Justus Freiherr von Liebig
Justus Freiherr von Liebig.
Unsere Zeit ist reich an solchen Männern, welche den langsamen Entwickelungsgang der Wissenschaften durch einen mächtigen Anstoß plötzlich um ein gutes Stück vorwärts brachten; und ihr gewaltiger Charakter bleibt sich also auch hierin gleich.
Daß dies ganz besonders auf dem Gebiete der Naturwissenschaft der Fall gewesen ist, ist schon so oft gesagt worden, daß man sich allgemach zu scheuen beginnt, es noch einmal auszusprechen, weil kaum noch Jemand ist, dem es noch neu sein könnte.
Unser umstehendes Bild zeigt uns die Züge eines Mannes, der vor vielen anderen zu den treibenden Kräften auf dem weiten Felde der Naturwissenschaft gehört. Die Chemie ist bekanntlich sein Fach; denn welcher Gebildete kennt „Liebig’s chemische Briefe“ nicht!
Aus der aberwitzigen Verlarvung der Alchemie längst herausgetreten, auch nicht mehr blos die Dienerin der Heilkunst und der Gewerbe, schwingt jetzt die Chemie mit vollster Berechtigung auf dem weiten Kampfplane, wo die Erforschung der Natur mit dem Aberglauben ringt, den sieghaften Herrscherstock.
Im Bunde mit der Physik, ihrer Zwillingsschwester, die ihr Waage und Mikroskop als Waffen leiht, dringt sie unaufhörlich in für unnahbar gehaltene Gebiete immer tiefer ein. Unheimliche Gespenster, welche bisher die Träume der Naturforschung bevölkerten, wie der nisus formativus (Bildungstrieb) und die Lebenskraft, zieht sie an das helle Licht ihrer Nähe, wo sie verschwinden und im Wesen der Siegerin aufgehen.
Wir nannten die Physik die Zwillingsschwester der Chemie. Aber auch diese Bezeichnung des allernächsten Verwandtschaftsgrades drückt die innigen Beziehungen zwischen beiden kaum hinreichend aus. Die Bewegung, welche bisher unangetastet als Gebietstheil der Physik galt, ist eben so sehr Eigenthum und Begleiterin jedes chemischen Vorganges. Die Lehre vom Leben und von der geistigen Seite der belebten Wesen, Physiologie und Psychologie, können fortan ohne Chemie in jener Verschwisterung mit der Physik nicht mehr gedacht werden.
Wenn gleich Liebig in seinen berühmten chemischen Briefen seiner erhabenen Wissenschaft nicht bis an die äußersten Grenzen ihrer Berechtigung gefolgt ist, so bleibt er darum nicht weniger der hervorragendste der lebenden Chemiker, gleichsam der Vertreter derselben.
Gießen, die kleine Universität seines Vaterlandes (Liebig ist am 12. Mai 1803 in Darmstadt geboren) machte er zu dem Sammelplatz aller Nationen, welche am Fortbau der Wissenschaft sich betheiligen. Mehr als ein Vierteljahrhundert hindurch, von 1824 bis 1852, machte er das kleine Gießen nach und nach zu einem Sterne ersten Glanzes. Ihm verdankt es Deutschland großentheils, daß es vor andern Ländern reich an ausgezeichneten Chemikern ist; denn sein Beispiel, seine Lehre, ja selbst sein Widerspruch herausforderndes Sein bilden die treibende Kraft, um hier den allseitigsten Wetteifer hervorzurufen.
Ohne die Arbeiten seiner Vorgänger verkennen zu wollen, darf man doch sagen, daß das mächtige Vorwärts, was in die Landwirthschaft gedrungen ist, wesentlich Liebig’s Werk ist. Sein berühmtestes, wenn auch vielleicht nicht sein bestes Werk: „die organische Chemie in ihrer Anwendung auf Agrikultur“ (1840) durchdrang alle Schichten des ackerbauenden Publikums, vom pflügenden Bauer an bis zu dem das Pflanzenleben studirenden Gelehrten. Es rief eine förmliche Liebigsliteratur hervor, in welcher vielerlei praktische und wissenschaftliche Interessen einen heißen Kampf führten. Sind auch gegen dieses Buch mit Grund manche Einreden erhoben worden, so beginnt doch mit ihm, wie mit Liebig überhaupt, die innige experimentirende Anwendung der Chemie auf die Erforschung und Pflege des Lebens der Pflanzen und der Thiere, denn bald (1842) ließ er jenem ein ähnliches Buch folgen: „die Thierchemie oder organische Chemie in ihrer Anwendung auf Physiologie und Pathologie.“
Glühende Begeisterung, rücksichtslose Geltendmachung seiner Ideen und Ergebnisse, wenigstens auf dem Gebiete seiner unmittelbaren Wissenschaft, und meist das Richtige treffende Genialität sind die Grundzüge von Liebig’s Charakter als Gelehrter.
Nachdem er kurz vorher einen Ruf nach Heidelberg abgelehnt hatte, nahm er 1852 einen solchen nach München an, wo er seitdem am Fortbau seiner großen Wissenschaft rüstig weiter arbeitet. Es steht zu hoffen, daß er nicht verabsäumen werde, derselben, wie wir uns oben ausdrückten, nun bis an die äußersten Grenzen ihrer Berechtigung zu folgen, wozu er vor zwei Jahren durch einen lauten Ruf aufgefordert wurde.