Kinder genug – aber wo bleiben die Eltern?
[120] Kinder genug – aber wo bleiben die Eltern? Wir wollen nicht undankbar sein: ganz wirkungslos ist unsere „Bitte um liebende Eltern für verwaiste Kinder“ nicht gewesen; aber die Zahl der Kinder ist schon in dieser kurzen Zeit viel stärker angewachsen, als die der um sie werbenden Eltern. Wohl wissen wir, daß es unmöglich ist, alle armen Waisen in die Arme sorgender Familien zu führen, schon aus dem einfachen Grunde, weil es viel mehr elternlose Kinder als kinderlose Eheleute giebt, aber wünschen dürfen wir ja, daß es eine Sitte frommen Pflichtgefühls und nationaler Liebe, daß es eine so echte deutsche Sitte, wie die Pflege des Weihnachtsfestes, werden möge, kinderlose Ehen mit einem Waisenkinde zu schmücken. Wie viel wahres Familienglück könnte dann mehr, wie viel Unglück durch verlorene, weil verwahrloste Menschen weniger in Deutschland sein!
Sollte man hinter diesem Wunsche einen Vorwurf gegen die Waisenhäuser und die jetzige Waisenpflege erblicken, so wollen wir sofort bekennen, daß wir die großen Verbesserungen in denselben und die großartigen hier einschlägigen Stiftungen wohl zu schätzen wissen. Sie liegt ja hinter uns, die „gute alte Zeit“, wo man nicht blos Zucht- und Irrenhäuser, sondern nicht selten auch die Armen- und Waisenhäuser dazu unter einem Dache finden konnte. Der Anblick der vom „Waisenvater“ begleiteten langen Züge von Kindern, die in ihrer gleichen knappen Kleidung, mit den bleichen traurigen Gesichtern paarweise dahinschlichen, dieser Anblick ist heute wohl aus den meisten Städten verschwunden. Wir besitzen sogar Musteranstalten, welche den armen Elternlosen auch die Freuden der Kindheit gewähren und sie einer durch Arbeitsfähigkeit möglichst gesicherten Zukunft entgegenzuführen suchen. So dankbar dieses Eine anzuerkennen ist, so fest steht das Andere: das Leben in guter Familie kann dem Kinde kein Waisenhaus ersetzen. Eben darum müssen wir wünschen, daß das Glück, an kinderfreundliche Herzen gezogen zu werden, möglichst vielen Waisen zu Theil werde.
Allerdings ist es kein leichter Entschluß, durch die Annahme eines Kindes auch sein Schicksal mit in die Hand zu nehmen. Ein Kind macht nicht nur Freuden, es macht auch Sorgen und kann trübe Stunden bereiten. Wer solche dunklen Seiten des Familienlebens scheut, wird freilich besser thun, sich jeder derartigen Verantwortlichkeit zu entschlagen. Daß er damit aber auch einen Himmel voll reinster Freuden sich verschließt, das ist eben die Strafe für die ruheliebende Selbstgenügsamkeit. Nur wem das Herz lacht, wenn die leuchtenden Augen und die klatschenden Händchen eines Kindes ihm zeigen, wie schön es sich freuen kann, nur Der fühlt das wahre Glück des Lebens. Und an Solche richtet sich unsere Bitte: Ihr Kinderlosen, gebt Euer Herz einem Kinde und sucht in seinem Glück das Eure!
Schließlich haben wir noch eine Bitte. Die Erfahrung hat uns gelehrt, daß weit mehr Mädchen als Knaben von den Kinderlosen begehrt werden. Das Zahlenverhältniß ist sogar auffällig. Gewiß schmälert das unsere Dankbarkeit nicht um eine Linie gegen die Adoptiveltern von Waisenmädchen; ist es doch eine hohe Aufgabe, aus einem Mädchen eine Jungfrau zu erziehen, die einst als Frau und Mutter ihre pflichtreiche Stellung im Leben ausfüllen kann. Aber was haben Euch denn unsere armen Jungen getan, daß sie so tief im Preise stehen? Ist es nicht auch eine Ehre, aus einem Waisenknaben dem Vaterlande einen tüchtigen Mann mehr zu erziehen? Die Natur hat es ja so lieb in die Seele der Geschlechter gelegt, daß der Mann sich nach einer Tochter, die Frau sich nach einem Sohne sehnt: so möge diese Doppelsehnsucht auch der Herzensruf der Adoptiveltern werden! Dann sind wir sicher, daß auch unsere Knaben sich nicht mehr so lange mit ihren frischen und doch so traurigen Augen nach liebenden Eltern umsehen werden.