Kluge Gänse
[176] Kluge Gänse. In einem früheren kleinen Beitrage für die Gartenlaube bat ich die Leser dieses vortrefflichen Blattes, mir allerlei kleine Geschichten und Anekdoten aus dem Thierleben zusenden zu wollen, um mich dadurch in den Stand zu setzen, dieselben einem großen Leserkreise mittheilen zu können. Nachstehende verbürgte Thatsachen darf ich als Ergebniß dieser Bitte betrachten. Ich verdanke ihre Mittheilung einem Manne, welcher längst bekannt geworden ist im Vaterlande, wenn auch nicht als fleißiger, aufmerksamer Beobachter der Natur, wie ich ihn kenne. Möchten doch noch Andere bald seinem Beispiele folgen und derartige Züge aus dem Thierleben, welche auf die geistige Wirksamkeit der Thiere ein so helles Licht werfen, sammeln und veröffentlichen oder mir zur Veröffentlichung übergeben! – Diesmal mögen Beobachtungen hier Platz finden, welche der Redensart „dumme Gans“ ihren so oft mißbrauchten Stachel einigermaßen abstumpfen werden.
Dumme Gans! Ja wohl! wenn man die Gans auf dem festen Lande watscheln sieht und sie dann und wann den Kopf schief hält, gewährt sie den Anblick einer in sich vollendeten Dummheit. – Daß aber Schlauheit sich recht gut mit Dummheit verbinden kann, dafür dient folgendes Geschichtchen zum Beleg. In unserm Dorfe, in K., sitzt im Thorweg des obern Gasthofs seit undenklichen Zeiten immer eine Obsthökerin. Eine Gans sah eines Tags die schönen Aepfel im Korb und wurde lüstern danach. Sie faßte Muth, trat keck an den Korb, wollte einen Apfel stehlen, wurde aber erwischt und bekam einen Schlag auf den Kopf. Sie schlich betrübt von dannen. Aber – sie kehrte bald zurück, drückte sich an die Wand des Gasthofs und schlich langsam dem Thorweg näher. An der Ecke stand sie still. Plötzlich fuhr sie mit ihrem langen Hals herum, blitzschnell in den Korb hinein, packte einen Apfel und eilte mit ausgebreiteten Flügeln von dannen. Aus einem Hause, das dem Gasthofe gegenüberliegt, und das einen Seitenflügel des fürstlichen Schlosses bildet, hatte mein Vater die „schlaue Gans“ beobachtet, und wer die Gans „dumm“ schalt, der mußte sich von ihm die Geschichte der schlauen Gans erzählen lassen, er mochte sie anhören wollen oder nicht.
Herr Baron von M. auf St. ritt einst durch ein Dorf. Zufällig bemerkt er, wie eine Gans nach einem Riemen in die Höhe springt, der an einer Thüre hängt. Sie packt den Riemen, die Thür geht auf und die Gans wackelt in das Haus hinein. Der Beobachter reitet auf das Haus zu, fragt der klugen Gans nach und erfährt, daß dieselbe wahrscheinlich durch einen Zufall entdeckt hat, daß die Thür aufgeht, wenn an dem Riemen gezogen wird; seitdem pflegte die Gans ihr Kunststück täglich zu üben.
Ich kann diesen Geschichtchen noch eine unserer Beobachtungen beifügen, welche ebensosehr für die Klugheit der Gänse spricht. Sie betrifft einen Gansert, welcher außerordentlich gern naschte und namentlich in den Getreidefeldern seine Lüsternheit zu befriedigen suchte. Natürlich wurde er und die übrigen Gänse regelmäßig bald vertrieben, gewöhnlich vermittelst eines Hundes, welcher seine Pflicht vortrefflich erfüllte. Die Gänse lernten das ihnen feindselige Thier sehr bald kennen und fürchten, und es kam bald so weit, daß sie sich augenblicklich auf die Flucht begaben, wenn dem Hunde gerufen und er aufgefordert wurde, die Näscher zu verjagen, während sie sonst doch bei anderem Lärm ganz ruhig fortweideten. Beweist nun dieses schon die Schlauheit der Thiere, so beweist sie das Betragen des einen Ganserts noch viel mehr. Derselbe entfloh nämlich keineswegs mit seinen Genossen, sondern duckte sich so tief zwischen die Halmen des Getreides, daß er den Blicken vollkommen entschwand, blieb hier ruhig liegen und fraß weiter. Ja, zuletzt trieb er sein Versteckenspielen so weit, daß er auch die ihm geltenden Lockungen verachtete und selbst die Dorfgänseheerde an sich vorübertreiben ließ, ohne sich zu rühren. Erst wenn er gänzlich sicher zu sein glaubte, zeigte er sich wieder. – Nun spreche mir noch Einer von dummen Gänsen!