König Carl sieht seine Vorfahren in der Hölle und im Paradies
König Carl sieht seine Vorfahren in der Hölle und im Paradies.
Chroniques de S. Denys ap. D. Bouquet VII. p. 148. 149. Vergl. 255. |
König Carl (der dicke), als er auf Weihnachten
nach der Mette früh morgens ruhen wollte, und fast
schlummerte, vernahm eine schreckliche Stimme, die
zu ihm sprach: „Carl, jetzt soll dein Geist aus deinem
Leibe gehen, das Gericht des Herrn zu schauen,
und dann wieder, zurückkehren!“ Und alsobald wurde
sein Geist entzückt, und der ihn wegzuckte, war ein
ganz weißes Wesen, welches einen leuchtenden Faden,
ähnlich dem fallender Sterne, hielt und sagte: „fasse
das Ende dieses Fadens, binde ihn fest an den Daumen
deiner rechten Hand, ich will dich daran führen
zu dem Ort der höllischen Pein.“ Nach diesen Worten
schritt es vor ihm her, indem es den Faden von
dem leuchtenden Knäuel abwickelte, und leitete ihn
durch tiefe Thäler voll feuriger Brunnen; in diesen
Brunnen war Schwefel, Pech, Blei und Wachs. Er
erblickte darin die Bischöfe und Geistlichen aus der
Zeit seines Vaters und seiner Ahnen; Carl fragte
furchtsam: „warum sie also leiden müßten?“ „ Weil
wir – sprachen sie – Krieg und Zwietracht unter die
Fürsten streuten, statt sie zum Frieden zu mahnen.“
Während sie noch redeten, flogen schwarze Teufel auf
glühenden Haken heran, die sich sehr mühten, den
[149] Faden, woran sich der König hielt, zu ihnen zu ziehen;
allein sie vermochten nicht, seiner großen Klarheit
wegen, und fuhren davor zurück. Darauf kamen
sie von hinten, und wollten Carl mit langen Haken
ziehen und fallen machen; allein der, welcher ihn
führte, warf ihm den Faden doppelt um die Schulter,
und hielt ihn stark zurück.
Hierauf bestiegen sie hohe Berge, zu deren Füßen glühende Flüsse und Seen lagen. In diese fand er die Seelen der Leute seines Vaters, seiner Vorfahren und Brüder bis zu den Haupthaaren, einige bis zum Kinn, andere bis zum Nabel getaucht. Sie huben an ihm entgegen zu schreien, und heulten: „Carl, Carl, weil wir Mordthaten begingen, Krieg und Raub, müssen wir in diesen Qualen bleiben!“ Und hinter ihm jammerten andre; da wandte er sich um, und sah an den Ufern des Flusses Eisenöfen, voll Drachen und Schlangen, in denen er andere bekannte Fürsten leiden sah. Einer der Drachen flog herzu, und wollte ihn schlingen: aber sein Führer wand ihm den dritten Schleif des Fadens um die Schulter.
Nächstdem gelangten sie in ein ungeheuer großes Thal, welches auf der einen Seite licht, auf der andern dunkel war. In der dunkeln lagen einige Könige, seine Vorfahren, in schrecklichen Peinen; und am Lichte, das der Faden warf, erkannte Carl in einem Faß, mit siedendem Wasser, seinen eigenen Vater, König Ludwig, der ihn kläglich ermahnte, und ihm links zwei gleiche Kufen zeigte, die ihm selber [150] zubereitet wären, wenn er nicht Buße für seine Sünden thun würde. Da erschrak er heftig, der Führer aber brachte ihn auf die lichte Seite des Thals; da sah Carl seinen Oheim Lothar sitzen auf einem großen Edelstein, andere Könige um ihn her, gekrönt und in Wonnen, die ermahnten ihn, und verkündigten, daß sein Reich nicht mehr lange dauern werden; aber es solle fallen an Ludwig, Lothars Tochtersohn. Und indem sah Carl dieses Kind, Ludwig, da stehen, Lothar, sein Ahnherr sprach: „hier ist Ludwig, das unschuldige Kind, dem übergib jetzo deines Reiches Gewalt durch den Faden, den du in deiner Hand hältst.“ Da wand Carl den Faden vom Daumen, und übergab dem Kind das Reich; augenblicklich knäuelte sich der Faden, glänzend wie ein Strahl der Sonne, in des Kindes Hand.
Hierauf kehrte Carls Geist in den Leib zurück, ganz müde und abgearbeitet.