Zum Inhalt springen

Jugendleben und Wanderbilder:Band 1:Kapitel 35

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Johanna Schopenhauer: Jugendleben und Wanderbilder
<<<Vorherige Seite
Kapitel 34
Nächste Seite>>>
Kapitel 36
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.


Fünfunddreißigstes Kapitel.

[333] Alles entsteht und vergeht nach Gesetz, doch über des Menschen
Leben, den köstlichsten Schatz, herrschet ein schwankendes Loos.

Goethe.

Nicht in sausendem Galop, aber doch auf gebahnten, ich glaube gar auf Chausseewegen, ging es einstweilen auf Kassel zu, und dann immer weiter, – nach Paris, das wenigstens im Fluge mir zu zeigen, Ritter Zimmermann meinen Mann bewogen hatte, wofür ich noch bis zu dieser Stunde ihm dankbar verpflichtet mich fühle.

In Höxter, einem kleinen Orte zwischen Pyrmont und Kassel, hemmte ein Gedränge vieler Leute vor dem Posthause uns den Weg; es war noch sehr früh am Tage, ein hübsches sechzehnjähriges Kind, die Tochter eines Kaufmanns dem Posthause gegenüber, tritt singend heraus, um die Fensterladen an ihres Vaters Hause zu öffnen, ein übermäßig hochbeladener Erntewagen kommt im nämlichen Augenblick die Straße herab, schlägt um! – ehe die unruhig [334] gewordenen Pferde abgespannt, der Wagen aufgerichtet, die Ladung fortgeschafft werden kann, ist die Unglückliche erstickt. Wenig oder gar nicht entstellt sah ich sie an uns vorüber in das väterliche Haus tragen, und wandte erschüttert und traurend von dem Anblick mich ab, den ich lange nicht vergessen konnte. Noch jetzt muß ich vor jedem Erntewagen unwillkürlich zurücktreten, der mir begegnet.

Das Marmorbad in Kassel blendete mich durch nie gesehene Pracht. Den Winterkasten auf Weissenstein aber, wie damals die jetzige Wilhelmshöhe genannt wurde, war ich bereit, mit sammt seinem Herkules für das achte Wunder der Welt anzuerkennen. Die rohe phantastische Größe dieses kaum zur Hälfte vollendeten Riesenbaues stand wie ein kolossales Traumbild aus einer, ich wußte nicht ob überirdischen oder unterirdischen Wunderwelt vor mir. Mag man immerhin geschmacklos mich schelten, ich hoffe, unsre neue überschwengliche Zeit wird sich nie bis zu der Höhe versteigen, es untergehen lassen zu wollen.

Beim Abschied stattete ich noch den Herren Pythagoras, Solon, Demokrit, und wie sie weiter noch heißen, in ihren damaligen respektiven Sommerwohnungen auf dem Weissenstein einen kurzen Besuch [335] ab, einen andern desgleichen in Kassel selbst, den wächsernen Landgrafen und Gräfinnen, die damals angetan in Prachtgewändern, die sie, als sie noch lebten, getragen, Tag und Nacht im Museum neben einander saßen und Hof hielten.

In Frankfurt wehte ein Hauch vaterländischer Luft mir entgegen. Die schmalen Straßen, die hohen Häuser, die kleinen Schiffchen auf dem Main, Alles erinnerte mich an Danzig und an das dortige, reichsstädtische Leben. Nur schien es mir enger und kleiner, die Gasthöfe und das große Gewühl abgehender und ankommender Reisenden ausgenommen. Damals rechnete man in Frankfurt auf jede Viertelstunde eine abgehende oder ankommende Extrapost. Dampfschiffe und Eilwagen haben die Zahl derselben zwar bedeutend vermindert, die Eisenbahnen werden mit der Zeit noch mehr dazu beitragen, aber die Zahl der Reisenden nimmt gewiß nicht ab. Die glückliche Lage der Stadt führt Alles, was von Süden nach Norden, von Osten nach Westen will, durch sie hindurch, und Jeder freuet sich, einen angenehmen Ruhepunkt zu finden, wäre es auch nur für wenige Stunden.

Statt der köstlichen Promenaden, die jetzt wie ein vollblühender Kranz Frankfurt umschlingen, das seitdem [336] an Schönheit und Größe mit jedem Tage zugenommen hat und noch zunimmt, war es vor funfzig Jahren noch festungsartig von traurigen Wällen umgeben, für mich eine Erinnerung mehr an meine liebe Vaterstadt.

Ich wurde des Reisens nicht müde; freilich war die Sommerhitze groß, aber wir hatten Mittel gefunden, ihr auszuweichen; wir kehrten am heißen Mittage im ersten leidlichen Gasthofe ein, schliefen ruhig einige Stunden, kleideten uns um, aßen gegen fünf Uhr zu Mittag, und setzten dann in beginnender Abendkühle unsre Reise fort, die schöne kurze Sommernacht hindurch, dem Sonnenaufgang entgegen, bis die wieder zunehmende Hitze des Tages uns abermals bewog, ein schattendes Dach aufzusuchen.

So gelangten wir über Deutschlands Grenze hinaus nach Gent, nach Antwerpen, nach Lille, nach Brüssel, und ich will ehrlich gestehen, daß Bettler und Straßenjungen durch ihr Französischparliren mir anfangs einigermaßen imponirten.

Festgehalten von alten Freunden meines Mannes, verweilten wir in allen jenen Städten einige Tage, während welcher ich im Kreise der Familien, bei denen ich eingeführt wurde, mich ungemein wohl befand, [337] um so mehr, da ich jeden Augenblick auf etwas mir durchaus Fremdartiges stieß. Bald war es die beim Mittagsessen selten ausbleibende Gegenwart eines wohlgenährten Geistlichen, des Beichtvaters des Hauses, oder einer sehr freundlichen Soeur grise, der sorgsamen Pflegerin eines kranken oder altersschwachen Mitgliedes der Familie; Beide nahmen unausbleiblich die Oberstelle am Tische ein und wurden mit ausgezeichneter Ehrerbietung vor allen andern Gästen auf das Aufmerksamste bedient; zuweilen war es aber auch der innere Kampf im Gemüth der Frau vom Hause, der mir ein heimliches Lächeln ablockte, wenn ihr Mann an einem Freitage auf den profanen Einfall gerieth, einen Flügel von dem Rebhuhn essen zu wollen, das sie, mit großer Selbstüberwindung, nur aus Nachsicht für uns Ketzer hatte auftragen lassen, und sie nun nicht wußte, wie sie von einer so schweren Sünde ihn abhalten könne, ohne zugleich uns wehe zu thun.

Mehr als Alles aber setzte der Frauen genaue Bekanntschaft mit den Geschäften ihres Hauses mich in Erstaunen; sie schienen davon weit unterrichteter als der eigentliche Chef desselben, der bei den Gesprächen, die sie darüber mit meinem Manne führten, sich gewöhnlich schweigend verhielt. In vollem Anzuge, [338] reich und elegant gekleidet, von ihren erwachsenen Töchtern umgeben, denen gewöhnlich das Amt des Kassirers übertragen war, brachten die Frauen der bedeutendsten Banquiers den Vormittag im Comptoir zu; da saßen sie an einem etwas abgesonderten Platz, von welchem aus sie Alles, was in demselben vorging, übersehen konnten, schrieben, diktirten, rechneten, nahmen die Fremden an, die sich präsentirten, und ließen, den Cours gehörig berechnend, ihre Wechsel ihnen auszahlen.

So war es vor funfzig Jahren; ein mir sehr seltsam erscheinender Zustand, dem ich keinen Geschmack abgewinnen konnte. Zeit und Umstände haben seitdem freilich viel verändert.