher genug, um aus eigenem Antriebe die Ideale ihrer Zeit zu gestalten. Der naive, man könnte sagen paradiesische Zustand der Kunstpflege hat bis an die Schwelle des 19. Jahrhunderts gewährt.

Die Revolution und ihre Folgen haben dieses glückliche Selbstgenügen gestört. In der bürgerlichen Gesellschaft, die das Erbe der alten aristokratischen Mächte anzutreten hatte, mochten Dichtkunst und Musik, die Künste des Einzelnen, gedeihen und auch die Bildermalerei im Hause einen bescheidenen Platz behaupten. Aber um dem Können und Wollen der neuen Zeit monumentalen Ausdruck zu geben, fehlte es den ärmlichen neuen Schichten nicht nur an Geld, sondern auch an künstlerischer Gesinnung. Die Kunstgeschichte entstand und liess den ungeheuren Abstand gegen die Vorzeit empfinden. Man ward irre an sich selber und sann auf Mittel zur Besserung. So wurde die bewusste Pflege der bildenden Künste zu einer Forderung der öffentlichen Bildung und der nationalen Kultur.

Die Kunstpflege richtet sich vornehmlich auf folgende Ziele:

1. die Ausbildung der Künstler;
2. die Kunst an den öffentlichen Bauten und in der monumentalen Bildnerei und Malerei;
3. die Fürsorge für den Kunstbesitz aus älterer Zeit an Baudenkmälern und in Museen;
4. die künstlerische Bildung des Volkes in allen seinen Schichten, besonders der Jugend.

1. Die Ausbildung der Künstler ist zur Aufgabe der öffentlichen Mächte geworden, als nach dem Mittelalter die alten handwerklichen Organisationen, die Zünfte und die St. Lukas-Gilden, den Künstlern zu eng wurden; als einzelne Persönlichkeiten sich namentlich an den Fürstenhöfen Geltung und Privilegien zu verschaffen wussten und endlich der ganze Stand höhere gesellschaftliche Ansprüche erhob und nach Art der Gelehrten und ihrer Akademien geordnet und geehrt zu werden verlangte. Damit endete auch die alte Werkstattslehre und die Ausbildung im Atelier des Meisters. Schon im 16. Jahrhundert gab es in Italien Genossenschaften, die sich Akademien nannten und für Unterricht sorgten. Als dann Mazarin 1648 die Académie royale de peinture et de sculpture ins Leben rief, wurden der neuen Körperschaft auch akademische Mal- und Bildhauerkurse angegliedert. 1666 entstand die französische Kunstschule in Rom, 1671 die Ecole d’architecture. Während der Revolution ward 1793 die Akademie in ihrer alten Form aufgehoben, aber schon 1795 wieder belebt. Napoleon hat sie 1806 dem Institut de France neben dessen wissenschaftlichen Abteilungen angegliedert. Die Lehranstalt ist seit 1863 als Ecole des beaux-arts von der Akademie unabhängig.[1]

Dem Beispiele Ludwigs XIV. folgten die übrigen Fürsten. 1692 entstand die Kunstakademie in Wien, 1696 die Kgl. Akademie der Künste in Berlin, die als Körperschaft bis heute besteht;[2] im 18. Jahrhundert eine ganze Reihe weiterer Akademien an den wichtigsten Kunstzentren Europas, teils als Körperschaften, teils als Lehranstalten. Staatliche akademische Lehranstalten bestehen in Deutschland in Berlin (Hochschule für die bildenden Künste), Düsseldorf, Kassel, Königsberg, München, Dresden, Stuttgart, Karlsruhe, Weimar; ausserdem mehrere öffentliche Kunstschulen mit besonderen Zwecken und eine grosse Zahl privater Schulen für Künstler und Künstlerinnen.[3]

In den heutigen Kunstakademien pflegen den Unterrichtskursen Meisterateliers für die reiferen Schüler angegliedert zu sein. Man wünscht überdies, den Künstlern und ihrer Kunst wieder festere handwerkliche Grundlagen zu schaffen und hat hie und da ergänzende Werkstätten begründet. Um dem verhängnisvollen Künstlerproletariat zu steuern, hat man vorgeschlagen, [166] zu den staatlichen Kunstlehranstalten nur solche Schüler zuzulassen, die ein Handwerk beherrschen. Während die Ecole des beaux-arts in Paris auch Architekten ausbildet, pflegen in Deutschland für die Baukünstler die Technischen Hochschulen zu sorgen. Dabei liegt allerdings die Gefahr nahe, dass im Vergleich mit den technischen und Verwaltungs-Gebieten, die der künftige Baubeamte beherrschen muss, die Ansprüche der Kunst zu kurz kommen; von den Technischen Hochschulen in Deutschland (Berlin-Charlottenburg, Hannover, Aachen, Danzig, München, Dresden, Stuttgart, Karlsruhe, Darmstadt, Braunschweig) wissen insbesondere die ausserpreussischen dieser Gefahr zu begegnen.

Gleich ernst ist für den Staat und die nationale Kunstpolitik die Ausbildung der im Kunstgewerbe tätigen Kräfte. Schon Colbert hatte den Kunsthandwerkern in den Staatsmanufakturen Gelegenheit zur praktischen und zeichnerischen Ausbildung geschaffen. In der Revolutionszeit entstand in dem Conservatoire des arts et métiers die erste zielbewusste Anstalt zur Ausbildung für die technischen Fächer. Im übrigen aber ist die planmässige Schulung für das Kunsthandwerk ein Gedanke erst des 19. Jahrhunderts, das den Begriff und das Wort Kunstgewerbe geprägt hat. Man ward sich dieser Aufgabe erst bewusst, als man beobachtete, wie in der neuentstehenden Kunstindustrie Hersteller und Erfinder sich schieden und man neben dem Arbeiter eigener künstlerischer Kräfte benötigte, die sich Musterzeichner, Kunstgewerbezeichner, neuerdings auch Innenarchitekten nennen und heute zum Teil selbständige, angesehene Künstler sind.

Die erste Weltausstellung in London 1851 zeigte, wie dank seiner alten Schulung das französische Kunstgewerbe den übrigen Ländern überlegen war. Von daher datiert, durch Gottfried Semper eingeleitet, die planmässige Fürsorge für Kunsthandwerk und Kunstindustrie durch Museen mit Sammlungen alter Vorbilder, Bibliotheken und Schulen. In England ward von dem South Kensington Museum aus ein Netz solcher Anstalten über das ganze Land gebreitet. Auf dem Kontinent folgten Österreich, Deutschland und die übrigen Länder.[4] Lange glaubte man, in den Kunstgewerbeschulen durch Zeichnen und Modellieren den Zweck zu erreichen. Neuerdings aber stützt man auch diesen Unterricht auf die Praxis in Schulwerkstätten und Fachschulen. Deutschland ist heute an tätigen Schulen dieser Art reicher und vielgestaltiger als andere Länder; unsere Schulen sind zu ihrem Vorteil nicht zentralisiert, sondern gewinnen durch den Wetteifer der Staaten, Provinzen und Städte und haben viel dazu beigetragen, dass die Vorherrschaft des französischen Geschmackes gebrochen ist und Deutschland sich neben England und den gleichstrebenden Ländern selbständig behauptet. Die neue, vertiefte künstlerische Gesinnung ist auch auf die Handwerker- und Fortbildungsschulen angewendet worden, mit besonderem Erfolg durch Schulrat Georg Kerschensteiner in München.[5]

Im Rahmen der Kunstpflege hat der Staat sich hie und da für verpflichtet gehalten, den Künstlern zur Ausstellung und zum Absatz ihrer Werke behilflich zu sein, besonders durch Errichtung von Ausstellungsgebäuden. Wiederkehrende Kunstausstellungen sind in Paris im Anschluss an die Akademie schon 1667 eingerichtet worden. Auch anderwärts veranstalten zum Teil die Akademien die jährlichen Kunstausstellungen, in Berlin gemeinsam mit dem Künstlerverein unter Obhut des Staates. Zumeist aber sind zweckmässiger Weise die Kunstvereine und freie Vereinigungen von Künstlern die Träger des Ausstellungswesens. Die Handwerkskünstler haben bisher nur in Paris gleichberechtigten Zutritt zu den jährlichen Salons erkämpft.

2. Das umfangreichste und wichtigste Feld der öffentlichen Kunstpflege bilden die öffentlichen Bauten. In die Pflichten monumentaler Repräsentation, die früher die Kirche, die Städte und die Fürsten bestritten, teilt sich jetzt eine grosse Zahl von Mächten: die Staaten und die Landschaften, Stadtgemeinden und Kirchengemeinden, öffentliche und privatrechtliche Körperschaften. Das vielgestaltige Leben unserer Zeit pflegt die alten, ehrwürdigen Probleme der früheren Generationen weiter und stellt dazu eine schwer zu übersehende Fülle neuer Aufgaben, die der Vorzeit unbekannt waren oder nur als bescheidenste Nutzbauten behandelt wurden. Die Gotteshäuser; die Stätten des Kunstgenusses, Theater und Museen; die Repräsentationsgebäude [167] der öffentlichen Mächte, Parlamente, Rathäuser, Ministerien und zahllose andere Verwaltungsgebäude; die Gerichte; die Lehranstalten, von den Universitäten bis zu den Volksschulen; die Verkehrsbauten, Bahnhöfe und Postgebäude; die Krankenhäuser und die Kasernen; endlich die Ingenieurbauten, Brücken u. dergl.; sie alle haben zu wetteifern mit dem hochgespannten Aufwand der privaten Bautätigkeit für Geschäfts-, Vergnügungs- und Wohnzwecke. Von dem wechselnden Kunstbedürfnis der Generationen hängt es ab, wie weit bei allen diesen Aufgaben die verantwortlichen Behörden und Körperschaften ein Interesse und eine Pflicht darin sehen, ihre Bauten zum Ausdruck der künstlerischen Tendenzen ihrer Zeit zu erheben. In Deutschland ist auf die solide, aber äusserst anspruchslose Bürgerkunst der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts nach 1870 eine Lust an lautem, oft übertriebenem Aufwand gefolgt. Die Überschätzung nachgeahmter Stilformen ist seit etwa fünfzehn Jahren einer gesunderen Auffassung gewichen, die mehr durch die künstlerische Anordnung der Massen und Gruppen als durch vielerlei Beiwerk zu wirken sucht.[6] Ein neues, für die Kunst und die Wohlfahrt gleich wichtiges Problem des öffentlichen Bauwesens sind die Anlage der Strassen und Plätze, die Stadterweiterung und die Planung neuer Siedelungen geworden; diese „Städtebaukunst“ wird in England, Deutschland und den Vereinigten Staaten von Nordamerika mit leidenschaftlicher Hingabe gepflegt.

Das Bauwesen stellt Aufgaben, die notwendig gelöst werden müssen, und sei es auch ohne künstlerischen Einschlag. Dagegen ist die Förderung der freien Künste, der Plastik und der Malerei, ganz von dem Willen und der Einsicht der beteiligten Körperschaften abhängig. Ein Vergleich mit den klassischen Zeitaltern der Kunst fällt nicht zu unseren Gunsten aus. Die Bildhauer müssen ohne inneren Anteil eine Unzahl von Porträt-Denkmälern herstellen, die nur um des Dargestellten willen bestellt werden; was sie aus freier Seele ihrem Volke gestalten möchten, geht meist als Skizze zugrunde. Die französische Republik hält an der Tradition bedeutender Staatsaufträge für Bildhauer fest; in Deutschland hat die Stadt München rühmliche Beispiele gegeben. Noch unzulänglicher wird bei uns die monumentale Malerei bedacht. Die wertvollsten Aufträge geraten in die Hand der Routiniers; gegen mutige, zeitgemässe Versuche empört sich der Philistergeist; man lässt die Besten nicht zu Worte kommen und jammert, dass bei diesen Zuständen sich keine Schule der Wandmalerei herausbildet. Die französische Malerei ist noch immer der unsrigen auch dadurch überlegen, dass die berufenen Instanzen das Werdende erkennen und zu unterstützen wagen. Wir sollten weniger brave Ölbilder für unsere Museen kaufen und statt dessen den jüngeren Kräften Platz schaffen, sich im Raume und an der Wand zu erproben.

3. Das Zeitalter der Romantik hat die europäische Welt gelehrt, das Erbe der Vergangenheit zu schätzen. Neben der lebenden Kunst ist deshalb die Erhaltung des alten Kunstbesitzes seit langem ein ernstes Ziel der Kunstpflege.[7] Um die älteren Baudenkmäler zu untersuchen und zu erhalten, ist in Paris schon 1837 die Commission des monuments historiques eingesetzt worden, auf Anregung von Viollet-le-Duc, dem tätigsten französischen Architekten seiner Zeit. In Preussen ist schon 1844 ein Konservator der Kunstdenkmäler angestellt und seither eine über alle Provinzen ausgebreitete Organisation durchgeführt worden. Fast alle Kulturstaaten sind damit beschäftigt, ihren Bestand zu verzeichnen und in meist reich illustrierten Werken zu veröffentlichen, besonders eingehend die verschiedenen Staaten, Provinzen und Städte des deutschen Reiches. Gesetze regeln die Verpflichtung zur Erhaltung der Bauwerke und suchen die Verunstaltung der Orte und der Landschaften zu verhindern.[8]

Seit 1899 erscheint eine Zeitschrift „Die Denkmalspflege“; ein „Tag für Denkmalpflege“ vereinigt alljährlich die Freunde der Sache, Architekten und Historiker; die mehr volkstümliche Arbeit des Bundes „Heimatschutz“ sucht die Liebe zu alter und neuer Kunst im Sinne des Heimatlichen [168] zu verbreiten; sie kann sich dabei auf vielerlei landschaftliche und örtliche Organisationen stützen. Auch für die Erhaltung eigentümlicher Naturdenkmäler und Landschaftsbilder, wie sie in der Schöpfung der National Parks in den Vereinigten Staaten begonnen worden ist, hat Preussen eine amtliche Zentralstelle begründet.[9]

Den Museen für Kunst und Kunstgewerbe sind nach Zeit, Art und Ort verschiedenartige Aufgaben zugefallen. Aus und neben den Galerien und Kabinetten der Fürsten sind vereinzelt schon im 18. Jahrhundert (1753 das British Museum, 1793 das Museum im Louvre) und in wachsender Zahl nach der Revolution öffentliche Kunstsammlungen entstanden, zunächst für klassische Werke der Antike und der neueren Malerei, später für alle Gebiete alter und neuer Kunst und Kultur, bald auf das Gute aller Zeiten bedacht, bald als Nationalmuseum auf die engere Heimat beschränkt; neben den Staatsmuseen gibt es namentlich in Deutschland Provinz-, Stadt-, Orts-, ja Dorfmuseen in fast erdrückender Zahl.[10] Den Kunstgewerbemuseen wurde zuerst das Ziel gesteckt, nicht nur Bestände zu sammeln und zu erhalten, sondern sie nutzbar zu machen für Handwerk und Kunst unserer Zeit. Auf solche lehrhafte und erziehliche Tätigkeit hat sich unter den deutschen Kunstmuseen zuerst die Kunsthalle in Hamburg gerichtet;[11] allmählich sind die meisten tätigen Museen ausser Sammelstellen auch Lehrstätten geworden.[12] Einen eigenen Typus eines nationalen Volksmuseums hat in Stockholm Hazelius in dem Nordischen Museum mit seinem Freiluftmuseum auf Skansen geschaffen. Während in Europa die Museen überwiegend aus öffentlichen Mitteln unterhalten werden, entsteht in den Vereinigten Staaten von Nordamerika eine bewundernswerte Schar neuer Anstalten durch grossartige Stiftungen.[13]

4. Die Fürsorge für die Künstler und die neuen und alten Kunstwerke ergänzt sich neuerdings durch das Problem der künstlerischen Bildung und Erziehung. Die sozialen Erwecker und ästhetischen Prediger in England, Männer wie Carlyle, Ruskin, William Morris, haben der Menschheit das Gewissen geschärft für die tieferen Gründe der künstlerischen Not der Zeit. Die Werkarbeit, ausgeübt von menschlichen Maschinen, die Kunst ein Luxus der wenigen, der Sinn für die Grundlagen aller gesunden Kunstarbeit ertötet bei alt und jung: so stellte sich seit 1850 das Kunstleben Europas dar. Wer bessern will, darf nicht nur an mögliche ökonomische Gewinne denken, wie einst Colbert und die Gründer des South Kensington Museums; er muss die Volksseele um des Künstlerischen willen zu packen suchen; es handelt sich nicht um die Volkswirtschaft, sondern um ein Problem der nationalen Bildung von tiefem sozialem Wert. In Deutschland richtete Julius Langbehn (Rembrandt als Erzieher) 1890 die Gedanken auf diese Fragen. Praktisch nahm sich bei uns zuerst die Schule der Sache an. Lichtwark und Konrad Lange[14] wiesen zuerst die Wege. In Hamburg schuf die Lehrervereinigung zur Pflege der künstlerischen Bildung die ersten Organisationen für die Arbeit; der erste Kunsterziehungstag in Dresden 1901 trug sie in weitere Kreise.[15] Seither ist über das Ganze und seine Einzelheiten eine reiche Literatur entstanden.

Unter den Mitteln, um das Auge und die Phantasie des Kindes zu üben und anzuregen, steht der Zeichenunterricht obenan. In Paris gab es schon 1776 eine öffentliche Zeichenschule; in England wurden Kunst- und Zeichenschulen schon vor der Mitte des vorigen Jahrhunderts organisiert.[16] Auch in Deutschland ist das Zeichnen seit Jahrzehnten als Unterrichtsfach anerkannt. Doch galt es vor dreissig Jahren oft mehr als Vorübung für künftige Techniker wie als ein notwendiges [169] Erziehungsmittel für jedermann. Man hat es neuerdings, englischen und amerikanischen Vorgängen folgend, auf freiere Methoden begründet und dadurch volkstümlicher gemacht.

Das Zeichnen, welches vorwiegend der Beobachtung dient, sollte ergänzt werden durch Handarbeit, die zum Gestalten anleitet. Auge und Hand durch eigene Tätigkeit an Zweckaufgaben und gediegenem Material zu üben und dadurch die einseitig geistige Schularbeit zu ergänzen, wird seit hundert Jahren von den grossen Pädagogen empfohlen, seit einem Menschenalter im Ausland, besonders in Skandinavien und Amerika, geübt und, noch zu zaghaft, in Deutschland erstrebt. Die Handarbeit der Mädchen, die zum festen Lehrplan gehört, hat seit kurzem ihre Ziele und Wege handwerklich und künstlerisch reformiert.[17] Um die Einführung der Handarbeit für Knaben als Werkunterricht auf den Unterstufen und als gediegene Handfertigkeit für die älteren Schüler kämpft der Deutsche Verein für Knabenhandarbeit (Sitz Leipzig) unter seinem Vorsitzenden E. von Schenckendorff.

Um den Sinn der Kinder auf Form und Farbe zu richten, wendet man dem Bau des Schulhauses und der Ausstattung der Schulzimmer wachsende Sorgfalt zu. War früher das Schulhaus oft der nüchternste, ja ödeste Bau in der ganzen Gemeinde, so sucht man jetzt in Stadt und Land das Haus und seine Räume ansprechend, einladend, freundlich und farbig zu bilden; oft ohne erhebliche Mehrkosten, nur durch den Geschmack berufener künstlerischer Kräfte.[18] Einzelne Schulbauten gehören zu den besten Schöpfungen unserer führenden Architekten. In der deutschen Unterrichtsabteilung auf der Weltausstellung in Brüssel zeigten wir die geschmackvollsten Schulzimmer nach der Zeichnung bester Raumkünstler.

In die freie Kunst soll der Wandschmuck einführen, der für Schule und Haus zu wohlfeilen Preisen geschaffen worden ist. Nachbildungen bester Kunstwerke alter und neuer Meister, Gemälde, Zeichnungen und Bildwerke, stehen neben farbigen Originalbildern heutiger Künstler, die meist für Steindruck eigenhändig gezeichnet worden sind. Ob diese Bilder, im Schulhaus aufgehängt, lediglich durch sich selber wirken sollen, oder ob der Lehrende diese und andere Kunstwerke durch vorsichtige, geschmackvolle Erläuterung den Kindern nahe bringen soll, wird viel erörtert. Hier wie bei allem, was die Kunst berührt, kommt es letzten Endes auf die Persönlichkeit an. Bilderbücher und Spielzeug neuerer Art möchten in der Kinderstube in gleichem Sinne wirken.

Schwerer als die Schuljugend ist das Volk in seinen weiteren Schichten zu fassen. Es gibt Idealisten, die auf eine Erneuerung der alten Volkskunst hoffen, wie sie einst das Volk besonders auf dem Lande übte; darauf ist leider im Zeitalter der Zeitungen wenig Aussicht. Auch der Dilettantismus wird sich in die Bahnen besseren Geschmackes leiten lassen, wie ein Teil neuerer Frauenarbeit bekundet; aber einer Ausbreitung, namentlich in der Männerwelt, ist die Zeit wenig günstig. Erfreuliche Versuche macht in Hamburg die Gesellschaft Hamburgischer Kunstfreunde.[19] Auch die Führungen in den Museen werden immer nur einzelnen Hörern zu selbständigem Erfassen der Probleme verhelfen können und nur wenigen zugute kommen. Dagegen soll man nicht unterschätzen, wie viel auf diesen und anderen Wegen, durch Vorträge, Volksabende, populäre Kunstausstellungen, billige und gute Bilder, durch Geschmack in den Aufgaben des täglichen Lebens, den Drucksachen, den Schaufenstern, vor allem in den Werken des Kunstgewerbes, der Baukunst und der öffentlich sichtbaren freien Künste langsam, aber stetig an neuen Massstäben für Form und Farbe hingestellt und verbreitet wird. In diesem weiteren Sinne betrachtet, stellt die Kunstpflege immer neue Ziele und bietet für die ernste Mitarbeit vielen Kräften Raum, den Einzelnen wie den Gemeinschaften. Wer die Sehnsucht der Volksschichten kennt, die sich heute durch eine tiefe Kluft von den sogenannten Gebildeten getrennt fühlen, darf auch die wohlverstandene Kunst für eine Brücke ansehen, die zu schlagen und auszubauen eine soziale Pflicht ist. Dann mögen der hoffnungslose künstlerische Unverstand und üble Wille, denen man oft in den oberen Schichten begegnet, sich selber überlassen bleiben.

[170] 5. Die Organe der Kunstpflege für die genannten Aufgaben sind, zum Glück gerade in Deutschland, äusserst mannigfach. Das letzte Ziel ist, den guten Geschmack wieder, wie vor alters, zu etwas Selbstverständlichem zu machen und auf allen Gebieten den Künstlern freie Bahn zu schaffen. Das würde geschehen, wenn jede Instanz, die ihrem Tun einen sichtbaren Ausdruck zu geben hat, für die richtig aufgefasste Kunst gewonnen wäre. Heute bauen Staaten und Gemeinden, Landschaften und einzelne Behörden; es wäre weder möglich noch erwünscht, ihr Tun zu zentralisieren. Ein Teil der Aufgaben der Kunstpflege berührt sich mit dem Unterricht und der Wissenschaft; es ist deshalb verständlich, dass die oberste Verwaltung der Kunst den Unterrichtsministerien eingegliedert ist. In Frankreich bilden darin die Beaux-arts eine besondere, grosse Abteilung; ja im Jahre 1882 hat man es einige Monate lang mit einem eigenen Minister der schönen Künste versucht. Die Interessen des Kunstgewerbes berühren sich andererseits vielfach mit dem Gewerbe und sind deshalb an einigen Stellen, wenigstens nach der handwerklichen Seite hin, den Gewerbeministerien zugewiesen. Dass die Pflege der Kunst an den öffentlichen Bauwerken sich aus der staatlichen Bauverwaltung und den Ministerien der öffentlichen Arbeiten nicht wohl abzweigen lässt, braucht man nicht zu bedauern, so lange diese Instanzen die künstlerischen Forderungen der Zeit verstehen. Es bleibt jedoch zu erwägen, ob es noch zeitgemäss ist, dass alle Bauten ausschliesslich oder überwiegend von den Baubeamten entworfen werden, oder ob nicht diese wichtigsten und nachhaltigsten Äusserungen der Kunst eines ganzen Volkes mehr als bisher dem Wettbewerb aller künstlerischen Kräfte, der Auslese der Besten, zugänglich gemacht werden sollten.

6. Wenn bisher vorwiegend von den bildenden Künsten die Rede war, so liegt das daran, dass diese der Öffentlichkeit die bedeutendsten Aufgaben stellen und deshalb das Versuchsfeld für die ganze Kunstpflege geworden sind. Für die Musik unterhalten einzelne Staaten Lehranstalten wie für die bildende Kunst; das Conservatoire de musique in Paris datiert aus den Jahren 1784 und 1792; in Berlin steht die Kgl. Hochschule für Musik neben der Hochschule für die bildenden Künste; die grosse Mehrzahl der Konservatorien indes gehört Vereinen oder Privaten. Mit dem Gesangs- und Musikunterricht in den Schulen beschäftigt sich neuerdings ein musikpädagogischer Kongress. Dem Volksliede und dem volkstümlichen Chorgesang widmet der deutsche Kaiser ein tätiges Interesse. Erfreuliche Aufnahme finden die vielerlei Bemühungen, den breiteren Kreisen des Volkes gute Musik vorzuführen und nahe zu bringen.

Noch wird vorwiegend nur privat gefördert, was für die Schulung des rhythmischen Gefühls in Musik und Tanz von verschiedenen Seiten (Dalcroze, Isadora Duncan u. a.) begonnen worden ist. Man darf hier auch die Versuche zu einer künstlerischen Belebung der Gymnastik begrüssen.[20]

Die Kunst der Bühne liegt in Deutschland zum Teil noch in der Hand der Hofverwaltungen und ist der staatlichen Kunstpflege entrückt. Tatkräftig sorgt eine Reihe deutscher Städte für ihre Theater und versucht verschiedene Wege, um sie zugleich künstlerisch und wirtschaftlich zu sichern. Doch bedarf die Bühne des freien Spiels der Kräfte.

Die kleinste Angriffsfläche für die Kunstpflege bietet die Dichtkunst. Die Schulmänner haben sich neuerdings vielfach mit der Behandlung der Dichtwerke in der Schule befasst.[21] In den Vordergrund aber rückt die Frage, wie sich gute und wohlfeile Literatur in das Volk tragen und der Schund mit allen seinen Gefahren bei den Erwachsenen und bei der Jugend bekämpfen lässt. Es ist erfreulich festzustellen, dass alle diese Probleme, die zum Teil hier nur angedeutet werden konnten, nirgend gründlicher und begeisterter erörtert und in Tat umgesetzt werden als im heutigen Deutschland. Unter den Vorkämpfern für eine künstlerische Kultur dürfen Dr. Ferdinand Avenarius und sein „Kunstwart“ nicht ungenannt bleiben.[22]





  1. Dupré et Ollendorf, Traîte de l’administration des beaux-arts. Paris 1885. – Larroumet, L’art et l’état en France. Paris 1895.
  2. Hans Müller, Die Kgl. Akademie der Künste in Berlin 1696–1896. Berlin 1896.
  3. W. O. Dressler, Kunstjahrbuch, 7. Jahrgang. Rostock 1913 (wird fortgesetzt).
  4. Heinrich Waentig, Wirtschaft und Kunst. Jena 1909.
  5. G. Kerschensteiner, Organisation und Lehrpläne der obligatorischen Fach- und Fortbildungsschulen in München. München 1910.
  6. Herm. Muthesius, Stilarchitektur und Baukunst. 2. Aufl. Mühlheim a. Ruhr 1903.
  7. A. v. Wussow, Die Erhaltung der Denkmäler in den Kulturstaaten der Gegenwart. Berlin 1885.
  8. H. Lezius, Das Recht der Denkmalpflege in Preussen. Berlin 1908. – K. Heyer, Denkmalspflege und Heimatschutz im deutschen Recht. Berlin 1912. – F. W. Bredt, Die Heimatschutzgesetzgebung der deutschen Bundesstaaten. Düsseldorf 1912.
  9. H. Conwentz, Die Gefährdung der Naturdenkmäler und Vorschläge zu ihrer Erhaltung. 3. Aufl. Berlin 1905.
  10. Dressler a. a. O. – V. Scherer, Deutsche Museen. Jena 1913.
  11. A. Lichtwark, Die Organisation der Kunsthalle in Hamburg. Hbg. 1887.
  12. Die Museen als Volksbildungsstätten. Ergebnisse der 12. Konferenz der Zentralstelle für Arbeiterwohlfahrtseinrichtungen. Berlin 1904.
  13. Vgl. Museumskunde, Zeitschrift für Verwaltung und Technik öffentlicher und privater Sammlungen, hrsg. von Koetschau. Berlin 1905 ff.
  14. Die künstlerische Erziehung der deutschen Jugend. Darmstadt 1893.
  15. Kunsterziehung. Ergebnisse und Anregungen des Kunsterziehungstages in Dresden 1901. Leipzig 1902.
  16. Waentig a. a. O.
  17. Margot Grupe, Die neue Nadelarbeit. Berlin 1910. – Aus der Praxis der Knaben und Mädchenhandarbeit, hrsg. L. Pallat. Leipzig, seit 1910.
  18. Das Schulhaus. Zentralorgan für Bau, Einrichtung und Ausstattung der Schulen. (Seit 1899) Charlottenburg, Schulhausverlag.
  19. Lichtwark, Wege und Ziele des Dilettantismus, und andere Schriften.
  20. 3. Kunsterziehungstag in Hamburg 1905.
  21. 2. Kunsterziehungstag in Weimar 1903.
  22. Weitere Literatur, die hier nicht mehr aufgeführt werden kann, findet man in der Bibliothek des Kgl. Kunstgewerbe-Museums in Berlin.