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Instinct oder Ueberlegung? (Die Gartenlaube 1869/4)

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Textdaten
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Titel: Instinct oder Ueberlegung?
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 4, S. 64
Herausgeber: Ernst Keil
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Erscheinungsdatum: 1869
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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[64] Instinct oder Ueberlegung? Wie die Spinne sich durch den Bau einer Brücke von einer Insel rettete, theilte die Gartenlaube mit, ohne zu entscheiden, ob Instinct oder Ueberlegung die Triebfeder war. Vielleicht waren beide thätig, da es keine Seltenheit, daß die Spinne ihre Fäden flattern läßt, um sich derselben, wenn sie sich angeheftet, als Brücken zu bedienen, die zwei entfernte Gebäude oder sonstige Gegenstände verbinden, in deren Mitte sie ihr Netz webt. Aber nicht nur Brücken und solide Hängewerke fertigen die Spinnen, sondern auch Flugapparate. In den ersten Octobertagen des Jahres 1868 ließ ich Kartoffeln ausroden, dabei freute ich mich der herrlichen Beleuchtung, als die siegreiche Sonne den Nebel verscheuchte und Tausende von Herbstfäden, von Millionen kleiner Nebelperlen überzogen, freudig nach kalter Nacht dem warmen Sonnenlichte entgegenglänzten. Auch die schwarz gestreiften Erdspinnen freuten sich des Sonnenscheines und liefen eifrig umher; namentlich schien ihnen ein hell gefärbter gefüllter aufrechtstehender Kartoffelsack besonders zu gefallen, auf dem etwa zwanzig Stück größere und kleinere, bald heller, bald dunkler gefärbte, sich zusammengefunden. Die Gesellschaft war sehr munter, lief hin und her, jedoch ohne besondere Ordnung, indem sie ihre langen Vorderbeine drohend gegeneinander erhoben, wenn sie sich zu nahe kamen. Andere stellten sich ruhig und andächtig hin, wobei sie den Hinterleib auffallend hoch emporstreckten, bis eine der unruhigen Spinnen der Andacht ein Ende machte. Allmählich wurden der Spinnen weniger, ohne daß ich sah, wo sie blieben. Plötzlich waren sie verschwunden. Genauer zusehend bemerkte ich, daß diejenigen Spinnen, welche den Hinterleib emporstreckten, mehrere Fäden entwickelten, die in gleicher aufsteigender Richtung der Sonne zuwehten, wie ich in dem vom Nebel in den höheren Schichten noch theilweise verschleierten Sonnenlichte weithin sehen konnte. Da wurde mir das Verschwinden der Spinnen klar, ich gab noch besser Acht und sah, wie sie mit großer Behendigkeit in dem Augenblicke sich blitzschnell umwendeten und auf den Faden sprangen, wo der Flugapparat stark genug geworden, sie zu entführen; sie bildeten die Gondel des rasch dem Auge entschwindenden Luftschiffes.

Ich hatte das Vergnügen, sämmtliche Spinnen, die noch auf den Säcken geblieben, abreisen zu sehen, indeß nicht ohne daß ich ihre Abfahrt mehrmals verzögerte und nachdem ich beobachtete, daß sie sich gegenseitig bemühten, die bereits gesponnenen Fäden Anderer zu den ihrigen zu fügen, um auf diese Weise einen Vorsprung zu gewinnen. Jetzt waren mir Entstehung und Zweck der Herbstfäden deutlich. Sie dienen den Spinnen dazu, ihren Sommeraufenthalt zu verlassen und geschützte Winterquartiere zu beziehen. Ob der Instinct, oder Ueberlegung, oder Erfahrung sie leitet? Sie ziehen fort, indem sie die höchsten sie umgebenden Gegenstände erklimmen, um von dort aus ihre Fäden treiben zu lassen, bis sie stark genug sind, sie zu tragen.

Während der Luftfahrt webt die Spinne weiter, indem sie an ihren Luftschiffen auf und ab klettert. Der Lufthauch wirbelt das dünne Gewebe stellenweise unregelmäßig zusammen, oder mehrere Aeronauten machen, durch den Zufall begünstigt, eine gemeinschaftliche Reise, bis die Feuchtigkeit der Luft sie zwingt, niederzusteigen. Manche Herbstfäden tragen ihre Spinnen noch, auf vielen trifft man sie nicht mehr an; aber an solchen Tagen, wo der Faden häufig fliegt, findet man viele Erdspinnen an Hecken und an Sträuchern, wo sonst keine zu entdecken, und dabei sind manche Wanderlustige, die, mit dem Anhaltspunkte nicht zufrieden, sich ein neues Luftschiff fertigen und hoffnungsvoll der unbekannten Zukunft zueilen.

Nur einige Tage dauert die Reisezeit der Erdspinnen, später fliegen nur solche Herbstfäden umher, die, zeitweilig befestigt, vom Winde losgerissen wurden, bis auch diese und mit ihnen das Erinnerungszeichen an die Davongeflogenen verschwindet, die vermuthlich im nächsten Frühjahr, von Kälte und Vögeln decimirt, zum Acker zurückfliegen, bis dahin jedoch unbeachtet bleiben. Oder verschwinden sie für immer, und sind die Tausende von winzigen kleinen Erdspinnen, welche an sonnigen Decembertagen die Herbstsaaten und angrenzenden Aecker mit ihren im Sonnenlichte funkelnden, nahe am Boden liegenden Gespinnst überweben, bestimmt, den Winter zu überdauern, zu wachsen und im nächsten Jahre erst zu wandern?