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Kismet (Novelle)

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Textdaten
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Autor: Hugo Rosenthal-Bonin
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Titel: Kismet
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 22, S. 688, 690–692, 694, 695, 698–700
Herausgeber: Adolf Kröner
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1899
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger G. m. b. H. in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung: Eine Novelle aus Persien
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[688]

Kismet.

Eine Novelle aus Persien von H. Rosenthal-Bonin.

Wenn der Monat Juni beginnt, dann flüchtet alles, was nur irgendwie die Mittel dazu aufbringen kann, aus dem baumlosen, staubigen, erstickend heißen Teheran, der von wüstenartigen Steinhalden und Salzebenen umgebenen Hauptstadt des persischen Reiches, hinauf zu den Höhen der Schemiraner Berge, zu den Hügelterrassen, die, von Bächen durchrauscht, schöne Thalgründe bergen, in denen üppige Gärten gedeihen und schlanke Platanen ihre grünen schattenspendenden Kronen ausbreiten. Hier weht eine frischere Luft und die Nächte sind kühler als in der von einer unbarmherzigen Glutsonne ausgedörrten Hauptstadt. Auf diesen Bergterrassen entstehen dann Zeltansiedelungen, in denen die vornehmeren und begüterten Einwohner Teherans die Sommermonate zubringen; hier haben die Gesandtschaften ihre umfangreichen Sommerzelte, so der russische, österreichische, englische, türkische Gesandte, hier besitzt auch der Schah schöne Lustschlösser mit herrlichen Gartenanlagen und künstlichen Seen zum Aufenthalt für die heiße Jahreszeit, und in zahlreichen Dörfern, umgeben von grünen Feldern und schönen Fruchtbäumen, wohnt eine arbeitsame friedliche Bevölkerung.

Nicht weit von der Sommerresidenz des Schah, Niaveran, liegt das Dorf Kassim, dessen grüne Wiesen ein halbes Hundert Kühe ernähren und dessen Bewohner als Kirschenzüchter sowie als Korbflechter weithin eines besonderen Rufs sich erfreuen.

Als der angesehenste Bauer Kassims galt Ghulam Hussein. Ihm gehörten von den fünfzig Kühen der Ansiedelung dreißig; er lieferte die Milch in das Hoflager des Schah, und von seiner Mühle bezog die Sommerresidenz das feine Weizenmehl. Jedoch diese Besitztümer hielt man nicht für den größten Reichtum Ghulams, für kostbarer als all dies erachtete man des reichen Bauern Tochter Anymeh, ein schlank gewachsenes Mädchen, dessen mandelförmige glänzend schwarze Augen, blonde Haare und zart gelbliches Gesicht jeden Kenner der Schönheit entzückten.

Anymeh war größer als die Perserinnen gemeinhin sind, ernst und arbeitsam, ihre dunklen Augen blickten scharf und klug, und die kühn geschwungenen Lippen ihres kleinen Mundes verliehen dem Mädchen etwas seltsam Anziehendes. Alle jungen Leute viele Stunden im Umkreis waren in Anymeh vernarrt, und Ghulam wurde schon seit drei Jahren mit Heiratsanträgen, die um Anymehs Hand warben, und mit Anerbietungen reicher Morgengaben – denn in Persien erhält der Vater solche, wenn er eine Tochter verheiratet – förmlich überschüttet.

Ghulam hätte es auch ganz gern gesehen, wenn seine Tochter den einen oder den anderen der begüterten Freier erhört hätte; Anymeh hatte jedoch entgegen dem persischen Gebrauch, nach welchem die Töchter stillschweigend dem Willen der Eltern sich fügen, hinsichtlich ihrer Verheiratung ihren eigenen Kopf. Mit vierzehn Jahren heiraten in diesem Lande der heißen Sonne die wohlhabenden Mädchen gewöhnlich. Anymeh zählte jetzt schon sechzehn Jahre, aber bei jedem neuen Freier, der sich einstellte, schüttelte sie den Kopf, und schließlich erklärte sie dem Vater: „Gott möge dir noch hundert Jahre Leben schenken – du bist gesund und stark und wirst mich nicht so bald allein lassen! Wir haben es ja nicht nötig, daß du auf eine schnelle Versorgung für mich bedacht sein mußt, also gewähre mir, Vater, zu warten, bis einer kommt, der mir völlig gefällt!“ Der alte Ghulam hatte großen Respekt vor der Klugheit seiner Tochter; that sie doch nie etwas, ohne gründlich darüber nachzudenken, auch verstand sie zu lesen und zu schreiben – Dinge, die ihm weltenfern lagen und welche er als hohe Weisheit bewunderte. So ließ er denn der schönen Anymeh ihren Willen. Sie wird schon Ernst machen, wenn sie es für recht hält, meinte er bei sich.

So lagen die Dinge im Hause Ghulams, als der Sommer wieder nahte.

Der alte Schah Mahumed war gestorben, sein Sohn Nassr-Eddin hatte den Thron bestiegen und sollte jetzt zum erstenmal als Herrscher des Landes die Sommerresidenz beziehen. Schon trafen lange Züge mit hochbepackten Kamelen ein, die Dienerschaft auf Pferden und Eseln und in dichtverschlossenen Sänften, von Maultieren getragen die Damen des Harems. Endlich kam auch der Schah auf einem weißen Rosse, das durch Hennah rötlich gefärbt war, umgeben von den Würdenträgern seines Hofes, die alle auf kostbar geschirrten schwarzen Pferden ritten. Zweihundert mit Panzerhemden bekleidete Lanzenreiter gaben dem Zug das Geleite. Und nun entwickelte sich ein buntfarbiges Leben innerhalb der stundenweiten Ummauerung des königlichen Landsitzes und in den umliegenden Zeltanlagen.

Anymeh war die alljährliche Wiederkehr dieses Treibens gewohnt, es brachte ihr nichts Neues; sie ging dieses Jahr wie jedes andere vorher mit ihrem Vater auf die Landstraße, wo der Zug vorbeikommen mußte, und begrüßte den Monarchen mit tiefgeneigtem Kopfe, die Hände kreuzweis auf der Brust, das blonde Haupt mit der hohen weißen, kegelförmigen Steifgazemütze geschmückt, den blauen Wollenschleier zurückgeschlagen. Die Augen aufzuheben, war verboten, und Anymeh hatte bisher stets [690] die Vorschrift eingehalten. Da – wer kann der Macht des Kismet, der Fügung, entgehen – that sie es plötzlich doch und sah vor sich den letzten unter den Beamten, einen jungen Mann, bei dessen Anblick es sie wie ein heftiger Schreck durchfuhr. Es war aber ein seltsam freudiger Schreck. Wie ein Feuerstrom flutete es ihr zum Herzen; sie wankte fast unter der Macht dieses Eindruckes und mußte sich gewaltsam aufrecht erhalten. Wohl senkte sie sogleich den Blick wieder zur Erde, aber eine Macht, die stärker war als ihr Wille, zwang sie, die Augen wieder zu erheben und noch einmal auf den jungen Mann zu schauen. Jetzt trafen sie auch die Blicke des Reiters – ihr Herz erbebte, der Atem stockte ihr in der Brust. Welch tiefer Ernst beseelte diese Augen, und dennoch entströmte ihnen ein flammend Leuchten, das sie bezauberte, berückte, sie fast von Sinnen brachte. Es war Anymeh zu Mute, als ob sie vor Schmerz vergehen müßte, und zugleich hätte sie vor Glückseligkeit laut hinausschreien mögen. War das die Liebe – ist das die Liebe? sann das Mädchen. Sie taumelte, indes sie in der glühenden Sonnenhitze neben ihrem Vater dem Dorfe wieder zuschritt, sie wandelte wie berauscht. Der alte Ghulam ergriff seine Tochter bei der Hand und führte sie. „Das ist die Sonne, sie ist schon stark, du hättest nicht so lange in der Hitze stehen sollen,“ murmelte er.

„Ja, es war die Sonne,“ flüsterte mit seltsam traumhaftem Gesichtsausdruck Anymeh. Dann aber richtete sie sich plötzlich in die Höhe, hielt den Kopf wie gewaltsam aufrecht und schritt ruhig und fest neben ihrem Vater ihrer Behausung zu.

Ghulam Husseins Anwesen unterschied sich durch Größe und Stattlichkeit von den übrigen Häusern des Dorfes, die meistens Hütten aus Lehmziegeln waren. Der reiche Landmann wohnte in der Ruine einer Feste, von welcher noch die Umwallung aus einer Steinmauer und ein Turm aus luftgedörrten Backsteinen übrig waren; an den Turm waren schiefgedeckte Ställe für langhaarige Ziegen angebaut, ebenso ein großes Wintersteinhaus für die Kühe. Der runde Turm mit je einem Fenster nach Nord und Süd auf seinen drei Stockwerken, die allerdings keine Glasscheiben, sondern nur ausziehbare Schilfmatten als Verschluß hatten, diente zur Wohnung und gewährte Vorratskammern.

Jetzt befand sich nun Anymeh unten im Wohnzimmer ihrem Vater gegenüber. Vater und Tochter hatten jedes ein niedriges buntbemaltes Eßtischchen vor sich und saßen mit untergeschlagenen Beinen nach orientalischer Art auf einer Binsenmatte auf dem Boden, indessen eine kurdische Magd mit bronzefarbenem Gesicht, Schlitzaugen und platter Nase die Herrschaft bediente; sie verzehrten ihr einfaches Mahl, bestehend aus Kirschenreis, Thee und Salzoliven. Solange die Magd zugegen war, wurde kein Wort gewechselt. Jetzt war das Mahl beendet und die Kurdin saß draußen vor der Thür, die Schüssel auf dem Schoße, nunmehr selbst ihre Mahlzeit verzehrend; Ghulam Hussein hatte von seiner Tochter die angezündete Wasserpfeife gereicht bekommen und entlockte behaglich dieser duftende Rauchwolken. Da brach Anymeh das Schweigen und begann: „Der neue König hat ein zahlreiches Gefolge.“

„Das hat er,“ antwortete Ghulam, „weil er neben manchen alten Dienern, die er von seinem Vater übernommen, noch junge Beamte ganz nach seinem Willen sich gewählt hat. Der junge König – Gott möge ihm hundert Jahre Leben schenken! – soll klug sein und die Absicht haben, viele Uebelstände abzustellen – Gott möge hierzu ihm seine Hilfe verleihen!“

„Ich sah einen Mann unter den Dienern, der noch nie hier war,“ fuhr Anymeh, die Augen starr vor sich auf die Theeschale geheftet, fort, „einen großgewachsenen Mann mit schwarzem Barte und gerader Nase, er ritt als letzter.“

„Ich kenne den Mann nicht, aber Gamber Ali, unser Nachbar, der ihn kannte, sagte, er sei der Sohn des Küchenmeisters und Oberkochs Thagi, ein Gelehrter, der die Dichter lesen könne und sogar die Sprachen der Jnglis (Engländer) und Franken verstände. Er sei schon, als der König – Gott möge ihm Segen und Gesundheit verleihen! – noch ein Kind war, dessen Spielkamerad und Lehrer gewesen und jetzt unterrichte er den Schah in der Frankensprache.“ Bei der Erwähnung, daß der junge Mann ein Sohn des Oberkochs sei, hatte ein freudig aufleuchtender Strahl aus den Augen Anymehs den erzählenden Vater getroffen, doch der Blick verdüsterte sich wieder, als ihr Vater auch das andere berichtete.

Anymeh sah darauf wieder starr vor sich nieder, der alte Ghulam rauchte.

„Ob die Sprache der Franken wohl schwer zu erlernen ist,“ spann jetzt Anymeh, wie in Gedanken vor sich hinsprechend, die Unterhaltung wieder fort.

„Gewiß, sehr schwer,“ antwortete Ghulam, „denn es lernt sie fast niemand, und Leute, die in Frankistan gewesen sind, haben sie – das weiß ich – auch nicht gelernt.“

„Aber jener Thagi versteht die Sprache,“ versetzte Anymeh, gedankenvoll aufschauend.

„Ja, er muß ein großer Gelehrter sein.“

„Ich möchte die Sprache auch verstehen,“ meinte darauf Anymeh.

„Eh, wer wird solche Dummheiten sprechen,“ antwortete, eine gewaltige Rauchwolke ausstoßend, der Bauer. „Eine Frau und die Sprache von Frankistan! Willst du Minister werden und mit den Gesandten dich streiten?“ spottete er; „besorge die Kühe und die Schafe, koche deinem Manne seine Lieblingsgerichte und du wirst glücklich sein. Ich glaube gar, du würdest den Sohn des Kochs heiraten um der Sprache der Franken willen,“ lachte Ghulam von neuem.

„Ja – das möchte ich,“ antwortete da Anymeh, mit ihren dunklen Augen voll, groß und ernst den Vater ansehend, so daß dieser unter diesem Blick, den er kannte, stutzig wurde und die Pfeife aus dem Munde nahm.

„Ich würde alle Schätze, die ich besitze, hingeben, wenn dieser Mann mich zu seinem Weibe wählen wollte,“ fuhr Anymeh in der gleichen Weise nachdrücklich fort.

Ghulam legte das biegsame Pfeifenrohr auf den Tisch und schlug die Hände zusammen. „Die Sonne hat dir den Kopf verwirrt, Töchterchen,“ sprach er. „Du hast ja den Mann heute zum erstenmal in deinem Leben gesehen und kein Wort mit ihm gesprochen,“ warf er weiter ein.

„Und doch kenne ich ihn. Er ist ein großer Mann und ein guter Mann,“ versetzte das seltsame schöne Mädchen, immer noch als ob es in Gedanken vor sich hinspräche.

„Und du – eine Bauerntochter und er – ein Genosse und Lehrer des Königs!“

„Haben doch Fürsten Bauerntöchter geheiratet!“

„Ja, in den Versen der Märchenerzähler und vor tausend Jahren, als die Kühe noch singen konnten,“ versetzte Ghulam.

„Wenn er mich lieben könnte, würde er mich auch heute heiraten können. Weshalb denn nicht?“ wandte Anymeh ein.

„Du bist nicht gescheit,“ meinte darauf der Bauer, sich vom Tische erhebend, „du träumst und sprichst wie im Fieber. Der Anblick des Zuges, der Weg und die Hitze haben dich krank gemacht, sonst könntest du, mein vernünftiges, kluges, gescheites Mädchen, solchen Unsinn nicht sprechen. Lasse dir einen kalten Trunk bereiten und lege dich nieder. Einer aus der Umgebung des Königs und die Tochter Ghulam Husseins – wie sollten die zusammen kommen! Begieb dich zur Ruhe oben in dem luftigsten Zimmer, Töchterchen,“ mahnte der Bauer sorgenvoll und verließ den Raum, um nach der Bewässerung seiner Obstgärten zu sehen.

Wenn es für die Tochter des Bauern Ghulam „Kismet“ war, den jungen Thagi zu erblicken, so schien es nicht minder Bestimmung für Mirza Thagi gewesen zu sein, daß ihm Anymeh gerade vor der Sommerresidenz begegnete und die Blicke der beiden sich trafen. Der Sohn des Kochs war kein großer Frauenverehrer, ja man hatte ihn an dem sehr leichtfertigen Hofe des Schah Mahumed als einen Weiberhasser verspottet. Das war jedoch der junge Mann nicht. Er hatte sich ein großes Ziel gesteckt: obwohl nur der Sohn eines Kochs, hatte er alles drangesetzt, in die Kreise der Gelehrten zu kommen, und getrieben von einem wahren Feuereifer für alles, was Wissenschaft hieß, arbeitete er mit rastlosem Fleiß auf allen Gebieten, wo er sich nur Hilfsmittel verschaffen konnte, seine Bildung zu vollenden und sich auch eingehende Kenntnisse von dem Leben und Treiben, den Wünschen und Bedürfnissen der Völker zu verschaffen. Selbst ein Sohn jener südlichen Landschaft, deren Hauptstadt Schiras ist, war er an den Hof des Thronfolgers gekommen, welcher damals in einer Art Verbannung als Statthalter einer entlegenen Provinz am persischen Meerbusen lebte und dessen Gesellschafter und Lehrmeister er wurde. Völlig in Anspruch genommen von diesem Wissensdurst, [691] lockte ihn keinerlei Zerstreuung, und so kam es, daß all die freundlichen Blicke, welche dem zum auffallend schönen Manne Herangewachsenen auch von seiten der Damen des Hofes zu teil wurden, an seinem ernsten gehaltenen Wesen wirkungslos abglitten. Jedoch sein Kismet sollte es sein, daß er Anymeh sah; die echt persische und doch besondere Schönheit des Mädchens fesselte seine Aufmerksamkeit und das blitzartige Wirken seiner Erscheinung auf dies ungewöhnliche Landmädchen, welches sich in dessen Blick, in ihrer ganzen Haltung ihm gegenüber offenbarte, traf sein Herz und prägte das Bild ihrer Schönheit seiner Phantasie tief ein. Von dem Augenblick an, da Mirza Thagi Anymeh erschaute, beschäftigte sie seinen Geist und erwachten in ihm Gefühle, die ihm bisher völlig fremd waren. Er empfand Sehnsucht, dies Mädchen wiederzusehen, er wünschte, mit ihm zu sprechen, seine Stimme zu hören, zu vernehmen, wie es dachte und fühlte, überhaupt in seiner Nähe zu sein, und die Wissenschaften dünkten ihm mit einem Male viel weniger wichtig. Unruhe hatte sich seiner bemächtigt und es drängte ihn, zu erfahren, wer dies schöne Mädchen war und wem sie angehörte.

Währenddessen saß Anymeh oben in dem luftigsten Zimmer des Turmes, der das väterliche Wohnhaus bildete, und hatte die Rohrjalousie heruntergelassen, daß es dämmrig finster in dem kahlen Raum war – aber in der Dunkelheit sah sie im Geiste nur noch heller die Gestalt dieses Mannes, der ihr wie ein überirdisches Wesen erschienen war. Er ist mein Kismet – sagte sie sich – ich habe so lange warten müssen, bis ich ihn sah, und jetzt ist mein Schicksal erfüllt – ich soll ihm angehören – ob er mir –? Das werden die Heiligen wissen – das wird die nächste Zeit entscheiden – er wird zu mir kommen, wenn das so bestimmt ist. Wird er kommen …? Diese Frage wogte unablässig in Anymehs Brust und das schöne Persermädchen litt vor Sehnsucht und Bangen, was die Zukunft bringen würde.

Mirza Thagi stand nicht im Verhältnis der regulären Hofbeamten zum Schah, er hatte sich keiner der tausend Vorschriften des am Hoflager herrschenden Ceremoniells zu fügen, seine Stellung war freier: wenn der Schah ihn nicht zu sich entbot oder seine Begleitung zu einem der vielen kostbar und prunkvoll ausgestatteten Theesalons des weitläufigen Parks der Sommerresidenz wünschte, konnte der junge Gelehrte thun, was er wollte. Nun hatte Thagi stets einen besonderen Eifer, die Verhältnisse aller Berufsklassen eingehend kennenzulernen, an den Tag gelegt, und somit fiel es nicht auf, daß sofort nach der Ankunft in Niaveran der absonderliche Mirza Thagi seine gesamte freie Zeit darauf verwandte, die Gehöfte der Bauern in der Umgebung des Sommerschlosses zu besichtigen und sich speciell von den Zuständen des Ackerbaues und der Weiden- und Obstkultur in der Nähe von Kassim zu unterrichten. Er hatte mit den Bauern und Korbflechtern Gespräche angeknüpft, viele Fragen an die Leute gestellt, war in ihre Güter getreten und jetzt, nachdem eine Woche seit dem Einzuge in Niaveran verflossen war, stattete er auch dem Hofe des reichsten und angesehensten Ackerbauers der ganzen Umgegend, Ghulam Hussein, einen Besuch ab.

Als er mit dem Eisenschlägel an das wohlverwahrte Hofthor der kreisförmigen Ummauerung pochte, öffnete Ghulam Hussein selbst.

„Ich bin Mirza Thagi vom königlichen Hoflager und möchte deine Obstgärten, welche ich als die besteingerichteten weit und breit habe preisen hören, kennenlernen.“

Ueber Ghulams braunes, faltiges Gesicht lief ein unmerkliches Lächeln; der Bauer verneigte sich tief und machte Mirza das Zeichen, einzutreten. „Sie werden nicht viel Neues sehen, hoher Herr,“ erwiderte er, „die Gärten von Niaveran haben viel prächtigere Anlagen. Indessen, Herr, Ihr Besuch ist mir eine Ehre, belieben der hohe Herr mir zu folgen.“ Und überaus höflich machte jetzt Ghulam den Führer Thagis durch die Aprikosen-, Pflaumen- und Kirschengärten, er zeigte auch dem wissenseifrigen jungen Mann die Dörrhäuser für die Früchte, in welchen entweder durch die Sonnenhitze oder vermittelst Feuerung die Aprikosen und Pflaumen getrocknet wurden. Hierbei entfernte sich jedoch der Landmann mit seinem Gaste naturgemäß immer weiter von dem Wohnhause, für welches Mirza Thagi auch ein großes Interesse zu haben schien, da er unter den Erklärungen seines Führers öfter aufmerksame Blicke dorthin sandte; endlich äußerte der junge Mann den Wunsch, noch die Ställe Ghulams, die ihm ihres schönen Viehstandes wegen so sehr gerühmt worden wären, zu besichtigen. Ghulams Gesicht wurde bei der Aeußerung dieser Wißbegierde noch um einen Schatten dunkler und ein Zug von Mißvergnügen lag in seinen kleinen, sonst so hell und heiter blickenden Augen; er verneigte sich aber höflich und kehrte mit seinem Besucher zum Hofe zurück.

Im zweiten Stock des Turmes, an dem Fenster nach dem Garten zu, öffnete sich in diesem Augenblick die Rohrjalousie ein wenig und ein weißes Gewand schimmerte und ein mit vielen Goldreifen geschmückter heller Arm ward sichtbar. Der Vorhang ging ganz in die Höhe und Anymeh erschien am Fenster, sie verneigte sich vor dem Fremden unverschleiert – das war ungebräuchlich, jedoch Anymeh that überhaupt manches, was gegen die althergebrachten Vorschriften für ihr Geschlecht verstieß. Mirza Thagi erwiderte die Begrüßung durch eine ehrerbietige Neigung, dann trat er mit Ghulam in die Ställe und schenkte diesen viel Aufmerksamkeit.

Nun waren auch diese besehen, und Ghulam hätte als ein so höflicher Mann, wie er sich zeigte, und dem allgemein geübten Herkommen gemäß, den Besucher einladen müssen, in das Haus zu treten und eine Tasse Thee mit ihm zu trinken. Ghulam Hussein unterließ auffallenderweise diese selbstverständliche Ehrung eines Gastes, was einen scharfen, prüfenden Blick des Mirza auf ihn hervorrief. Der Bauer öffnete stumm die Stallthür und der junge Mann schritt hinaus auf den Hof, dann schritt Ghulam ihm voran, dem großen Thore zu.

Langsam, wie zögernd, folgte Thagi; als er am Turm unter dem Fenster, an welchem er die Frauenerscheinung erblickt hatte, vorüberwandelte, fielen von oben drei zusammengebundene Nelken vor seine Füße nieder. Schnell bückte sich der Mirza, hob die Blumen auf und verbarg sie in der Brustfalte seines kaftanähnlichen blauen Rockes. Er warf einen Blick nach dem Fenster hinauf. Die Jalousie war heruntergelassen und niemand mehr dort zu sehen. Währenddessen hatte Ghulam das Hofthor geöffnet und verabschiedete sich, ehrerbietig und ausgesucht höflich sich verneigend, von seinem Gaste.

Als Ghulam den schweren Verschlußbalken an das Thor gelegt hatte, zeigte sein Gesicht einen sehr verdrießlichen Ausdruck. „Was will der hier,“ murmelte er, „er stört mir nur die Ruhe meines Kindes! Heiraten wird er sie doch nie, wenn er auch nur der Sohn eines Kochs ist – er sieht aus, als ob er noch zu höheren Stellungen bei Hofe gelangen würde … Gleich zu gleich – das bringt Segen … Ich werde dem Mädchen aufpassen.“

Am hohen Bogen des Einganges zu dem Turme trat ihm Anymeh mit strahlendem Antlitz entgegen. „Er war hier,“ sprach sie mit glückseligen Augen. „Er wird kommen und um mich freien.“

„Unsinn! Er kann gar nicht um dich freien, denn er ist schon jetzt nicht mehr von deinem Stande,“ antwortete der Bauer unwirsch.

„Es ist unser Kismet, Vater, sonst hätte ich ihn nicht gesehen und er wäre nicht hergekommen.“

„Schlage dir solche Gedanken aus dem Kopf, sonst wirst du eine schwere Täuschung erleben. Es giebt zweierlei Kismet, eines, das man sich einbildet, ein anderes, das Gott verhängt,“ versetzte Ghulam, „seine Nebenfrau wirst du doch nicht werden wollen.“

„Nein, niemals!“ meinte das Mädchen, mit Stolz sich aufrichtend. „Nur seine Gemahlin, und das werde ich.“

„Ich kenne dich gar nicht wieder,“ entgegnete darauf der Bauer. „Du denkst sonst so vernünftig und klüger und schärfer als die andern Frauen und läßt dich jetzt von solch einem Wahn ganz verblenden.“

„Kein Wahn, Vater – mein Schicksal!“ antwortete das Mädchen überzeugt.

„Narrheit!“ rief der Landmann. „Mädchentollheit, Schäume und Träume, die vergehen,“ setzte Ghulam Hussein mürrisch hinzu und ging an seine Arbeit.

„Wir werden sehen, wer recht behält,“ sprach Anymeh und begab sich wieder in ihr Zimmer an den Webstuhl, um in den neuen wollenen Schleier, den sie sich nach Landesgebrauch selbst verfertigte, goldene Glücks- und Zukunftsträume einzuweben.

Unterdessen wanderte Mirza Thagi nachdenklich den Weg [692] zur Sommerresidenz zurück. Als er die Weiden des Flüßchens hintet sich hatte, wo er vom Hofe nicht mehr beobachtet werden konnte, nahm er das Nelkensträußchen, welches vor ihm niedergefallen und unzweifelhaft von dem schönen Mädchen für ihn bestimmt war, hervor und betrachtete es. – Die drei mit einem blauseidenen Faden zusammengebundenen Nelken hatten hierdurch Herzform, sie waren purpurrot, und dies bedeutete ein Herz voll Liebe. – Es war also ein Liebesgruß, den die schöne Tochter des reichen Bauern ihm hatte zukommen lassen. Wie entzückend sie ausgesehen hatte! Und dies Mädchen liebte ihn: Liebe war es gewesen, was sie damals so seltsam erbeben ließ, als er ihrem Blick beim Einritt in das Dorf begegnet war, jene Liebe auf den ersten Blick, welche die Dichter so oft geschildert haben, die den ganzen Menschen gefangen nimmt und die auch ihn damals mit süßem Schrecken ergriffen hatte. Ein beseligendes Glücksgefühl schwellte seine Brust. Und doch wurde ihm das Herz schwer, als er seine Lage weiter überdachte. Heiraten konnte er noch nicht. Er hatte bis jetzt noch keine sichere Stellung, er bezog keinen festen Sold. Er selbst war arm und besaß gar nichts. Sein Gönner, der junge Schah, machte ihm von Zeit zu Zeit Geschenke. Aber die Gunst der Könige ist wandelbar, und bei dem Intriguenkampf, der am Hoflager herrschte, der niemand verschonte und alle Verhältnisse bestimmte, konnte er über Nacht ohne Beruf und ohne jedes Einkommen sein. Wie hätte er es wagen dürfen, in einer derartig unsicheren Lage vor diesen reichen Bauern zu treten und um seine Tochter anzuhalten. Was konnte er dem Manne als Morgengabe bieten? Nichts als schöne Aussichten, die in ungewisser nebelhafter Ferne lagen. Dem Bauern schien zudem seine Person nicht angenehm zu sein, und der schlaue Alte mußte irgend etwas gemerkt haben, was ihm nicht gefiel, sonst hätte er ihn nicht so entschieden von seinem Hause ferngehalten. Das erwog Mirza Thagi, die Blumen in der Hand, langsam am Bache wandelnd, und er kam zu dem Entschluß, das schöne Mädchen zu meiden und dies entstehende Feuer zu dämpfen, bevor es zu spät war und die Flammen über sie beide zusammenschlugen.

Aber trotz dieses Vorsatzes und ungeachtet der sorgfältigen Beobachtung, mit welcher Ghulam Hussein seine Tochter umgab, geschah es dennoch, daß die beiden jungen Leute an einem kühlen Morgen, zu ungewöhnlich früher Stunde für Spaziergänge, in dem Weidenthal zwischen Niaveran und Kassim sich trafen.

Mirza Thagi grüßte Anymeh und Anymeh zog den Schleier etwas über ihr Gesicht und grüßte tief den Sohn des Küchenmeisters. Und Mirza Thagi blieb trotz der großen Vorsätze vor der schönen interessanten Bauerntochter stehen, ließ sein Buch, in welchem er dem Anschein nach eifrig gelesen hatte, sinken und begann ein Gespräch mit Anymeh. Mirza Thagi war gewiß ein geistreicher, tiefdenkender, außerordentlich gelehrter Mann, und trotzdem fing er, als wäre er der gewöhnlichste Sterbliche, von dem Wetter zu sprechen an. Er sagte nämlich: „Der schöne, liebliche Morgen hat wahrscheinlich dich, ehrsame Jungfrau, zu dem Bächlein herausgelockt, um die Kühle zu genießen.“

„So ist es, hochedler Herr,“ antwortete Anymeh.

„Der Ort hier ist so schön, als hätten ihn die Dichter erfunden zur Begegnung für Liebende,“ fuhr der junge Mann fort.

„Ihr sagt das Richtige, hoher Herr,“ erwiderte Anymeh, den Kopf senkend und den Schleier tiefer über ihr Gesicht ziehend.

„Du kennst solche Gedichte, edle Jungfrau?“ frug der Mirza erfreut.

„Ja, ich lese manchmal und verstehe etwas zu schreiben,“ versetzte darauf mit einigem Stolz Anymeh.

„Du –?“

„Ja, edler Herr, mein Vater hat auf mein Drängen mir einen Mullah aus Teheran kommen lassen, der mich unterwies.“

„Das ist erstaunlich,“ meinte Thagi.

„Wir können es, denn wir sind reich.“

„Das weiß ich.“

„Und ich habe keine Geschwister. – Mir fällt einst, wenn mein Vater aus dieser Welt geht – was Gott noch hundert Jahre verhüten möge! – der Hof und die Mühle zu,“ fuhr Anymeh fort.

„So wirst du es einmal gut haben,“ äußerte der junge Gelehrte nachdenklich.

„Und der, welcher mich zur Gattin wählt, gleichfalls,“ kam es leise von Anymehs Munde.

„Der Glückliche!“ ließ Mirza Thagi fallen.

Beide gingen jetzt schweigsam nebeneinander. Es war eine lange, schwüle Pause.

„Es haben schon viele um mich angehalten,“ nahm jetzt Anymeh das Gespräch wieder auf. „Die besten Söhne unserer Landschaft! Ich habe mich zu keinem entschließen können, weil für mich Bildung höher steht als Besitz und – ich auf die Sprache des Herzens höre – und dies hatte bisher immer geschwiegen,“ fügte Anymeh leise hinzu.

„Und schweigt es immer weiter?“ konnte der grundsatzfeste junge Mann nicht umhin, darauf einzuwerfen.

„Nein,“ antwortete das Mädchen kaum hörbar.

„Es hat für mich gesprochen, ich weiß es, edle Jungfrau!“ sagte der Mirza mit leuchtenden Augen.

„Es ist so, hoher Herr.“

Und Mirza Thagi ergriff die Hand Anymehs, führte sie zum Munde und küßte sie feurig.

„Hoher Herr, mein Vater ist gegen Euch!“ sprach jetzt Anymeh. „Er glaubt, daß wir der Verschiedenheit unseres Standes wegen nicht füreinander passen. Das glaubt er, er will mein Bestes und liebt mich sehr, aber er ist ein einfacher Mann, er weiß nicht, daß ich über den Stand eines gewöhnlichen Bauernmädchens weit hinaus bin, und er kennt die Macht der Liebe nicht, die stark wie der Tod ist und alle Unterschiede aufhebt. Aber wenn Ihr zu ihm kommt, hoher Herr, und mich als Gattin begehrt, wird er Euch nicht abweisen.“

„Ich bin arm, teures Mädchen, und kann ihm keine Morgengabe bieten – ich mag nicht wie ein Bettler erscheinen,“ versetzte darauf Mirza Thagi trübe.

„Wenn er über Eure Wahrhaftigkeit und Eure edlen Absichten im klaren ist, macht ihm das nichts. Ihr habt eine glänzende Zukunft, hoher Herr, das weiß ich so sicher, als die Sonne jetzt am Himmel steht, und wir können warten: es wird nicht lange währen, und Ihr steht auf der Höhe des Lebens, und Euch strömen Schätze zu. Das ist felsenfest!“

„Du hast ein großes Zutrauen auf meinen Glücksstern,“ meinte Mirza Thagi lächelnd.

„Das größte von der Welt, Herr,“ versetzte Anymeh mit ruhigem Gesichtsausdruck und leuchtenden Augen.

„Möge es so werden, wie du sagst! Als ich dich erblickk, fühlte ich, daß ich dich lieben müsse. Es sollte so sein, daß wir uns fanden, um einander anzugehören. Ich werde morgen zu deinem Vater kommen, um mit ihm zu sprechen.“

Anymeh schlug den Schleier zurück, der Mirza schloß die schlanke Gestalt in seine Arme und küßte Anymeh auf den Mund und auf die Augen. Dann schieden die Liebenden schnell, da die Morgenstunde schon vorgerückt war und es gegen alle gute Sitte und jedes Herkommen gewesen wäre, hätte man sie hier allein bei einander gesehen.

Am nächsten Morgen ließ der Schah dem Mirza Thagi sagen, daß er seine Gesellschaft für einen Spaziergang durch den „großen Garten“ – das war ein ziemlich entlegener Teil der Parkanlagen hinter dem Schlosse, wo diese in Platanenwäldchen und Wiesenhänge übergingen – wünsche und ihn bei dem letzten Theekioske erwarte. Die Stunde war sehr früh für das Leben am Hofe angesetzt.

Mirza Thagi fand sich an dem bezeichneten Platze ein, und bald sah er den jungen Schah durch den schnurgeraden, langen, im Gold der Früchte schimmernden Mittelgang der Orangenbäume herankommen. Zu seiner Verwunderung verabschiedete Nassr-Eddin jetzt mit einer Handbewegung gänzlich das Gefolge seiner obersten Hofchargen, die den Monarchen immer umgaben, die auch, wenn er allein gehen wollte, dem Ceremoniell nach stets in einer gewissen Entfernung ihm zu folgen hatten, und schritt langsam, den scharfgeschnittenen Kopf gesenkt, auf Mirza Thagi zu.

So ernst hatte der Mirza den jungen Herrscher noch nie gesehen – das mußte etwas zu bedeuten haben.

Nassr-Eddin erwiderte die tiefe Verneigung des Mirza mit einem freundlichen Winken der Hand; er wandte sich und schien sich überzeugen zu wollen, ob das Gefolge auch wirklich nicht in [694] der Nähe sei – dann begann er lebhaft: „Mirza – ich habe mit dir etwas Wichtiges zu reden.“

„Ich bin Ohr, Herr,“ erwiderte Thagi, dem Schah sich anschließend und neben ihm herschreitend.

„Ich habe jetzt genug gesehen und erfahren,“ nahm der Schah, schwer seufzend und düster vor sich hin blickend, das Wort. „Unsere Finanzen sind zerrüttet, unser Heer ist verlottert, unsere Landwirtschaft liegt danieder, unsere Hilfsquellen versiegen immer mehr. – Wir haben keine eigene Politik – wir sind die gehorsamen Sklaven bald Englands, bald Rußlands geworden. – Ein Spott, ein Schemen von Staat! – Was hat man aus dem einst so blühenden und großen Lande gemacht! Alles ist in Schwäche, Genußsucht, Ehrlosigkeit versunken. Alles stiehlt und betrügt und will sich maßlos bereichern; der Höhere immer auf Kosten der Niederen und alle zum Schaden des Staates. Wir stehen am völligen Zusammenbrach, wenn das so weiter geht. – Sage ich die Wahrheit?“

„Du sagst die traurige Wahrheit, o König!“

„Es muß hier Abhilfe geschaffen werden, schleunige, energische. Wir müssen einschneiden in das kranke Fleisch mit scharfen Messern und mit starker Hand. Ich will, ich muß! Ich schäme mich vor mir selbst, der Herrscher eines solchen Landes zu sein. – Sage ich zu viel, Mirza? Sprich!“

„Du sagst nicht zu viel, o König – aber du übernahmst das Reich in einem solchen Zustande – du bist an den sehr, sehr alten Uebeln nicht schuld.“

„Jedoch schon monatelang bin ich jetzt König, und ich habe keinen Stein in den Sumpf geworfen und keine Erde hineingethan, um ihn auszutrocknen,“ schloß der junge Schah in bitterem Tone.

„Es ist noch nicht zu spät, o König,“ warf Mirza Thagi hierauf ernst ein.

„Ich muß jemand zur Seite haben, der mir treu hilft,“ fuhr jetzt Nassr-Eddin fort. „Einen ehrlichen Mann, einen ernsten, strengen, thatkräftigen Mann, der allein steht, ohne Anhang in der verrotteten Beamtenschaft – und dieser Mann bist du, Mirza – du ganz allein.“

„O Herr, das ist ein Amt, ein Unternehmen, zu schwer für einen Menschen,“ erwiderte fast finster Mirza Thagi.

„Ich werde dir zur Seite stehen, mutig, fest und stark, und bald werden alle Vaterlandsfreunde uns zur Seite stehen; du sollst stets eine Stütze an mir haben, immer direkt mit mir allein verkehren, du kannst die Männer zur Hilfe wählen, welche du willst. – – Sag’, wirst du deinen König allein lassen?“

„Aber die Königin, Eure Mutter?“ warf Mirza Thagi besorgt ein.

„Ich weiß, worauf du deutest. Sie ist meine Mutter, aber – Gott mag ihr’s verzeihen! – sie ist der Schutzgeist aller der Gebrechen, die auf uns lasten und die unter meinem schwachen, kranken Vater so tief sich einfraßen. Will sie uns hindern, werde ich ihr – Gott wird mir’s verzeihen! – entgegentreten,“ sprach entschlossen Nassr-Eddin. „Es werden alle unbrauchbaren und ungetreuen Beamten entfernt. Du trittst an die Spitze der Regierung. Ich ernenne dich zum Vezier des Reichs, verleihe dir den Titel Amire-nizam – du wirst mir der große Arzt unseres kranken Landes sein.“

„Ich, der Sohn eines Koches!“ hielt Mirza dagegen. „Ein armer Mann, aus einer der niedersten Familien des Reiches!“

„Gerade deswegen. – Ich zeige dadurch merklich und eindringlich, in einer unverkennbaren Sprache, daß ich mit dem Alten gebrochen habe, daß eine neue, andere, bessere Zeit beginnt, in welcher Arbeit, Ehrlichkeit, Kenntnisse, Klugheit und wirkliches Verdienst gelten sollen.“

„Man wird mich, den Sohn des Küchenmeisters, verlachen,“ warf der Mirza ernst ein.

„Der Tod dem, der dich verlacht!“ rief der junge Schah. „Und bist du, Mirza Thagi, der Mann, der sich verlachen läßt? Das wäre mir ganz neu an dir. Ich weiß, was ich thue, Mirza! Du bist der Mann, der Hilfe bringen kann. Du kennst das Volk. Du kennst alle Gebrechen, an welchen mein Reich krankt. Du hast einen tapferen Geist, scharf wie Stahl, alles durchleuchtend wie die Sonne, und eine eiserne Hand. Du verstehst mit den Fremden zu verkehren, das habe ich gesehen: ich täusche mich nicht in dir. Wenn dein Freund dich bittet und dein König befiehlt, was wirst du thun?“

„Dem Befehle folgen, o König!“

„Nur dem Befehle, Mirza?“

„Nein, auch dem Wunsche meines erhabenen Gebieters.“

„So sei es, Amire-nizam!“ sprach darauf der Schah. „Wir dürfen nicht zögern, nicht eine Stunde soll verloren gehen – noch heute werde ich meinen Entschluß verkündigen und dich in alle Würden einsetzen, dir die höchste Macht neben der meinen geben, und dann wollen wir gemeinsam an das ernste Werk gehen. Reformen heißt dies, Reformen an allen Gliedern des Reichs, von den Wurzeln bis hinauf zum Wipfel.“ Nassr-Eddin ergriff beide Hände seines neuen Veziers und drückte sie herzlich.

So endete diese merkwürdige für die Entwicklung des neuen Persiens so wichtige Unterredung in den Gärten der Sommerresidenz zu Niaveran, sechs Monate nach der Thronbesteigung des neuen Schah.

Nassr-Eddin hatte nicht in einer Aufwallung des Augenblicks gesprochen – es war ihm bitterer Ernst um die Sache, er war vom heftigsten Zorn erfüllt gegen die herrschende Korruption, Schlaffheit und Beutelschneiderei. Er verkündete, daß von heute an Mirza Thagi Vezier des Reichs sei, mit den höchsten Machtbefugnissen, und daß er, der Schah, alles billige, was der neue erste Minister anordnen und ausführen werde.

Dies Ereignis hatte eine Wirkung gleich einem Blitz aus heiterem Himmel und machte zuerst am Hofe ein ganz ungeheuerliches Aufsehen, und dann lief die Nachricht durch das Land, wo die unerhörte Maßregel unheimliche Gefühle, namentlich in den Kreisen der Beamten erweckte, während das niedergedrückte Volk nur neue Uebel befürchtete.

Auch bei Anymeh hatte die Kunde, welche ihr natürlich noch am selben Tage zu Ohren kam, keine rechte Freude erweckt, namentlich weil der Tag, dessen Verlauf sie nach Minuten zählte, vorüberging, ohne daß ihr Geliebter sich zu dem entscheidenden Schritt, von dem ihre ganze Zukunft, ihr Lebensglück abhing, einstellte. Aber die kluge Perserin entschuldigte den Mann ihres Herzens mit der Fülle der durch einen solchen Umschwung der Verhältnisse herandrängenden Geschäfte, die es ihm sicher unmöglich machten, zu ihrem Vater zu kommen. Der alte Ghulam schüttelte bei der Nachricht den Kopf und äußerte: „Ist er ein ehrlicher Mann und ein tüchtiger, gerechter Vezier, so werden sie ihm bald den Kopf abschneiden, und ist er wie die andern, so haben wir durch diesen Wechsel nichts gewonnen. Deine Einbildungen aber Anymeh kannst du ruhig zu Grabe tragen. Wie wird ein solcher Mann, ein Vezier, die Tochter Ghulam Husseins zum Weibe nehmen!“

„Das muß die Zukunft erst erweisen, Vater,“ antwortete darauf Anymeh fest und zuversichtlich, jedoch der Blick ihrer Augen war dabei nicht heiter.

Das Staunen am Hofe über die Erhebung des Sohnes des Küchenmeisters zum ersten Minister des Reiches ging bald in Entsetzen über, als der neue Vezier eine ganze Reihe von Hofbeamten fortschickte, weil ihre Aemter nicht nötig seien und der Stand der Staatseinkünfte diese Belastung verbiete. Im Hoflager trieben sich zu Hunderten Diener und Klienten der höheren Beamten herum, welche diese auf Kosten des Hofes ernährten, und deren von der Staatskasse ihnen ausgezahlten Sold diese Nichtsthuer zum größten Teil ihren Herren geben mußten. Der neue Vezier schaffte hier gründlich Wandel. Er ordnete an, daß diese Hofchargen ihre Diener auf eigene Kosten zu erhalten und zu besolden hatten, worauf der ganze ungeheuere Schwärm wie weggeblasen verschwand. Dann ging Amire-nizam gegen die Gouverneure der Provinzen vor: schamlose Erpresser und Aussauger des Landes, die kaum den zehnten Teil der von ihnen aufs unbarmherzigste eingetriebenen Steuern der Staatskasse zuführten. Er setzte diese ab, ließ ihnen durch neuerrichtete ordentliche Gerichtshöfe den Prozeß machen und einige der ärgsten Schufte einkerkern. Er führte ein geordnetes Steuerwesen ein. Amire-nizam gab dem Lande eine geregelte Militäraushebung. Bisher hatten die Viertelsmeister der Städte und die Machthaber in den Dörfern die bestimmte Anzahl von Rekruten einfach aufgegriffen und mit Gewalt, halbtot geprügelt und gefesselt, wenn sie nicht willig waren, in die [695] sogenannten Militärstationen bringen lassen, aus welchen sie nur durch Bestechung wieder herauskamen, während sie sonst ihr ganzes Leben Soldat bleiben mußten. Jetzt herrschte hier Losziehung und freiwillige Stellvertretung.

Alle diese tiefeinschneidenden Aenderungen setzte der neue Vezier mit eiserner Energie und rücksichtsloser Strenge durch. Das mißhandelte Volk atmete auf, es empfand das Walten des neuen Premierministers als eine Wohlthat. Aber zu vielen Tausenden erwuchsen in den durch die Neuerungen bei ihrem Thun geschädigten Kreisen Amire-nizam tödliche Feinde. Der Gouverneur von Chorasan erregte einen gefährlichen Aufstand gegen die neue Regierung, auch die fanatisch am Alten hängende sehr mächtige Priesterschaft Jspahans entzündete einen wilden Aufruhr gegen den furchtlosen Neuerer. Amire-nizam schlug mit gewaltiger Hand die Bewegungen nieder und übte unerbittlich streng gerechte, aber blutige Vergeltung.

Und Anymeh? Tag für Tag wartete sie auf das Erscheinen ihres Freiers, dem sie sich ja verlobt, der ihr den Verlobungskuß gegeben und ihr die Ehe versprochen hatte. Der Auserwählte ihres Herzens kam nicht. Es vergingen Wochen, Monate, eine schreckliche Zeit vergeblichen Harrens und Hoffens, beleidigten Stolzes, verzweiflungsvoller Pein für Anymeh. Der Sommer neigte sich dem Ende zu, schon kamen regnerische und kühle Tage, und es hieß, daß das Hoflager zur Uebersiedelung nach Teheran sich rüstete – da entschloß sich Anymeh, ein Letztes zu wagen. Sie schrieb einen Brief an den Ungetreuen, der lautete: „Hältst Du so Dein Wort Deiner unglücklichen Anymeh?“ Und das Mädchen verstand es, dies Schreiben an den neuen Vezier gelangen zu lassen.

An seinem mit Schriften hochbeladenen Arbeitstisch empfing Thagi den kunstvoll zusammengelegten, mit Wachs verschlossenen Streifen; er las die Zeilen und seine Augenbrauen zogen sich düster zusammen; er stützte einen Augenblick den Kopf in die Hand und dann sprach er zu sich: Wie weit liegt das hinter mir zurück, obwohl es ja nur eine kleine Spanne Zeit ist, seit ich von einem Bund fürs Leben mit Anymeh träumte! Ja, eine Welt liegt dazwischen. Das Mädchen ist schön, liebreizend – aber wie dürfte ich jetzt mich dem süßen Glück der Liebe hingeben? An mich sind andere Forderungen getreten, von mir hängt das Wohl und Wehe von Millionen Menschen ab, ich kann mich nicht ablenken, zerstreuen lassen durch ein Leben im Hause, als Ehemann und Familienvater, ich habe eine höhere Bestimmung und größere Ziele als das beschränkte Glück der Häuslichkeit. Das Glück eines Einzelnen, was besagt das dem Wohle der Allgemeinheit gegenüber? Mag auch sie etwas opfern, den Traum eines Mädchenkopfes. Sie wird sich trösten und der Vezier verbrannte den Brief an dem Siegellicht auf seinem Tisch. Dann ging er wieder an seine Arbeit.

Der Schah verließ Niaveran, das Hoflager siedelte in die Hauptstadt über, und mit diesem der Amire-nizam.

*               *
*

Ein Jahr verging und auch ein zweites, Anymeh hatte nie mehr ein Wort oder eine Botschaft von ihrem einstigen Verlobten erhalten, ihn nie mehr erblickt, da der Schah seine Sommerresidenz nach Manzure, einem Schloß höher in den Bergen, verlegt hatte. Anymehs Wesen war finster geworden, ihre Augen schärfer, es glühte in ihnen ein düsteres Feuer. Das Mädchen sprach nie ein Wort, und wenn die Rede auf Amire-nizam, den neuen Vezier, kam, den so viele im Land segneten, murmelten Anymehs schmal und blaß gewordene Lippen Verwünschungen, blickte ihr finsteres Auge starr. Ihre Liebe zu dem Manne war in Haß umgeschlagen, in bitteren, unversöhnlichen, wilden Haß, der sich noch vertiefte und verschärfte, als das Gerücht zu ihr gelangte, der Vezier werde demnächst auf den Wunsch des Schah eine Prinzessin des königlichen Hauses als Gattin in sein Haus nehmen. Er hatte sie tödlich beleidigt, ihre Liebe verschmäht, sie so gedemütigt, daß sie kaum noch leben konnte vor Schmach. Jeden Verkehr vermeidend, von allem abgeschlossen, lebte Anymeh dahin, mechanisch ihre Arbeiten verrichtend, Wollstoffe für sich und ihren Vater webend und den Gemüsegarten nahe beim Haus besorgend. Verdrossen und schmerzlich besorgt sah der stark alternde Ghulam dem unheimlichen Walten seiner Tochter zu, die nach wie vor den Freiern, welche er ihr zuführte, sich ablehnend zeigte.

In dem letzten Jahre hatte sich jedoch ein Bewerber um die Hand Anymehs eingefunden, der hartnäckiger als alle übrigen um das noch immer schöne Mädchen warb: es war dies ein Beamtensohn aus Jmmamzade-Kassim, einem höhergelegenen Dorfe bei Niaveran, und dieser Freier, Abdul Kerim, war ein starkgewachsener Mann mit großem, eckigem Gesicht, von beschränktem Ausdruck, doch mit seltsam flimmernden, unruhig blickenden Augen. Sein sehr vermögender Vater hatte ihm ein Landgut in der Nähe Niaverans gekauft, welches er fleißig und geschickt bewirtschaftete.

Zuerst hatte Anymeh auch diesen Freier schroff zurückgewiesen; als er jedoch nach einem Jahre wiederkam, schien er mehr Gnade vor ihren Augen zu finden, sie ließ bei den Besuchen, welche er ihrem Vater machte, sich sehen und ging sogar hin und wieder mit dem jungen Mann in den Obstgärten spazieren.

„Ihr werbt um mich,“ sprach eines Tages bei einer solchen Unterredung Anymeh zu Abdul Kerim, „gut, ich bin nicht abgeneigt, Euch als Weib zu folgen, aber ich verlange vorher einen großen, schweren Dienst von Euch.“

„Welchen?“ frug Kerim.

„Amire-nizam zu töten!“

Kerim fuhr erbleichend zurück. „Was hat Euch der Mann gethan, den so viele im Lande segnen?“

„Ich hasse ihn, er ist mein Todfeind.“

„Das sagt mein Vater auch, aber den hat er beleidigt, geschädigt, Eurem Vater jedoch, Jungfrau, ist der Mann, so viel mir bekannt, nicht zu nahe getreten.“

„Ich verabscheue ihn wie eine Schlange, ich kann nie froh werden, so lange er lebt. Wie kann ich heiraten mit diesem Haß im Herzen, der auf mir liegt wie eine finstere Macht und nicht von mir weichen wird, so lange jener lebt?“ Wild und hart stieß Anymeh diese Worte hervor. „Ich fluche ihm! werde ihn verfluchen mein Leben lang!“

„Warum, Jungfrau? Was hat Euch solchen Haß gegen diesen Mann eingegeben?“

„Liebt Ihr mich?“ frug, anstatt auf diese Frage zu antworten, Anymeh.

„Ihr wißt, Jungfrau, daß Ihr mir das höchste Gut auf Erden dünkt, ich glaube nicht weiter leben zu können ohne Euch.“

„Wenn Ihr wollt, daß ich Euren Wunsch erfülle, so erfüllt auch den meinen,“ erwiderte Anymeh kalt.

„Und wenn sie mich fangen, werden sie mich töten,“ fiel Kerim finster ein. „Was habe ich dann und was habt Ihr dann, Jungfrau?“

Ueber Anymehs Gesicht flog bei diesen letzten Worten Kerims ein seltsam herbes Lächeln. „Mich erwirbt kein Mann so lange der Amire lebt,“ antwortete sie fest.

Kerim schloß die Hände zusammen, sein zuerst hilfloses Gesicht nahm jetzt den Ausdruck der Verzweiflung an. „Ich kann nicht, ich vermag das nicht über mich,“ stöhnte er.

„So geht und kommt mir nie wieder vor Augen!“ herrschte die Perserin ihn finster an, wandte sich ab und schritt zum Hause zurück. – –

Den Kopf gesenkt, den Körper schlaff, als ob er jeden Augenblick zusammensinken werde, verließ Abdul Kerim den Garten.

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Amire-nizams Wirken für Persien war überaus segensreich – aber mit Milde, Sanftmut und Nachsichtigkeit kann man derartige gewaltige Umgestaltungen nicht vollbringen. Mit eisernem Besen kehrte der neue Vezier den Schutt des Verfalls aus dem Lande; rücksichtslos und streng verfuhr er hierbei, nichts vor Augen als sein hohes Ziel, jedes Hindernis auf seiner Bahn unerbittlich wegräumend.

Es war natürlich, daß diesem Reformator Tausende von Feinden erwuchsen, daß alle diejenigen, welche aus den früheren Zuständen Nutzen gezogen, gegen ihn waren, ihn haßten und heimlich bekämpften, im Dunklen an seinem Sturze arbeiteten. An der Spitze dieser großen Gegenpartei stand die Mutter des Schah, deren Verschwendungssucht der neue Vezier in durchaus ungalanter Weise Einhalt gethan hatte. Diese stolze, rachsüchtige Frau suchte dem neuen Minister, dem Sohn des [698] Kochs, dem gemeinen Plebejer, wie sie ihn nannte, der eine solche Gewalt sich anmaßte und ihren Sohn verzaubert hatte, zu schaden, wo sie nur konnte; sie organisierte den Widerstand gegen Amire-nizam am Hofe, spann Intriguen, deren üble Folgen auf fein angelegten Schleichwegen zu dem Schah gelangten, den Vezier als unheilvolle Person erscheinen ließen, Nassr-Eddin beunruhigten, ihm Unannehmlichkeiten bereiteten. Das Bestreben Amire-nizams, Persien von dem hemmenden Einfluß der ausländischen Mächte frei zu machen und eine selbständige Politik anzubahnen, benutzte die Königin-Mutter, die europäischen Gesandtschaften gegen den Vezier aufzubringen.

Nassr-Eddin glaubte nicht an die Verdächtigungen des Charakters seines Großveziers, aber er hielt nicht stand vor den fortgesetzten Einwänden und Drohungen der Gesandten; er war durchaus nicht willens, den Mann fallen zu lassen, aber er beschloß, durch ein Scheinmanöver die Gesandten zu beruhigen und die tausend Ränke der Unzufriedenen am Hofe und im Lande niederzudrücken. Auch ein ganz persönliches Gefühl beeinflußte ihn bei diesem Entschluß: der junge ehrgeizige Schah sah sich durch seinen gewaltigen Berater in Schatten gestellt und wollte nunmehr für eine Weile sein eigenes Licht leuchten lassen. Er ließ den Vezier zu sich entbieten.

„Amire!“ begann er, „es sieht augenblicklich übel aus bei unseren Gegnern, sie haben das Haupt mächtig erhoben, ihre Stellung ist drohend. Wir sind noch nicht so weit, daß wir ihren Groll ruhig ansehen könnten. Ich muß, so beschämend und widerwärtig das mir ist, für einige Zeit lavieren, und du mußt hierbei helfen. Ich baue auf deinen Patriotismus, der ja alles für mich und das Reich auf sich nimmt. Ich muß dich für einige Zeit verbannen, jedoch nur, um dann im Triumph dich wiederzuholen und mit noch größerem Glanz dich, den Freund meines Herzens, den Erretter Persiens aus tiefem Verfall, in deine Aemter und deine alten Würden wieder einzusetzen!“

Amire-nizam schaute seinen Monarchen einen Augenblick mit seinen mächtigen dunklen klaren Augen durchdringend an, dann antwortete er, trüb zur Erde sehend: „Diese Maßregel scheint mir gefährlich, hoher Herr; in dieser Zwischenzeit, deren Dauer kaum zu berechnen ist, werden unsere Gegner wieder die alte Macht gewinnen! Ohne Zweifel werden wir in unseren Arbeiten um ein großes Stück zurückgeschleudert werden.“

„Du siehst zu schwarz, Amire,“ entgegnete der Schah. „Hältst du mich für so schwach, daß ich nicht die Kraft und Gewalt hätte, das zu verhindern und dich, wenn es Zeit ist, wieder heranzuziehen?“

„Das nicht, Herr; jedoch giebt man unseren Gegnern nur einen Finger, reißen sie nicht bloß die ganze Hand, sondern auch den ganzen Körper an sich; der scheinbare Triumph wird ihren Mut stärken, ihre Kräfte verdoppeln, und sie werden wie hungrige Wölfe über alle unsere Einrichtungen herfallen und sie zu vernichten suchen; sie lauern nur auf den Augenblick, der ihnen das möglich macht, und dann, o König, können die Umstände, welche aus dieser Wandlung entspringen werden, sich stärker erweisen als dein edler Sinn, dein hoher Mut und deine große Thatkraft.“

„Es muß sein, Amire, füge dich!“ sprach der Schah. „Ich habe mir diese Möglichkeiten auch vorgestellt, und es ist auch viel Wahres in dem, was du sagst. Aber du siehst sicher zu schwarz, wir haben der Macht des Alten einen zu schweren Stoß versetzt, als daß sie sich davon erholen könnte; ich habe all das wochenlang erwogen und einen anderen Ausweg gesucht – es giebt keinen als diesen.“

„Den Gegnern kühn und offen, wenn es nötig, mit Eisen und Feuer, mit Schwert und Henker entgegentreten“ – versetzte der Vezier.

„Es ist das unmöglich, Amire,“ erwiderte Nassr-Eddin darauf. „England und Rußland, denen die Türkei, in gewisser Beziehung auch vielleicht Oesterreich sich anschließen werden, bedrohen meinen Thron, wenn ich die Vorstellungen der Gesandten nicht berücksichtige, ihre Unzufriedenheit nicht beschwichtige! Bring’ dies Opfer aus Liebe zu mir und zum Vorteil unseres Reiches!“

Der Amire-nizam hörte aus der Art, wie der Schah die Sache drehte und wand, aus dem Ton des Monarchen, daß dieser fest entschlossen war, zu thun, was er bei sich erwogen hatte. Er kannte den eigenwilligen Starrsinn, der manchmal den sonst feinklugen und edel veranlagten jungen Herrscher ergriff, und gegen welchen es vergeblich war, anzukämpfen; so gab es denn für ihn hier keinen anderen Ausweg, als sich vorläufig zu fügen. Er neigte resigniert das Haupt und sprach dumpf: „Thue, Herr, wie du es für gut findest, ich werde dem folgen, was du anordnest!“

Jetzt gab Nassr-Eddin dem Vezier einen Wink, er werde sich verstellen, worauf er laut und schreiend auf ihn einzureden begann, als sei er im höchsten Zorn. Dann zog er die Glocke und befahl der eintretenden Wache, den Amire festzunehmen, zu fesseln und in den Gefängnisturm zu führen.

Alles geschah, wie der Monarch befahl, der Amire-nizam wurde in das Staatsgefängnis gebracht, in Ketten gelegt und nach einigen Tagen in die Verbannung nach Kaschan geführt, wo er einen Teil der Gemächer des Staatspalastes angewiesen erhielt. Gleichzeitig erfolgte eine Verkündigung des Schah, welche besagte, daß Amire-nizam, wegen seines widerspenstigen Verhaltens ihm gegenüber, eine Strafzeit verbüßen solle und sein eigenmächtiges Handeln in verschiedenen wichtigen Dingen, welches die Sicherheit des Staates gefährdete, untersucht werden würde.

Obgleich man in Persien an derartig plötzliche Wandlungen und an ein derartig summarisches Verfahren der Herrscher gegen mißliebig gewordene Personen gewöhnt war, machte die Verbannung des großen Ministers ein ungeheures Aufsehen, und eine schwere, dumpfe Trauer legte sich ersichtlich über das ganze Land. Nur am Hofe, bei den Gesandtschaften und in den Kreisen der abgesetzten Gouverneure und Beamten triumphierte man.

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An demselben Tage, da in Teheran der Vezier ins Gefängnis abgeführt wurde, fand die Unterredung Anymehs mit ihrem getreuen Freier Abdul Kerim im Obstgarten statt. Abends gelangte die Nachricht von dem unerhörten Ereignis am königlichen Hofe auch zu Anymehs Kenntnis. Auf sie übte die Kunde von dem jähen Wandel im Geschick des von ihr einst so heißgeliebten Mannes eine ganz eigentümliche Wirkung aus. Ihr Haß schmolz dahin und neue Hoffnung regte sich in ihrem Herzen. Entsetzt aller Würden, aller Macht entkleidet, verbannt, aus der Bahn seines wilden Ehrgeizes geworfen, würde er jetzt nicht wieder zärtlicheren Gefühlen zugänglich werden, würde er jetzt nicht des Mädchens gedenken müssen, das er selbst so unschuldig hatte leiden lassen?! Nach dieser Erniedrigung, so dachte Anymeh weiter, kann von seiner Verheiratung mit einer der Prinzessinnen keine Rede mehr sein; ich kann noch seine Frau werden, wenn er es will.

Plötzlich fuhr sie, als hätte sie einen bösen Geist erblickt, mit jähem Erschrecken auf. „Kerim!“ stieß sie angstvoll hervor. „Kerim! Er ist verzweifelt, unberechenbar; getrieben von seiner unsinnigen Leidenschaft, ist er imstande, auch an dem Verbannten zu thun, was ich ihm geheißen. Ich muß zu ihm, gleich, obwohl es schon Nacht wird, ich muß, ich muß!“ – So flüsterte Anymeh außer sich, rief einen Knecht, befahl ihm, ihr Pferd zu bringen, schwang sich hinauf und sprengte wild aus dem Hof, dem Ort Jmmamzade Kassim zu.

Der Weg war weit, es ging stets bergauf, und als die Perserin nach zwei Stunden scharfen Rittes das Gehöft des Beamten erreichte und den Vater Abdul Kerims nach seinem Sohne frug, erhielt sie die Auskunft, daß dieser gegen Mittag ganz unvermutet nach Teheran geritten und von dort noch nicht heimgekehrt sei. Es war Nacht geworden, und nach Teheran konnte das Mädchen jetzt ihm nicht folgen. Wie sollte sie ihn auch in der großen Stadt finden? Anymeh ritt im Sturme nach Hause zurück, wie eine Wahnsinnige, ruhelos irrte sie durch alle Gemächer des Hauses die ganze Nacht hindurch, sie rang die Hände, stöhnte, schrie auf, stand still, warf sich auf die Erde, sprang wieder empor und wanderte von neuem umher, von furchtbaren Phantasien verfolgt, rasend vor Verzweiflung.

Es vergingen Tage und Kerim war noch nicht nach Hause zurückgekehrt. Immer wieder sandte Anymeh Boten nach Immamzade Kassim und ließ nach dem Sohne des Hauses fragen. Dort konnte man sich das Thun des sonst so stolzen, zurückhaltenden Mädchens nicht erklären; daß Abdul Kerim in Geschäften nach Teheran reiste, war doch nichts ungewöhnliches. Dagegen erweckte [699] die rätselhafte Erregung Anymehs, die sich bald in aufflammender Heftigkeit, bald in dumpfem Hinbrüten äußerte, die größte Besorgnis ihres Vaters. Da sie hartnäckig über die Ursache ihres Kummers schwieg, begann er schon zu fürchten, sein einst so helläugiges geistesklares Kind sei geistiger Umnachtung verfallen. Er begrüßte es daher fast wie eine Erlösung, als Anymeh eines Tages mit gefaßterem Wesen auf ihn zutrat und ihm die Bitte aussprach, mit ihm nach Kaschan zum Besuch der dortigen Verwandten zu reisen. Die Nachricht, daß der gestürzte Vezier nach Kaschan verbannt worden sei, war jetzt nach Kassim gedrungen. Es lag jedoch Ghulam fern, den Wunsch seiner Tochter in Zusammenhang mit dieser Nachricht zu bringen. Kannte er doch den Haß, in den Anymehs Liebe zu Mirza Thagi umgeschlagen war, hatte Anymeh doch gerade in den letzten Tagen nur zu offen gezeigt, daß ihr Herz sich Abdul Kerim zugewendet habe. Er ließ Pferde satteln, Maultiere bepacken und reiste mit Anymeh nach Kaschan.

Aber schon auf der Reise verfiel sie wieder in die Ruhelosigkeit, unter der sie zu Hause gelitten hatte. Immer trieb sie zur Eile, und als die guten alten Leute aus ihres Vaters Verwandtschaft, der Teppichweber Abdallah und seine Frau Fatme, ihre Gäste auf der Schwelle ihres Hauses empfingen, erschraken sie über das verstörte Aussehen des sonst so holden Mädchens. Sie thaten alles, was nach ihrer Meinung dazu beitragen konnte, Anymeh zu zerstreuen und zu erheitern. Ihrem Verlangen, sie in der Stadt spazieren zu führen, that Abdallah gern Genüge; nach dem Aufenthalt und dem Ergehen des nach Kaschan verbannten Veziers zu fragen, wurde ihr erspart durch den Eifer, mit welchem der Alte seinen Gästen von allem erzählte, was den Amire betraf, dessen Verdiensten um das Vaterland er die höchste Bewunderung zollte.

Noch am Tage ihrer Ankunft wurde Anymeh vor den am Rande der Stadt gelegenen Staatspalast geführt, dessen prächtige Gärten von einer hohen Mauer umgeben waren. Als Abdallah auf die bewaffneten Soldaten der königlichen Leibwache wies, welche das Thor zum Vorhof besetzt hielten, und sich darüber beschwerte, daß man den Verbannten gleich einem Gefangenen behandelte, atmete Anymeh erleichtert auf, und mit einem seltsam bewegten Klang in der Stimme unterbrach sie den Oheim: „Die Wachen dienen zu seinem Schutze.“ Dabei färbte ein lichtes Rot ihre Wangen. Sie dachte an Abdul Kerim. Abdallah aber bewunderte die Klugheit des Mädchens – erst jetzt kam ihm zum Bewußtsein, wie wahrscheinlich es sei, daß die Rachsucht der Feinde des gestürzten Veziers diesem nach dem Leben trachten werde.

Eine wunderbare Beruhigung überkam seitdem das verängstigte Gemüt Anymehs. Der geliebte Mann lebte, er war vor Nachstellungen geschützt. So lange Thagi von Bewaffneten beschirmt war, würde Abdul Kerim – das hatte der Feige deutlich gezeigt – sich nicht an ihn heranwagen. Und Abdallah hatte erzählt, daß der Vezier auch bei seinen Ausgängen von einer Schutzwache begleitet werde. Dennoch trachtete sie mit Eifer danach, den Aufenthalt Abdul Kerims zu erkunden; vergeblich aber spähte sie nach ihm aus, wenn sie in Begleitung Abdallahs die Bazare und Karawanseraien besuchte oder allein durch die Platanenalleen schritt, welche sich an der Ummauerung der Gärten des Staatspalastes hinzogen. Vergeblich hoffte sie auch im stillen, den Geliebten ihrer Seele zu begegnen, aber sie verriet keine Unruhe. Sie trug sich jetzt ganz wie damals bei der ersten Begegnung mit Mirza Thagi, das Haupt mit der hohen weißen kegelförmigen Steifgazemütze geschmückt, vom blauen Schleier umflossen. Mit Freuden bemerkte Ghulam die günstige Veränderung im Wesen seiner Tochter. Und da ihr der Aufenthalt in Kaschan so auffallend gut that, ihn aber die Erntearbeiten dringend nach Hause riefen, so ließ er Anymeh auf deren Bitten bei den Verwandten, die sich nicht wenig drauf zu gute thaten, daß das schöne Mädchen bei ihnen so schnell wieder zur Genesung gelangt war, und begab sich allein auf die Heimreise.

Daß aber Anymeh den verbannten Vezier nie in den Straßen zu sehen bekam, war kein Zufall. Er hielt sich zurückgezogen. Es geschah auf besonderen Wunsch des Schah, der an Thagi durch einen Geheimboten die Weisung hatte gelangen lassen, seine Ausgänge bis auf weiteres einzustellen. Man war einer Verschwörung auf die Spur gekommen, die gegen das Leben des von so vielen gehaßten, im Volk so beliebten Staatsmanns gerichtet war.

Schon zweimal hatten die Wachen bewaffnete Mordgesellen festgenommen, die in der Nacht über die Mauer in den Palast einzudringen versucht hatten. In aller Heimlichkeit hatte man sie in Haft gebracht. Der Schah Nassr-Eddin wollte die Verschwörung ohne jeden Lärm unterdrückt sehen; er fürchtete, die vielen Anhänger und Verehrer seines bisherigen Beraters könnten sich zu einer Gegenbewegung hinreißen lassen, sobald die Sache ruchbar werde. Durch dieses Verhalten seines königlichen Herrn aber sah Mirza Thagi seine Voraussicht bestätigt, daß dieser der von ihm geschaffenen Lage in keiner Weise gewachsen war. Und er war nicht gesonnen, sich ganz gegen die Verabredung zum Gefangenen machen zu lassen. In seiner Einsamkeit überkam ihn bittere Reue, daß er der verführerischen Sprache des jungen Herrschers damals gefolgt war, als er noch im Studium der Wissenschaften ein reines Glück gefunden hatte. In den herrlichen Gärten, die den Staatspalast umgaben, weckte der Duft der Rosen die Erinnerung an die Lehren des großen Sängers von Schiras, Hafis, der in seinen Liedern die Thoren verspottet, die da vermeinen, die menschlichen Zustände durch Machtsprüche verbessern zu können, und statt dessen zum Genuß aller Schönheit dieser Welt einladet. Auch der sehnsüchtige Gedanke an Anymeh beschlich ihn und die Vorstellung von dem Glück, das ihm an der Seite des seltenen Mädchens gewinkt hatte. Zu spät, denn jetzt erkannte er sein Heil nur noch in dem Entschluß, den Boden des Vaterlandes zu verlassen, auf dem ihn überall der Meuchelmord bedrohte. Tiflis, jenseit der Grenze, wo die persische Geisteskultur ein Asyl besaß und ihm der Weg zu seinen alten Lieblingsstudien offen stand, sollte ihm Zuflucht gewähren. Der Schah, in seiner Verlegenheit, billigte den Wunsch, und der Hauptmann der Leibwache, der für die sichere Hut des Amire verantwortlich war, wurde beauftragt, dessen Flucht in aller Heimlichkeit nach seinen Weisungen vorzubereiten.

Auch Abdul Kerim hatte von der Verschwörung gegen das Leben des abgesetzten Veziers Kenntnis erhalten. Von Freunden seines Vaters, der ja auch unter der Strenge des Amire zu leiden gehabt hatte, war er in Teheran in die Pläne eingeweiht worden. Der Feigling war hocherfreut, das Wagnis, dessen Ausführung Anymeh von ihm verlangt hatte, von Meuchelmördern ausführen lassen zu können. Er hielt sich in Kaschan ängstlich verborgen, in entlegenen Spelunken beriet er sich mit den gedungenen Banditen; auch von den Soldaten der Leibwache hatte er einige durch Bestechung gewonnen. Auf diesem Wege erfuhr er von dem Fluchtplane des Veziers.

An dem Abend, der für die Ausführung desselben festgesetzt war, befand sich auf Abdul Kerims Anstiften bereits eine Schar unterwegs, die den Flüchtling an einer bestimmten Stelle überfallen sollte. Mirza Thagi hatte sich jedes militärische Geleite verbeten. Er hatte, selbst gut bewaffnet, die Reise in einem Boot angetreten. Auf dem Fluß, der dicht hinter den Schloßgärten vorbeifloß, wollte er sich ein paar Stunden abwärts rudern lassen, zu einer Stelle, wo ein paar alterprobte Diener mit Pferden seiner harrten. Im Geäst eines Baumes hatte Abdul Kerim die Abreise belauscht. Mit einem Gefühl des Triumphs an Anymeh denkend, schlich er jetzt an der Mauer des Palastes hin, als er sich plötzlich angerufen hörte: „Kerim!“

Ein unheimliches Angstgefühl hatte Anymeh hierher getrieben. Abdallah hatte bei der Heimkunft am Abend von Gerüchten erzählt: des Veziers Leben sei durch eine Verschwörung bedroht. In einen Mantel ihres Oheims gehüllt, die Kapuze über ihr Haupt geschlagen, war sie heimlich zum Palaste geeilt.

„Ihr hier?“ stammelte aufs höchste verwirrt und erstaunt Abdul Kerim, der die Tracht eines Derwischs trug. „Was bringt Euch hierher?“

„Die Ungeduld über Eure Saumseligkeit. Ich bin zu Gast bei meinem Oheim Abdallah, dem Teppichweber!“

Da reckte sich Abdul Kerim mit Stolz empor. „Heute nacht noch wird der Verhaßte den letzten Atemzug thun. Anymeh – dann hab’ ich mein Wort gelöst! Fällt auch dein Todfeind nicht von meiner Hand – es ist mein Verdienst, daß [700] ihn endlich doch, noch ehe er entflieht, die Waffe des Rächers trifft.“

Mit übermenschlicher Anstrengung bewahrte Anymeh auch jetzt ihre erkünstelte Ruhe. Ohne durch eine Miene zu verraten, was in ihr vorging, forschte sie Kerim aus nach jeder Einzelheit des geplanten Ueberfalles. Mit gleicher Selbstbeherrschung wies sie ihn dann von sich, indem sie ihn glauben machte, ihr Onkel Abdallah sei beim Hauptmann der Schloßwache und müsse mit diesem sogleich erscheinen. Das wirkte. Kaum aber war sie allein, so eilte sie selbst zum Eingang des Palastes und verlangte, daß sie dem Hauptmann vorgeführt werde. Mit fliegendem Atem berichtete sie alles, was sie von Abdul Kerim gehört hatte; der Hauptmann beschloß, an der Spitze einer Schar Auserwählter dem Mordanschlag zu begegnen. Um jedes Aufsehen zu vermeiden, erfolgte der Aufbruch vom Garten aus auf der Flußseite. Anymeh begleitete den Zug, gleich den anderen auf feurigem Roß, sie trieb zu äußerster Eile. Auf dem kürzesten Weg gelangten sie zu der von Thagi gewählten Landungsstelle.

Als Anymeh mit ihrer Schar dort eintraf, fielen gerade die ersten Schüsse der Wegelagerer. Noch im Reiten erwiderten die Palastsoldaten das Feuer. Anymehs Blick suchte den Geliebten: beim unsicheren Licht des hinter Wolken hervortretenden Mondes erkannte sie, wie gerade einer der Verschworenen mit erhobener Klinge auf ihn zustürztet Sie warf sich dazwischen. Aber der Hieb, der ihr galt, durchschnitt nur ihre Kapuze, dann kreuzte ihn Thagis gutes Schwert, das nun den Gegner zu Boden streckte. Die anderen Angreifer waren inzwischen gefallen oder geflohen. Mirza Thagi sah erstaunt, wie aus der Kapuze des Mantels, der Anymehs Gestalt umschloß, ihr tieferregtes Gesicht sich ihm zuwandte.

„Anymeh?“

„Dem edlen Fräulein verdankt Ihr Eure Rettung, Amire!“ sagte, den Säbel senkend, der herzutretende Hauptmann der Palastwache.

Anymeh aber sank fassungslos vor dem Geretteten nieder, umfaßte seine Knie und stammelte unter Thränen: „Vergebt mir, Amire!“

Dieser jedoch hob sie empor und zog sie in überströmender Zärtlichkeit an sich: „Ich dir vergeben? Anymeh! Daß du mir vergiebst, das schenkt mir das Leben doppelt!“

„Amire, ich trachtete Euch nach dem Leben!“

„Und wurdest meine Retterin!“ –

Auf der weiteren Flucht war Anymeh Thagis Begleiterin. Ihr Kismet, die Schicksalsstimme in ihrer Brust, ging nun doch herrlich in Erfüllung. Vor der Abreise vom heimischen Gestade ward sie Thagis eheliches Gemahl.

In Tiflis wurde Mirza Thagi ein hochangesehener Gelehrter, der in Begleitung seiner Frau große Reisen durch die Länder Europas unternahm, über die er an Nassr-Eddin in lebendigen Schilderungen berichtete. Dieser fand nie den Mut, seinen großen Reformminister zurückzuberufen. Aber Thagis Reiseberichte sollen es vornehmlich gewesen sein, was den Schah später zu seinen eigenen Reisen nach Europa bestimmte.

In Persien hatte sich nach des Amire Verschwinden der Glaube verbreitet, der einst so allmächtige Vezier sei durch eine Rotte Verschworener umgebracht worden, und dieser Glaube erhielt sich bis auf den heutigen Tag.