In der Christnacht
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In der Christnacht.
Mit plötzlichem Ruck klappte er den Deckel zurück und belud sich mit Paketen.
Berger … Berger … Berger! Drei Stück! Der konnte lachen, dem hatte Mutter ordentlich ’was eingepackt, um ihm die einsame Junggesellenweihnacht zu versüßen. Schwer atmend stieg der Mann mit seiner Last die drei teppichbelegten Treppen des feinen Hauses hinauf und klingelte.
„Für – Herrn Assessor.“
„Klopfen Sie nur dort an, der Herr Assessor sind zu Hause,“ sagte Dorchen, das Hausmädchen, und trat zurück, um den Alten vorbei zu lassen.
Ja, der Herr Assessor „waren“ zu Hause. Er hatte sich seinen bequemen Hausrock angezogen, eine feine Havanna angesteckt und schritt, mit einem brennenden Tannenzweige wedelnd, im Zimmer auf und ab.
Das riecht so weihnachtlich, meinte er, beinahe wie bei Muttern.
Bei dieser Beschäftigung überraschte ihn der kleine Postbote, der ihn schon von früheren Gelegenheiten her kannte.
„Hier bring’ ich die Bescherung für den Herrn Assessor,“ sagte er, mit pfiffigen Augen umherblickend. „Drei große Pakete von zu Haus! Ja, wer’s so haben kann!“
Und dann strich er schmunzelnd das außergewöhnliche Trinkgeld ein und nahm mit spitzen Fingern eine Cigarre aus dem Kasten, der ihm freundlich hingehalten wurde.
„Na, dank’ auch schön und vergnügte Feiertage!“ –
Herr Assessor Adolf Berger schob die Pakete einstweilen beiseite. Erst mußte das ganze Zimmer einen festtägigen Anstrich haben, dann wollte er „aufbauen“.
Ueber den Sofatisch hatte er eine weiße Serviette gebreitet, und darauf stand, mit ein paar bunten Glaskugeln behängt, eine kleine Fichte. Ziemlich kümmerlich, wenn er an den Lichterbaum daheim dachte, aber immerhin ein Christbaum, ohne den es für ihn nun einmal kein Weihnachtsfest gab.
Neben dem Bäumchen stand ein weißer Wachsstock, von dem der Assessor mit dem Taschenmesser regelmäßige Endchen abschnitt, denn die Antipathie gegen die gefärbten Paraffinkerzchen war vom Vater auf ihn übergegangen. Wachs mußte es sein, echtes Bienenwachs, das gab dann mit Pfefferkuchen, Punsch und Tannennadeln zusammen jenen unbeschreiblich wundervollen Weihnachtsduft, der die Erinnerung an – ja, an vierundzwanzig selige Weihnachtsfeste in ihm weckte, denn auf die ersten vier seines Lebens konnte er sich beim besten Willen nicht mehr besinnen.
Jetzt waren die Lichtchen alle befestigt. Was noch herumlag, wurde mit schnellem Griff in eine Schublade geworfen, in der schon allerlei bunter Kram friedlich nebeneinander hauste. Dann rückte der Herr Assessor den großen Sorgenstuhl vom Fenster neben den Christbaum, steckte die Flamme unter dem Wasserkesselchen an, stellte den Punschextract daneben, und nun konnte die Geschichte losgehn! –
Es ist ein eignes Ding um eine einsame Weihnacht. Und wenn es einem das ganze Jahr über noch so wohl unter Fremden ist, am Heiligabend will das Herz etwas Liebes, Vertrautes haben, irgend ein altes Gesicht, das auf die Frage „Weißt du noch?“ mit stillem Nicken antworten, oder ein junges, das von künftigen Christfesten mitträumen kann.
Assessor Berger war eine frische, fröhliche Natur, jeder Sentimentalität abhold, und so hatte er, ohne sich lang’ zu besinnen, die Vertretung eines verheirateten Kollegen übernommen, der kürzlich herversetzt war und für die Festtage gern zu seiner Familie reisen wollte. Nun, da er sich in seinem stillen Zimmer umsah, verwünschte er fast die unzeitige Gutmütigkeit, und er hob mit einem kleinen Stoßseufzer das erste der Pakete auf, das sie ihm daheim eingepackt hatten.
„Flach und lang …“ meinte er mit Kennerblick, „werden wohl die gewünschten Oberhemden sein! Wenn sie nur nicht wieder aus der Weste herausrutschen wie die vorigen, ‚selbstgenähten‘, die mich fast zur Verzweiflung gebracht haben …“
Kurz entschlossen schnitt er den Bindfaden entzwei und hob den Pappdeckel ab.
„Nanu?“ Ziemlich betreten starrte er auf den Inhalt der Schachtel: zwei Paar derbe, handgestrickte Strümpfe von einer unheimlichen Länge und abnorm kleinen Füßen, sechs mit „K“ gezeichnete Taschentücher … „Ich heiße doch Adolf!“ – und dann –
Er war ganz rot geworden und deckte etwas Weißes, Spitzenbesetztes diskret wieder zu – „das waren doch bei Leibe keine Oberhemden!“
Neben den Taschentüchern lag ein verschlossener Brief. „Für mein liebes Kind“ stand darauf geschrieben. Es mußten alte Hände und Augen gewesen sein, die diesen Brief zustande gebracht hatten, denn die Schrift war zitterig und die Linien schief.
Noch immer hielt er den fremden Brief in den Händen und sah gerührt die einfachen Worte an: „Für mein liebes Kind.“ Dann legte er die bescheidenen Herrlichkeiten sorgsam wieder zurecht und griff nach der Paketadresse.
„Fräulein Klara Berger.“
„Mein Gott, wie unangenehm! Wie ist solche Verwechslung [818] nur möglich! Aber freilich, um die Weihnachtszeit, und wenn man im selben Hause wohnt …
Denn Straße und Hausnummer stimmten, nur daß Fräulein Berger im Hintergebäude drei Treppen hoch wohnte. Er fing an, sich für die Fremde zu interessieren, die seinen Namen trug und vom Zufall mit ihm in dasselbe Haus verschlagen war. Sonderbar, daß er sie nie gesehen hatte! Wahrscheinlich benutzte sie immer den Seiteneingang, denn er konnte sich nicht besinnen, ihr jemals begegnet zu sein.
Nun, Dorchen würde schon Auskunft geben können, die kannte die Familienverhältnisse aller Hausbewohner bis ins dritte und vierte Glied.
„Dorchen!“
„Herr Assessor!“ Mit eiligen Schritten kam sie den langen Gang heruntergelaufen, daß die Holzabsätze der Pantöffelchen nur so klapperten. Für den Herrn Assessor, da ging sie durchs Feuer, so ’n artiger, netter Herr, wie das war! Und heute, nach dem schönen „Weihnachten“, den er ihr in die Hand gedrückt, wäre sie auch zu einer größeren Dienstleistung gern bereit gewesen.
Ganz atemlos kam sie an. „Wünschen der Herr Assessor etwas?“
„Ja, Dorchen,“ er zeigte auf das mysteriöse Paket, „mir ist da eine sehr unangenehme Geschichte passiert. Der Postbote hat die Pakete verwechselt und mir eins gebracht, das für ein Fräulein ‚Klara Beraer‘ im Hinterhause bestimmt ist.“
„Ach ...“ Dorchen trat interessiert näher.
„Kennen Sie denn das Fräulein?“
„Na und ob,“ Dorchen war förmlich gekränkt, „das ist ’was Feines, Herr Assessor, wenn sie auch nur Directrice in einem Putzgeschäfte ist. Auf hundert Schritt sieht man’s ihr an, daß sie ’ne Dame ist, und wenn sie auch noch so freundlich grüßt, abgeben thut sie sich mit keinem!“
„Ja, aber das Paket, Dorchen …?“
„Geben Sie’s mir, Herr Assessor! Ich trag’s rüber und bestell’ ’ne schöne Empfehlung von Ihnen: der Postbote hätt’s verwechselt.“
Dorchen band sich diensteifrig die Schürzenbänder fest und griff nach der Schachtel.
„Nein, warten Sie, Dorchen. – Das geht doch nicht!“
Adolf Berger zog unschlüssig den weichen blonden Schnurrbart durch die Finger. „Das geht auf keinen Fall! Ja, wenn ich’s nicht geöffnet hätte, aber so … Lassen Sie’s gut sein, Dorchen, ich gehe selbst.“
Er machte sich allerlei im Zimmer zu schaffen, um Dorchens erstauntes Gesicht nicht zu sehn.
„Da müssen der Herr Assessor aber über den Hof und dann wieder drei Treppen in die Höhe,“ sagte Dorchen, die des Assessors Antipathie gegen unnötiges Treppensteigen kannte. „Sie wohnt bei den Buchbindersleuten.“
„Schön! Fräulein Berger ist am Ende noch gar nicht zu Hause.“
„Doch!“ widersprach Dorchen eifrig. „Vor einer halben Stunde ist sie gekommen, und blaß sah sie aus, in ihrem schwarzen Mäntelchen. Lieber Gott, so ’n junges Ding und ganz allein am Heiligabend! Und nun nicht mal ’n Paket von zu Haus!“
Dorchen war ganz Rührung, als sie dem Assessor, der im Nebenzimmer schnell den Rock gewechselt hatte, in den Ueberzieher half. „Die erste Thür links, Herr Assessor, und tüchtig klingeln – wenn der Mann bei der Arbeit ist, überhört er’s oft.“
Die Pappschachtel sorgsam unter dem Arm, ging Adolf Berger über den beschneiten Hof. Es war und blieb eine fatale Sache, dem jungen Mädchen das geöffnete Paket zu überbringen. Aber vielleicht hatte sich Dorchen doch geirrt und sie war noch nicht zu Hause – die Geschäfte schlossen ja erst spät heute.
Er sah scheu an den Wänden des Hinterhauses empor. Drei Treppen hoch waren zwei Fenster erhellt, und an dem einen glaubte er einen Schatten zu entdecken, als ob dort, hinter der Gardine versteckt, eine Frau lehne, eine schmale, schlanke Gestalt.
Nachdenklich ging er die Treppen hinauf. Eigentlich war’s ein rechter Unsinn, daß er selbst gegangen war. Dorchen hätte das ebenso gut und besser besorgen können, und schließlich bekam er noch spitze Bemerkungen von der kleinen Putzmamsell. Denn was die „Dame“ anbetraf – man kannte das ja …
Die Treppen ächzten leise unter seinem Schritt.
„Verdammte Höhe!“ brummte der Assessor ärgerlich. „Hätte ich mir ersparen können!“
Aber endlich war er oben und zog die Klingel, erst leise, dann, Dorchens Weisung eingedenk, noch einmal energischer.
Eine ältliche Frau in großer Hausschürze öffnete und behielt die Thüre halb in der Hand, den vornehmen Besuch neugierig musternd.
„Was steht zu Diensten?“
„Ist Fräulein Berger vielleicht zu Hause?“
Adolf Berger ärgerte sich, wie unsicher seine sonst so kräftige Stimme klang, und fuhr in unmotivierter Heftigkeit fort: „Ich habe dem Fraulein ein Paket zu überbringen, das fälschlich bei mir abgegeben worden ist!“
„Bitte,“ sagte die Frau und deutete auf die nächste Stubenthür. „Klopfen Sie man dreist an, das Fräulein is g’rad’ von’s Geschäft heimgekommen.“
Und dann sah sie hinter ihm her.
„Hübscher Mann; und pikfein! Daß aber unser stilles Fräulein so ’ne Bekanntschaften hat …“
Kopfschüttelnd schloß sie die Thür hinter sich, indes der Herr Assessor bescheiden klopfte.
„Herein …“ Es klang sehr leise, dies Herein, als würde es von einer thränenverschleierten Stimme gerufen.
Und dann stand Adolf Berger, den Hut in der Hand, auf der Schwelle der kleinen Hinterstube und machte seine ehrerbietigste Verbeugung.
„Verzeihen Sie, mein Fräulein, daß ich es wage, Sie aufzusuchen …“ er begriff seine Dreistigkeit nun selbst nicht mehr, „es ist da eine Verwechslung vorgekommen … Ich heiße nämlich auch Berger … Assessor Berger“ – eine abermalige Verbeugung – „und da wir in demselben Hause wohnen …“
Sie hatte ihn mit keinem Worte unterbrochen. Still und blaß stand sie unter der kleinen Hängelampe, die Hände auf die Tischplatte gestützt und den Kopf gesenkt, daß der volle Lichtschein auf ihren blonden Flechten lag.
Assessor Berger meinte, nie etwas Holderes, Rührenderes gesehen zu haben als dies schmale Gesichtchen unter dem goldenen Heiligenschein.
„Gestatten Sie,“ er trat zögernd einen Schritt näher, „daß ich Ihnen hier Ihr Paket …“
„Ach, Gott sei Dank!“ Eine kleine Hand streckte sich ihm entgegen, und die Augen, mit denen sie ihn nun ansah, hatten wirklich geweint.
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Als sie sah, daß die Schachtel geöffnet war, erschrak sie wohl, nahm aber seine Entschuldigung mit freundlichem Lächeln auf: „Es schadet nichts.“
„Es ist gewiß von zu Haus,“ sagte er, in krampfhaftem Bemühen, die Unterhaltung noch ein wenig hinzuziehen.
Da nickte sie eifrig. „Ich hab’ mich so gebangt, als ich nicht den kleinsten Gruß vorfand. – Wenn man zum erstenmal so allein ist am Heiligabend …“ sie errötete plötzlich über ihre Redseligkeit – was mußte er nur denken?
Er aber griff die Worte hastig auf.
„Ganz verlassen kommt man sich vor,“ bestätigte er in komischer Verzweiflung, „und immer muß man nach Haus denken, wie sie nun wohl alle um den Christbaum sitzen, wie jedes seine Geschenke betrachtet … Das ist ein Küssen und Händedrücken, ein Jubeln und Lachen …“
„Und doch auch wieder so feierlich,“ setzte sie ernsthaft hinzu. Sie hatte ihm mit leuchtenden Augen zugehört, gerade so war’s ihr selbst zu Mute gewesen.
„Wollen Sie sich nicht einen Augenblick setzen?“ Sie deutete schüchtern auf einen Stuhl; er war doch ihretwegen die drei Treppen heraufgestiegen.
Dankbar nahm er den Sitz an.
Wie gemütlich es hier oben war! Hinter allen Bildern steckten grüne Zweige, das Theetischchen war gefällig gedeckt, und dort am Fenster stand wahrhaftig auch ein Bäumchen und ein weißer Wachsstock daneben. Alles wie bei ihm, nur noch eine Nummer kleiner, bescheidener.
Sie war seinen Blicken gefolgt. „Das Bäumchen hab’ ich mir gestern selbst mitgebracht. Es ist hübsch gewachsen,“ sagte sie, die Zweige auseinanderbiegend, „und ich hatte mich darauf gefreut, es anzuputzen. Wie aber so gar nichts da war von Mütterchen, da ist mir die Lust vergangen … es hätte mich doch nur traurig gemacht.“
„Darf ich Ihnen die Lichtchen schneiden, Fräulein Berger?“
Er stellte den Hut hin und holte eifrig sein Taschenmesser hervor. „Da, sehen Sie – es klebt noch Wachs daran: ich habe vorhin für mein eigenes Bäumchen einen Wachsstock zerteilt. Nun habe ich eine Fertigkeit darin – großartig, sage ich Ihnen!“
Nach sekundenlangem Zögern holte sie lächelnd den Wachsstock und reichte ihn dem Assessor hin. „Wenn’s Ihnen Freude macht,“ sagte sie freundlich.
„Wie kommt es, daß Sie keinen Urlaub haben, Fräulein Berger?“ fragte er, eifrig arbeitend. „Dürfen Sie sich nicht einmal zu Weihnachten die kleine Erholung gönnen, heim zu fahren?“
„O doch, man hat es mir sogar angeboten. Aber Mutters Wohnort ist weit von hier und Reisen kostet Geld. Die Ausgabe wäre zu groß gewesen für meinen kleinen Beutel.“
Sie sagte es mit einer ruhigen Selbstverständlichkeit, die ihm weh that. Wieviel Sorgen und Entbehrungen, wieviel Leid und Not waren wohl nötig gewesen, die junge Seele dort zu solch entsagender Weisheit zu erziehen!
Ein Weilchen stand sie neben ihm, seiner Arbeit zusehend, dann ging sie zum Fenster und schaute hinaus. Es hatte wieder angefangen zu schneien, die Flöckchen wirbelten gegen die Scheiben und türmten sich dann auf dem Fensterbrett zu einer kleinen Mauer auf. Tief unten aber, im engen Hausgärtchen, hatten sie Wege und Stege längst verwischt, aus der glatten, weißen Fläche ragten nur noch die Büsche mit dicken Schneekappen hervor.
„Wie schön muß es jetzt draußen im Lande sein,“ meinte das Mädchen träumerisch.
„Von unserem Stübchen aus können wir meilenweit über die Felder sehen, und die Obstbäume reichen mit den Zweigen bis an die Fenster. Hier sieht man nur Häuser und immer wieder Häuser …“
Wie sehnsüchtig ihre Stimme klang.
„Sie sollten einmal in den Tiergarten gehen, Fräulein Berger,“ sagte er, fleißig an seinen Lichtchen schnippelnd, „da ist’s jetzt märchenhaft schön!“
Sie schüttelte traurig den Kopf. „Wann denn? In der Woche hab’ ich nicht Zeit zum Spazierengehen und Sonntags, da sind so viel geputzte Menschen überall …“
Sie brach ab und sah erschrocken zu ihm hinüber. Das Messer war ihm tief in die Hand geglitten, und nun quoll das Blut in großen Tropfen hervor.
„Thut’s weh?“ Sie beugte sich mit blassem Gesichtchen über seine Hand, und dann lief sie zur Kommode und holte ein kleines Bündel weißer Lappen hervor.
„Gutes, altes Leinen,“ versicherte sie wichtig. „Mutter hat’s mir für alle Fälle mitgegeben. Sie sollen sehen, das hilft gleich!“
Mit flinken Fingern riß sie Verbandstreifen ab, tauchte ein Läppchen in kaltes Wasser und band es um den verwundeten Daumen.
Er hatte ihr lachend wehren wollen, aber dann war’s ihm doch ein eigentümlich wohliges Gefühl gewesen, sie so um sich beschäftigt zu sehen und die Fingerchen zu betrachten, die vor lauter Schreck und Mitgefühl förmlich zitterten.
Als der Verband kunstgerecht fertig war und sie die Enden des Fadens, in Ermangelung einer Schere, schnell entschlossen mit ihren spitzen Zähnchen durchbiß, faßte Assessor Berger mit raschem Griff nach ihren Händen.
„Danke schön, Fräulein Klärchen!“
Sie war ganz rot geworden und trat einen Schritt von ihm fort.
„Aber bitte! Thut’s auch gewiß nicht mehr weh?“
Dann kam es ihr zum Bewußtsein, wie lange er nun schon hier sei und wie sonderbar überhaupt dieser ganze Besuch war, und was Frau Prieke wohl denken würde.
Er merkte ihr die peinlichen Gedanken an, sie waren gar so deutlich auf ihrem Gesichtchen geschrieben.
Seufzend stand er auf. Die Aussicht, den Rest des Abends allein zu verbringen, hatte wenig Verlockendes, und überhaupt – sie war solch süßes Geschöpfchen, zurückhaltend und zutraulich zugleich …
„Fräulein Klärchen, ich habe eine große Bitte! Sagen Sie einmal Ja!“
Mit scheuen Augen sah sie zu ihm auf. Was wollte er nur?
[820] „Es ist ein ganz harmloser Wunsch,“ sagte er beruhigend. „Sie brauchen nicht solche Rotkäppchenaugen zu machen. – Lassen Sie uns noch ein Stündchen zusammen durch das weihnachtliche Berlin gehen.“
„Nein, nein …“ sie schüttelte ängstlich abwehrend den Kopf, „das geht nicht … das kann ich wirklich nicht. Ich bin noch niemals abends ausgegangen, seit ich hier bin …“
In komischer Feierlichkeit hielt er ihr den verbundenen Daumen entgegen.
„Ich habe mein Blut in Ihrem Dienst vergossen, Fräulein Berger, und Sie schlagen mir die kleine Bitte ab!“
In all ihrer herzbeklemmenden Angst mußte sie lachen. Er sah gar so drollig aus. Und vielleicht hatte er recht – es war doch gewiß nichts Böses dabei, wenn sie sich von ihm noch ein Weilchen herumführen ließ in den flimmernden, blitzenden Straßen. Eine unbändige Sehnsucht kam jählings über sie, eine Sehnsucht nach der kühlen, klaren Winterluft, nach dem Knirschen des Schnees unter ihrem Schritt, nach Licht und Frohsinn, nach einem Menschen, mit dem sie plaudern könnte …
„Es ist schon so spät,“ sagte sie zögernd, halb bang, halb nachgebend, „um zehn Uhr müßte ich ganz sicher zu Hause sein …“
Er unterdrückte mühsam einen Freudenschrei, er durfte ihr zaghaftes Zutrauen nicht erschüttern mit seiner tollen Fröhlichkeit.
„Punkt zehn Uhr sind wir zu Haus, natürlich,“ sagte er, so vernünftig als möglich. „Ziehen Sie flink ihren Mantel an …“
Sie strich mit den Händen zärtlich über das Paket. „Ich möchte doch erst … es ist von der Mutter!“
Eine warme Weichheit war in ihren Augen und in der Stimme, sobald sie der Mutter erwähnte.
„Dann will ich unten auf Sie warten, Fräulein Klärchen. In einem Viertelstündchen vielleicht, sonst bleibt uns so wenig Zeit,“ bat er herzlich.
Sie nickte ihm zu. „Ich werde pünktlich sein.“
In wahrem Sturmschritt, immer drei Stufen auf einmal nehmend, raste er die Treppen hinab und im Vorderhause wieder empor, daß er das ahnungslose Dorchen, welches im Halbdunkel des Treppenhauses gerade einen kleinen Klatsch mit der Köchin des zweiten Stockwerkes abhielt, beinahe über den Haufen rannte.
„Gott, Herr Assessor, was hab’ ich mich erschreckt!“
Er stammelte etwas, das eine Entschuldigung bedeuten sollte, aber seine Gedanken waren ganz wo anders.
„Da will ich dem Herrn Assessor man gleich den Spiritus wieder anstecken. Ich hab’ ihn vorhin ausgepustet, es hätte sonst leicht ein Unglück geben können.“
„Danke schön, Dorchen, lassen Sie nur – ich gehe noch einmal fort.“
Dorchen riß erstaunt die runden Augen auf. Drin im Zimmer standen die Pakete, noch gar nicht aufgemacht, die selbstgeschnittenen Wachslichter waren noch gar nicht angebrannt worden, und da wollte er fort? Er war doch sonst nicht so! Sollte etwa – –
Dorchen hätte beinahe laut heraus geschrieen über die Idee, die grell und leuchtend in das Chaos ihrer grübelnden Gedanken fiel und mit einem Schlage auch das Verworrenste klärte: „Verliebt!“
War er nicht drüben gewesen, im Hinterhaus? Hatte er nicht – Dorchen sah der Sicherheit halber nach der Uhr – eine volle halbe Stunde dort oben zugebracht? Und nun wollte er ausgehen, vielleicht gar mit …
Jedenfalls nahm sie sich vor, der Sache auf den Grund zu gehen, und als Adolf Berger, mit dem Paletot auf dem Leibe und einem Herzen voll widerstreitender Gefühle unter der Weste, hinunterging, um Fräulein Klärchen Berger zu treffen, stand am geöffneten Fenster seines Wohnzimmers eine kleine dralle Person und spähte mit scharfen Augen auf die Straße hinab.
„Stimmt!“ sagte Dorchen sehr befriedigt, als sie die Hausthüre mit dumpfem Schlag zuklappen hörte und neben dem grauen Paletot etwas Schmales, Leichtfüßiges hinwandeln sah. Und dann riegelte sie das Fenster sorgsam zu und sah noch einmal nach dem Kachelofen.
„Verliebte Leute brauchen zwar nicht viel Hitze,“ meinte sie sachverständig, „aber zur Nacht wird’s kalt, und einen Schnupfen soll ihm der Ausflug nicht eintragen.“
Ja, es „stimmte“ wirklich, obgleich für Klärchen Berger das Fortgehen nicht so einfach gewesen war.
Zuerst hatte sie ihre Christbescherung aufgebaut, jedes einzelne Stückchen ans Herz gedrückt und unter heißem Erröten erwogen, ob „er“ auch wirklich nichts von all den intimen Sachen gesehen habe.
Dann hatte sie Mütterchens Brief gelesen, unter Thränen und Küssen, und doch lange nicht aufmerksam genug, wie sie sich später reuevoll eingestand. Und als sie sich endlich zum Spaziergang rüstete, da war sie wohl zehnmal in Versuchung gewesen, Hut und Umhang wieder hinzulegen und still zu Haus zu bleiben.
Wenn Mütterchen eine Ahnung von ihrem Vorhaben hätte …
Ob er der Mutter wohl gefallen würde? Gute, ehrliche Augen hatte er – das Mädchen träumte still für sich hin – ja, die hatte er wirklich, und wenn er lachte, konnte er aussehen wie ein Kind.
Wie sonderbar: gestern hatte sie noch gar nichts von ihm gewußt, und heute war’s ihr, als wären sie gute, alte Bekannte, und nun machte sie sich sogar bereit, mit ihm in den Weihnachtsabend hinauszugehen!
Bis jetzt hatte sie von der ganzen Weihnachtspracht noch so gut wie gar nichts gesehen, sie getraute sich ja kaum, vor einem der herrlichen Schaufenster stehen zu bleiben, aus lauter Angst, angeredet zu werden. Und nun sollte sie das alles genießen dürfen im Gefühl eines festen, sicheren Schutzes …
„Frau Prieke!“
Die Buchbindersfrau unterbrach ihre Arbeit am Herd. „Was giebt’s denn, Fräulein?“
„Frau Prieke, Sie haben doch den Herrn gesehen, der mir vorhin das Paket brachte …?“
Die brave Frau nickte etwas steif, a conto des langen Herrenbesuchs. Sie hielt auf die Reputation ihrer Zimmerdamen, und so eine stille, feine, wie das jetzige Fräulein, hatte sie noch gar nicht gehabt. Wenn sich da aber etwas anbändeln sollte mit [822] Abendbesuchen, Spaziergänger: und solchen Wippchen, dann hatten sie die längste Zeit bei einander gelebt!
„Ach, Frau Prieke …“ Klärchen zog in hilfloser Verlegenheit die Handschuhe ein paarmal aus und an, „wenn Sie wüßten, wie oft er sich entschuldigt hat wegen des Pakets! Am Ende konnte er doch gar nichts dafür, daß er’s aufgemacht hat, und ein anderer hätte es einfach durch das Mädchen herübergeschickt …“
Da die Buchbindersfrau nur zustimmend nickte, sprach Klärchen eifrig weiter. „Von seiner Mutter hat er auch erzählt, das muß eine zu liebe Frau sein und … finden Sie ’was dabei, liebe, gute Frau Prieke, wenn wir uns noch ein Stündchen lang die Schaufenster zusammen ansehen? Ich hab’ so Lust, einmal herauszukommen, und der Herr Assessor hat versprochen, mich pünktlich wieder abzuliefern ...“
Frau Priekes Gesicht hatte sich zusehends aufgehellt. Nun, da sie die unschuldigen jungen Augen in solch brennender Frage auf sich gerichtet sah, nahm sie bedächtig die Brille von der Nase und putzte und hauchte mit großer Umständlichkeit daran herum.
„Jh wo, Fräuleinchen! Gehen Sie man ruhig noch ein bißchen die Leipziger Straße lang, zu sehen giebt’s da genug! Und wenn der Herr von drüben Sie begleiten will, so ist da auch weiter nichts bei, denn was ein anständiges Fräulein ist, die kann in Gottes Namen mit irgend wem spazieren geh’n. Ich hab’ mich auch wohl, ehe das mit Prieke und mir perfekt wurde, von diesem oder jenem meiner Bekannten Sonntag abends ausführen lassen, und es ist mich deshalb noch lange keine Perle aus meiner Krone gefallen.“
Sie hatte nicht übel Lust, sich in Jugenderinnerungen zu verlieren, aber Klärchen hörte die Turmuhr schlagen. Schon halb Neun! Und er wartete gewiß unten …
„Adieu, Frau Prieke … schönen Dank! Und Punkt Zehn bin ich da.“
Sie faßte die gutmütige Frau rundum, dann lief sie mit flinken Füßen davon.
Unten aber, im dämmernden Hausflur, stand sie hochatmend einen Augenblick still, klappte den Kragen hoch und zog die schwarze Pelzkappe tiefer in die Stirn, ehe sie über den knisternden Schnee des Hofes hinüber schritt zum Vorderhause.
Der Assessor, der ihr in strahlender Erwartung entgegenging, konnte trotz eifrigsten Bemühens von ihrem Gesicht nichts weiter entdecken als ein paar hochrote Öhrchen zwischen Haar und Mantelkragen und ein schmales Nasenspitzchen, auf das der Zufall gerade einen großen Chenilletupf des dunklen Schleiers placiert hatte.
Schauderhafte Mode, dachte Adolf Berger im stillen, aber er war innerlich zu froh und glücklich, um sich durch irgend etwas den Genuß der Stunde trüben zu lassen.
Wie das verkörperte böse Gewissen ging sie neben ihm her, mit gesenkter Stirn und kleinen Schritten, ängstlich einen halben Meter Seitenabstand innehaltend.
Auch die Unterhaltung wollte zuerst nicht recht in Gang kommen: Klärchen gab kurze, stockende Antworten, als habe sie innerlich noch gegen ein Gefühl der Unfreiheit anzukämpfen.
Er aber fand sie gerade in ihrer Verwirrung unbeschreiblich reizend.
In ritterlicher Art half er ihr über die erste Verlegenheit hinweg, indem er lebhaft zu plaudern begann. Und wie sie allmählich zutraulich wurde, war es ihm ein leichtes, durch gelegentlich hingeworfene Fragen die einfache Geschichte ihres jungen Lebens aus ihr herauszulocken.
Er wußte sehr bald, daß sie vor nicht langer Zeit ihren Vater verloren hatte, und daß dieser Amtsrichter gewesen, aber eines unheilbaren Leidens wegen schon lange vor seinem Tode hatte pensioniert werden müssen. Auch das hörte er heraus, daß es bitter schwer gewesen war, mit den kleinen Mitteln ein anständiges Leben zu führen und dem Kranken die notwendigsten Erleichterungen zu verschaffen.
„Ich hab’s damals heimlich mit dem Sticken versucht,“ erzählte Klärchen, „aber es bringt so wenig ein, ich habe auch oft wochenlang auf Bestellungen warten müssen. Da bin ich denn auf die Idee gekommen, mich im Putzmachen zu versuchen, Mutter sagte immer, ich hätte eine glückliche Hand.“
„Das glaube ich,“ sagte Adolf Berger leise und warf den kleinen Händen, die so geschickt Wunden zu verbinden wußten, einen zärtlichen Blick zu.
Sie hatte es nicht gehört. „Vater durfte nichts von meinem Verdienst wissen,“ plauderte sie weiter, „er war so eigen darin! Und mir ist’s im Anfang auch nicht einerlei gewesen, für fremde Menschen zu arbeiten,“ gestand sie freimütig, „man hat doch auch seinen Stolz. Aber wie ich älter geworden bin, hab’ ich eingesehn, daß Arbeiten keine Schande ist, und als dann der Vater starb, hab’ ich’s der Mutter abgebettelt, daß ich mir hier eine Stellung suchen durfte. Es ist mir schnell geglückt, ich bin schon Directrice in einem kleineren Geschäft, und wenn’s so weiter geht,“ meinte sie, ihn glücklich ansehend, „kann ich zum nächsten Christfest mit ruhigem Gewissen heimfahren.“
Still schritt er neben ihr her, ihren kindlich offenherzigen Worten lauschend; es ging ein Hauch der Reinheit und Schönheit von ihr aus, der seine Seele fast andächtig stimmte. Und während sie in ahnungslosem Vertrauen ihr Denken und Hoffen vor ihm bloßlegte, wuchs ein starkes, heiliges Gefühl in seinem Herzen auf.
Nur als sie von ihrem „Alter“ sprach, lächelte er, und ein schalkhaft prüfender Blick huschte über sie hin. Lieber Gott, blutjung sah sie aus mit dem roten Hauch, den die Winterluft auf ihre Wangen gezaubert hatte! Den Schleier hatte sie nun doch hinaufgeschoben.
„Halt,“ sagte er, plötzlich den Schritt hemmend, „wir laufen da plan- und ziellos in den Straßen umher und vergeuden unsre kostbare Zeit. Also vor allen Dingen – Programm! Was wollen Sie sehen? Den echten, rechten Berliner Weihnachtstrubel, oder den Tiergarten im Schnee?“
Sie bog den Kopf mit einem sehnsüchtig verlangenden Ausdruck tief in den Nacken.
„Also Tiergarten,“ deutete er jubelnd die stumme Antwort. Wie es ihn verlangte, aus der gleichgültigen Menge herauszukommen, mit ihr allein zu sein unter den schweigenden, schimmernden Bäumen!
„Kutscher ...“ Ehe sie’s hindern konnte, hatte er sie in den offenen Wagen gehoben und wickelte sorgsam die Decke um ihre Füße.
„So, nun lehnen Sie sich hübsch fest zurück und machen Sie die Augen weit auf, Fräulein Klärchen, wir sehen uns das bunte Treiben nun von oben herunter an.“
[823] Sie gehorchte willenlos wie ein Kind. Es war so neu und so süß, sich umsorgt und behütet zu wissen, mitten in dem großen, fremden Berlin.
Der Wagen kam nur langsam vorwärts, es war ein Laufen und Drängen in den Straßen, ein Hin- und Herschieben von Handwagen und Karren, daß die Fuhrwerke oft in langer Reihe minutenlang stillstehen mußten.
Aber heute vergaßen selbst die Droschkenkutscher das Fluchen; ein jeder war angesteckt von der allgemeinen Fröhlichkeit, überall gab’s lachende Gesichter.
Leute, die sonst gewiß nichts tragen mochten, gingen heute mit Paketen beladen; Püffe und Stöße wurden als etwas Selbstverständliches ohne den geringsten Aerger hingenommen; Kinder trippelten an der Hand Erwachsener daher, selige Erwartung in den großen Augen, und über allem wirbelten und tanzten die Flöckchen, schufen die Wandernden zu lebendigen Schneemännern um und verliehen selbst den nüchternsten Mietskasernen einen Schimmer von Eigenart und Eleganz.
Die beiden jungen Menschen waren unversehens in die fröhlichste Weihnachtsstimmung hineingeraten, lachten und plauderten und sahen so glücklich aus, daß manch einer der Vorübergehenden ihnen in Neid oder Freude nachblickte.
Als sie an der Ecke der langen strahlenden Friedrichstraße ausstiegen, um die „Linden“ herunter zu Fuß in den Tiergarten zu wandern, da war Assessor Berger völlig eingeweiht in Fräulein Klärchens Familienverhältnisse, und diese wieder wußte so Bescheid auf dem Gutshofe seiner Eltern, als sei sie von Kind auf dort ein- und ausgegangen.
Beim Aussteigen bot er ihr den Arm. „Sie gehen sicherer,“ redete er ihr fast väterlich zu, als er ihr Zögern bemerkte.
Da legte sie still ihr Händchen auf seinen Arm.
Fast ohne eigenes Zuthun wurden sie von der wogenden Menge weiter gedrängt und geschoben und atmeten erleichtert auf, als sie durch das Brandenburger Thor in die dämmernde Stille des Tiergartens kamen. Es war des Lärms und der Lichter fast zu viel gewesen im Gewühl der Straßen.
Wie durch einen Zauberschlag standen sie nun inmitten der Märchenpracht des Winters. Der Schnee hatte allen Bäumen eine phantastische Form gegeben, schimmernde Pfeiler und Spitzbogen schienen in eine unendliche Einsamkeit zu locken, und die sonst so plumpe Viktoria der Siegessäule schwebte geheimnisvoll hoch über dem träumenden Winterreich, als käme das Christkindlein selber vom Himmel geflogen, um seinen Geburtstag einmal wieder auf Erden zu begehen.
Klärchens plauderlustiger Mund war verstummt. In unbewußter Hingabe lehnte sie sich fester auf des Assessors stützenden Arm, während ihre Gedanken in die Heimat flogen, um wie zwitschernde Schwalben ein vor der Zeit ergrautes Haupt zu umkreisen.
Das war wohl jetzt über die Bibel geneigt und las aus dem Weihnachtsevangelium manches heraus, was nur für die einsam alternde Frau zwischen den Zeilen geschrieben stand: zitternde Nachklänge einer schönen, längst versunkenen Zeit und schüchterne Sonnenstrahlen einer Zukunft, die von einer reinen, von blondem Haar umrahmten Mädchenstirn ausgehen sollten.
„Mutter, ach, Mutter –“ es stieg ihr wie ein Schluchzen in der Kehle herauf, und sie war doch lange nicht so glückselig gewesen wie heute. Sie hätte immer so weiter gehen mögen ins schlafende Land hinein, immer weiter fort von all den Menschen, nur von dem einen nicht, der so sicher neben ihr dahin schritt.
Auch dem Manne war’s eigen zu Mute. In übermütiger Laune hatte er sich in das kleine Weihnachtsabenteuer gestürzt: das junge Ding, das sich so ruhig seinem Schutze anvertraute, hatte ihm nur ein paar leere Stunden ausfüllen, den einsamen Abend mit seinem Geplauder beleben sollen, und nun war’s ihm, als fiele von dieser Christnacht ein breiter Schein wärmenden Lichtes in seine Zukunft hinein, als habe ihm das Christkind nie eine seligere Gabe beschert als diese kleine, an Arbeit gewöhnte Hand, die so hingebend auf seinem Arm lag.
„Klärchen …“
In jähem Schreck suchte sie sich zu befreien, aber er hielt sie fest. Und wie er für das, was in seiner Seele erwacht war, schlichte, innige Worte tiefster Ueberzeugung fand, widerstrebte sie nicht mehr, sondern legte ihr weinendes Gesicht mit dem Ausdruck seligen Geborgenseins an seine Brust.