Kriegsbriefe eines neutralen Offiziers/Auf dem Schlachtfelde von Fillières
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In einer Folge von mehreren Schlachten erzwang sich die im Luxemburgischen aufmarschierte fünfte deutsche Armee unter dem Oberkommando des Kronprinzen Wilhelm in den Tagen vom 22. bis 26. August die Übergänge über den Chiers und öffnete sich den Weg an die Maas. Der tief eingeschnittene Chiers, der von Longwy bis Longuyon in südwestlicher, von da an in nordwestlicher [74] Richtung bis zu seiner Einmündung in die Maas oberhalb Sedan fließt, bildet ein bedeutendes Hindernis. Eine Episode der großen mehrtägigen Schlacht, die in der Kriegsgeschichte den Namen der Schlacht bei Longwy und Longuyon tragen dürfte, der beiden bedeutendsten Orte des Schlachtgebietes, wo zugleich die Hauptentscheidungen fielen, bildet das Gefecht bei Fillières am 22. August. Das Dorf Fillières liegt sechs Kilometer westlich der deutsch-französischen Landesgrenze, achtzehn Kilometer südöstlich von Longuyon, auf einer Hochebene, am Kreuzungspunkte der Straßen Luxemburg-Esch-Etain und Diedenhofen-Audun-Longuyon. Von drei Seiten, im Norden, Osten und Süden, ist diese Hochebene von Waldungen eingerahmt. Während sie sich gegen Norden in sanft welligem Gelände abdacht, fällt sie nach Osten und Süden in schroffen waldigen Hängen in das Tal der Crune ab, eines Bachlaufes, dessen Quellgebiet in dem gegen Luxemburg einspringenden Winkel von Französisch-Lothringen liegt und der zunächst eine südwestliche Richtung einschlägt, zweiundeinviertel Kilometer südlich Fillières in einem rechten Winkel umbiegt, sodann nordwestlich verläuft und sich bei Longuyon in den Chiers ergießt. Auch dieses Gewässer ist tief eingeschnitten.
Das Gefecht bei Fillières
Am Morgen des 22. August versammelte sich das zur fünften Armee gehörende sechzehnte Armeekorps [75] bei Aumetz, sechzehn Kilometer nordwestlich Diedenhofen, sieben Kilometer südlich der luxemburgischen Landesgrenze. In der Sammelstellung des Armeekorps traf die Meldung ein, daß die Franzosen mit starken Kräften in der Gegend von Mercy-le-Bas (an der Straße Longuyon-Briey-Metz, fünfzehn Kilometer südlich von Longwy) ständen. Dem Angriffsbefehl des Armeeoberkommandos gemäß befahl der kommandierende General des sechzehnten Armeekorps, die Franzosen bei Mercy-le-Bas zurückzuwerfen. Die eine Division sollte links, frontal angreifend über die Höhen von Joppécourt, das auf einem dem Südrande der Crune-Schlucht entlang laufenden Höhenrücken liegt, gegen Mercy-le-Bas vorgehen, die andere über Errouville (vierundeinviertel Kilometer nordöstlich Fillières) und Serrouville (drei Kilometer östlich Fillières) über Fillières, zur Umfassung des linken französischen Flügels. Als die Spitze dieser Division bei Serrouville eintraf, kam die Meldung: Starke feindliche Kolonnen sind im Anmarsche von Ville au Montois (fünf Kilometer westlich von Fillières) auf Fillières. Daraufhin befahl der Divisionskommandeur den Angriff auf Dorf und Höhe von Fillières. Die Division ging in drei Kolonnen vor: Kolonne rechts gegen den Raum weiter nördlich Fillières zur Umfassung des linken feindlichen Flügels, Kolonne der Mitte, zwei Regimenter stark, gegen Fillières und die nördlich und südlich davon sich ausdehnenden Terrassen; Kolonne links südlich an Fillières vorbei [76] durch die Schlucht der Crune. Die Artillerie bezog eine günstige Feuerstellung bei Serrouville, von wo aus sie über die vorliegenden Waldungen und das Crunetal hinaus das Gelände um Fillières und das Dorf selbst wirksam bestreichen konnte.
Die Franzosen folgten auch hier ihrer Neigung zur Besetzung der Örtlichkeiten und vorgeschobener Stellungen. Sie setzten ihre vordere Linie fest am Dorfrande von Fillières und den sich beidseitig anlehnenden Bodenwellen, wo sich ihre Schützenlinien einrichteten, während der Kirchturm des Dorfes mit mehreren Maschinengeschützen und einem Beobachtungsposten besetzt wurde. Ihre Haupt- und Artilleriestellung bezogen sie weiter westlich, auf einer rückwärtigen Anhöhe, die Artillerie in gegen Sicht gedeckter Lauerstellung. Die von den Deutschen beabsichtigte Umfassung des französischen linken Flügels gelang zunächst nicht, gestaltete sich vielmehr zum frontalen Angriff, da die Franzosen ihren linken Flügel verlängerten. Wie die deutschen Schützenlinien, unterstützt von der Artillerie bei Serrouville, aus den Waldrändern ihren Feuerangriff eröffneten, wurden sie von den Franzosen mit Massenfeuer der Infanterie und dem Strichfeuer der Maschinengewehre überschüttet. Diese wurden jedoch von den deutschen Batterien bald zum Schweigen gebracht; der Kirchturm wurde in Brand geschossen. Als nach längerem Feuergefecht die französische Vorstellung erschüttert zu sein schien, brachen die deutschen Schützenlinien aus den Waldrändern, die [77] bis auf Nahfeuerentfernung an die französischen Feuerstellungen heranreichten, hervor, arbeiteten sich sprungweise heran und gingen dann zum Sturmangriff über, der durch eine von Serrouville her in die Feuerlinie vorgezogene Artillerieabteilung kräftig vorbereitet und unterstützt wurde. Die Franzosen räumten ihre Vorstellung und traten einen eiligen und verlustreichen Rückzug auf ihre Hauptstellung an. Das Dorf und die auf gleicher Höhe liegenden Bodenwellen wurden von den Deutschen genommen. Nun aber kamen diese unter das wirksamste Kreuzfeuer der sorgfältig gedeckten französischen Batterien, deren genaues Zielen durch vorher aufgesteckte Markierpunkte noch erleichtert wurde. Die Deutschen, die hier eine ganze Stunde lang ohne eigene Artillerieunterstützung aushalten mußten, bis die feindliche Artilleriestellung aufgefunden war und beschossen werden konnte, erlitten bedeutende Verluste. Erst abends sieben Uhr konnte, nachdem inzwischen die deutschen Schützenlinien durch Reserven verlängert und verstärkt, sich vorgearbeitet hatten und die französische Hauptstellung durch die Artillerie erschüttert war, auch diese im Sturm genommen werden. Die Nebendivision links eroberte die Höhen von Joppécourt. Der Erfolg des Tages war das Zurückwerfen der französischen Kampfgruppe an und über den Chiers, in den Raum Longuyon-Spincourt. Die Gefechte der folgenden Tage, am 23., 24., 25. August vervollständigten die Niederlage der Franzosen. [78] Die Verluste
Die starken Verluste der Franzosen bestätigen sich aus einem später in die Hände der Deutschen gefallenen Tagebuch einer französischen Kompanie, in das Ihr Berichterstatter Einsicht zu nehmen Gelegenheit hatte. Das in diesem Tagebuch enthaltene Carnet de comptabilité des Capitaine Vataire, Chefs der 10. Kompanie des 154. Infanterie-Regiments (Friedensgarnison Lérouville) gibt als Ausrückungsbestand der Kompanie für den 22. August an: 1 Hauptmann, 3 Leutnants, 31 Unteroffiziere, 192 Soldaten. Gesamtbestand: 4 Offiziere, 223 Mann, 5 Pferde. Am 23. August werden aufgeführt: 1 Hauptmann, 1 Leutnant, 19 Unteroffiziere, 122 Soldaten. Gesamtbestand: 2 Offiziere, 141 Mann, 3 Pferde. Somit erlitt die Kompagnie am 22. August einen Verlust an Toten, Gefangenen, Vermißten und Verwundeten von 2 Offizieren (wovon laut Tagebuch einer gefallen, einer gefangen), 82 Mann (wovon laut Tagebuch 12 Unteroffiziere und 70 Soldaten) und 2 Pferden. Von diesem Abgang wird eine erhebliche Zahl als gefangen oder vermißt aufgeführt. Am 26. August verzeichnet das Carnet de comptabilité infolge Zuwachses aus dem Depotbataillon einen Gesamtbestand der Kompanie von 2 Offizieren, 261 Mann, 3 Pferden. Der Zuwachs von 120 Mann setzte sich zusammen aus 11 Unteroffizieren und 109 Soldaten. Dieses herausgegriffene Beispiel einer einzelnen Kompanie, die vielleicht infolge besonderer Verhältnisse [79] außergewöhnlich stark gelitten hatte, kann zwar nicht als Maßstab für die Gesamtverluste genommen werden. Aber seine Zahlen sprechen doch eine deutliche Sprache. Dabei erinnere man sich der Tatsachen, daß die Franzosen immer noch keine Verlustlisten herausgegeben haben.
Das Schlachtfeld
Unsere Darstellung des Gefechts bei Fillières stützt sich auf die Erklärungen, die uns ein Mitkämpfer, Herr Hauptmann Knahts, Inhaber des Eisernen Kreuzes, an Ort und Stelle gegeben hat. Herr Hauptmann Knahts führte am 22. August eine Kompanie des Infanterieregiments, das von Serrouville her zunächst der Straße folgend, dann sich nach links entwickelnd und den steilen Waldhang östlich von Fillières ersteigend, den südlichen Abschnitt der Stellung von Fillières angriff. Er wurde bei dem Angriff dreifach verwundet, zuerst bei der Erkundung durch einen Schuß in die linke Hand, dann während des Angriffs durch einen Brustschuß und schließlich durch einen Granatsplitter am linken Schenkel. Für sein tapferes Verhalten erhielt er das Eiserne Kreuz. Seine schlicht und klar, mit militärischer Knappheit und vornehmer Zurückhaltung der eigenen Tätigkeit vorgetragene Beschreibung des Gefechtsverlaufs führte uns, obwohl seit dem Tage des Gefechts schon zwei Monate verstrichen waren, den Kampf mit so lebendiger Anschaulichkeit vor Augen, daß man ihn mitzuerleben glaubte. Das [80] Schlachtfeld, das zwar in der Hauptsache von den Deutschen abgeräumt war, trug doch noch deutliche Spuren des Kampfes und regte die Vorstellungskraft mächtig an. In den Dörfern eine beklemmende Menschenleere. Noch liegt auf vielen Feldern das Getreide, das nicht eingeheimst worden, faulend am Boden. Flüchtig aufgeworfene Deckungen, von Granaten aufgewühltes Erdreich, da und dort ein umgestürzter, halbzerschossener Wagen, Granathülsen, die zeigen, daß auch hier viele Ausblaser fielen, Granatsplitter, deutsche und französische Infanteriepatronen, zerschlagene Lebelgewehre, französische Tornister, Patronentaschen, Bekleidungsstücke, Gamellen mit Speiseresten, Schuhe mit groben, schlechten Flicken, oft mehrere an einem Paare, wohl von Verwundeten ausgezogen, weil sie drückten, blaue Überzüge um die roten Käppi, nicht zu vergessen endlich die berühmten fagots de bois, das Bündel von drei niedlichen, hübsch dekorativ geschnittenen Scheitchen aus Rundholz, das der französische Infanterist seit Napoleons I. Zeiten immer noch auf dem Tornister zum Anzünden des Lagerfeuers mit sich trägt, heutzutage eine reine Spielerei und unnötige Belastung. Alle diese Gegenstände lagen auf dem Schlachtfelde zerstreut oder in Häufchen zusammengetragen herum.
Den tiefsten Eindruck aber machen die zahlreichen mit Blumen oder Kränzen geschmückten Kriegergräber, jedes durchschnittlich fünfzehn bis zwanzig Gefallene bergend, meistens Deutsche [81] und Franzosen getrennt, mit Inschriften: Hier ruhen 18 Deutsche — „Hier liegen 22 Franzosen, die Kreuze der Offiziersgräber die Namen der Gefallenen tragend. Die französischen Gräber mit Tornistern hübsch eingerahmt, auf dem Grabe der französischen Offiziere die Trikolore mit blauen, weißen und roten Tuchstücken oder mit Blumen in denselben Farben erstellt. Für diesen sinnigen Gräberschmuck haben die Franzosen eine besondere Vorliebe. Die deutschen Offiziersgräber tragen auf dem Kreuzstock einen Helm. — Auf einem Acker pflügen zwei alte Bauern mit vergrämten Mienen, ein junges, verschüchtertes Mädchen bringt ihnen das Vesperbrot. Im Dorfe aber verkehrt die kleine württembergische Landsturm-Besatzung gemütlich mit den zurückgebliebenen französischen Einwohnern und scherzt mit den Kindern. Geschwätzige Frauen erzählen uns von der Angst, die sie während der Schlacht in den Kellern verborgen ausgestanden, von den Verwundeten, die alle nicht zerschossenen Häuser nach dem Gefecht anfüllten, von der Hilfe, die sie geleistet haben. Fillières hat übrigens in dem Begegnungsgefecht weniger gelitten als viele andere Dörfer der Gegend. Das Dach des Kirchturmes ist schon ausgebessert.
In dem stillen Waldtale der Crune, zwischen Serrouville und Fillières, liegen hart am Wege einige wohlgepflegte Einzelgräber. Ein besonders reich mit Blumen und Kränzen geschmücktes trägt auf dem Kreuze die Inschrift: Dem fürs Vaterland [82] gefallenen treuen Gatten und Vater Major v. Schlieben. An seinem Geburtstage, 19. 9. 14. Es ist die Ruhestätte des gefallenen Kommandeurs des Bataillons, dessen vierte Kompanie Hauptmann Knahts geführt hatte. Major v. Schlieben war am nahen Waldrande gefallen im Augenblicke, wo er sorglos eine Zigarre anzünden und den Gefechtsbefehl für sein Bataillon ausgeben wollte. Er war aus dem schützenden Walde herausgetreten und sofort von französischen Schützen aufs Korn genommen worden. Von einer Kugel in die Stirne getroffen war er tot zusammengebrochen.
Wenige Schritte abseits der Straße liegt im Grunde des Waldtälchens die Mühle von Serrouville mit dazugehörenden Wohn- und Wirtschaftsbaulichkeiten. In diesem Gehöfte war am 22. August der Hauptverbandplatz der Deutschen. Hier lagen am Abend des Schlachttages wohl an die tausend Verwundete, Deutsche und Franzosen, die Schwerverwundeten unter Dach und Fach auf Matratzen und Stroh gebettet, viele leichter Verwundete in den Scheunen oder im Obstgarten oder im Hofraume. Hierher war auch Hauptmann Knahts gebracht worden. Er rühmt die Hilfsbereitschaft der Müllersleute, welche ihr Möglichstes taten, um die Not der Verwundeten zu lindern; er lobt besonders die werktätige Hilfe der Frauen. Da kommen sie auch schon herbei, der Müller, die Müllerin, ihre Tochter und deren Freundin und ein kleiner Junge. Zutraulich lassen sie sich in ein Gespräch ein, die Müllerin will [83] sogar den Hauptmann wiedererkennen. Die guten Leute haben auch zwei Söhne im französischen Heere stehen, von denen sie seit der Mobilmachung am 1. August ohne Nachricht sind.
Die Kriegergräber bei der Mühle von Serrouville werden in guter Hut sein. Die Müllersleute werden sie hegen und pflegen, aus menschlichem Mit- und Pietätsgefühl, aus Achtung vor der Hoheit des Soldatentodes und vielleicht auch ein klein wenig aus verzeihlicher Berechnung. Denn über Jahr und Tag, wenn der Krieg, so die Geschicke es fügen, zu Ende sein wird, werden Hunderte und Tausende aus Deutschland und aus Frankreich an die Stätten pilgern, wo die fürs Vaterland gefallenen Väter, Söhne, Brüder und Geliebten im kühlen Schoß der Erde ruhen. Und Jahr für Jahr wird sich die Pilgerfahrt des jüngeren Geschlechtes wiederholen in die Gegenden, wo jetzt der Krieg tobt, während die Alten, wie schon seit 1870, den Gräbern von Spichern und Wörth, von Mars la Tour und Gravelotte, ihre Huldigung darbringen.