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Kriegsbriefe eines neutralen Offiziers/Bei den Österreichern und Ungarn im Westen

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Kriegsbilder aus der Grenzfestung Kriegsbriefe eines neutralen Offiziers
von Karl Müller
Bei den deutschen Vorposten
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[112]
Bei den Österreichern und Ungarn im Westen

In einem von den französischen Granaten halbzerschossenen Dorfe zwischen Mosel und Maas sind die Quartiere einer österreichisch-ungarischen 30,5 Zentimeter-Mörserbatterie. Durch die Gunst [113] der Umstände, die mich wiederholt mit Glücksfällen bedacht hat, wurde ich an einem der letzten Novembertage dorthin verschlagen. Die Batterie ist im Park aufgefahren und vorübergehend nicht in Tätigkeit. Offiziere und Mannschaft führen ein behagliches Garnisonleben. Parkdienst und einige Stunden Exerzieren, um die Glieder beweglich und die Strammheit und militärische Zucht aufrecht zu halten, das ist ihre tägliche Beschäftigung. Um so besser für den berichterstattenden Besucher, der hier bei den österreichisch-ungarischen und deutschen Offizieren mit ungekünstelter kameradschaftlicher Herzlichkeit aufgenommen wird, so daß dem Schweizer ganz heimisch dabei wird. Sie haben Zeit, mir alles zu zeigen und zu erklären, was gezeigt und erklärt werden darf. Der Batteriechef ist ein Ungar, gebürtig aus Budapest. Echtes temperamentvolles Magyarenblut. Aus seiner ein wenig mit ungarischer Klangfarbe abgetönten niederösterreichisch-deutschen Mundart, die er vollkommen beherrscht, da er in Österreich gedient hat, sprudeln die Worte wie ein übermütiger Bergbach. Ein Witzwort jagt das andere. Aus den lebhaften tiefdunkeln Augen sprüht Lebenslust und Lebensfreude, der etwas lose Mund gibt dazu die Mischung von Lebensverachtung, die ein solcher Krieg erzeugt, erzeugen muß. Sein Kamerad, der Leutnant, ist ein liebenswürdiger, fröhlicher Wiener. Beide tragen am preußischen schwarz-weißen Bande das deutsche Eiserne Kreuz. Die Munitions- [114] und Kraftwagenkolonne der Batterie wird von zwei deutschen Reserve-Offizieren befehligt, die verschieden nach Stamm und Lebensstellung, aber gleich und einig in der Hingebung an ihre Aufgabe sind. Der eine ist ein Rheinländer, im bürgerlichen Leben Ingenieur. Aus den großen, hellen Augen spricht eine ungewöhnliche Intelligenz und Tatkraft; der kraftstrotzende Körper wird durch tägliche Fechtübung gestählt. Wie so viele deutsche Techniker hat er literarische Gymnasialbildung genossen; er beherrscht seinen Homer und Herodot und liest in den Mußestunden mit Vorliebe das Neue Testament im griechischen Urtext. In der Brusttasche trägt er das Bild seiner zwei herzigen Buben. Der andere Deutsche ist ein Bayer. Ein Gemütsmensch. Aber wenn’s gilt, dann geht er sicher drauf und dran, mit dem gleichen unerbittlichen Ungestüm, das die Bayern in diesem Feldzuge so gefürchtet macht.

Die Batterie hat vor Namur im Feuer gestanden, wo sie zwei Forts niedergekämpft und zur Übergabe gezwungen hat. Die vorgezeigten Lichtbilder bekunden die furchtbare Wirkung der Mörser. Ein Panzerturm liegt umgeworfen und völlig zerspellt am Boden; ein anderer ist durchgeschlagen. Das Mauerwerk des Grabens und der Kehle ist größtenteils zerrissen und heruntergestürzt. Der Eisenbeton ist weniger durchgeschlagen, als vielmehr durch die Sprengwirkung zermalmt und zermürbt. Eines der Bilder zeigt auch die gefangenen Belgier, die aus den Kasematten [115] herausgeholt worden sind und die nun zusammengestellt und abgeführt werden.

Die deutsch-österreichisch-ungarische Waffenbrüderschaft ist in dieser Batterie im wörtlichen Sinne verwirklicht. Nicht nur das Offizierkorps ist aus Vertretern der beiden verbündeten Heere zusammengesetzt, auch die Mannschaft der Batterie ist aus Reichsdeutschen, Österreichern und Ungarn gemischt und gibt so zugleich ein Bild der nationalen Vielgestaltigkeit Österreich-Ungarns. Während die Geschützbedienung aus Österreichern und Ungarn besteht, stellt Bayern die Trainmannschaft der Munitions- und Wagenkolonne. Die Kommando- und Dienstsprache des österreichisch-ungarischen Heeres ist, wie bekannt, deutsch, so auch in unserer Motorbatterie. Mit dem Deutsch dieser vielsprachigen Gefechtseinheit, die sich aus Leuten von mindestens sechs Volksstämmen zusammensetzt, hat es im übrigen seine eigene Bewandtnis. Während die Bayern, Ober- und Niederösterreicher und Deutsch-Böhmen durch die gemeinsame deutsche Sprache verbunden sind, ist es mit den deutschen Sprachkenntnissen der Ungarn, galizischen Polen und Tschechen in der Batterie sehr verschieden bestellt. Den vollen Sinn der Worte der bei den Österreichern und Ungarn sehr beliebten Wacht am Rhein verstehen kaum alle, aber alle singen das Lied mit, wenn es angestimmt wird, und wenn der Kehrreim Fest steht und treu die Wacht, die Wacht am Rhein aus den Kehlen dieses eigenartigen [116] internationalen Sängerchors erschallt, so wissen sicherlich alle, was er bedeutet. Das deutsche Kampflied, von Deutsch-Österreichern, Polen, Tschechen und Ungarn vorgetragen — das ist wohl ein überzeugender Tatsachenbeweis dafür, daß dieser Krieg kein deutscher Rassenkrieg ist, wenn er auch um die Machtstellung der deutschen Kultur geführt wird.

Die sprachliche Vielgestaltigkeit dieser Truppen führt bisweilen auch zu heiteren Zwischenfällen.

Der erst vor kurzem neu eingeteilte Führer einer Motorbatterie sah sich eines Tages veranlaßt, einem seiner ungarischen Untergebenen wegen dienstlicher Vergehen eine eindringliche Strafpredigt zu halten. Der Hauptmann redete sich ordentlich in die Hitze hinein, und wie er endlich fertig war und den Ungar, der die Rede unbeweglich und anscheinend mit gespannter Aufmerksamkeit angehört hatte, anherrschte: Verstanden? so antwortete dieser gehorsamst: Zu Befehl, Herr Hauptmann, nix Deitsch.

Ja, der heißblütige Ungar! Das ist überhaupt ein Soldat von ganz besonderer Art: tapfer und wagemutig, treu seiner Fahne, ritterlich und kameradschaftlich, leichtsinnig, und mancher etwas leichtlebig. Einer von ihnen, der Sohn wohlhabender Eltern, stand während einiger Zeit in Metz im Garnisondienst. Von Hause erhielt er von Zeit zu Zeit eine erhebliche Soldzulage. Waren seine zweihundert Mark angekommen, so steckte er sie jeweilen in die Tasche, ging ins feinste [117] Speisehaus von Metz, rief die ersten besten Kameraden herbei und lud sie zu Tische, bestellte für alle ein gutes Essen und rechnete: Das Essen für sechs Mann kostet dreißig Mark, bleiben hundertundsiebzig Mark; also: Oberkellner, sechs Gedecke zu fünf Mark und zwölf Flaschen Sekt. Am anderen Tage hatte er noch einige Mark in der Tasche und lebte einen Monat lang wieder mit Rotspohn und schwarzem Kommißbrot.

In der von dem Ungarn befehligten Motorbatterie in dem französischen Dorfe zwischen Mosel und Maas herrschte also, wie gesagt, zur Zeit meines Besuches Ruhe. Der ungarische Batteriechef und der deutsche Chef der Munitions- und Kraftwagenkolonne ließen mich die Batterie samt dem Park besichtigen und erklärten mir die Bedienung der Geschütze, deren Mechanismus durch große Einfachheit und leichte Handhabung auffällt. Der Train der Batterie ist nicht übermäßig groß, und ihre Beweglichkeit erreicht einen verblüffend hohen Grad. Auf guten Straßen wird eine Marschleistung von zwölf Kilometern in der Stunde erzielt! Selbstverständlich wird auf Sicherung durch Infanterie sorgfältig Bedacht genommen. Der Verlust eines Geschützes darf im Festungs- und Stellungskriege als fast ausgeschlossen gelten. Zuletzt war die Batterie bei der Beschießung eines französischen Maas-Sperrforts verwendet worden, das nun zwar niedergekämpft ist und das Feuer nicht mehr erwidert, auf dem aber immer noch die französische Fahne [118] flattert, da die Infanterielinien die neuerrichteten vorgeschobenen starken Erdbefestigungen halten. Die Batterie hat in ihrer Feuerstellung an der Maas nur geringe Verluste erlitten. Ihre Stellung war so geschickt maskirt, daß die französische Artillerie sie nie entdeckte, daher von gezieltem Feuer absehen und sich auf Streufeuer beschränken mußte, das jedoch nur geringe Menschenverluste anrichtete. Immerhin ist die Stirnwand des Kraftwagens von einem Volltreffer durchschlagen worden. Der Fahrer wurde vom Bocke geschleudert und durch einen Granatsplitter am Gesäß verwundet, was ihm einen treffenden, aber seiner Derbheit wegen hier nicht wiederzugebenden Witz entlockte. Zahlreiche Splitter und Löcher im Holz- und Eisenwerk sind Zeugen davon, daß die Batterie im wirksamen Feuer gestanden hat. Größer waren die Beschädigungen in dem Dorfe, das den Truppen zur Unterkunft diente. Der Bursche des Reserveleutnants wurde, während er eben die Reit-Ledergamaschen seines Offiziers reinigte, von einem Granatvolltreffer förmlich in Stücke gerissen. Der Offizier selbst, der sich im Nebenraum befand, blieb unverletzt. Die von den Granatsplittern zerrissenen Gamaschen sind ihm eine Erinnerung daran, wie nahe auch er dem Tode stand. Im Garten hinter der Offizierswohnung wurde dem Burschen eine schöne Grabstätte bereitet. Ein anderer französischer Volltreffer hob einen Baum mit der Wurzel aus dem Boden und schleuderte ihn auf das Dach des Hauses, wo er [119] noch jetzt sitzt. Sehr schwere Verluste hatte ein der Batterie als Deckungstruppe zur Errichtung von Erdwerken beigegebenes Pionierbataillon, dessen heldenmütige Haltung und kameradschaftliche Unterstützung der ungarische Batteriechef nicht genug loben kann. Der Bataillonskommandeur, ein Major von kaltblütiger Todesverachtung, hat das Eiserne Kreuz erster Klasse erhalten, eine ziemlich seltene Auszeichnung. Dem nämlichen Offizier wurde bei einer Fahrt im feindlichen Feuer der Kraftwagenführer an seiner Seite von einem Volltreffer erschlagen. Der Major setzte sich ohne Verzug in einen anderen Kraftwagen und fuhr durch das Feuer weiter. Solche Beispiele kann man genug erzählen hören. Der Krieg erzeugt zeitweise eine völlige Gleichgültigkeit gegen das Leben, das bestätigen fast alle Offiziere, die im Feuer gestanden haben. Aber den Lebenstrieb und die Lebensfreude vermag er nicht zu ertöten. In die vom Granatfeuer überschütteten Schützengräben und Unterstände sucht die Truppe einen Gegenstand der Unterhaltung zu bringen. Im Unterstand der Motorbatterie befand sich zum Beispiel ein Harmonium, das aus einem teilweise zerschossenen und von seinen Bewohnern verlassenen Hause herbeigeschleppt worden war, um später dem Besitzer wieder zurückgegeben zu werden. Da wurde Harmoniumkonzert gegeben, an dem der auf seinem Beobachtungsstand fünf bis sechs Kilometer weit entfernte Batteriechef mittelst der Fernsprecherleitung [120] teilnehmen konnte. An diesem Standorte war überdies das Harmonium zugleich gegen Zerstörung besser gesichert.

Auf dem Rückweg machten wir einen nochmaligen Rundgang über den Parkplatz und besichtigten noch die in einem großen Zelt untergebrachte Reparaturwerkstätte der Batterie. Da wird geschmiedet, gehämmert, gefeilt und gebohrt, denn fast alle Wiederherstellungs- und Erneuerungsarbeiten werden von der Batterie selbst ausgeführt. Unter der Mannschaft befindet sich eine Anzahl intelligenter, sehr gut ausgebildeter Mechaniker, während der Rest hauptsächlich aus Handlangern und Landarbeitern besteht, gut gebauten und außerordentlich kräftigen Leuten von hohem, starkem Wuchs.

Offiziere und Mannschaft sehnen sich nur nach einem: nach baldigster Wiederverwendung im Felde. Mein neuer rheinländischer Bekannter ganz besonders klagte mir über dieses allzu untätige friedliche Garnisonleben. „Vierzehn Tage lang bin ich in den letzten August- und ersten Septembertagen nicht aus den Kleidern heraus- und nicht in ein Bett hineingekommen. Aber lieber nochmals das durchmachen, als diese die Spannkraft lähmende bequeme Lebensweise ohne eine rechte Aufgabe.“ So klagt er mir, und so sind sie alle. Zur Abwechslung wurde die Batterie jüngst alarmiert: Die Munitionskolonne war in neun Minuten, die ganze Batterie in zwanzig Minuten marschbereit, gerechnet vom ersten Alarmzeichen [121] bis zur Erstellung vollständiger Marschbereitschaft. Kampf und Tod ist ihnen Luft und Leben. Ruhe und Behaglichkeit, solange die Kameraden draußen stehen, eine unerträgliche Geduldsprobe. Wieder in die Kampffront! Das ist der allgemeine Wunsch.

Nach der Besichtigung der Batterie folgen wir der Einladung des Rheinländers zu einem Glase Wein in seinem Feldquartier. Bald ertönen lustige Weisen, bayrische Schnadahüpfl, deutsche und schweizerische Vaterlands- und Volkslieder, die der Rheinländer auf der trauten Gitarre begleitet.

Mit dankbarem Herzen nehme ich Abschied von den fröhlichen Gesellen. Ich werde den Besuch bei der österreichisch-ungarischen Motorbatterie zwischen Mosel und Maas nicht sobald vergessen.