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Kriegsbriefe eines neutralen Offiziers/Die Gefechte um Flirey

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Bei den deutschen Vorposten Kriegsbriefe eines neutralen Offiziers
von Karl Müller
Kriegsweihnachten an der deutschen Front
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[133]
Die Gefechte um Flirey

Wie anders ist es in der Landschaft westlich der Moselstrecke Novéant-Pont-à-Mousson geworden seit jenem friedlichen Oktobersonntag, an dem der Sängerchor eines deutschen Ersatzbataillons in der Kirche von Thiaucourt, im Tale des Rupt de Mad, seine Heimatlieder sang und mitten im Kriege für ein Viertelstündchen das Bild des Friedens vorzauberte ! Statt im bunten Farbenspiele des Herbstes erscheint heute die Natur im dunkeln Trauergewande des schneelosen Winters. Durch die schwarzen, laublosen Wälder heult der Wind, und auf die verwahrlosten, unbestellten Felder, auf denen Hafer und Gerste der letzten Ernte noch faulend liegen, träufelt ein trübseliger Regen, der nun schon tagelang anhält und das Land in einen Morast verwandelt. Überall schimmern Wasserstreifen auf den überschwemmten Wiesen. Ein erbärmliches Wetter zum Kriegführen. [134] Die Landstraßen ausgefahren. Die Räder der langen Fuhrwerkkolonnen, die uns auf unserer Fahrt begegnen, oder die wir überholen, sinken tief über die Radreifen, die Pferde bis über die Fesseln in den Schlamm ein. Roß und Reiter, Mann und Fuhrwerk sind über und über, vom Kopf bis zum Fuße bespritzt mit der gelben Brühe. Marschkolonnen und Reiter, die seitwärts der Straße auf dem Felde gehen, sind nicht besser dran. Schwer hängt sich die klebrige Erde an Schuhe und Hufe. Hüben und drüben bewirken solche Witterungs- und Geländeverhältnisse einen erhöhten Kräfteverbrauch, mit dem die Kriegführung rechnen muß. Maßnahmen zur Verbesserung der Straßen sind denn auch schon im Gange. Auf einzelnen Strecken sind Soldaten und bürgerliche Arbeiter mit der Herstellung eines neuen Straßenbelags beschäftigt, an einer Stelle ist sogar eine Dampfstraßenwalze in Tätigkeit.

Vor Thiaucourt begegneten wir einer Kolonne französischer Gefangener, die, von Ulanen eskortiert, nach Metz marschierten, um von da in ein Gefangenenlager im Landesinnern abtransportiert zu werden. Es war der Rest der unverwundeten Gefangenen, die sich in dem Gefecht bei Flirey vom Samstag 12. Dezember ergeben hatten. Sie machten im allgemeinen einen günstigen Eindruck, ihre Haltung entsprach der im Kampfe bewiesenen, von den deutschen Offizieren anerkannten Tapferkeit. Die in diesem Gefechte [135] gefangenen Franzosen waren keine Drückeberger, ihre Gefangennahme erfolgte vielmehr unter ehrenvollen Umständen.

Dem Gefechtsfelde bei Thiaucourt und Flirey galt die heutige Fahrt, die ich abermals in der Gesellschaft des oberkommandierenden Generals der in diesem Gebiete operierenden Armee mitzumachen die Ehre hatte.

Thiaucourt und die umliegenden Dörfer haben unter den Artilleriekämpfen der letzten Wochen erheblich gelitten. Seitdem am 22. Oktober der letzte blutige Ausfall der französischen Deckungstruppen vor Toul blutig abgeschlagen worden war, haben die Franzosen zwar auf einen eigentlichen Angriff gegen die deutschen Stellungen verzichtet, aber von Zeit zu Zeit diese mit ihrem Artilleriefeuer überschüttet, das deutscherseits stets kräftig erwidert wurde. Seit Freitag 11. Dezember nahm die Heftigkeit des französischen Artilleriefeuers in auffallendem Maße zu. Schwere Batterien wurden in Tätigkeit gesetzt und überschütteten, gemeinsam mit den leichteren Feldgeschützen, den ganzen von den Deutschen besetzten Abschnitt nördlich von Flirey während mehr als vierundzwanzig Stunden mit einem wütenden Granat- und Schrapnellhagel, der bis nach dem Bahnhof von Thiaucourt reichte. Bei Waville zweigt eine kurze Sackbahn nach Thiaucourt ab. Ein mit Nachschub beladener Güterzug dieser Nebenbahn geriet bei seiner Einfahrt in Thiaucourt unter Granatfeuer. [136] Samstag den 12. Dezember nach Mittag steigerte sich die Artilleriebeschießung der von den Deutschen besetzten Stellungen zu ungewöhnlicher Heftigkeit. Es war die Einleitung zu einem regelrechten Durchbruchsversuch, der mit starken Infanteriekräften, beidseitig der Straße Flirey-Essey-Thiaucourt, d. h. in der nämlichen Richtung angesetzt wurde, wo schon der so überaus verlustreiche Angriff in der Morgendämmerung vom 22. Oktober stattgefunden hatte. Überfallartig brach plötzlich die französische Angriffsinfanterie vor. Die vorzüglich eingeschossene deutsche Artillerie, die ihr Feuer schon zum voraus abschnittweise auf die verschiedenen Streifen des Angriffsfeldes nach Breite und Tiefe verteilt hatte, empfing die zum Angriff vorgehenden Franzosen mit einem mörderischen Kreuzfeuer. Trotzdem hielt die französische Infanterie noch stand und gelangte, insbesondere auf einem Flügel, noch weiter vor. In der Zone des wirksamsten Infanteriefeuers brach dagegen der Angriff zusammen, zuerst am linken Flügel, dann auch am rechten und in der Mitte. Die Voraussetzung des Gelingens des Durchbruchsversuchs, daß nämlich die deutsche Infanterie unter dem lang andauernden Artilleriefeuer erschüttert sei, bestätigte sich nicht. Die Deutschen erwarteten den Angriff kaltblütig und entschlossen. Ihrem ruhig gezielten Schützen- und Maschinengewehrfeuer, das von der Artillerie planmäßig unterstützt wurde, vermochte der Angriff der Franzosen nicht standzuhalten. [137] Wie diese aber Kehrt machten, um den Rückzug anzutreten, änderte die deutsche Artillerie, die mit den Schützengräben durch Fernsprechleitungen in beständiger Verbindung stand, ihr Ziel und überstreute das Rückzugsgelände mit einem Hagel von Granaten und Schrapnells, in den die Franzosen bei ihrer weiteren Rückzugsbewegung hätten hineinlaufen müssen. Dieses gleichzeitige Front-, Rücken- und Kreuzfeuer brach den Halt der Franzosen, deren Angriff kraftvoll angesetzt und deren Rückzug anfänglich in Ordnung angetreten worden war. Nirgends zeigte sich ein Ausweg. Ein Teil der Franzosen machte in Verwirrung zum zweiten Male Kehrt und lief wieder gegen die deutschen Schützengräben vor, verzweifelte Sturmangriffe versuchend. Mit bewaffneter Hand drangen vereinzelte Gruppen in die Schützengräben ein, wo sie im Kampfe Mann gegen Mann unterlagen. Größere Kampfgruppen aber, denen ihre hoffnungslose Lage klar wurde, legten jetzt die Waffen nieder und hoben zum Zeichen der Übergabe die Hände hoch. Vier Offiziere und vierhundertundvierzig Mann gerieten so in deutsche Gefangenschaft. Durch später noch eingebrachte vermehrte sich die Zahl der unverwundeten Gefangenen auf rund sechshundert — eine im Stellungskampfe überraschend hohe Ziffer. Denn es ist zu bedenken, daß die Verfolgung ausschließlich durch Feuer geschah. Überdies wurden von den Sanitätern — so werden die Sanitätsmannschaften, Träger und Wärter in der [138] deutschen Armee allgemein genannt — noch weitere hundertundfünfzig Franzosen verwundet vom Gefechtsfelde eingebracht, so daß sich die Gesamtzahl der verwundeten und unverwundeten Gefangenen auf ungefähr siebenhundertundfünfzig belief. Dementsprechend waren die Verluste an Toten und an Verwundeten, die von den Franzosen selbst zurückgeschafft wurden. Sie werden schätzungsweise nach der Zahl der vor den einzelnen Bataillonsabschnitten Gefallenen auf neunhundert bis tausend angegeben. Nach den Regimentsnummern der Gefangenen und nach der Breite der Angriffsfront zu schließen, hatten die Franzosen eine Division zu dem Angriff bereitgestellt, wovon jedoch nur eine Brigade in erster Linie zur Verwendung gekommen ist.

Schwerer als die Verluste wiegt der moralische Eindruck des taktischen Mißerfolges auf der einen, der erfolgreichen Abwehr aus der anderen Seite. Der in jeder Hinsicht gut vorbereitete und mit Kraft unternommene Angriff der Franzosen bezweckte, wie schon oben angedeutet, offenkundig die Durchbrechung der gegen Süden Front machenden deutschen Truppenaufstellung zwischen Maas und Mosel. Bereitgestellte Reserven der Deutschen brauchten indessen nicht einmal eingesetzt zu werden.

Die Deutschen hatten ihren Erfolg nächst dem geschickten Zusammenarbeiten der Infanterie und Artillerie ganz besonders der unerschütterlichen Disziplin, Standhaftigkeit, Ruhe und großen [139] Schießtüchtigkeit ihrer Infanterie zu verdanken, die den Feind kaltblütig aufs Korn nimmt, wenn er auf wirksame Schußweite herangekommen ist.

Was die Leute bei diesem Wetter in den Schützengräben auszuhalten haben, ist unbeschreiblich. Ohne die vorzügliche Verpflegung wären die Abgänge ungeheuer. An einigen Orten stehen die Schützen zuweilen bis über die Knie im Schlamm und Wasser, das sich in dem undurchlässigen Lehmboden der Woevre überall ansammelt. Abzuggräben helfen nicht immer. Ein Abzuggraben, mittels dessen ein langer Schützengraben entwässert worden war, wurde durch einen einzigen Granatschuß verstopft, und sofort stieg das Grundwasser wieder bis an die Knie der Leute.

Mit welcher Manneszucht und Ausdauer diese solche Unbilden ertragen, das gehört auch zum Heldenmut der Kriegsgeschichte. Und dabei regnet der Regen jeglichen Tag, und heute nachmittag durchzuckte sogar ein Blitz, gefolgt von einem Donnerschlag, die schwüle Atmosphäre. Als Trost dient den Leuten einigermaßen das Bewußtsein, daß die da drüben es auch nicht besser haben.

Dem mißglückten Vorstoß vom 12. Dezember folgte am 14. Dezember ein zweiter, der aber keine Kraft mehr hatte und gleich in der Einleitung zusammenbrach. Die Infanterie war nach dem ersten Anlauf nicht mehr weiter vorzubringen. Seit gestern lassen es die Franzosen bei einer fortgesetzten Kanonade bewenden, die [140] den Deutschen immerhin einige Verluste bringt. Während ich diese Zeilen schreibe, sind auch einige hundert Meter weiter vorne die deutschen Batterien, wie ihr lauter Geschützdonner beweist, in voller Tätigkeit und erwidern das französische Feuer.

Für die allgemeine Kriegslage haben diese Gefechte, im Zusammenhang mit anderen ähnlichen Charakters, die in diesen Tagen stattgefunden haben, insofern eine Bedeutung, als sie zeigen, daß die deutsche Schlachtfront allenthalben stark genug ist, um die gewonnenen Stellungen zu halten, bis der Zeitpunkt gekommen sein wird, um selbst zum Angriff überzugehen.

In Begleitung des Herrn Generals F. besuchte ich heute u. a. auf dem Gefechtsfelde auch den Hauptverbandplatz der gegen Flirey kämpfenden deutschen Truppen. Er ist in einem Gehöfte untergebracht, das von den Offizieren das verwunschene Schloß genannt wurde, weil es lange Zeit der tägliche Zielpunkt des französischen Artilleriefeuers war. Ein Rundgang zeigt in einem Umkreis von ungefähr siebzig Metern Durchmesser rings um das alte Schlößchen herum mindestens zwanzig frische Löcher von Granateinschlägen. Das Gebäude selbst ist merkwürdigerweise nur von einer einzigen Granate getroffen worden, die den Nebenraum des Empfangssaales zerstört hat, der jetzt den deutschen Ärzten als Eßzimmer dient. Der Stabsarzt und der Unterarzt, [141] die hier ihres beschwerlichen Amtes walten, begrüßen mich, als ich ihnen als Schweizer vorgestellt werde, mit kameradschaftlicher Herzlichkeit. Beide haben viele Beziehungen zur Schweiz und tragen mir Grüße an Kommilitonen auf, die ich selbst zu meinem Bekanntenkreis zähle. Zu langer Unterhaltung ist aber keine Zeit. Im gewölbten Keller des Schlosses liegen die noch nicht zurückgeschafften Verwundeten aus den letzten Gefechten. Hierher haben die Sanitäter soeben zwei schwerverwundete Franzosen hereingetragen, die schon über vierundzwanzig Stunden auf dem Gefechtsfelde gelegen hatten und beim Absuchen aufgefunden worden waren. Der eine hat einen Schuß durch die Hüfte, der andere einen Kopfschuß. Der General richtet einige freundliche Worte an sie und versichert sie guter Behandlung und Pflege, woran er die Mahnung an die Verwundeten knüpft, sie sollen dereinst, wenn sie in ihr Land zurückkehren, die Wahrheit verkünden und den Verleumdungen entgegentreten, die im französischen Volke über die Deutschen verbreitet werden.

Es ist zwar kein glänzend ausgestatteter Operationsraum, dieser Keller, aber er bietet doch sichere Deckung gegen Granatfeuer, ist trocken und reinlich. Luft und Licht erhält er durch die Tür, denn die Kellerfenster, die auf die feindwärts gerichtete Front des Hauses gehen, sind vorsichtig mit einer dicken Schicht von Mist umgeben, als Schutz gegen französische Volltreffer. [142] Mählich wird der Kanonendonner von Flirey schwächer. Es geht zurück nach Thiaucourt. In einem Dorfe, das wir unterwegs durchfahren, stehen deutsche Soldaten in einer Gruppe zusammen und betrachten prüfend den Tannenbaum, den sie soeben aus dem nahen Walde geholt haben. Vorbereitung zur deutschen Weihnachtsfeier im Felde. In der schönen Kirche zu Thiaucourt, der ich noch einen Besuch abstattete, ist’s heute still und leer. Nur da und dort kniet auf einem Bänklein ein betender deutscher Soldat. . .