In den pontinischen Sümpfen
[162] In den pontinischen Sümpfen. (Zu dem Bilde S. 145.) Wie Goethe vor hundert Jahren besteigen wir eines Morgens in Velletri die Diligenza – noch immer das einzige Verkehrsmittel auf der 50 Kilometer langen Straße zwischen den beiden Grenzstationen der pontinischen Sümpfe: Cisterna und Terracina – wohlgewarnt von Wirth und Vetturin vor den Gefahren der Malaria. Steil fällt die Poststraße die artemisischen Hügel hinab, einsam, staubig. Aber mit einem Schlage, bei plötzlicher Wendung, liegt sie nun dicht vor uns, die unermeßliche, schweigende, einsame, von weißlichen Dünsten umschleierte Ebene, groß wie ein Meer. In schnurgerader Linie, gesäumt von dem Abzugskanal, den Papst Pius VI. gezogen, der Linea Pia, schneidet durch die Ebene die Via Appia, die „Königin der Straßen“, auf welcher einst die römischen Legionen in den Süden hineinzogen. Vorerst steigt sie und fällt sie noch, windet sich um immer flacher werdende Hügel herum, läuft an einsamen Meiereien, einem zerfallenen Kirchlein vorüber, und dann ist man in Cisterna, der „Region der Büffel, des Fiebers, der Sümpfe und der Räuber“. Hier beginnt der Sumpf, die fiebergelben Gesichter der vermummten, vom Frost geschüttelten Bauern sagen’s uns, und dehnt sich hinab bis zum Meere, ein großer Leichenacker. Wie zum Trost schweift der Blick links hinüber nach den Volskerbergen und findet hoch droben, ins Himmelblau getaucht, zunächst Rocca Massima, dann unterhalb das Felsennest Cori, einst Cora, dessen arme Bewohner sich des Ursprungs von Dardanos rühmen, dem Stammherrn der Trojaner, das in seinen cyklopischen Mauern noch von gewaltigen Urzeiten erzählt, das in den Volskerkriegen durch das Römerschwert unsägliches gelitten. Wild schieben die Felsen sich über- und durcheinander, und auf steiler Klippe richtet sich Norma auf (343 Meter ü. M.), bei den Römern, die in den festen Mauern die karthagischen Geiseln in Sicherheit brachten, Norba genannt. Auch hier cyklopische Mauern und Tempelreste, deren Steine, angeblich von Herkules selbst gefügt, im sullanischen Kriege wild durcheinandergeworfen wurden.
Nach diesem Norma hinauf steigt aus den Sümpfen eine Straße und an ihrem unteren Ende liegt Ninfa, der Kirchhof, die Leiche einer Stadt, die ihren Tod durch Ertrinken in den Sümpfen fand, nachdem ihre Bewohner von dem Würgengel Malaria erstickt worden waren.
Uns packt die geheimnißvolle Gewalt des Märchenzaubers. Die Stadt ist wie zu einem großen Blumenfeste geschmückt. Ueber die Mauern, Hütten, Häuser, über Kirchen und Thürme hat der Epheu sein grünes Netz gebreitet, von Gesims zu Gesims ziehen seine flatternden Gewinde, aus den Thurmfenstern hangen die Ranken. Wie eine stille Braut, die den Bräutigam erwartet, spiegelt Ninfa sich in seinem schilfumsäumten See. Das Thor der Basilika steht offen, helle Sonnenlichter spielen auf dem blumenbewachsenen Mosaikfußboden; von den Wänden schauen die schattenhaften Figuren von Heiligen in verblichenen byzantinischen Gewändern; den Altar überdeckt ein Blumenteppich, um den ein Schmetterlingspaar gaukelt. Das Reich Dornröschens! Die tiefe Stille, sie wird nur unterbrochen durch das schläfrige Gemurmel des Flusses Ninfa, dann und wann auch durch das Krächzen der Reiher, die ungestört zwischen den Binsen des Sees nisten, der Raben, die in den Spalten eines alten Feudalthurmes aus- und einfliegen.
Die Steine des säulenragenden antiken Brunnenhauses, des Nymphaeums, von dem der Ort den Namen erhielt, sind längst in dem Sumpfe versunken. Auf seinen Ruinen errichtete ein späteres Jahrhundert eine dem Erzengel Michael geweihte Kirche; so erzählt die Ueberlieferung. Sicher ist, daß im Jahre 1216 der Kardinal Ugolino, nachheriger Papst Gregor IX., hier am Orte die Kirche S. Maria del Mirteto (zum Myrtenhain) bauen ließ, neben welcher die Ritter des heiligen Lazarusordens ihren Sitz hatten. Weiteres weiß man nicht von der Stadt. Der Sumpf schlich näher und näher an die Mauern heran, das Fieber wanderte durch die Gassen, und eines Tages war niemand mehr da, der die Todten beweinen konnte. Die schöne mittelalterliche Stadt war eine Sage geworden.
Das Land, das ringsum noch im Schmucke seiner Oliven, Reben, Orangen und Citronen lächelt, lächelt wie ein Sterbender; es ist das Lächeln des Todes, das wir sehen. Er eilt auf Flügeln der Malaria vom Gebirge zum Meer hinab und zurück und mäht das Leben, wo er es findet. Wem er begegnet in dieser Ebene, den grüßt er mit dem Gruße der Unterwelt. Die Straße, die wir ziehen, von Cisterna hinab gen Terracina, geht mitten durch sein Reich: eine Gräberstraße, und der Gruß der Schnitter, die mit Weib und Kind todesmuthig im glühenden Erntemond von den Höhen hinabwandern, das Korn der reichen römischen Herren einzuheimsen, klingt uns wie der Gruß der zum Sterben bereiten Fechter des alten Roms: Morituri te salutant! Woldemar Kaden.