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Kunst und Moral

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Autor: Oscar Wilde
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Titel: Kunst und Moral
Untertitel:
aus: Die Fackel, Doppel-Nummer Nr. 272—273, X. Jahr, S. 5–25
Herausgeber: Karl Kraus
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 15. Februar 1909
Verlag: Die Fackel
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Erscheinungsort: Wien
Übersetzer: Leo Ronig
Originaltitel:
Originalsubtitel:
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Austrian Academy Corpus: AAC-FACKEL Online Version: »Die Fackel. Herausgeber: Karl Kraus, Wien 1899-1936«
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Kunst und Moral.


[5] Briefe von Oskar Wilde.


Vorbemerkung des Übersetzers: Im letzten Drittel des Juni 1890 erschien Wildes »Dorian Gray« in ‚Lippincott’s Magazine‘; noch in demselben Monat brachten zahlreiche angesehene Tagesblätter und Zeitschriften Besprechungen des Werkes, und in seinem Briefe vom 13. August spricht Wilde bereits von zweihundertsechzehn Kritiken, die von seinem Schreibtisch in den Papierkorb gewandert seien. Nur wenige dieser Beurteiler wagten das Werk ohne starke Einschränkungen zu loben. Die übergroße Mehrzahl der Kritiker erhoben ihre Stimmen gegen den Autor in allen Tonstärken von würdevoller Mißbilligung bis zum wütenden Geschrei. Seine künstlerische Erwiderung auf diese Kritiken mag man in dem Vorwort zu der etwa ein Jahr später erschienenen Buchausgabe finden. Damals jedoch holte sich Wilde zwei der ärgsten Schreier, den der ‚St. James’s Gazette‘ und den des ‚Daily Chronicle‘, heraus und erwies ihnen die Ehre, sie zu widerlegen.

»Ihr Kritiker», schreibt er der ‚St. James’s Gazette‘[1], »beginnt [6] damit, mich mit lächerlicher Heftigkeit anzugreifen, weil die Hauptpersonen meiner Geschichte Gecken seien. Jawohl; sie sind Gecken. Glaubt er, daß die Literatur auf den Hund gekommen ist[2], als Thackeray über das Geckentum schrieb? Ich halte dafür, daß Gecken vom künstlerischen ebenso wie vom psychologischen Standpunkt höchst interessant sind. Sie scheinen mir für alle Fälle weit interessanter als Pedanten, und ich bin der Ansicht, daß Lord Henry Wotton ein vortreffliches Korrektiv für das hohle Ideal bildet, das in den halbtheologischen Romanen unserer Zeit dargestellt wird. — Ihr Kritiker macht ferner unbestimmte und drohende Anspielungen auf meine Grammatik und meine Gelehrsamkeit. Was die Grammatik betrifft, so bin ich der Meinung, daß, zum mindesten in der Prosa, die Korrektheit stets der künstlerischen Wirkung und der musikalischen Kadenz untergeordnet werden muß. Absonderlichkeiten des Syntax, die im ‚Dorian Gray‘ etwa vorkommen mögen, sind daher wohl beabsichtigt und dienen nur zur Betätigung dieser künstlerischen Theorie.« Weiterhin: »Ihr Kritiker, wenn ich ihm diesen ehrenvollen Titel zuerkennen darf behauptet, daß die Menschen meiner Erzählung kein Vorbild im Leben haben, daß sie, um mich seiner starken, wenn auch ziemlich plumpen Ausdrucksweise zu bedienen, ‚Schundliteratur und Darstellungen des Nichtexistierenden‘ sind. Ganz richtig. Wenn sie existierten, so wäre es nicht der Mühe wert, über sie zu schreiben. Die Aufgabe des Künstlers ist es, zu erfinden, und nicht, zu registrieren. Es gibt keine solche Menschen. Wenn es deren gäbe, würde ich nicht über sie schreiben. Das Leben verdirbt durch seinen Realismus stets der Kunst ihren Gegenstand. Der höchste Genuß des Dichters ist es, das Nichtexistierende zu gestalten«. Und ferner: »Es ist wohlgetan, der Tat Schranken zu setzen. Es ist nicht wohlgetan, der Kunst Schranken zu setzen. Der Kunst gehören alle Dinge, die sind, und alle Dinge, die nicht sind, und selbst der Herausgeber einer Londoner Tageszeitung hat nicht das Recht, die Freiheit der Kunst in der Wahl ihres Gegenstandes zu beschränken«.

Noch einem dritten Blatte erwiderte Wilde: dem ‚Scots Observer‘. Dessen Kritik war allerdings, verglichen mit den andern, ziemlich maßvoll und durch Komplimente für den Autor gemildert; [7] aber sie scheint Wilde besonders nahe gegangen zu sein, wohl deshalb, weil der Herausgeber der von ihm sehr geschätzte Dichter W. E. Henley war. In diesem Blatte setzt sich Wilde auch mit einigen jener Zuschriften aus dem Leserkreise auseinander, die die englischen Blätter — eine gute und nachahmenswerte Sitte — immer dann empfangen und abdrucken, wenn irgend eine Sache die öffentliche Meinung stärker erregt. Ich führe neben den Zunftkritiken auch diese Laienurteile hier an, zum besseren Verständnis der Erwiderungen Wildes, und weil ich glaube, daß sie einen interessanten Beitrag bilden zur Charakteristik des Engländers der Intelligenzklassen, seiner gesunden Lebensanschauung, seines prächtigen Humors und seiner Beschränktheit in gewisser Richtung.

Eines darf billigerweise nicht unbetont bleiben: Wenn wir Wildes Erwiderungen kennen, so danken wir dies der Ehrlichkeit eben der Zeitungen, gegen die sie sich wendeten, und die sie unverkürzt abdruckten. Die ‚St. James’s Gazette‘ hat zum Beispiel selbst eine Stelle wie diese: »Zu sagen, daß ein Buch wie das meinige ‚ins Feuer geworfen werden sollte‘, ist einfältig. Das tut man mit Zeitungen«, nicht unterdrückt. Es gibt Länder, wo das anders gewesen wäre. — Und derselbe ‚Daily Chronicle‘, der den »Dorian Gray« am brutalsten angriff, war später das einzige Blatt, das dem aus dem Gefängnis entlassenen, geächteten Dichter Raum gab für jene Briefe über den »Fall Martin« und über die Gefängnisreform, die neben »De Profundis« als ein Denkmal des Menschen Wilde vor uns stehen. Leo Ronig.



Kritik des ‚Daily Chronicle‘ vom 30. Juni 1890.

Langeweile und Schmutz sind die Hauptzüge der letzten Nummer von ‚Lippincott’s Magazine‘. Das unsaubere, allerdings unleugbar auch amüsante Element wird durch Oskar Wildes Erzählung »Das Bildnis des Dorian Gray« beigesteuert. Es ist ein Werk, bei dem die Aussatzliteratur der französischen Décadence Pate gestanden hat, ein giftiges Buch, dessen Atmosphäre verpestet ist von den mephitischen Dünsten seelischer und moralischer Fäulnis, eine mit perversem Behagen ausgeführte Darstellung des körperlichen und geistigen Verfalles eines jungen, schönen und vornehmen Mannes — ein Buch, das furchtbar und faszinierend sein könnte, wären nicht seine weibische Frivolität, seine gesuchte Unaufrichtigkeit, sein theatralischer Zynismus, seine seichtgeschwätzige Philosophie, sein angeschminkter Mystizismus und jene klebrige Sauce preziös tuender Vulgarität, die über den ganzen ausgeklügelten Ästhetizismus des Herrn Wilde und über seine aufdringliche, billige Wissenschaftlichkeit gegossen ist. Herr Wilde sagt, sein Buch habe »eine Moral«. Soweit wir diese Moral heraus [8] finden können, ist es die, daß es der vornehmste Daseinszweck des Menschen ist, seine Natur dadurch zur Vollendung zu entwickeln, daß er »stets nach neuen Sensationen sucht«, daß, wenn die Seele erkrankt, das Mittel zu ihrer Heilung darin besteht, »den Sinnen nichts zu verweigern« — denn nichts, sagt eine von Wildes Gestalten, Lord Henry Wotton, »nichts kann die Seele heilen, als die Sinne, ebenso wie nichts die Sinne heilen kann, als die Seele«. Der Mensch ist halb Engel, halb Affe, und Wildes Buch ist nutzlos, wenn es nicht dazu dient, die »Moral« einzuprägen, daß man, wenn man sich zu engelhaft fühlt, nichts besseres tun kann, als eiligst ein Tier aus sich zu machen. Es gibt nicht eine gute und reine Regung der menschlichen Natur, fast keine Veredelung des Gemütes oder des Instinktes, die im Laufe der Jahrhunderte durch Zivilisation, Kunst und Religion als Teil der Scheidewand zwischen Mensch und Tier in uns entwickelt worden, die nicht im »Dorian Gray« der Lächerlichkeit und der Verachtung preisgegeben würde — wenn anders solche starke Wirkungen der windigen Leichtfertigkeit und wortgewandten Anmaßung des Herrn Wilde überhaupt zugeschrieben werden können. Sein gewaltsamer Versuch, am Ende des Buches eine »Moral« zusammenzustoppeln, ist vom künstlerischen Standpunkt plump und roh, denn der Tod des Dorian Gray fällt aus dem Rahmen der ganzen Geschichte heraus. Dorians einziges Bedauern ist, daß zügelloses Schwelgen in jeder Art geheimen und unnennbaren Lasters, in allen Genüssen des Luxus und[WS 1] der Kunst und — was die entnervten Modejünglinge, deren Leben der »Dorian Gray« zu beschreiben vorgibt, noch mehr reizt — in ekelhaftestem Schmutz und Unrat — sein Bedauern ist also, was? Daß alles dies Linien vorzeitigen Alters und abstoßender Verlebtheit in sein hübsches Gesicht zeichnen könnte, in das Gesicht, dessen rosige Schönheit von der Art ist, die Jünglinge seiner widerwärtigen Gattung den paralytischen Patriziern des byzantinischen Kaiserreiches teuer machte. Dorian Gray betet also, daß sein Porträt, gemalt von einem Künstler, der von ihm schwärmt, wie Männer von Mädchen schwärmen, die ihre Geliebten sind, daß dieses Porträt an Stelle des Originals alt werden möge. Dies geschieht denn auch durch die Einwirkung einer übernatürlichen Macht, deren Auftreten durchaus possenhaft ist; Dorian erfreut sich Jahr um Jahr unverwelklicher Jugend und könnte bis in die Ewigkeit fortfahren, straflos seine Sinne dazu zu gebrauchen, »seine Seele zu heilen« und die englische Gesellschaft mit der moralischen Verpestung zu besudeln, von der er durchdrungen ist, wenn nicht etwas dazwischen käme. Das ist sein plötzlicher Impuls, nicht nur den Maler zu ermorden — was künstlerisch damit verteidigt werden könnte, daß es nur eine Weiterentwicklung seines Lebensprinzipes ist, jede Art von Erlebnis auszukosten — sondern auch das Bild wütend mit dem Dolch zu durchbohren, weil es, obgleich er sich dazu herbeigelassen hatte eine gute Tat zu tun, von seiner Abscheulichkeit nichts verloren hatte. Dies ist aber ganz unvereinbar mit dem kalten, berechnenden, gewissenlosen Charakter des Dorian Gray, den Wilde ziemlich logisch in seinem »neuen Hedonismus« entwickelt hat. Der Autor beendigt dann seine Geschichte damit, daß er uns erzählt: »Die Dienerschaft eilte herbei, als sie einen schweren Fall [9] hörte, und fand das Bild an der Wand in voller Jugendlichkeit strahlend, während seine greisenhafte Häßlichkeit auf den Elenden übergegangen war, der mit durchbohrtem Herzen auf dem Fußboden lag». — Das ist eine Talmi-Moral, wie denn alles in dem Buche Talmi ist, bis auf das eine Element, daß jedes junge Gemüt, das mit ihm in Berührung kommt, unheilvoll beeinflussen muß. Dieses Element ist die mit einschmeichelnder Logik verfochtene Berechtigung des Appells an die Sinne, »die Seele zu heilen«, wenn diese Seele unter zu großer Reinheit und Selbstverleugnung leidet.



Wildes Erwiderung.

An den Herausgeber des ‚Daily Chronicle‘.

Geehrter Herr!

Gestatten Sie mir einige Irrtümer zu korrigieren, die Ihrem Kritiker in seiner Besprechung meiner Erzählung »Das Bildnis des Dorian Gray« unterlaufen sind.

Ihr Kritiker behauptet vorerst, daß ich einen gewaltsamen Versuch mache, am Schluß meiner Erzählung eine Moral »zusammenzustoppeln«. Ich muß gestehen, daß ich nicht ganz genau weiß, was unter »zusammenstoppeln« zu verstehen ist. Es ist jedoch nicht meine Absicht, hier in eine Untersuchung einzelner Ausdrücke des modernen Journalistenjargons einzugehen. Ich will lediglich folgendes sagen: Weit entfernt, irgend eine Moral in meiner Erzählung hervorheben zu wollen, war meine einzige Sorge bei ihrer Verfassung vielmehr nur, die sich von selbst aufdrängende Moral gegen die künstlerische und dramatische Wirkung zurückstehen zu lassen.

Als die Idee der Darstellung eines jungen Mannes, der seine Seele gegen ewige Jugend verkauft — eine Idee, die alt ist in der Literatur, der ich aber eine neue Form gegeben habe — in mir auftauchte, fühlte ich sofort, daß es schwer sein würde, die Moral so im Hintergrunde zu halten wie es vom ästhetischen Standpunkt aus nötig ist; und ich bin noch immer nicht gewiß, ob mir das auch zufriedenstellend gelungen ist. Ich halte die Moral für zu offenkundig. Wenn die Erzählung in Buchform erscheint, hoffe ich diesen Mangel beseitigen zu können. [10] Was nun die Frage betrifft, worin die Moral besteht, so behauptet Ihr Kritiker, sie bestehe darin, daß, wenn ein Mensch fühle, daß er zu engelhaft werde, er »eiligst ein Tier aus sich machen« solle. Ich kann nicht sagen, daß mir dies eine Moral zu sein scheint. Die Moral der Erzählung ist in Wahrheit die, daß jede Ausschreitung ebenso wie jede Selbstverleugnung ihre Strafe nach sich zieht. Diese Moral ist mit künstlerischer Absicht so verborgen, daß sie nirgends als Gesetz ausgesprochen erscheint, sondern sich nur in den Schicksalen der handelnden Personen ausdrückt und derart lediglich ein dramatisches Element in einem Kunstwerk darstellt, und nicht den Zweck dieses Kunstwerkes selbst.

Ihr Kritiker begeht ferner einen Irrtum, wenn er sagt, daß es »unvereinbar mit dem kalten, berechnenden, gewissenlosen Charakter des Dorian Gray« sei, das Bild seiner Seele zu zerstören, bloß weil es nichts an seiner Häßlichkeit verlor, als er in seiner Eitelkeit sich schmeichelte, seine erste gute Tat getan zu haben. Dorian Gray ist keineswegs ein kalter, berechnender, gewissenloser Charakter. Er ist im Gegenteil ungemein impulsiv, töricht romantisch und wird sein ganzes Leben hindurch von einem überempfindlichen Gewissen gequält, das ihm seine Vergnügungen vergällt und ihn ermahnt, daß Jugend und Genuß nicht alles in der Welt sind. Und gerade um dieses Gewissen los zu werden, das ihm unablässig auf Schritt und Tritt nachgeht, zerstört er das Bild. Indem er also versucht, das Gewissen zu töten, tötet Dorian Gray sich selbst.

Ihr Kritiker spricht sodann von »aufdringlich billiger Wissenschaftlichkeit«. Nun, was immer ein wissenschaftlich gebildeter Mann schreiben möge, so wird er Wissenschaftlichkeit erkennen lassen in der Vornehmheit seines Stils und in der sorgfältigen Wahl seiner Worte. Aber meine Erzählung enthält keine gelehrten oder pseudo-gelehrten Gespräche, und die Bücher, deren darin Erwähnung geschieht, sind [11] nur solche, von denen vorausgesetzt werden kann, daß ein Mann von Bildung sie kennt, wie zum Beispiel das »Satiricon« des Petronius Arbiter oder Gautiers »Emaux et Camées«. Bücher wie Le Consos »Clericalis Disciplina« sind nicht Gegenstand der Wissenschaft, sondern der Liebhaberei. Es kann niemandem ein Vorwurf daraus gemacht werden, daß er sie nicht kennt.

Zum Schlusse nur noch dies: Die ästhetische Bewegung hat gewisse eigenartige, zartduftige, durch ihren beinahe mystischen Ton faszinierende Farbenmischungen hervorgebracht. Sie waren und sind unsere Reaktion gegen die rohen Primärfarben einer zweifellos ehrbareren, aber sicherlich minder kultivierten Zeit. Meine Erzählung ist eine Studie dekorativer Kunst. Sie reagiert gegen die rohe Brutalität des deutlichen Realismus. Sie ist giftig, wenn Sie wollen, aber Sie können nicht leugnen, daß sie auch vollkommen ist, und Vollkommenheit ist es, was der Künstler anstrebt.

Ich bin, geehrter Herr, Ihr hochachtungsvoll ergebener O. W.

16, Tite Street, 30. Juni 1890.



In seiner Nummer vom 5. Juli 1890 schreibt der »Scots Observer«:

Warum in Düngerhaufen wühlen? Die Welt ist schön, und die Majorität gesund gearteter Männer und ehrenhafter Frauen über die Angefaulten, Unnatürlichen und Gefallenen ist groß. Oskar Wilde hat wieder einmal ein Ding geschrieben, das besser ungeschrieben geblieben wäre. Wohl ist seine Erzählung »Das Bildnis des Dorian Gray« originell, interessant, voll Geist und zweifellos das Werk eines begabten Schriftstellers; aber sie ist ein Werk falscher Kunst, denn ihr Held ist ein Teufel; und sie ist ein Werk falscher Moral, denn es geht nicht genügend klar daraus hervor, ob der Autor nicht ein Leben widernatürlichen Lasters einem Leben der Gesundheit, Reinheit und Kraft vorzieht. Die Erzählung — die Gegenstände behandelt, welche nur für die Kriminalgerichtsbarkeit oder für die Besprechung in camera geeignet sind — macht dem Autor eben so wenig Ehre wie dem Verleger. Herr Wilde hat Geist, Talent und Stil; aber wenn er nur für deklassierte Lebemänner und perverse Kellnerjungen schreiben kann, so wäre es, je eher er sich der [12] Schneiderei[3] (oder einem anderen ehrenhaften Berufe) zuwendet, desto besser für seinen Ruf und für die allgemeine Sittlichkeit.



Wildes Erwiderung.

An den Herausgeber des ‚Scots Observer‘.

Geehrter Herr!

In Ihrem Blatte erschien dieser Tage eine Kritik meiner Erzählung »Das Bildnis des Dorian Gray«. Da diese Kritik mich als Künstler mit grober Ungerechtigkeit behandelt, bitte ich Sie, mir für mein Recht auf Erwiderung in Ihren Spalten freundlichst Raum zu geben.

Obgleich Ihr Kritiker zugesteht, daß die fragliche Erzählung »zweifellos das Werk eines begabten Schriftstellers« ist, »eines Mannes, der Geist, Talent und Stil besitzt«, so nimmt er doch an, und das offenbar in allem Ernste, daß ich es nur im Hinblick auf verbrecherische und ganz ungebildete Leser geschrieben habe. Nun glaube ich aber, daß Verbrecher und ungebildete Menschen überhaupt nichts anderes lesen als Zeitungen. Sicherlich kann von ihnen nicht vorausgesetzt werden, daß sie ein Buch wie das meinige verstehen. Lassen wir sie also beiseite, und gestatten Sie mir nur über die große Frage, warum ein Dichter überhaupt schreibt, einige wenige Worte zu sagen.

Das Vergnügen, das es gewährt, ein Kunstwerk zu schaffen, ist ein rein persönliches, und nur um dieses Vergnügens willen schafft der Künstler. Er arbeitet, alle seine geistigen Kräfte auf den Gegenstand konzentriert. Nichts anderes interessiert ihn. Was die Leute sagen werden, daran denkt er nicht einmal. Er ist fasziniert durch das Gebilde unter seinen Händen. Alles andere besteht für ihn nicht. Ich schreibe, weil es mir den denkbar größten künstlerischen Genuß gewährt, zu schreiben. Wenn mein Werk den Wenigen gefällt, bin ich erfreut. Wenn es ihnen nicht gefällt, bin ich nicht betrübt. Und was die [13] Menge betrifft, so habe ich kein Verlangen, ein populärer Schriftsteller zu werden. Es ist viel zu leicht.

Ihr Kritiker begeht den ganz unverzeihlichen Fehler, den Künstler mit seinem Gegenstande zu vermengen. Für diesen Fehler gibt es überhaupt keine Entschuldigung. Von dem Manne, der die größte Erscheinung der Weltliteratur seit den Tagen der alten Griechen darstellt, sagt Keats, daß es ihm ebensoviel Freude machte, das Böse dichterisch zu gestalten, wie das Gute. Empfehlen Sie Ihrem Kritiker, Herr Redakteur, diesen schönen Satz Keats’ recht wohl zu beherzigen. Denn dasselbe gilt von jedem Künstler. Dieser steht entfernt von seinem Gegenstande. Er schafft ihn und betrachtet ihn. Je weiter entfernt sein Subjekt von dem Objekt ist, desto freier schafft er. Ihr Kritiker meint, daß ich es dem Leser meines Buches nicht klar genug mache, ob ich die Tugend dem Laster oder das Laster der Tugend vorziehe. Er möge sich gesagt sein lassen, daß ein Künstler überhaupt keine ethischen Sympathien oder Antipathien hat. Laster und Tugenden sind ihm einfach das, was dem Maler die Farben auf seiner Palette sind. Nicht mehr und auch nicht weniger. Er findet, daß durch ihre Anwendung eine gewisse künstlerische Wirkung hervorgebracht werden kann, und er bringt sie hervor. Jago mag vom moralischen Standpunkt scheußlich sein, und Imogen fleckenlos rein. Shakespeare hatte, wie Keats sagt, ebensoviel Freude an der Schaffung des einen wie der andern.

Um der dramatischen Entwicklung meiner Geschichte willen war es nötig, Dorian Gray mit einer Atmosphäre sittlicher Fäulnis zu umgeben. Andernfalls hätte die Erzählung keinen Sinn und die Handlung keinen Ausgang gehabt. Diese Atmosphäre vag und unbestimmt und geheimnisvoll zu halten, war die künstlerische Absicht dessen, der die Geschichte schrieb. Ich nehme für ihn in Anspruch, daß ihm diese Absicht gelang. Jeder Mensch sieht seine eigenen Sünden in Dorian Gray. Welches die [14] Sünden Dorian Grays sind, weiß niemand. Der, der sie findet, hat sie mitgebracht.

Zum Schlusse lassen Sie mich Ihnen sagen, Herr Redakteur, wie tief ich es bedauere, daß Sie einer solchen Besprechung, wie die, zu deren Zurückweisung ich mich gedrängt fühle, Aufnahme in Ihr Blatt gewährt haben. Daß der Herausgeber der ‚St. James’s Gazette‘ Caliban zum Kunstkritiker macht, ist vielleicht natürlich. Der Herausgeber des ‚Scots Observer‘ sollte nicht zugeben, daß Thersites in seinem Blatte Grimassen schneidet. Es ist eines so hervorragenden Schriftstellers unwürdig.

Empfangen Sie u. s. w. O. W.

London, 16, Tite Street, 9. Juli 1890.



Hiezu bemerkt das Blatt:

Es war nicht zu erwarten, daß Herr Wilde mit seinem Kritiker über den künstlerischen Wert seines Werkes derselben Meinung sein werde. Es sei ihm zugestanden, daß es ihm gelungen ist, seinen Helden mit jener Atmosphäre zu umgeben, die er beschreibt. Das ist sein Lohn. Der Kritiker ist nichtsdestoweniger berechtigt, der Ansicht zu sein und sie auszudrücken, daß keine noch so geschickte Behandlung diese Atmosphäre für den Leser erträglich machen kann. Das ist seine Strafe. Zweifellos ist es das Vorrecht des Künstlers, abscheulich zu sein; aber er muß dieses Vorrecht auf seine Gefahr ausüben.

Ein Herr Charles Whibley schreibt einige Tage darauf:

Der alte Streit, hier Objekt, hier Gestaltung, dürfte fortdauern, solange Künstler und Kritiker denselben Planeten bewohnen. Und da eine endgiltige Entscheidung dieser Frage die lebhafteste und interessanteste aller Diskussionen vorzeitig abschließen würde, so wollen wir hoffen, daß eine solche Entscheidung niemals eintreten wird.

(Es folgt eine längere theoretische Erörterung, in deren Verlauf der Schreiber Maupassants »Bel Ami« und Daudets »Sapho« scharf tadelt und ihnen Dostojewskis »Verbrechen und Sühne« und Flauberts »Madame Bovary« als Beispiele künstlerischer Behandlung eines abstoßenden Stoffes entgegenhält.)

.. Die Kunst ist also unmoralisch. Wenn diese Theorie irgendwie feststeht, so scheint mir Ihre Kritik des »Dorian Gray» zu wohlwollend in ihrem Lobe und zu ungerecht in ihrer Verurteilung zu sein. Sie finden in der Erzählung Kunst und keine Moral; ich finde darin Massen von Moral und keine Kunst. Vom Anfang bis zum Ende überließ Wilde seiner Liebe zu Paradoxen die Herrschaft über seinen Sinn für Proportion. Wenn ich den Gesprächston des Lords Wotton — [15] sicherlich eines der ermüdendsten Menschen der Literatur — parodieren darf: Es gibt nichts so Langweiliges wie ein Epigramm. Und ein Roman, der aus nichts anderem besteht als aus umgestülpten Gemeinplätzen und παρά προσδοκίαν gewendeten leeren Phrasen, hat nicht mehr Recht, künstlerisch genannt zu werden, als ein Gemälde, das nur aus farbigen Punkten bestünde.[4]

Unterbricht ein Künstler den Gang seiner Erzählung mit ermüdenden Abhandlungen über Juwelen und mit öden Möbelkatalogen? Und vermeidet er nicht, wenn er einen zugestandenermaßen delikaten Gegenstand behandelt, überflüssiges Detail und exotische Sentimentalität? Wilde hat bewiesen, daß ihm der Takt und die Selbstzucht fehlen, einen Helden künstlerisch zu gestalten, der halb Jack der Aufschlitzer, halb Gaveston[5] ist. Die Aufnahme, die sein Buch gefunden hat, muß ihm übrigens besonders schmerzlich gewesen sein. Er erhebt Anspruch auf einen künstlerischen Triumph, und er wurde zum mindesten von einer religiösen Zeitschrift als Sittenreformator begrüßt. Hat es je eine unerwünschtere Apotheose gegeben?



Wildes zweite Erwiderung.

Geehrter Herr!

In einer Zuschrift, die vor einigen Tagen in Ihrem Blatte erschien und die das Verhältnis der Kunst zur Moral behandelt — eine Zuschrift, die mir in vieler Hinsicht vortrefflich zu sein scheint, insbesondere in ihrer Betonung der Freiheit des Künstlers, seinen Stoff nach Gefallen zu wählen —, sagt der Unterzeichner, Herr Charles Whibley, es müsse besonders schmerzlich für mich sein, zu sehen, daß die ethische Bedeutung des Dorian Gray von den hervorragendsten christlichen Blättern Englands und Amerikas so stark betont wird, und daß ich sogar von mehr als einem von ihnen als Sittenreformator begrüßt werde.

Gestatten Sie mir, nicht nur Herrn Charles Whibley selbst, sondern auch Ihre zweifellos besorgten Leser in dieser Hinsicht zu beruhigen. Ich zögere nicht im Geringsten zu erklären, daß ich eine solche Kritik als eine sehr willkommene Huldigung für mein Werk betrachte. Denn wenn ein Kunstwerk reichhaltig, [16] lebensvoll und vollendet ist, so werden die, die künstlerischen Sinn haben, seine Schönheit fühlen, während die, auf die das Ethische mehr wirkt als das Ästhetische, seine sittliche Lehre herausfinden werden. Es wird den Feigen mit Schrecken erfüllen, und der Unreine wird seine Schande darin sehen. Es wird jedem das sein, was er selber ist. In Wahrheit ist es der Beschauer und nicht das Leben, was sich in der Kunst spiegelt.

Und so hat denn auch im Falle des Dorian Gray der rein literarische Kritiker, wie zum Beispiel der des ‚Speaker‘, darin ein »ernstes und reizvolles Kunstwerk« gesehen; der Kritiker, der es in seiner Beziehung zur Moral betrachtet, wie zum Beispiel der des ‚Christlichen Führers‘ oder der der ‚Christlichen Welt‘, eine ethische Parabel; das ‚Licht‘, welches, wie man mir sagt, das Organ der englischen Mystiker ist, betrachtet es als »ein Werk von hoher spiritualistischer Bedeutung«; die ‚St. James’s Gazette‘, die offenbar das Organ der Lüstlinge zu sein bestrebt ist, sieht darin alle möglichen schrecklichen Dinge und empfiehlt es der Aufmerksamkeit des Staatsanwaltes; und Ihr Herr Charles Whibley sagt launig, daß er darin »Massen von Moral« finde. Es ist freilich wahr, daß er hinzufügt, er könne keine Kunst darin entdecken; aber man kann billigerweise nicht von einem Kritiker verlangen, daß er ein Kunstwerk von allen Seiten sehe. Auch Gautier hatte seine Beschränkung, ebenso wie Diderot, und in dem heutigen England sind die Goethes selten. Ich kann Herrn Charles Whibley nur die Versicherung geben, daß keine Moral-Apotheose, — der er einen höchst bescheidenen Beitrag hinzufügt — eine Ursache des Harmes für einen Künstler sein kann.

Ich bin, geehrter Herr Redakteur, Ihr sehr ergebener O. W.

16, Tite Street, Chelsea, 30. Juli 1890.



[17] Unterm 9. August 1890 erschien folgender Brief des Herrn Whibley:

Vor nicht viel länger als einem Monat tat Herr Oskar Wilde den Lesern des ‚St. James’s Gazette‘ kund, daß er infolge seines Temperaments oder seines Geschmackes oder beider durchaus nicht zu begreifen vermöge, wie man ein Kunstwerk vom moralischen Gesichtspunkte aus beurteilen könne. »Das Gebiet der Kunst und das Gebiet der Ethik«, schrieb er, »sind vollkommen getrennt und verschieden«. Nun hat aber seine Erzählung den Beifall einiger berufsmäßig frommer Blätter gefunden, und er akzeptiert die Kritik seiner neuen Verbündeten als eine »sehr willkommene Huldigung« für sein Werk. Wenn seine Erklärung in der ‚St. James’s Gazette‘, aufrichtig war, dann müßte er das Urteil eines Kritikers »der die Kunst in ihrem Verhältnis zur Tugend betrachtet« als eine sinnlose Anmaßung zurückweisen. Hat er nicht erklärt, daß »kein Kunstwerk vom moralischen Standpunkt aus kritisiert werden darf«? »Geschmack und Temperament« des »Künstlers« sind ja notorisch schwankend und unberechenbar, aber man sollte doch meinen, daß sie ein paar Wochen ohne Wechsel überdauern könnten. Aber die ‚Christliche Welt‘ läßt ihr salbungsvolles Lob auf Herrn Wilde herabträufeln, und stracks verleugnet er seine teuren Prinzipien und vermengt Ethik und Ästhetik mit einer Unbekümmertheit, die der Mrs. Grundy[6] selber würdig wäre. Wenn es der höchste Ehrgeiz jedes Künstlers ist, Seite an Seite mit dem talentierten Autor von »Wir zwei« zur Bewunderung aller derer, die sittenverbessernde Literatur lieben, auf ein Piedestal gestellt zu werden, dann hat Herr Wilde sicherlich einen großen Triumph errungen. Aber sein Erfolg mag billigerweise von jenen angezweifelt werden, die nicht der Ansicht sind, daß aufdringliche Moral die unentbehrliche Eigenschaft jedes Kunstwerkes sei.

Es scheint, daß, um die Vorzüge des »Dorian Gray« vollkommen würdigen zu können, der »rein literarische Kritiker« mit dem verschmelzen muß, der »die Kunst in ihrem Verhältnis zur Tugend betrachtet«. Weder Gautier noch Diderot wären also im Stande, dieser Aufgabe zu genügen, ohne die Mithilfe des ‚Licht‘ und der ‚Christlichen Welt‘. Und Goethe ist tot und hat den Dorian Gray nicht gekannt! Ich weiß nicht, wer mehr zu bedauern ist, der deutsche Kritiker oder der englische Moralist. Aber Herr Wilde hat den bedauernswerten Umstand in bestmöglicher Weise korrigiert: da kein Goethe da ist, um ihm Beifall zu spenden, ist er unermüdlich in der öffentlichen Belobung seines eigenen Werkes.

Ein Herr J. E. Brown untersucht, ob Wilde im »Dorian Gray« mit Rabelais oder mit Swift zu vergleichen sei, und verneint beides. Er findet ihn näher zu Zola in Bezug auf die Wahl eines abstoßenden Stoffes und in Bezug auf seine moralisierende Absicht, stellt aber Zola viel höher und führt insbesondere »La Terre« als Beispiel der kraftvollen Behandlung eines häßlichen Gegenstandes an. Er fährt dann fort:

..... Ich bin überzeugt, er meint es gut. Er ist ebenso [18] moralisch wie Zola; einer Ihrer Korrespondenten hat ja, glaube ich, bereits hervorgehoben, daß die Moral die starke Seite Wildes ist, und ich stimme diesem Urteil vollkommen zu. Die Moral ist in der Tat seine starke Seite, aber ich glaube nicht, daß die Kunst es ist. Darin rag Zola weit über ihn hinaus. Zola ist eine starke Natur, Wilde nicht. Zola meistert seinen Stoff — kann man das auch von Wilde sagen? Schriftsteller sollten sich in folgender Weise befragen oder sich befragen lassen: Bist du Rabelaisisch? Dann lache sein lautes, derbes Lachen über alles dies, und Gott befohlen! Bist du Swiftisch? Kannst du auf diesem furchtbar gefährlichen Seil tanzen, ohne zu stürzen? Bist du realistisch, Zolaisch? Ein Mann von dem Bau Zolas kann sich mit seinen Bauern in den Morast priapischer Scheußlichkeit legen und sich als ein Riese wieder daraus erheben. Nichts davon ist in ihn eingedrungen. Aber schwächere Menschen, welkere Menschen, weichere, durchlässigere Menschen — ist es geraten für sie, dasselbe zu wagen? Künstler müssen auf sich Acht haben: der Künstler hat ein moralisches Gefühl, und er muß es behüten, je ängstlicher, desto besser, wenn er nicht zu den wenigen Allergrößten zählt.

Ein mit »H.« unterschriebener Brief polemisiert gegen die von Charles Whibley in seiner Zuschrift aufgestellte Forderung, der Kritiker solle nur die künstlerische Gestaltung des Gegenstandes beurteilen und den Gegenstand selbst außer Acht lassen. «H.« erklärt dies für unmöglich, da der Gegenstand sich dem Kritiker ebenso aufdränge wie seine Behandlung. Dann kommt folgende Stelle:

Nehmen wir an, ein außerordentlich begabter Sänger trüge bei einem Konzert »God save Ireland« ungemein schön vor. Nach Herrn Whibley müßte die Kritik lauten: »Herr Jones sang eine Ballade, die seine herrliche Stimme und seinen wunderbaren Vortrag in schönstem Lichte zeigte. Sein hohes f ist von außerordentlicher Reinheit, und seine tiefen Töne klangen unendlich weich und sonor«.[7] — Nach meiner Ansicht müßte ein richtiger Kritiker sagen: »Dann begann Herr Jones uns einige miserable Verse über drei feige Mörder vorzusingen. Jeder anständige Mensch im Publikum verließ sofort den Saal. Die Konzertleitung verdient schärfsten Tadel, daß sie zugab, daß das Auditorium durch diesen schändlichen und verräterischen Vortrag beleidigt werde.«

Zum Schlusse faßt »H.« seine Ansicht dahin zusammen, der Kritiker habe selbstverständlich zuvörderst die Aufgabe, auf Kunstfehler tadelnd hinzuweisen, aber das enthebe ihn nicht der Pflicht, »Verbrechen, Roheit, Radikalismus (sic!) und Obszönität« zu verdammen, wo er sie finde.


Ein Herr J. Mac Laren Cobban schreibt:

[19] In der Kontroverse, die sich in den Spalten Ihres Blattes entwickelt hat, hat nur einer der Beteiligten den Versuch gemacht, schöpferisch zu sein. Dieser eine ist Herr Oskar Wilde, und sein Beitrag zu der Diskussion besteht nur aus einem unverschämten Paradoxon. Die verschiedenen Kritiker haben einander mit der Ochsenblase lustig und unermüdlich über den Kopf gehauen, daß es nur so knallte. Wozu der Lärm? muß man fragen. Denn es will mir scheinen, daß sie alle in ihrer Weise recht haben; der Unterschied zwischen ihnen beruht lediglich auf dem Unterschied der Gesichtspunkte, und der Streit wurzelt nur darin, daß jeder von ihnen darauf besteht, nur einen Gesichtspunkt gelten zu lassen. Das ist aber weder weise noch förderlich. Es gibt, hat immer gegeben und wird zweifellos immer geben, drei Gesichtspunkte, von denen aus ein Kunstwerk beurteilt wird: 1. Der des Künstlers. 2. Der des Kritikers. 3. Der des Publikums. Der Standpunkt des Künstlers und der des Publikums waren immer ziemlich stabil; der des Kritikers schwankt zwischen beiden und nähert sich zuweilen bis auf eine kaum merkbare Entfernung dem einen oder dem andern. Der Künstler hat stets das Recht gefordert, seinen Gegenstand zu nehmen, wo er ihn fand. Das ist sehr berechtigt von seinem Standpunkte aus, und je mehr er Künstler ist, desto mehr findet er, daß das Wichtigste in seiner Kunst und in der Kunst anderer nicht der Stoff sondern seine Gestaltung ist: diese ist es, die seine ganze Aufmerksamkeit und seine ganze Kraft in Anspruch nimmt. Das Publikum seinerseits beurteilt ein Kunstwerk vollkommen natürlicherweise nach dem einzigen Werte, den es schätzen kann, nämlich nach der Wirkung auf sich selbst. Wenn das Publikum von einem Buch, einem Stück, einem Bild getroffen, gepackt wird, wenn es zum Lachen oder Weinen, zum Mitleid oder zum Moralisieren gebracht, wenn es unterhalten oder erregt wird, dann nennt es das Buch, das Stück oder das Bild »gut«. Wie das Buch, das Stück, das Bild es angestellt haben, diese Wirkung hervorzubringen, das weiß es nicht, und danach fragt es nicht. »Stoff« und »Gestaltung«, alle die theoretischen Streitfragen der Kunst, sind ihm ebenso gleichgiltig, und mit vollem Recht; denn Kaufen und Verkaufen, Erfolg und Mißerfolg, Liebe und Heirat, das sind die Dinge, die es vor allem beschäftigen, und nicht die Kunst. Zwischen den beiden Extremen, Künstler und Publikum, bewegt sich dann der Berufskritiker und einige wenige Menschen aus dem Publikum, die ich Amateure nennen will. Diese, Kritiker und Amateure, haben nicht die intime oder esoterische Sachkenntnis des Künstlers, aber sie interessieren sich für die Kunst, und sie haben einen gewissen Geschmack und ein gewisses Urteil, mit deren Hilfe sie als Interpreten zwischen Künstler und Publikum auftreten. Aber es ist natürlich und unvermeidlich, daß auch sie ihre eigene Meinung haben. Auch sie haben noch andere Interessen im Leben als die Kunst, und ihnen wird nicht wie dem Künstler das Gefühl der überragenden Wichtigkeit der Gestaltung durch den täglichen Kampf mit ihren Schwierigkeiten aufgezwungen. Wenn ihnen also ein Kunstwerk gefällt oder mißfällt, so legen sie die Ursachen davon in einer Weise dar, wie es der Künstler nicht tun würde, und nähern sich dabei bald mehr dem Standpunkt des Künstlers, bald dem des Publikums, je nach ihrem [20] Temperament, Geschmack und Verständnis. Sie bringen Erwägungen vor, die, wir dürfen nicht sagen, der Kunst, aber der Anschauung des Künstlers von der Kunst fremd sind; sie erheben Anklagen wegen Unmoralität, und der Künstler ist erstaunt, wenn nicht erzürnt. Denn für den Künstler als Künstler gibt es nur eine Art der Unmoralität: schlechte Kunst, das heißt, schlechte Gestaltung des Stoffes.

..... Ich will jedoch nicht mit dem Kritiker rechten, obgleich er, wie mir scheinen will, mit seinen Erörterungen über die Kunst einen großen Teil der Aufmerksamkeit absorbiert, die besser der Kunst selbst zugewendet werden sollte. Denn die Kunst ist lang, aber die Kritik ist länger.


Wildes dritte Erwiderung.

Geehrter Herr!

Ich bin zu meinem Bedauern nicht in der Lage, mich mit Herrn Whibley in eine Zeitungskontroverse über die Kunst einzulassen; schon deshalb nicht, weil ich nicht die Möglichkeit habe zu beurteilen, inwieweit Herr Whibley die Befähigung zur Diskussion eines so wichtigen Gegenstandes besitzt. Ich habe von seiner Zuschrift nur Notiz genommen, weil er — wie ich überzeugt bin, ohne jede Absicht — eine Vermutung über meine persönlichen Gefühle aussprach, die ganz unzutreffend war. Er sagte, es müsse peinlich für mich sein, zu sehen, daß ein gewisser Teil der Öffentlichkeit, bestehend aus ihm selbst und den Kritiken einiger religiöser Zeitschriften, durchaus das, was er »Massen von Moral« nennt, in meiner Erzählung »Das Bildnis des Dorian Gray« finden wollte.

Da mir natürlicherweise daran liegen mußte, Ihre Leser in einer für den Literarhistoriker so wichtigen Sache von der Wahrheit zu unterrichten, legte ich in Ihren Spalten dar, daß ich jede solche Kritik als eine sehr erfreuliche Anerkennung der ethischen Schönheit des Buches betrachtete; und ich fügte hinzu, ich sei vollkommen bereit zuzugeben, daß es unbillig wäre, von jedem gewöhnlichen Kritiker zu verlangen, daß er ein Kunstwerk von jedem Gesichtspunkte aus zu würdigen wisse. Ich bin nach wie vor dieser Ansicht. Wenn jemand die künstlerische Schönheit einer Sache sieht, wird er sich vermutlich wenig um ihre moralische Bedeutung kümmern; ist [21] aber seine Natur empfänglicher für die ethischen als für die ästhetischen Wirkungen, so wird er kein Interesse für Stil, Behandlung des Gegenstandes und dergleichen haben. Es bedarf eines Goethe, um ein Kunstwerk ganz, vollkommen und allseitig zu betrachten, und ich stimme Herrn Whibley durchaus zu, wenn er sagt, es sei schade, daß Goethe den Dorian Gray nicht gelesen hat. Ich bin ganz überzeugt, daß er davon entzückt gewesen wäre, und ich kann nur hoffen, daß ein schattenhafter Verleger eben jetzt eine Geisterausgabe davon in den Elysäischen Gefilden verteilt, und daß der Einband des Exemplares, das Gautier in die Hand bekommt, mit vergoldeten Affodilen überstreut ist.

Sie könnten die Frage stellen, warum mir daran liegen sollte, daß die ethische Schönheit meiner Erzählung anerkannt werde. Darauf erwidere ich: einfach deshalb, weil sie existiert, weil sie darin ist. Die hervorragendste Eigenschaft von »Madame Bovary« ist nicht die Morallehre, die darin zu finden ist, ebenso wenig wie die hervorragendste Eigenschaft des »Salammbo« die Altertumskunde ist, die es enthält. Aber Flaubert war vollkommen im Rechte, wenn er die Unwissenheit derjenigen bewies, die das eine Werk als unmoralisch, das andere als unrichtig bezeichneten. Und nicht nur war er im Rechte im gewöhnlichen Sinne des Wortes, sondern er war künstlerisch im Rechte, was das Entscheidende ist. Der Kritiker hat das Publikum zu belehren; der Künstler hat den Kritiker zu belehren.

Gestatten Sie mir noch eine kleine Richtigstellung, und dann nehme ich Abschied von Herrn Whibley. Er schließt seine Zuschrift mit der Bemerkung, ich sei unermüdlich in der öffentlichen Belobung meines Werkes. Ich zweifle nicht, daß er mir damit eine Schmeichelei sagen wollte, aber er überschätzt wirklich meine Fähigkeit ebenso wie meine Lust zur Arbeit. Ich muß offen gestehen, daß ich durch Anlage ebensosehr wie durch Wahl außer [22] ordentlich träge bin. Kultivierter Müßigang scheint mir die angemessenste Beschäftigung des Menschen. Zeitungskontroversen jeder Art sind mir zuwider, und unter den zweihundertundsechzehn Kritiken des »Dorian Gray«, die von meinem Schreibtisch in den Papierkorb gewandert sind, habe ich nur von dreien öffentlich Notiz genommen. Eine davon war die im ‚Scots Observer‘ erschienene. Ich reagierte darauf, weil sie dem Autor eine Absicht bei Verfassung des Buches unterschob, die berichtigt werden mußte. Die zweite war ein Artikel in der ‚St. James’s Gazette‘. Er war beleidigend und ungeschlacht und schien mir eine sofortige Zurechtweisung zu erheischen. Der Ton des Artikels war eine Unverschämtheit gegen jeden Schriftsteller. Die dritte war ein schwächlicher Angriff in einem Blatte, das ‚The Daily Chronicle‘ heißt. Ich glaube, daß ich an den ‚Daily Chronicle‘ schrieb, war eine Handlung puren Übermuts. Ja, ganz sicher war es das. Ich weiß absolut nicht mehr, was in der Kritik stand. Wenn ich nicht irre, hieß es dort, der Dorian Gray sei giftig, und ich glaube, ich hielt es für höflich, aus Gründen der Alliteration darauf hinzuweisen, daß er auf alle Fälle auch genial sei. Das war alles. Die übrigen zweihundertdreizehn Kritiken habe ich nicht beachtet. Ja, ich habe kaum die Hälfte davon gelesen. Es ist sehr betrüblich, aber man wird selbst des Lobes überdrüssig.

Was nun die Zuschrift des Herrn Brown betrifft, so ist sie nur insoferne interessant, als sie einen Beweis für die Wahrheit dessen bietet, was ich oben über die Stellung der beiden Hauptarten der Kritik zueinander gesagt habe. Herr Brown sagt offen, daß er die Moral die »starke Seite« meiner Erzählung finde. Herr Brown meint es gut und hat eine halbe Wahrheit gefunden, wenn er es aber dann unternimmt, das Buch vom künstlerischen Standpunkt zu behandeln, geht er natürlich weit in die Irre. Den »Dorian Gray« auf eine Linie mit Zolas »La Terre« zu stellen ist ebenso töricht, als ob man Mussets [23] »Fortunio« auf eine Linie mit den Melodramen des Adelphitheaters stellen wollte. Herr Brown sollte es bei der sittlichen Beurteilung bewenden lassen; da ist er unbesieglich.

Herr Cobban beginnt unglücklich, indem er meinen Brief, worin ich Herrn Whibley in Bezug auf eine Tatsache berichtigte, ein »unverschämtes Paradoxon« nennt. Der Ausdruck »unverschämt« ist nicht verständlich, und der Ausdruck »Paradoxon« ist unangebracht. Es will mir leider scheinen, als ob das Schreiben an Zeitungen einen zerstörenden Einfluß auf den Stil hätte. Die Leute werden heftig, geraten ins Schimpfen und verlieren alles Gefühl für Proportion, wenn sie die seltsame journalistische Arena betreten, in welcher stets der Lärmendste das Rennen gewinnt. »Unverschämtes Paradoxon« ist nun allerdings weder heftig, noch beschimpfend, aber es ist ein Ausdruck, der für meinen Brief nicht hätte gebraucht werden sollen. Herr Cobban tut jedoch alsbald Buße für das, was offenbar nur ein Mißgriff der Manieren war, indem er das unverschämte Paradoxon als sein eigen adoptiert und auseinandersetzt, daß, wie ich vorher gesagt hätte, der Künstler ein Werk stets nur vom Standpunkt der Schönheit und der Behandlung der Form betrachte, und daß die, die keinen Schönheitssinn hätten, oder deren Schönheitssinn durch ethische Anforderungen in den Hintergrund gedrängt werde, ihre Aufmerksamkeit vor allem dem Stoffe zuwendeten und die moralische Wirkung als den Prüfstein für den Wert des Gedichtes oder des Romanes oder des Bildes ansähen, das sie zu beurteilen hätten, während der Zeitungskritiker bald den einen und bald den andern Standpunkt einnehme, je nachdem er kultiviert oder unkultiviert sei. Kurz, Herr Cobban münzt mein unverschämtes Paradoxon in eine platte Wahrheit um, und ich glaube, er tut damit ein nützliches Werk. Das englische Publikum liebt die Plattheit und sieht es gern, wenn man ihm die Dinge in platter Weise erklärt. Herr Cobban bedauert, [24] wie ich überzeugt bin, bereits den mißlungenen Ausdruck, mit dem er debutierte, ich will also nichts mehr darüber sagen. Soweit ich in Betracht komme, ist ihm vollkommen vergeben.

Und indem ich nun von dem ‚Scots Observer‘ Abschied nehme, fühle ich mich gedrängt Ihnen, Herr Redakteur, ein offenes Geständnis abzulegen. Ein guter Freund von mir, ein geistvoller und hervorragender Schriftsteller, der auch Ihnen persönlich nicht unbekannt ist, sprach die Vermutung aus, daß in dieser furchtbaren Polemik in Wirklichkeit nur zwei Personen einander gegenüber gestanden hätten, und daß diese zwei Personen der Herausgeber des ‚Scots Observer‘ und der Verfasser des »Dorian Gray« seien. Noch heute Abend beim Diner, während wir bei einer Flasche vortrefflichen Chiantis saßen, behauptete mein Freund ganz zuversichtlich, daß Sie unter angenommenen und geheimnisvollen Namen einfach nur den Ansichten der halbgebildeten Klassen unserer Stadt dramatischen Ausdruck gegeben hätten, und daß die mit »H« gezeichneten Briefe nur Ihre witzige, wenn auch etwas bittere Karikatur des Philisters darstellten, so, als ob er sie selbst gezeichnet hätte. Ich muß gestehen, daß ich selbst etwas Ähnliches gedacht habe, als ich »H« s ersten Brief las, — den, worin er dafür eintritt, daß der Maßstab für die Kunst durch die politische Überzeugung des Künstlers gegeben werden sollte, und daß, wenn man mit dem Künstler über die beste Art Irland schlecht zu regieren verschiedener Meinung sei, man verpflichtet sein solle, sein Werk schlecht zu finden. Es gibt jedoch so unzählig viele Abarten des Philisters, und Nordengland hat einen solchen festbegründeten Ruf der Ernsthaftigkeit, daß ich den Gedanken als einen des Herausgebers eines schottischen Blattes unwürdigen wieder verwarf. Ich fürchte aber nun fast, daß ich darin unrichtig urteilte, und daß Sie sich die ganze Zeit her damit unterhalten haben, kleine Puppen zu erfinden und sie zu lehren, [25] große Worte zu gebrauchen. Nun, geehrter Herr, wenn es so ist, — und mein Freund behauptet es steif und fest — so gestatten Sie mir, Sie zu der Geschicklichkeit zu beglückwünschen, mit der Sie sich jenen Mangel an künstlerischem Stil angeeignet haben, der, wie man mir sagt, unerläßlich ist für jede dramatische und lebenswahre Charakterisierung. Ich gestehe, daß ich vollständig getäuscht wurde; aber ich trage Ihnen nichts nach, und da Sie sich zweifellos weidlich ins Fäustchen gelacht haben, so gestatten Sie mir, nun laut in das Lachen mit einzustimmen, wenn es auch ein wenig auf meine Kosten geschieht. Eine Komödie ist zu Ende, wenn das Geheimnis verraten ist. Lassen Sie den Vorhang fallen und legen Sie Ihre Puppen zu Bett. Ich liebe den Don Quixote, aber ich habe kein Verlangen länger mit Marionetten zu kämpfen, wie geschickt auch die Meisterhand sei, die die Drähte regiert. Lassen Sie sie in die Schublade zurückkehren, wohin sie gehören. Zu einer künftigen Gelegenheit mögen Sie ihnen neue Etiketten aufkleben und sie zu unserer Unterhaltung wieder auftreten lassen. Sie bilden eine treffliche Truppe und machen ihre Kunststückchen vorzüglich, und wenn sie ein wenig unwirklich sind, so bin ich nicht derjenige, der gegen Unwirklichkeit in der Kunst etwas einzuwenden hat. Der Spaß war wirklich gut. Das einzige, was ich nicht verstehe, ist, warum Sie Ihren Marionetten solche außergewöhnliche und unwahrscheinliche Namen gegeben haben.

Ich bin, geehrter Herr, Ihr sehr ergebener

O. W.

16, Tite Street, Chelsea, 13. August 1890.


  1. * ) Die Briefe an diese sind bereits in einer deutschen Zeitschrift erschienen. Alle anderen erscheinen hier zum erstenmale in deutscher Sprache.
  2. *) Anspielung auf den Doppelsinn des hier für »Geck« gebrauchten Wortes »puppy«, das auch »junger Hund« bedeutet.
  3. *) Anspielung auf Wildes Propaganda für eine Reform der Kleidung. Anm. d. Übers.
  4. *) Herr Whibley wußte wohl noch nichts vom Pointillismus, der damals wohl schon erfunden, aber noch nicht Kunstmode geworden war. Anm. d. Übers.
  5. **) Begabter und übermütiger Günstling Eduards II,, der ihm in blinder Liebe zugetan war. Anm. d. Übers.
  6. *) Etwa: Frau Klatschbase, Sinnbild der urteilslosen Menge. Anm. d. Übers.
  7. *) »God save Ireland« ist ein irisches Kampflied, das drei politische Mörder glorifiziert, und es ist auf den Durchschnittsengländer berechnete grimmigste Ironie von Seite »H.s«, eine solche Kritik für möglich zu halten. Zu erinnern ist auch, daß Wilde Irländer war. Anm. d. Übers.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: uud