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Klein-Deutschland

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Textdaten
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Autor: J. J.
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Titel: Klein-Deutschland
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aus: Die Gartenlaube, Heft 48, S. 781, 782
Herausgeber: Ernst Keil
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1874
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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[781] Klein-Deutschland. Mit dem Namen „Klein-Deutschland“ oder auch „Dutchtown“, wie der Amerikaner es in seine Sprache übersetzt, wird ein ziemlich umfangreicher Stadttheil New-Yorks bezeichnet, der zwar nicht ausschließlich, aber doch vorzugsweise von Deutschen bewohnt ist. Die obige Bezeichnung für das deutsche Quartier und namentlich die amerikanische Lesart derselben ist hier bei Weitem geläufiger als in Deutschland der Name Waldeck oder Lichtenstein. Der Ankömmling von drüben, an welchem Punkte der Manhattan-Insel er immer landen möge, darf sicher sein, daß er in dem Ersten, der ihm begegnet, einen sichern Wegweiser nach „Dutchtown“ findet.

Schon das äußere Gepräge dieses Stadttheils unterscheidet sich merklich von seiner Umgebung, allerdings nicht immer zum unbedingten Vortheile unserer Landsleute. Was ihn ganz besonders kennzeichnet, ist der in ihm durchweg vorherrschende Gebrauch der Muttersprache, leider in einer so verkommenen Gestalt, daß ein „Grünhorn“ (Bezeichnung für den Ankömmling) versucht werden könnte, sie für ein völlig fremdes Gewächs zu halten. Außerhalb „Dutchtown“ dürfte es auf der Erde kaum einen Platz geben, wo die verschiedensten deutschen Mundarten in gleicher Weise gegen einander ausgetauscht werden. Vom derben ostfriesischen Seemannsfluche bis zur gewähltesten Höflichkeitsformel eines biederen Sachsen variirt der herrliche Mutterlaut in allen ihm möglichen Modulationen. Durch den fortwährenden unmittelbaren Austausch der Dialecte einerseits und durch die Aufnahme vieler mundgerechter englischer Wörter, die meistens von unsern schwäbischen Landsleuten des bessern Klanges wegen mit der Nachsilbe „le“ geziert werden, andererseits entsteht jenes wundervolle Sprachsammelsurium, das in Pennsylvanien unter dem Namen „deutsch-pennsylvanisch“ sogar der Landessprache gefährlich zu werden droht.

„Klein-Deutschland“ umfaßt etwa vierhundert Häusergevierte oder sogenannte Blocks; es hat sechs Avenues oder Längenstraßen, die von vierzig und einigen Querstraßen rechtwinkelig geschnitten werden. Auf diesem Flecke wohnen nicht weniger als fünfzigtausend Deutsche einmüthig beieinander; in höchst einzelnen Fällen hat sich ihnen eine irische Familie zugesellt. Während politische Grenzen in keiner Weise sichtlich hervortreten und an die alten Tage der Heimath erinnern, scheint religiöser Einfluß durchgehend die Wahl einer Niederlassung bestimmt zu haben. So haben die Katholiken namentlich den untern oder südlichen Theil in Beschlag genommen, wo ihre mächtige Kathedrale an der dritten Straße den Schwerpunkt bildet, während die einfachen, meist thurmlosen Gotteshäuser der Protestanten und freien Gemeinden nur im oberen Theile zu finden sind. Will der Jude einer ähnlichen Neigung folgen, so siedelt er sich bei seinen Glaubensgenossen in der zehnten Straße an.

In industrieller und mercantiler Hinsicht steht „Klein Deutschland“ nicht nur keinem der übrigen Stadttheile nach, sondern es hat in verschiedenen Branchen des gewerbthätigen Lebens gar eine Berühmtheit erlangt. So beherrschen die Norddeutschen den ganzen Kram- und Gemüsemarkt New-Yorks, während Süddeutschland vorzügliche Bierwirthe liefert. Das Fleischer- und Bäckeramt betrachten die Schwaben als ihr Privilegium, wie die polnischen Juden die Weißwaaren- und Putzgeschäfte.

Wenn irgendwo in der Welt das Handwerk einen goldenen Boden hat, so ist dies ganz gewiß in „Dutchtown“ der Fall. Hier ist Armuth eine große Seltenheit; dahingegen würde man bei etwaiger Haussuchung kaum eine Familie finden, die nicht im Besitze eines Sparcassenbuches wäre, das freilich in den wenigsten Fällen Reichthümer enthält; denn nach hiesiger Auffassung der Begriffe „reich“ und „arm“ giebt ein Vermögen von zwei- bis dreitausend Dollars noch kaum das Recht, seinen Besitzer wohlhabend, geschweige denn ihn reich zu nennen.

Unter den Geschäftsstraßen, die unser „Deutschländchen“ der Länge nach durchschneiden (denn nur die Längenstraßen sind in größeren amerikanischen Städten die eigentlichen Geschäftsstraßen), darf ich zwei als besonders charakteristisch hervorheben: die Bowery, zugleich westliche Grenze, mit ihren zahlreichen Kunsttempeln und Vergnügungslocalen, die der Deutsche mit dem Irländer brüderlich theilt, und die Avenue B, an welcher sich die mercantilen Geschäfte concentriren. Letztere wird auch deutscher „Broadway“ genannt. Wenn man sich eine Leipziger Messe oder irgend einen der größten Jahrmärkte Deutschlands vergegenwärtigen will, so hat man damit eine ziemlich schwache Vorstellung von dem Leben und Treiben, das Tag für Tag, jahraus, jahrein auf dieser Promenade herrscht. Jedes Erdgeschoß ist eine blühende Werkstatt, jede Beletage ein brillanter Laden, und die streckenweise überdachten Seitenwege bilden einen unabsehbaren Stapelplatz für Waaren, offen für Jedermann; obwohl nun tausenderlei allerliebster Kleinigkeiten von geschickten Fingern ohne viel Aufhebens zu annectiren wären, gehört ein Diebstahl auf offener [782] Straße doch zu den Seltenheiten. Unsere Diebe sind gar romantische Naturen; sie lieben gefahrvolle Einbrüche, blutige Raubanfälle, aber es würde eine Schande für die ganze Sippschaft sein, ließe sich einer auf einem so gewöhnlichen und gefahrlosen Wege ertappen.

Je näher der Abend kommt und je mehr das Leben im unteren, dem eigentlichen Geschäftstheile der Stadt erstirbt, desto mehr beleben sich die Straßen im „kleinen Deutschland“. Tausende und aber Tausende von Familienvätern sind heimgekehrt, und ein Jeder derselben macht nach eingenommenem Abendbrod den üblichen Spaziergang mit Weib und Kindern, wobei in der Regel die Einkäufe für den folgenden Tag besorgt werden. Dem Nützlichen verbindet sich das Angenehme. Orgeldreher und fahrende Musikbanden erscheinen auf der Scene, beginnen jetzt den glanzvollsten Abschnitt ihrer Thätigkeit und finden auf Schritt und Tritt ein dankbar lauschendes Publicum. Fruchthändler und der unvermeidliche Zuckerwaaren-Verkäufer belagern die Straßenecken, und die pyramidenartig aufgestapelten Producte des Südens lächeln gar zu verführerisch in dieser magischen Kienspahnbeleuchtung. Ein zahlloses Heer barfüßiger Zeitungsjungen versorgt um diese Zeit den Markt mit echten und unechten Depeschen, die das Kabel am Nachmittage gebracht, oder mit Abendblättern, die in politsch-mageren Zeiten von schauerlichen Sensationen strotzen. Hie und da lodert eine mit Theer bestrichene Tonne mitten auf der Straße, um von irgend einem frohen Familienereignisse Kunde zu geben oder um die Reste verfaulten Bettstrohes zu verschlingen. Sobald die Witterung ein längeres Verweilen unter freiem Himmel gestattet, entfaltet das beschriebene Bild sich in einem noch größeren Maßstabe auf dem „Tompkin-Square“, einem großen quadratförmigen freien Platze im Centrum unseres deutschen Quartieres.

Auch im Uebrigen hat der Bewohner „Dutchtowns“ sich den Gebräuchen der alten Heimath wenig entfremdet; ja manche seiner Naturanlagen scheinen hier sogar noch einer höheren Entwickelung fähig zu sein. Der Genuß des Bieres zum Beispiel ist verhältnißmäßig stärker als in irgend einer durstigen Stadt der alten Welt, selbst München nicht ausgenommen. Bier und Sauerkraut sind die einzigen deutschen Wörter, welche hinsichtlich ihrer Aussprache dem Amerikaner keine Schwierigkeiten machen, die einzigen Laute, die ihm zu Gebote stehen, wenn er das Nationalgefühl seines teutonischen Vetters reizen will, und nicht selten haben wir die Ehre Mr. Lagerbier oder Mr. Sauerkraut angeredet zu werden. Gambrinus ist der gute Geist in jeder Familie: ihm zu Ehren thront der Pitcher (Krug) in allen Größen und Formen auf dem Kamingesimse jeder Haushaltung, und die ritterliche Gestalt des edlen Flandern erscheint in allen unseren Festzügen und ungleich majestätischer als die verblichene Fratze des irischen Sanct Patricks, der bei dergleichen Gelegenheiten den Whiskey zu repräsentiren hat.

Wie man Bowery die Kunststraße, Avenue B die Geschäftsstraße nennen könnte, so ließe sich Avenue A als Lagerbierstraße bezeichnen. Hier reiht sich eine Halle des erhabenen Gambrinus an die andere; hin und wieder nur ward es einem Austern-Salon oder einer Specereihandlung gestattet, die Eintönigkeit zu unterbrechen. „Das muß ein gar gemüthliches Kneipenleben sein,“ denkt man gewiß in Deutschland. Aber man irrt sich; gemüthlich ist es keineswegs, und so ein alter, regulärer Stammgast von drüben möchte das Leben in einem New-Yorker Bierlocale höchst unbehaglich, sogar unheimlich finden. In vielen Fällen wird der Mann auf seinen Biergängen vom Weibe begleitet, das sich theils unter die Gesellschaft des Salons mischt, theils gleich einer Rebekka am Brunnen mit dem Kruge am Schenktisch auf den Quell des Lebens wartet. Wenn der deutsche Mann hier ein Auge zuzudrücken hat, genießt er auf der andern Seite das dem Amerikaner fast unbekannte Glück, in seinem Weibe eine treue Lebensgefährtin zu besitzen. Mit geringer Ausnahme ist das deutsche Weib hier eine wackere, in das Geschäft oft fördernd eingreifende Hausfrau. Die Weiberrechtlerinnen haben im „Deutschländchen“ bisher wenig Anklang gefunden, während es unseren Frauen keineswegs an Energie fehlt, die ihnen innerhalb ihres Bereiches zustehenden Rechte mit dem größten Nachdrucke zu vertheidigen. So war ich noch vor wenigen Tagen Zeuge einer gar komischen Scene, die darin bestand, daß ein Haufen Mütter einen Yankee, der sich etwas vorwitzig über den deutschen Kindersegen ausgesprochen hatte, mit Besenstielen bis zur Grenze transportirten.

Bezüglich der Temperanz- und Sonntagsgesetze nimmt „Klein Deutschland“ dem übrigen New-York gegenüber eine immerwährend feindliche Stellung ein, die in ruhigen Zeiten jedoch niemals einen herausfordernden Charakter annimmt. In der Wahlzeit aber würde ein politischer Candidat nie auf die Stimme eines Deutschen zählen können, wofern er es unterließe, die Beseitigung der verhaßten Gesetze in sein Programm aufzunehmen. So wenig der Deutsche sich sonst um die öffentlichen Angelegenheiten der Stadt kümmert, an seinem Sonntagsvergnügen hat er mit der ihm eigenen Zähigkeit festgehalten. Während in den irischen und Yankee-Quartieren der Sonntag eine plötzliche unheimliche Stille hervorruft, gleicht das Völkchen von „Dutchtown“ an diesem Tage einem summenden Bienenschwarme in der Stille des Urwaldes.

Die zahllosen Vergnügungslocale, die Volks- und Nationalgärten an der Bowery sind bereits am Nachmittage übervölkert, und Kunstgenüsse der verschiedensten Art vom classischen Drama bis zur Puppen-Komödie herab befriedigen den Geschmack und das vorhandene Bedürfniß in jeder Richtung. Neben diesen für Jedermann meistens gratis geöffneten Kunsttempeln laden zahlreiche Vereine und Gesellschaften zu ihren Abendunterhaltungen ein; Gesang, Declamation, ein Lustspiel, abwechselnd mit einer Operette, und Ball bilden in den meisten Fällen das während der Saison wenig veränderte Programm. Unser „Deutschländchen“ zählt allein an sechszig Gesangvereine, unter denen mehrere ihr eigenes Local besitzen. Während der Sommermonate werden die Sonntage natürlich zu weiteren Ausflügen benutzt; Excursionen zu Wasser oder zu Lande dürfen bei uns Deutschen stets auf lebhafte Theilnahme rechnen, und vor allen Plätzen ist das liebliche „Staten-Island“ am Eingange der Bai von New-York das Ziel unserer sonntäglichen Wallfahrten. Die schattenreichen Waldungen, die anmuthigen Hügel, die eine weite Aussicht auf das Meer gestatten, zumeist aber das Kommen und Gehen heimathlicher Segel – alles Dies übt einen ganz besonderen Zauber und läßt uns die liebe alte Heimath nie ganz vergessen. Die Anziehungskraft dieses Eiländchens ist so gewaltig, daß selbst die entsetzliche Westfield-Katastrophe, die an einem Sonntagnachmittage des vorigen Sommers mehr als hundert Menschenleben auf dieser Fahrt vernichtete, seiner Frequenz kaum etwas geschadet hat. Auch die an der Nordseite der Stadt gelegenen Parks bieten unsern deutschen Völkerschaften ein günstiges Terrain zur Abhaltung landesüblicher Feste, unter denen das dreitägige Cannstädter Volksfest eine hervorragende Stelle einnimmt. An dieses schließt sich dann eine Reihe von Kirchweihen, Schützen- und Sängerfesten, Wurst- und Traubenmärkten, die erst spät im Herbste ihr Ende erreicht.

Auf dem Gebiete der Politik, das bekanntlich hier zu Lande zu den einträglichsten gehört, haben unsere Klein-Deutschen sich bisher am unthätigsten gezeigt, und ich bin genöthigt, ihnen diese Lauheit bis zu einem gewissen Grade als eine Ehre anzurechnen. Die himmelschreienden und vor aller Welt beispiellos dastehenden Uebelstände in der städtischen Verwaltung New-Yorks belasten das Conto unseres ehrlichen Namens nicht mit dem geringsten Posten, und kein Deutscher figurirt auf der Liste unserer größten und gemeinsten Staatsverbrecher. Zwar besitzen wir auch unsere politischen Genossenschaften, jedoch nur, um am Wahltage die Parade mitmachen zu können. Auch fehlt es im „Deutschländchen“ nicht an sogenannten Wardpolitikern, ehrlosen Subjecten, die den Judaslohn sicher nicht von der Hand weisen würden; allein das politisch schwerfällige deutsche Element ließ sich für ihre Zwecke nie verwerthen. Erst die allmächtig strahlende Siegessonne des deutschen Kaiserreichs erweckte auch bei uns Deutsch-Amerikanern neues politisches Bewußtsein und eine regere Theilnahme am öffentlichen Leben. In jenen glorreichen Tagen war es eine Lust, durch’s „Deutschländchen“ zu wandern. Guirlanden und Kränze schmückten jeden Giebel, und die Fahnen verschwanden fast nie von den Dächern. Jünglinge, die „Wacht am Rhein“ singend, durchzogen die Straßen Arm in Arm, als ginge es zu einer Rekrutenaushebung oder zum Ausmarsche in’s Feld. Die wunderbare „Nationalhymne“ erklang vom frühen Morgen bis spät in die Nacht; sie klang aus jeder Bierhalle, aus jedem Arbeitsshop; der Vater lehrte sie seinem Knaben; die Mutter sang ihren Säugling damit zur Ruhe. Versammlungen fanden an allen Ecken und Enden statt; ich erinnere mich, daß ich an einem Abend an sieben verschiedenen Plätzen Sympathien für die gerechte Sache meines Vaterlandes zum Ausdrucke gebracht habe. Uebrigens nehmen seit dieser Zeit die Deutschen mehr Antheil an den hiesigen politischen Bewegungen.

J. J.