Kammermusik in Washington
Das Kammermusikfest in Washington ist die bemerkenswerteste amerikanische Musikveranstaltung, für die man schwerlich ein Gegenbeispiel in der Welt findet. Hervorgegangen aus einer privaten Stiftung der Frau Elisabeth Coolidge, später vom Staat übernommen, gilt sie der Förderung neuer Kammermusik ohne Unterschied der Nationalitäten, Konfessionen, Rassen. Einige Werke werden in Auftrag gegeben, andere durch Preisausschreiben ermittelt. Für die Aufführungen, die in Zwischenräumen von je zwei Jahren stattfinden, ergehen Einladungen an Gäste aus ganz Amerika, ein Kartenverkauf findet nicht statt. Das etwa fünfhundert Hörer fassende Auditorium der Kongress-Bibliothek in Washington ist Aufführungsraum, zugleich Treffpunkt aller am neuen Schaffen interessierten Musiker und Musikfreunde. So wird neue Kunst gepflegt ohne geldliche Gewinnabsicht und Fremdenverkehrstendenzen, nur um der Sache willen.
Diesmal gab es insgesamt fünf Konzerte. Ein Bach-Händel-Abend machte den Beginn mit wenig bekannten Kammerwerken. Im nächsten Konzert erschien das Wiener Kolisch-Quartett zum erstenmal in Amerika. Es spielte zur Einführung Beethovens grosses B-Dur-Quartett mit der Fuge als Schlusssatz an Stelle des später geschriebenen jetzigen Finale. Der Eindruck dieses Ensembles war so ungewöhnlich, dass die Hörer, nach langem enthusiastischem Applaudieren, die Künstler durch Erheben von den Plätzen feierten – eine Ehrung, die nur in seltenen Fällen erfolgt. Alban Bergs „Lyrische Suite“, für Amerika neu, war das zweite Werk, Bela Bartoks 5. Quartett, B-Dur, der Abschluss. Dieses ist eines der für Washington geschriebenen Werke, es gelangte also zur Uraufführung. Wie alles, was Bartok schreibt, trägt auch dieses Quartett das Gepräge der Meisterhand, aber gleich vielem, was dieser Hand entstammt, zeigt es eine merkwürdige Ungleichheit in der Abwechslung musikalisch kraftvoll inspirierter und dogmatisch trockener, erarbeiteter Teile. Namentlich, wo Bartok sich der grossen Form zuwendet, hat man bei ihm oft den Eindruck, als müsse er sich über Hemmungen hinwegkomponieren. Doch zeigt das Quartett viele eigentümliche Schönheiten im einzelnen, die eine nähere Beschäftigung damit lohnend scheinen lassen.
Weniger günstig schnitt das zweite Auftragswerk ab, Malipieros „Sonata cinque“ für Flöte, Violine, Bratsche, Violoncell, Harfe. Es ist eine dürftige, blasse Gedankenspielerei, der man nicht einmal eine gewisse Schein-Originalität nachrühmen kann. Das interpretierende „Pariser Instrumental-Quintett“, an sich eine recht gute Künstler-Vereinigung, wurde durch den ausserordentlichen Vormittagserfolg der Kolischs in den Schatten gestellt, die älteren und neueren französischen Sachen gerieten nicht recht und ein Trio eines wenig bekannten Zeitgenossen, Jean Cras, etwies sich als peinlicher Fehlschlag. Dann gab es ein amerikanisches Konzert mit zwei beachtlichen Uraufführungen: einem Quartett von Quince Porter, gesunde, frische Musik, geistig selbständig und ehrlich gekonnt; eines von Werner Janssen, weniger einheitlich, stilistisch etwas bunt, aber voll phantastisch-aparter Klangwirkungen und lebendig tanzhafter Rhythmik. Der ältere Carpenter, durch ein Klavierquintett vertreten, repräsentiert mehr das amerikanische Musik-Akademikertum, während Janssen und Porter der Begabung und dem Können nach Beachtung auch ausserhalb Amerikas verdienen. Man sieht an beiden, wie die umgepflanzte europäische Musikkultur auf dem ganz anders gearteten frischen amerikanischen Boden Wurzel fasst und neu treibt.
Den Abschluss bildete ein Strawinsky-Abend mit dem Komponisten als Klavier-Interpreten. Dieses Programm erregte besonderes Interesse, weil es, beginnend mit den frühen Gesängen von 1907, einen Querschnitt durch Strawinskys gesamtes Schaffen gab, soweit sich dieses kammermusikalisch erfassen lässt. Der an diesem Abend bis in den Vorraum überfüllte Saal zeigte, wie stark hier schon das Interesse für Strawinsky ist, wie lebhaft überhaupt das Bedürfnis nach zeitgenössischer Musik, geistiger Haltung – obschon man sich nicht darüber täuschen darf, dass die Spannung der Gegensätze zwischen den Anhängern des bequemen Gewohnten und den Vorkämpfern der neuen Produktion merklich zunimmt. Bergs „Lulu“-Suite wurde bei ihrer kürzlichen Erstaufführung durch das Bostoner Sinfonie-Orchester von der amerikanischen Tagespresse noch als indiskutabel und „kindisch“ verrissen. Aber das besagt nicht viel, die Meinungen wechseln hier sehr schnell, wie überhaupt das Lebenstempo erheblich beschleunigt ist. Massgebend bleibt für den Amerikaner immer sein immenses Aufnahmebedürfnis. Dazu kommt, dass sich die Auseinandersetzungen über künstlerische Dinge in einer geistig sauberen, von keinerlei politischen Dünsten verunreinigten Atmosphäre vollziehen. Sie bleiben vorläufig Angelegenheit derer, die besondere Teilnahme für Musik hegen, und das ist eine grosse Anzahl kultivierter Menschen. Die Masse befriedigt ihr Hörbedürfnis am Radio oder in den vielen öffentlichen Sinfonie-Freikonzerten, die populär gehaltene Programme in sorgfältiger Ausführung bringen und stets überfüllt sind.