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Jugenderinnerungen eines deutschen Schriftstellers

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Textdaten
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Autor: Albert Fränkel
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Titel: Jugenderinnerungen eines deutschen Schriftstellers
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 43, S. 716
Herausgeber: Ernst Keil
Auflage:
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Erscheinungsdatum: 1872
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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[716] Jugenderinnerungen eines deutschen Schriftstellers. Ein fremder und doch wohlthuender Hauch weht uns aus einem Büchlein an, das unser beliebter Mitarbeiter, der geistreiche Humorist und Sittenschilderer Ludwig Kalisch in Paris, soeben unter dem Titel „Aus meiner Knabenzeit“ veröffentlicht hat. Das Büchlein erzählt uns nichts aus dem Treiben und Ringen der Gegenwart, nichts von den strahlenden und brausenden Mittelpunkten des modernen Lebens, auf welche Kalisch sonst die Aufmerksamkeit seiner Leser so fesselnd zu lenken weiß. Fernab von den großen Cultur- und Touristenstraßen und über die letzten fünf Jahrzehnte unserer bewegungs- und veränderungsreichen Epoche hinweg, führt es uns in die glanzlose Abgeschiedenheit eines entlegenen preußisch-polnischen Städtchens und mitten unter die eigenthümlich fremdartigen Gestalten und Verhältnisse seiner eben so zahlreichen als orthodoxen – Judengemeinde. In dieser Gemeinde ist der Verfasser geboren worden, hier hat er seine ersten Seeleneindrücke empfangen und bis zu einer gewissen Reife seine Knabenzeit verlebt.

Polnische Judengemeinden vor beinahe sechszig Jahren! Noch heute, wo das verjüngende Culturlicht durch tausend Risse und Lücken in die sprödesten Winkel dringt, mögen diese Gemeinden in der Provinz Posen nicht Stätten der eleganten Sitte und eines feineren Geschmackes sein. Wo aber ist der moderne Weltmann und Civilisationsmensch, den nicht ein unheimliches Grauen überrieselt, wenn seine Phantasie sich vormalt, was er hier und da einmal von den früheren Gewohnheiten und Zuständen jener geknechteten Paria-Genossenschaften gehört oder gelesen hat? Und doch zeigt sich uns hier eine merkwürdige und nicht genug beachtete Thatsache. Die Geschichte unseres Jahrhunderts hat nämlich eine ganze Reihe von geistig und sittlich hervorragenden Männern aufzuweisen, die gerade aus der abgeschlossenen Welt solcher Judengemeinden hervorgegangen sind.

Wir nennen hier beispielsweise aus dem Orte Polnisch-Lissa, dem auch Kalisch entsprossen ist, und zwar ungefähr aus dem Zeitraum, welchen er uns schildert, den erst kürzlich dahingeschiedenen Königsberger Arzt Dr. Kosch, den langjährigen und so allseitig verehrten demokratischen Landtagsabgeordneten. Wir nennen ferner den gleichfalls in Lissa geborenen und leider schon vor Jahren verstorbenen Berliner Arzt Dr. Abarbanell, den Wiederhersteller und Führer des großen Berliner Handwerkervereins, welchem von diesem Verein noch alljährlich an seinem Todestage eine besondere Erinnerungsfeier gewidmet wird. Solche Persönlichkeiten, wie arbeitsvoll sie auch später an sich gebildet haben mögen, machen und schaffen sich doch nicht allein aus sich selber. Mag der geistige und sittliche Boden, auf dem sie gewachsen sind, uns als ein öder und dürftiger erscheinen, er muß dennoch erwärmende Einflüsse geübt und fruchtbare Stellen besessen haben, die edlen Charakterkeime zu pflegen und den Sinn über das Gemeine zu richten.

Und so war es auch, man muß nur die Binde des Vorurtheils und der anerzogenen Abneigung von den Augen nehmen, um gegen solche gesellschaftlich uns doch naheliegende Erscheinungen nicht ungerecht zu sein. Auch in der Christenheit hatte ja bekanntlich das Mittelalter sammt den darauffolgenden Zeiten nicht lauter reine und liebliche Früchte gezeitigt. Zerzaust aber und athemlos, in verwilderter und verknöcherter Aeußerlichkeit war das zerstreute jüdische Element aus den wüsten Verfolgungen und Mißhandlungen finsterer Jahrhunderte hervorgegangen. So stand es herabgedrückt, betroffen und verschüchtert da, als es vor kaum sechszig Jahren endlich sein Joch erleichtert und sich von dem hellen Lichte eines milderen Tages beleuchtet sah. Dennoch ist es Thatsache, daß sich hier unter einer fast undurchsichtigen Kruste bizarrer, barocker und ästhetisch mannigfach abstoßender Lebensformen ein weicher und warmer Kern zarter Gemüthsinnerlichkeit, edler Gesinnung und ehrenhafter Gesinnung, zugleich aber eine scharfe und schwungkräftige Empfänglichkeit für geistiges Streben erhalten hatte.

Leopold Kompert hat uns dieses Judenthum auf der Grenzscheide zweier Zeiten mit allem Farbenschmelz ergreifender Poesie geschildert, A. Bernstein hat es uns in seinen Novellen „Vögele der Maggid“ und „Mendel Giborr“ mit humor- und seelenvoller Drastik vorgeführt. Von Ludwig Kalisch aber ist es in dem oben bezeichneten Buche nunmehr auch ohne dichterischen Schmuck so scharf und treu gezeichnet worden, wie es aus der Knabenzeit des Verfassers noch fest in seiner Erinnerung lebt. Der besondere Werth seines Buches liegt in dem Umstande, daß es keine Dichtung, sondern eine durchaus ungezwungene memoirenartige Mittheilung ist. Es verschweigt das Häßliche und Verkehrte, das Unverständige und Abenteuerliche in den Einrichtungen und Anschauungen nicht, aber es zeigt uns unter der seltsamen Hülle auch das kernhaft Tüchtige, Gute und Schöne im vollen Glanze seiner immer charakteristischen Eigenart. So führt es die Kirche und die Schule, das Familien- und Straßenleben, die Männer-, Frauen- und Kinderwelt der polnischen Judengemeinde, ihre Sitten und Gebräuche, die Originalität ihrer Charaktertypen, ihrer Heiligen und Humoristen in treuester Schilderung und wechselnder Bilderfülle an uns vorüber.

Und erwärmend wirkt dabei vor Allem die ernste und innige Pietät, mit welcher der weltmännische, auf den Höhen moderner Bildung stehende Schriftsteller von dem glänzenden Paris aus auf die scheinbar so dürftigen Wurzeln zurückblickt, aus denen sein geistiges und sittliches Dasein sich entfaltet hat. Gewiß, es ist eines der liebenswürdigsten, unterhaltendsten und belehrendsten Bücher, die wir seit längerer Zeit gesehen haben, anziehend auch durch stylvolle Eleganz der Darstellung und Sprache. Die jüdischen Leser wird es an Dinge erinnern, die zum Theil in derartigen Formen nicht mehr vorhanden sind, viele christliche aber werden sich gern durch diese culturgeschichtlich so interessanten Genrebilder aus dem inneren Leben einer verfolgten Confession zur Ablegung herber und absprechend inhumaner Urtheile ermuntert sehen.

A. Fr.