Kriegsbriefe eines neutralen Offiziers/Streifzug in den Sundgau
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Geschäftliche Angelegenheiten und der Drang, einmal etwas vom wirklichen Kriegszustande zu sehen, führten mich am 18. September aus der schweizerischen Grenzstadt am Rhein in den Sundgau. Die Durchlaßbestimmungen für den Grenzverkehr sind in der letzten Zeit sehr verschärft worden. Das habe auch ich erfahren. Ausgerüstet mit einem behördlichen Passierschein, meldete ich mich an der Landesgrenze bei St. Ludwig, sicher, damit durchzukommen. Der Passierschein wird aber von dem deutschen Grenzwächter als ungenügend zurückgewiesen. Es fehlt noch die Genehmigung einer andern Amtsstelle. Also: für einmal abgeblitzt! Lehre: Unterschätze nie die Pünktlichkeit und das Pflichtgefühl eines deutschen Beamten. Also zurück in die Stadt und das Versäumte nachgeholt. Einige Stunden später versuche ich den Durchpaß nochmals. Nun geht’s. Zu Fuß erreiche ich das langgestreckte St. Ludwig. Der erste militärisch gekleidete Mensch ist ein verwundeter deutscher Infanterist in der grauen Felduniform. Er schlendert, hier und dort freundlich und achtungsvoll begrüßt von einem Bekannten, durch die Dorfstraße. Der [4] weiße Verband am Kopfe und die käsgelbe Gesichtsfarbe zeigen, daß seine Wiederherstellung noch nicht vollständig ist. Bald, in wenig Wochen jedenfalls, wird er wieder im Felde stehen ...
Am alten Bahnhof weht über einem außer Betrieb gesetzten Dienstgebäude die weiße Fahne mit dem roten Kreuz. Diese Sanitätsanstalt scheint aber noch nicht benützt zu sein, weit und breit kein lebendes Wesen. Weiter geht’s zum noch unvollendeten neuen Bahnhof. Beim Grenzwachtposten hatte ich erfahren, daß täglich in jeder Richtung vier Züge von St. Ludwig nach Mülhausen und weiter nach Straßburg fahren, je zwei vormittags und nachmittags. Am Schalter teilt man mir mit, daß der nächste Zug in zwei Stunden abfährt. Also zurück ins Dorf und die Zeit genützt. Vor einigen Häusern sitzen ältere beschäftigungslose Einwohner mit mißvergnügten Gesichtern. Junge Leute, aus einem andern Zeitalter geboren und in anderen Verhältnissen aufgewachsen, ziehen mit frohen Mienen durch die Straßen und streben einer neuen saubern Bierkneipe zu. Morgen vielleicht erwartet sie schon der Einberufungsbefehl. Da heißt’s, das Heute noch froh genießen.
Militär ist wenig zu sehen in St. Ludwig. Die schwarz-weiß-rote Fahne, die aus einem schönen Gebäude heraushängt, zeigt, daß irgend ein Stab, wohl ein Etappen- oder Territorialkommando, sich hier befindet. Ab und zu saust ein Landwehr-Radfahrer, den Karabiner umgehängt, [5] mit einer Meldung vorbei. Alle tragen die feldgraue Uniform.
Ich trete in die Bierwirtschaft ein, in die ich vorhin die jungen Burschen habe verschwinden sehen. Drinnen sitzen einige Soldaten. Ein blutjunger baumlanger Kerl, mit ausgesprochener Basler Mundart, erhebt sich – es will nicht enden, bis die Hünengestalt sich emporgereckt – und verläßt nach einigen Worten mit seinen Kameraden den Raum. Ein Kriegsfreiwilliger? Es ist zu glauben. Denn der Bursche zählt gewiß noch keine zwanzig Jahre.
Ein Radfahrer unterhält sich längere Zeit mit einem älteren Unteroffizier, der eine überaus schmucke Friedensuniform trägt, also nicht mehr an die Front muß. Nachdem sich der Unteroffizier endlich entfernt hat, setze ich mich, in der Hoffnung, etwas aus dem Kriegsleben zu erfahren, zu dem Landwehr-Radfahrer hin, der auf der Achselklappe die Nummer 109 trägt, die Nummer also des Landwehr-Infanterieregiments, das bei Tagsdorf gefochten hat. Die angebotene Zigarre wird gerne angenommen, der Mann wird bald zutraulich, zeigt mir sein Taschenbuch, worin er zur Erinnerung in späteren Zeiten die Kriegsbegebenheiten einträgt, an denen er teilgehabt hat. Als erste Notiz lese ich: „Gefecht bei Tagsdorf, 18./19. August.“ Dann folgen verschiedene Scharmützel mit französischen Kavallerie- und Infanteriepatrouillen. Dem Landwehrregiment 109, dem das Radfahrer-Detachement [6] meines Landwehrmannes zugeteilt war, war kein einziger Reiter abgegeben worden. Die Radfahrer besorgen da nicht nur den Meldedienst, sondern auch den Aufklärungsdienst. Kommt es zum Infanteriegefecht, so rücken die Radfahrer ohne weiteres in die Schützenlinie und fechten als Infanteristen.
Die Sprache meines neuen Kameraden verrät den Badener, als den er sich auch zu erkennen gibt. Sein Vater, der noch lebt, hat den Krieg von 1870/71 mitgemacht. Von seinen bisherigen Feldzugserlebnissen spricht mein Landwehrmann in ungekünstelten Worten, wie von einem Friedensdienst, ohne Aufhebens zu machen. Bei Tagsdorf, so vertraut er mir an, ging’s ganz genau so zu wie bei einem Manöver, das wir vor einigen Jahren an Ort und Stelle gemacht haben. Freudig teilt er mir mit, daß sein Regiment schon sechs Eiserne Kreuze erhalten hat, davon sind vier auf seine Kompanie gefallen. „Wenn wir Deutschen nur fest zusammenhalten, dann wird’s schon gut gehen. Man sagt zwar, viele Hunde sind des Hasen Tod, aber wir Deutschen sind halt keine Hasen.“ Mit diesen Worten reicht er mir zum Abschied die breite, rauhe, schwielige Hand, die den Arbeiter kennzeichnet.
Beinahe hätte ich über dem Gespräch den Zug versäumt. Am Bahnhof steht eine Abteilung Offiziere, Unteroffiziere und Soldaten, die einen Trupp junger, frisch eingezogener Burschen in einen Richtung Hüningen bereitstehenden Zug [7] verladen, der bald abfährt. Wohin? Vielleicht nach Freiburg oder Rastatt. In einigen Wochen werden auch sie im Felde stehen.
Auf dem Bahnsteig schreitet vor unserem Zuge ein älterer Hauptmann, fünfundvierzig bis fünfzig Jahre alt, auf und ab, ein Recke von Gestalt, vom obern Rand des linken Ohrs bis zum Kinn hinunter zieht sich eine Linie, die den alten Studenten kennzeichnet. In seinem strengen Gesicht spielt und zuckt etwas wie schlechte Laune. Mir ist’s, ich läse darin den inneren Grimm darüber, daß er über das Alter hinaus ist, das ihn in seinem Grade an die Front gerufen hätte, und daß er jetzt hinter der Linie im Etappendienst steht. Wohl mancher Offizier teilt seine Gefühle. Aber auch der Dienst hinter der Linie verlangt tüchtige Leute und hat seinen Anteil an Sieg oder Niederlage eines Heeres.
Der Zug nach Mülhausen steht endlich mit erheblicher Verspätung zur Abfahrt bereit. In unser Abteil tritt ein junger, blasser Einjährig-Freiwilliger der Infanterie, von überaus bescheidenem Auftreten. Er hat hellblaue Augen, wachsblondes Haar, ein feines schmales Gesicht, über den Lippen sproßt, kaum sichtbar, der erste zarte Flaum. Er trägt den linken Arm in der Binde. Ein Gewehrgeschoß hat den Arm im Gefecht bei Habsheim-Rixheim glatt durchgeschlagen, wie er auf Befragen schlicht erzählt. Im Vorüberfahren weist er uns die Stellungen der Franzosen, die noch durch niedergehauene Bäume und Schützengräben [8] bezeichnet sind, und die Angriffsrichtung der Deutschen aus dem Hardtwald über den Exerzierplatz und von der Napoleonsinsel her gegen Rixheim und Habsheim. Auf der Station Habsheim zeigt ein Lattenzaun große Lücken. Hier haben sich die Deutschen mit Kolbenstößen Durchgang verschafft.
Unser Einjähriger rühmt das Verbandzeug, das jeder deutsche Soldat mit sich trägt, um sich bei Verwundung die erste Hilfe selbst zu leisten, besonders um durch rasche Unterbindung der Adern den Bluterguß zu stillen. Ohne das wäre er vielleicht verblutet oder jedenfalls stark geschwächt worden. Er ist nun aus dem Feldlazarett, wo er mehrere Wochen gelegen, entlassen und hat Urlaub erhalten, um sich zu Hause ausheilen zu lassen. Die Ausschußwunde ist schon zugeheilt, nur die Einschußwunde eitert noch. Der Einjährige berichtet von wunderbaren Heilungen, die er bei anderen Soldaten gesehen. Einer, der einen Schuß durchs Schulterblatt, einen zweiten durch den Arm, einen dritten in den Bauch erhalten, ist schon wieder hergestellt und kann bald wieder an die Front. Einem anderen ist die Hand durch einen Granatsplitter mitten durchgeschlagen worden, die Wunde ist schon geheilt.
Mülhausen! Unser Einiähriger reist weiter, heute noch bis Straßburg, morgen in die Heimat seiner Lieben, ins Hessenland, in die Pfalz oder ins Rheinland. Sein Hauptmann hat ihm schon geschrieben, er möchte bald zur Kompanie zurückkommen ...
[9] Aussteigen! Es geht gegen sechs Uhr abends. Auf dem Bahnhofplatz, dem Platze vor dem Postamt und in den angrenzenden Straßen steht viel Volk, das sich lebhaft unterhält. Bald erhalte ich die Erklärung für die auffällige Bewegung: Bum – bum – bum dröhnt es in unregelmäßigen Zwischenräumen von Westen her. Kanonendonner! Aus einer Gruppe französischsprechender Bürger höre ich die Worte: Entendez, cela s’approche. Es ist aber nichts mit dem approchement. Bald nachher verstummt der Kanonendonner gänzlich. Es waren die letzten Grüße einer deutschen Batterie in einem Artillerieduell, das sich, wie ich später vernehme, während des ganzen Nachmittags in der Gegend von Niedermorschweiler, Heimsbrunn, Bernweiler, Galfingen, etwa zehn bis fünfzehn Kilometer westlich Mülhausen abgespielt hatte. Das militärische Stadtkommando von Mülhausen hatte etwa 300 Arbeitslose unter militärischer Bedeckung in jene Gegend abgeschickt, zur Ausführung von Erdbefestigungen. Die Franzosen störten diese Arbeiten durch einen plötzlichen, überfallartigen Vorstoß aus dem von ihnen immer noch besetzten Grenzgebiet. Die Erdarbeiten mußten, da die deutschen Streitkräfte den französischen an Zahl in keiner Weise gewachsen waren, schleunig eingestellt werden, worauf die Franzosen sich wieder zurückzogen. Tote oder Verwundete hat es unter den zu den Befestigungsarbeiten kommandierten Arbeitern, soviel ich erfahren konnte, nicht gegeben, [10] obwohl die Granaten ganz plötzlich vor und hinter ihrer Linie einschlugen. Der Rückzug der Arbeiter soll allerdings fluchtartig gewesen und ihre Lust zu weiterer derartiger Verwendung sehr herabgestimmt worden sein. Was nicht zu verwundern ist.
Im übrigen bietet Mülhausen, abgesehen von den Zerstörungen an der Basler Straße, die von der Kanonade vom 18./19. August herrühren, einen recht friedlichen Anblick. Der Verkehr auf den Hauptstraßen und -Plätzen ist viel belebter als in Bern. Vor dem Stadtkommando, wo die Reichsfahne heraushängt, ist ein stetes Kommen und Gehen von Offizieren und Bürgersleuten, die dort ihre Passierscheine zur Durchsicht und Abstempelung abgeben müssen. Vor den Amtsgebäuden stehen Landsturm-Schildwachen, die ihren Dienst geräuschlos tun und auf Befragen kurzen aber freundlichen Bescheid geben. Die Wirtschaften sind ordentlich besucht. Im Wirtschaftsraume des Gasthofes, wo ich Quartier bezogen habe, verkehren besonders viele Unteroffiziere verschiedener Dienstzweige, auch militärische Hilfsärzte, am linken Arm die weiße Binde mit dem roten Kreuz, ältere Kliniker, die ihre Staatsprüfung noch nicht bestanden und daher den Offizierscharakter noch nicht erhalten haben. Mit einem ehrsamen älteren Bürger, der sich an den gleichen Tisch mit mir gesetzt, knüpfe ich ein Gespräch an. Es ist ein Badener, der hier geschäftliche Angelegenheiten zu erledigen [11] hat. Sein einziger Sohn, dem er sein Geschäft vor einiger Zeit abgetreten hat, steht als Reserveleutnant im Felde, so daß es nun der Vater wieder führen muß. „Anfänglich,“ so berichtet er, „waren wir immer unruhig und besorgt um ihn, jetzt hat man sich schon dran gewöhnt. Wenn er nicht wiederkehrt, so ist’s halt ein Opfer fürs Vaterland.“ Das sagt er, scheinbar ohne innere Bewegung, und mit einer Ruhe, die ergreifender wirkt als jede Klage.