Zum Inhalt springen

Im belagerten Przemysl

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Textdaten
Autor: Ilka von Michaelsburg
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Im belagerten Przemysl
Untertitel:
aus: Vorlage:none
Herausgeber:
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1915
Verlag: C. F. Amelang
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer:
Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Commons; SB Berlin
Kurzbeschreibung:
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
[[Bild:|250px]]
Bearbeitungsstand
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite


[-]

[-]
Im belagerten
Przemysl


Tagebuchblätter aus großer Zeit
von
I. v. Michaelsburg





Leipzig
C. F. Amelangs Verlag
1915

[-] 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000

000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000

Das Übersetzungsrecht wird vorbehalten
Copyright 1915 by C. F. Amelangs Verlag, Leipzig

[-] 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000


Einem teueren Gefangenen!


„Nicht umsonst —“ rufe ich Dir zu in die Gefangenschaft,
     „unser Leiden nicht umsonst —!“
„Die Heldenwacht von Przemysl hat nicht umsonst gerungen,
     gelitten, gehungert, geblutet —“

I. v. Michaelsburg

000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000


[VII]
Vorwort

Dieses Buch ist kein Rückblick aus der Vogelschau, kein historisches Werk in großen Zügen hingezeichnet, das ein Abgeschlossenes vor sich hat und dieses Abgeschlossene noch einmal vor dem Auge der Nachwelt lebendig werden läßt. Wer von hoch oben auf etwas Vollendetes herabblickt, dem geht es wie dem Flieger, der auf die Landschaft zu seinen Füßen herabschaut: Das Unwesentliche tritt zurück, verschwindet, das Wesentliche bleibt. Er wird jedes Geschehen an den Platz zu stellen wissen, der ihm zukommt, und so er die Kraft hat, ein echtes Werk zu schaffen, wird er seinem Werk Licht und Schatten, Höhe und Tiefe verleihen und uns ein abgeklärtes, übersichtliches, harmonisches Ganze schenken.

Diese Blätter hingegen sind mitten im Herzen eines gewaltigen Erlebens geschrieben. Sie sind geschrieben beim dröhnenden Lied der schweren Geschütze, das Tag und Nacht die einsame Feste umbrandet. Sie sind geschrieben, während die russischen Schrapnells über die Stadt hinpfeifen, die Fliegerbomben das Straßenpflaster aufreißen, im Angesicht von Hunger und Tod.

Sie erzählen, was der Tag bringt. Manches davon, dieses und jenes Gerücht, das uns gestern zuflog, ist heute nicht mehr wahr. Und doch will ich es nicht unterdrücken, nicht weglassen, denn es hat gestern unserem Herzen neue Spannkraft verliehen.

So nehmt dieses schlichte Buch als das, was es ist: Ein Stammeln gegenüber dem Unermeßlichen.

I. v. Michaelsburg.     

[1] Wien, den 10. August 1914.

Jahrzehntelang hat unser Volk geschlummert. Es lag längelang auf den Almen im herbduftenden Berggras und träumte mit halbgeschlossenen Augen über den Sonnenglast der rotleuchtenden Alpenrosenhänge zu den schneeglänzenden Firnen hinaus. Es kamen ab und zu die Bremsen von der Weide herüber. Aber es war viel zu herrlich, in der Sonne zu liegen, man hob nach den Lästigen kaum die Hand. Es kam ab und zu ein jäher unverhoffter Wettersturz, kaum wußte man woher. Dann zog man die Lodenjoppe über den Rücken, blieb liegen und wartete, bis die Sonne sie wieder trocknete.

Jahrzehntelang hat unser Volk geschlummert. Es lag im Sonnenbrand in den wilden, weißen Karstfelsen, neben seinen Schafen, eingewiegt von der unergründlichen blauen Schönheit des Meeres.

Es lag in der Pußta, in den Steppen Ungarns, sog den süßen Duft der blühenden Akazien über der Heide ein und sah die edlen Fohlen jagen.

Jahrzehntelang hat unser Volk geschlummert. Es lag in den blühenden Wiesen und sah auf das leise Wogen der üppigen Kornfelder, über die der Wind mit sachter Hand streichelte. —

Keiner hörte den leisen Donner, der hier und dort aufgrollte. Keiner achtete der kleinen Natter, die sich [2] unhörbar zwischen den sonnenglühenden Felsen hin durchschlängelte, den Kopf hob und züngelte.

Die Atemzüge des in der Sonne Schlummernden gingen ruhig und gleichmäßig, das Hemd stand offen und gab die braune Brust frei.

Die Natter huscht hinein.

Und dann sticht sie nach dem Herzen.

Wie in einem Zauberspiel sich mit einem Schlag die Szene wandelt, so fährt der Schlummernde, vom Giftzahn Getroffene, jäh vom Boden auf. Die Sonne ist erloschen, Brandfackeln glühen am Himmel, tausend nackte Klingen zücken sich nach seiner Brust.

Da reckt er sich wie ein Gigant. Die kaiserblauen Augen sprühen. Mit einem letzten Blick umfängt er, was er liebt, die Heimat. Heute weiß er, daß sie sein ist! Und wie sie an ihr tasten, wird das weiche Träumerherz zu weißglühendem Stahl.

Der Deutsche langt zum Schwert, der Älpler greift zum Stutzen, der Sohn der Pußta springt aufs Pferd, der Slave lockert das Messer im Gürtel, eine heilige Phalanx, aus dem Boden gestampft.

„Das Volk steht auf, der Sturm bricht los —!"

O, du herrliche Auferstehung!


Wien, den 15. August 1914.

Noch nie habe ich Wien so schön gesehen, wie in diesen großen Tagen. Der Rausch der Begeisterung flammt durch die ganze Stadt und trägt alles mit sich fort, alt und jung, arm und reich, hoch und niedrig. Man kennt keine Rang- und Klassenunterschiede mehr, jeder ist Volk und verlangt nichts Besseres zu sein. Alle Straßen sind beflaggt. Jeden Abend drängen sich unabsehbare Menschenmengen vor der Hofburg, die dem Kaiser zujubeln wollen. Erzherzoge mischen sich in [3] Zivil unter die Volksmenge, werden erkannt und stürmisch gefeiert.

Durch alle Straßen von der Hofburg bis zum Kriegsministerium und der deutschen Gesandtschaft braust das „Gott erhalte", das „Heil dir im Siegerkranz", mit der „Wacht am Rhein".

Fremde Menschen, die sich nie vorher gesehen, schütteln sich die Hände, Freudentränen in den Augen.

Jeder brennt darauf, sein Scherflein beizusteuern, Geld und alle möglichen und unmöglichen Spenden fließen in Strömen. Die alten Weiblein aus dem Versorgungshaus bringen ihre letzten kostbar gehüteten Schätze, ein paar zarte Kaffeeschalen aus Alt-Wiener Porzellan. Und wir sehen überrascht und gerührt, wie reich wir sind, wie reich an Gut und wie reich an goldenen Herzen.

Tag und Nacht rollen blumengeschmückte Militärtransporte. Auf den Vorstadtbahnhöfen, überall dort wo man an den Zug heran kann, stehen viele Hunderte und umdrängen die Wagen. Jeder kommt, die Hände voll Zigaretten, Eßwaren, Feldpostkarten, Heiligenbildern, jeder will als erster die Soldaten beschenken. Der alte Stammgast dort, aus dem Pilsner Bräu, vergißt seiner Leibesfülle und läuft mit den Bierkrügeln hin und her, wie der jüngste Pikkolo. Er weiß wahrhaftig nicht einmal, daß er in der Hitze des Gefechtes, den hundert entgegengestreckten Soldatenhänden gegenüber sich heute den ganzen Vormittag noch keine einzige „Halbe" hinter die Binde geschüttet. Daneben steht eine elegante junge Frau mit einem Riesenkorb voll prächtiger roter Rosen. Auch ihr strecken sich hundert bittende Hände entgegen, die Feldmützen sind schon über und über geschmückt mit jungem Tannenbruch, Eichenlaub und allen möglichen Blumen; die [4] Rose findet doch noch ihren Platz, und im Weiterfahren hängt das Auge von manchem jungen Leutnant nachdenklich an dieser roten Rose.

Auf den Hauptbahnhöfen sind die zum Abtransporte bereiten Regimenter angetreten. Dazwischen Reserve-Offiziere, die zu ihrem Truppenkörper einrücken.

Da stehen Bräute, junge Frauen und weißhaarige Eltern. Und kein Augenblick, vielleicht nicht einmal der letzte Augenblick draußen im Feld, bevor er geht für immer, ist dem Soldaten so hart wie dieser letzte Kuß. Die mühsam beherrschten alten Gesichter der Eltern, das bleiche Gesichtchen der jungen Frau, mit den zerdrückten Tränen im Augenwinkel. Doch selbst in der Abschiedsnot dieser Stunde leuchtet aus allen Augen der gleiche reine Glanz.

Der heilige Wille zum letzten großen Opfer.


Wien, den 20. August 1914.

Ich habe meinen Mann, der als Sanitätsoffizier einem Przemysler Spital zugeteilt ist, gebeten, mich beim roten Kreuz in Przemysl anzumelden und warte sehnsüchtig darauf, daß man mich ruft.

Es duldet mich nicht hier. Ich habe keine Kinder, die mich halten, und darum bin ich am ersten berufen.

Es drängt mich, an der Seite meines Mannes im Herzen dieser großen Zeit zu stehen. Sind meine Kräfte auch schwach, so wird doch auch mir eine Aufgabe werden.


Przemysl, den 11. September 1914.

Heute bin ich den 4. Tag hier. Am Abend des 7. September kam ich in Przemysl an.

Fast gleichzeitig zogen die Russen in Lemberg ein!

Ich habe die 47 stündige Fahrt von Wien hierher [5] kaum gespürt. Es litt mich nicht länger als zwei Tage in Teschen. Immer unter dem Bann der Angst, von Przemysl abgeschnitten zu werden. Am 6. September um 5 Uhr früh reiste ich von Teschen ab, über Oderberg und Krakau hierher. Im gleichen Abteil mit mir ein Regiments- und ein Oberarzt. Sie rückten an die Grenze ein, wußten noch nicht, ob gegen Lublin oder Lemberg. Der Regimentsarzt war ein lieber, heiter-ernster Mensch, in Wien verheiratet, an dem eine Frau wohl hängen konnte. Ich habe ihm gewünscht, daß er gut zu ihr heimkommt.

Wir kamen an der Weichsel vorbei und es war sonderbar, zu denken, daß hinter der nahen Hügelreihe, die sich hinter der eintönigen Fläche der abgeernteten Felder und Weiden erhebt, Feindesland beginnt. Eine unendlich weitsichtige, klare Herbstlust, ein naher, strahlend blauer Himmel, mit friedlichen Schäferwolken. Kleine Häuser in den Feldern, hier und dort arbeiteten ein paar Weiber mit Ochsengespannen. Ein tiefer, gütiger Herbstfrieden. —

Und wären nicht Stunde um Stunde endlose Züge, mit dem roten Kreuz an der Waggonwand vorbeigerollt, man hätte den Weltbrand nicht geahnt, so nahe man ihm war. Fast in jeder größeren Station stand solch ein Zug, wenn man einfuhr. Die Schwerverwundeten in Schlafwagen gebettet, die leichter Verwundeten in Personenwagen und Frachtwaggons. Sie lagen lang ausgestreckt in den Wagen, rauchend, plaudernd und singend.

Wir standen am Fenster und winkten ihnen im Vorüberfahren zu, und da war keiner, der nicht herübergegrüßt und gedankt hätte. Da lag ein älterer Landsturmmann, gelb, elend und abgezehrt, den rechten Arm in der Schlinge. Wie wir an ihm vorbeikamen, ging ein [6] kaum gespürt. Es litt mich nicht länger als zwei Tage in Teschen. Immer unter dem Bann der Angst, von Przemysl abgeschnitten zu werden. Am 6. September um 5 Uhr früh reiste ich von Teschen ab, über Oderberg und Krakau hierher. Im gleichen Abteil mit mir ein Regiments- und ein Oberarzt. Sie rückten an die Grenze ein, wußten noch nicht, ob gegen Lublin oder Lemberg. Der Regimentsarzt war ein lieber, heiter-ernster Mensch, in Wien verheiratet, an dem eine Frau wohl hängen konnte. Ich habe ihm gewünscht, daß er gut zu ihr heimkommt.

Wir kamen an der Weichsel vorbei und es war sonderbar, zu denken, daß hinter der nahen Hügelreihe, die sich hinter der eintönigen Fläche der abgeernteten Felder und Weiden erhebt, Feindesland beginnt. Eine unendlich weitsichtige, klare Herbstlust, ein naher, strahlend blauer Himmel, mit friedlichen Schäferwolken. Kleine Häuser in den Feldern, hier und dort arbeiteten ein paar Weiber mit Ochsengespannen. Ein tiefer, gütiger Herbstfrieden. —

Und wären nicht Stunde um Stunde endlose Züge, mit dem roten Kreuz an der Waggonwand vorbeigerollt, man hätte den Weltbrand nicht geahnt, so nahe man ihm war. Fast in jeder größeren Station stand solch ein Zug, wenn man einfuhr. Die Schwerverwundeten in Schlafwagen gebettet, die leichter Verwundeten in Personenwagen und Frachtwaggons. Sie lagen lang ausgestreckt in den Wagen, rauchend, plaudernd und singend.

Wir standen am Fenster und winkten ihnen im Vorüberfahren zu, und da war keiner, der nicht herübergegrüßt und gedankt hätte. Da lag ein älterer Landsturmmann, gelb, elend und abgezehrt, den rechten Arm in der Schlinge. Wie wir an ihm vorbeikamen, ging ein [7] daß die Züge so rasch vorbeirollen und man nicht alles festhalten kann.

Wie wir in Krakau einfahren, gibt es eine große freudige Überraschung! Die Bayern sind da!

„Entsatz für Ostgalizien!“ flüstert einer im Zuge dem andern mit leuchtenden Augen zu und dann geht es an ein tolles Tücherschwenken: „Hurra, die Deutschen, Hurra!“

Die sitzen auf ihren Militär-Transportzügen, zwischen den abmontierten Automobilen und lachen breit und behaglich auf das den Bahnhof durchflutende Gewimmel von Polen und Juden herab, das ihnen wie Brüdern zujubelt. Unwillkürlich kommt einem der Gedanke, wie unendlich fern diese Menschen einander stehen. Nun gehen sie hin, um ihr Leben für diese da hinzugeben, die ihnen gestern noch nichts waren und denen sie nichts gewesen sind — Was tut's? Heute hebt uns alle die gleiche Welle.

Krakau gleicht einem einzigen Heereslager. Man drängt sich nur mit Mühe durch das Gewimmel von polnischen Legionären und Truppen aller Waffengattungen hindurch. Es wäre interessant, hier Studien zu machen. Aber die Straßen sind teilweise abgesperrt, hier und dort eine Wache. Wenn man vom Bahnhofe kommt, muß man sich ausweisen, um durchgelassen zu werden. Ich mache noch einen Versuch, Mama von meiner glücklichen Ankunft hier telegraphisch zu verständigen, doch es werden keine Privattelegramme mehr befördert. Todmüde gehe ich in ein Hotel, in der Nähe des Bahnhofes. Es ist fünf Uhr nachmittags, aber ich lege mich sofort schlafen und schlafe mit einer kurzen Nachtmahlunterbrechung bis 1 Uhr nachts.

Dann geht es durch die kalte Nacht zum Bahnhof. Ich verständige mich schwer mit den Leuten, muß immer [8] lange suchen, bis ich jemanden finde, der deutsch spricht. Endlich ist alles in Ordnung. Alle Wagen sind von Schlafenden überfüllt. Ich gerate in ein Abteil polnischer Geistlicher und drücke mich in die letzte freie Ecke. Langsam und eiskalt graut der Tag. Wie die Sonne aufgeht, stehen alle Wiesen in silbrigem Rauhreif.

Nachmittags um 5 Uhr soll ich nach Przemysl kommen. Später, wie der Zug sich leert, bekomme ich ein Abteil allein und fahre gut, nur endlos langsam. Ich esse schon den zweiten Tag nur kaltes Fleisch, denn unsere Mittagsstationen sind so wenig einladend, daß ich, trotz meines Hungers, den Löffel wieder aus der Hand lege und gehe.

In Rzeszow kommt ein Telegramm. Der Zug kann nicht mehr bis Lemberg laufen, Lemberg ist in russischen Händen. Endstation Przemysl.

Ich fühle nur das eine, daß es die höchste Zeit war, daß ich kam. Ein unendliches Glücksbewußtsein ist in mir, eine große, starke Zuversicht und Ruhe. Ich denke an meinen Mann, der mich in Przemysl erwartet.

Erst bei Zurawica, der letzten Station vor Przemysl, hat man das Gefühl, in den Krieg hineinzufahren, hier gibt es riesige Zeltlager; Schanzen werden aufgeworfen, und im Weiterfahren gewahrt man vielreihige Stacheldrahthindernisse. Ab und zu tut man einen Blick in unterirdische Laufgräben und Befestigungen, und aus ganz harmlos scheinendem Buschwerk droht plötzlich die Mündung eines hier eingegrabenen, schweren Geschützes.

Endlich Przemysl. Mein Mann ist nicht auf dem Bahnhof, weil er nicht wußte, wann der Zug kommt. Hier dauert es noch eine halbe Stunde, bis alle Formalitäten [9] erledigt sind. Doch geht alles glatt. Ich weise mich mit meinen Roten-Kreuz-Papieren und der Bewilligung vom Festungskommando, die man mir nach Wien geschickt hatte, aus und bekomme noch eine polizeiliche Erlaubnis zum Aufenthalte in der Festung.

Ich nehme mir einen Jungen zum Koffertragen und nenne ihm meine Adresse. Unterwegs kommt mir schon mein Mann mit unserem Diener entgegen.

Es ist wie das Einlaufen in einen köstlichen Friedenshafen. Jetzt stehen wir Schulter an Schulter, komme, was da wolle — was immer uns auferlegt werde.


Przemysl, den 12. September 1914.

Heute früh gab es eine Alarmnachricht. Das Festungskommando hat die Österreichisch-Ungarische Bank und das Gericht aufgefordert, die Festung zu verlassen. Ebenso erschien eine neuerliche Aufforderung an die Einwohner, die Festung zu räumen. Die Reichen sind schon alle bei Ausbruch des Krieges weggegangen. Und die Ärmsten, die nicht imstande waren, sich für drei Monate zu verproviantieren, sind behördlich abgeschoben worden. Nur ein Teil der Bürger ist geblieben, einige Kaufleute und die zur Verproviantierung der Stadt Notwendigen.

Wir sind noch zuversichtlich und guten Mutes und glauben an keinen Ernstfall. Nur die eine Angst steigt mir manchmal würgend in die Kehle, die Angst, man könne mich fortschicken. Doch man sagt mir, daß selbst für den Fall einer Belagerung der Festung das Rote Kreuz hierbleibt. Und ich klammere mich an diesen Gedanken — nur nicht fortmüssen und wenn es zum Äußersten käme.


[10] Przemysl, den 15. September 1914.

Es ist also doch wahr. Wir sind zurückgegangen vor der überwältigenden Übermacht und konzentrieren unsere Armee um Przemysl. Jetzt stehen wir mit einem Schlag im Mittelpunkt der Ereignisse.

Gestern kam der Train der großen Armee. Wie wir um 7 Uhr früh frühstücken gingen — wir bekamen keine Milch, weil alles vergriffen war, und mußten auswärts frühstücken —, sahen wir die hochbepackten Trainwagen über den Ringplatz fahren. Wie ich mittags in Spitalsangelegenheiten in die Bezirkshauptmannschaft ging, zogen die Wagen noch immer in endloser Kette. Und wie ich abends wieder über den Ringplatz kam, ratterte die endlose Kette noch immer über das holprige Pflaster und da war kein Ende zu sehen. Auf manchen Wagen liegen, lang ausgestreckt, erschöpfte Soldaten und schlafen. Andere haben Verwundete auf der Straße aufgelesen. Auf den meisten sitzen galizische Bauern in zottigen Schaffellmänteln und führen die Pferde.

Seit heute morgen sind die Straßen von durchmarschierenden Truppen überflutet, die hier kurze Rast machen. Viele davon kommen vom Lemberger Schlachtfeld, sind 10 Tage nicht mehr aus den Kleidern gekommen und erschöpft. Man löst sie jetzt durch frische Truppen ab, damit sie wieder ausschlafen und sich kräftigen. Die wenigen Geschäfte, die noch offen sind — die meisten sind geschlossen, weil ihre Inhaber die Stadt verlassen haben — sind in wenigen Stunden gänzlich ausverkauft. Man kann sich von so etwas keine Vorstellung machen. Es ist, als ob ein hungriger Heuschreckenschwarm sich über die Stadt ergösse. Sie zittern alle danach, zu essen, zu trinken, zu rauchen, [11] nach Hause zu schreiben, warme Wintersachen zu kaufen. Und dabei sind sie rührend gutmütig und geduldig, daß man sie bewundern muß. Ich war den ganzen vormittag Einkäufe machen. Wir mußten unsere Wintersachen sofort besorgen, sonst hätten wir nichts mehr bekommen. Es war kaum mehr in irgendein Geschäft hineinzukommen, die Leute standen bis auf die Straße hinaus, alle Waffengattungen bunt durcheinander. Aber da war kein Schimpfen, kein Drängen und Stoßen, jeder hatte noch für den Nachbar einen freundlichen Blick oder ein freundliches Wort. Und mancher steht doch kaum mehr auf den Beinen. Sie sind so tapfer, daß einem oft die Tränen aufsteigen wollen, wenn man sie beobachtet. Und man ist stolz auf sie. Heute habe ich in einem Geschäft ein paar gefütterte Winterhandschuhe für meinen Mann gekauft. Ein Kadett von den Dragonern stand neben mir und griff nach den Handschuhen. Er wußte nicht, daß ich sie ausgesucht hatte. Der Kaufmann sagte es ihm und es wäre das letzte Paar. Da bat mich der Kadett recht treuherzig, sie ihm, wenn es irgend anginge, zu überlassen, weil er Reiter sei und nichts anderes bekomme. Ich sagte natürlich ja, aber leider waren sie ihm zu klein. Am schwersten entbehrten die meisten den Tabak, und leider sind fast alle Tabaktrafiken schon ausverkauft. Wir hatten noch ein paar Schachteln Zigaretten stehen, aber wie wenige von der Masse, die danach lechzt, kann man damit glücklich machen! Es ist rührend zu sehen, was für eine Seligkeit eine Zigarette auf diesen dunklen, verwitterten Gesichtern auslöst.

Gestern hieß es, daß heute die letzte Post weggeht und kommt. Ich schrieb darum rasch noch an alle, die mir lieb sind. Nur um der armen Mama willen würde [12] ich schwer darunter leiden, wenn der Postverkehr wirklich auf längere, vielleicht unbestimmte Zeit eingestellt würde. Ich weiß, sie lebt jetzt nur von meinen Briefen. Aber noch immer kann ich an all das nicht glauben. Noch sind wir ruhig und heiter.

Heute morgen hörten wir das laute Rattern eines Aeroplans. Er muß ganz dicht über der Stadt gewesen sein, sonst hätte man das Knattern nicht in so nächster Nähe vernommen. Doch konnte man ihn vom Fenster aus nicht sehen. Ich wunderte mich über mich selbst, daß mir nicht im entferntesten der Gedanke kam, es könne ein russischer Aeroplan sein. Denn die Zeppelinerfolge in Lüttich und Antwerpen sind wohl dazu angetan, einen nervös zu machen, wenn man in einer Festung sitzt. Aber der Friedensmensch muß erst umdenken lernen. Auch den Begriff „Krieg“ erfaßt man erst nach und nach. War man doch nie gewohnt, Feindliches um sich zu wittern.

Das ist überhaupt so eine merkwürdige Sache. Dem Wiener erscheint Przemysl schon als Gefahr. Und wenn man hier ist, ist Przemysl für all die Tausende, die vom Felde kommen, der heißersehnte Ruhepunkt, das kurze Aufatmen, Sich-hinstrecken und Ruhen.

Vorgestern waren wir aus dem Schloßberg. Ein kurzer Sonnenuntergangsweg auf dem Gang von einem Spital ins andere. Man sah weit ins Land hinaus, und wären nicht die weißen Zeltlager unten gestanden, so wäre es ein liebes, stilles Friedensbild gewesen. Es herbstelte schon, die ersten gelben Blätter fielen. Wo ist unser lieber, sich auf sich selbst besinnender Herbst dieses Jahr geblieben? Und doch hadern wir nicht mit diesem Herbst und nennen ihn schön. Er fragt auch nicht danach, wie wir uns zu ihm stellen. Er nimmt uns in seine Faust und zwingt uns in neue [13] Formen, die wir kaum auszufüllen imstande sind. Daß wir es lernen, ist der Erntesegen dieser gigantischen Zeit.


Przemysl, den 16. September 1914.

Der Krieg rückt immer näher. Seit gestern ist nichts mehr zu haben. Keine Milch, kein Brot, kein Gebäck irgendwelcher Art, man könnte glauben, daß alles aus der Stadt vertilgt sei, was Nahrungsmittel heißt. Gestern gab's keinen Nachmittagskaffee mehr und auch kein Abendessen. Obwohl wir den Diener schon vor 7 Uhr um das Nachtmahl in das Kasino schickten, war nichts mehr zu haben. Wie hätte es auch anders sein können, wenn Tausende kommen, die 3 bis 4 Tage nichts Warmes gegessen haben. Glücklicherweise hatten wir vom Mittag eine Kleinigkeit aufgehoben. An Bier und Brot war nicht zu denken. Es war ein recht frugales Kriegsnachtmahl. Trotzdem hätte es uns gut geschmeckt, wüßte man nicht draußen so und so viel hunderte, die gar nichts haben. Es ist viel versprengtes Militär da, einzelne und kleine Trupps, die ihre Regimenter suchen und für die niemand abkocht. Sie haben alle Geld im Überfluß und können doch oft kaum ein Brot dafür bekommen. Fast alle Gasthäuser sind gesperrt. Die wenigen, deren Besitzer hier geblieben sind, müssen schließen, weil sie nichts mehr haben.

Natürlich war unter diesen Umständen heute früh auch gar nicht daran zu denken, Milch für unser Frühstück aufzutreiben. So suchten wir ein Kaffeehaus, das noch nicht geschlossen war. Obwohl es erst 7 Uhr früh war, hatten zwei schon gesperrt. Wir waren eben auf der Suche nach einem dritten. In den Straßen ein Getümmel ohnegleichen. Militär, Pferde, Wagen, Autos stauten sich in den Straßen. Plötzlich krachte [14] unweit von uns ein Schuß. Es durchzuckte mich einen kleinen Augenblick: Krieg! Aber es war jedenfalls nur ein unversichertes Mannschaftsgewehr, das los gegangen war. Endlich kamen wir im dritten Kaffeehaus „von hinten herum“ hinein und eroberten einen Tee.

Vormittag suchte ich noch vergeblich, dies und jenes einzukaufen. Dann brachte ich mir zwei Mann mit heim und schenkte ihnen Wäsche. Sie waren 14 Tage bei Grodek in unaufhörlichem Feuer gewesen und fünf Tage lang in den Schützengräben eingegraben, während die Schrapnells über sie hingingen. Fast alle Offiziere waren abgeschossen und ein Korporal machte Leutnantsdienst. Sie sind so rührend dankbar für jede langentbehrte Kleinigkeit und glücklich, wenn sie erzählen können. Die bei Grodek haben am meisten gelitten.

Mittags hatten wir einen Artilleristen hier oben und gaben ihm, was geblieben war. Er war selig, wieder einmal warm zu essen, und zeigte mit Stolz einen eroberten russischen Tornister, den er umgeschnallt trägt. „Mein Leutnant hat mir erlaubt, daß ich ihn mit nach Hause nehme!“ sagte er glückstrahlend.

Auch nachmittags sprach mich ein Artillerist an und behauptete, mich aus Wien zu kennen. Er war in sehr guter Verfassung, war immer gut verpflegt worden und erzählte von den letzten Gefechten.

„Unsere Artillerie,“ sagte er mir treuherzig, „siegt überall, wohin sie kommt!“

Viele von unseren Leuten tragen auf den Mützen russische Kokarden, die sie dem Feinde abgenommen haben. Die merkwürdigsten Dinge sieht man da. Einen Kavalleristen, der bei Lemberg einen jungen Vorstehhund erbeutet hat und mit sich führt, einen Infanteristen, der — eine Kuh vor sich hertreibt, einen Landsturmmann, [15] der stolz wie ein König auf einem Kosakengaul dahertrabt. Dann sind wieder Leute darunter, die alles verloren haben. Es sind besonders die Verwundeten, die oft bloß in Hemd und Hose herkommen oder von jeder Waffengattung ein Stück an sich haben, irgendwo geschenkt oder hergenommen.

Es ist aufwühlend bis ins tiefste, das alles mit anzuschauen, und wer es je erlebt, vergißt es nie wieder. Ich muß immer an den Landwehrmann von Grodek denken, der sagte: „Vierzehn Tage im Feuer — und die vierfache Übermacht gegen uns — man konnte nicht mehr —“

O Gott, Gott, lass’ all dieses Blut nicht umsonst fließen — schenk’ uns den Sieg!


Przemysl, den 17. September 1914.

Der heutige Tag begann ruhig und gut. Die Straßen waren fast leer, wie ich um 8 Uhr früh auf den Ringplatz ging um nach etwas Eßbarem zu fahnden. Von den Hungrigen, Versprengten war nichts mehr zu sehen. Auf einer Seite des Ringplatzes marschierten reguläre Truppen in Reih und Glied.

Auf dem Markt waren sogar ein paar galizische Bauern, und bei einiger Flinkheit gelang es mir, zehn Eier, das Stück zu 10 h — für den Krieg gar nicht so teuer —, ein Kilo rote Kalvil, Häuptelsalat, Äpfel und die letzten Monatsrettige zu ergattern. Auch einige Juden waren wieder hervorgekrochen und hatten ihre Geschäfte aufgesperrt. Die meisten hatten den Sturm auf die Läden gefürchtet und gebangt, daß ihnen nichts bleiben würde für später.

Unsere Soldaten haben alle Geld. Es ist kaum einer darunter, der keines hätte. Jeder klagt mir: „Ich habe so viel Geld, Geld im Überfluß, und nicht [16] der stolz wie ein König auf einem Kosakengaul dahertrabt. Dann sind wieder Leute darunter, die alles verloren haben. Es sind besonders die Verwundeten, die oft bloß in Hemd und Hose herkommen oder von jeder Waffengattung ein Stück an sich haben, irgendwo geschenkt oder hergenommen.

Es ist aufwühlend bis ins tiefste, das alles mit anzuschauen, und wer es je erlebt, vergißt es nie wieder. Ich muß immer an den Landwehrmann von Grodek denken, der sagte: „Vierzehn Tage im Feuer — und die vierfache Übermacht gegen uns — man konnte nicht mehr —“

O Gott, Gott, lass’ all dieses Blut nicht umsonst fließen — schenk’ uns den Sieg!


Przemysl, den 17. September 1914.

Der heutige Tag begann ruhig und gut. Die Straßen waren fast leer, wie ich um 8 Uhr früh auf den Ringplatz ging um nach etwas Eßbarem zu fahnden. Von den Hungrigen, Versprengten war nichts mehr zu sehen. Auf einer Seite des Ringplatzes marschierten reguläre Truppen in Reih und Glied.

Auf dem Markt waren sogar ein paar galizische Bauern, und bei einiger Flinkheit gelang es mir, zehn Eier, das Stück zu 10 h — für den Krieg gar nicht so teuer —, ein Kilo rote Kalvil, Häuptelsalat, Äpfel und die letzten Monatsrettige zu ergattern. Auch einige Juden waren wieder hervorgekrochen und hatten ihre Geschäfte aufgesperrt. Die meisten hatten den Sturm auf die Läden gefürchtet und gebangt, daß ihnen nichts bleiben würde für später.

Unsere Soldaten haben alle Geld. Es ist kaum einer darunter, der keines hätte. Jeder klagt mir: „Ich habe so viel Geld, Geld im Überfluß, und nicht [17] von Pferden und Menschen, die alles mit sich fortriß. Ich rettete mich in einen Winkel hinter Troßwagen und wollte abwarten, bis sie vorbei waren. Aber ich sah schließlich ein, daß an ein Abwarten gar nicht zu denken war, geht es doch nun schon vier Tage ununterbrochen so. Ich sehe erst hier, daß ich nicht die leiseste Vorstellung davon gehabt habe, was eine Armee ist — was Hunderttausende sind. Es ist das ein Begriff, der so sehr unsere gewöhnlichen Maße übersteigt, daß wir erst diese gewaltige Zeit dazu brauchen, um ihn erfassen zu lernen, Wie ich endlich mit vielerlei Umgehungen zwischen den Troßwagen durchgekrochen und nach Hause gekommen war, mußte ich mich einen Augenblick hinlegen und die Augen schließen. Das ganze Haus und das Bett mit bebte von der ungeheueren Erschütterung der Straße. Und dazu wohnen wir glücklicherweise hofseitig, so daß das Getöse doch schon etwas abgeschwächt, wie das Anstürmen von Riesenwogen, hereinschlägt.


Przemysl, den 18. September 1914.

Heute nacht um 11 Uhr kam Befehl, sofort die Bahnhoflichter zu löschen und den Bahnhof zu sperren, von heute ab verkehren keine Züge mehr.

Mir ist das Herz um Mamas willen schwer! Wie wird sie diese Tage ohne Nachricht von uns überstehen! Gib, lieber Gott, daß diese Zeit der Absperrung nicht zu lange dauert und man bald wieder voneinander weiß! Das ist das Härteste! Ich bin nur glücklich, Mama in Teschen so gut aufgehoben zu wissen. Man wird es ihr dort leichter machen.

Es ist ein so merkwürdiges Gefühl, diese totale Absperrung. Es kommen keine Briefe, keine Zeitungen. Wir werden nicht wissen, wovon die ganze Welt erzittert. [18] Wir werden nur wissen, was wir am eigenen Leibe erfahren. Man begreift erst jetzt, mit wie viel tausend Fäden man nach allen Richtungen hin mit der Welt verwoben ist. Im Laufe des Alltages denkt man darüber nicht nach. Man nimmt es als etwas Selbstverständliches, das einem kaum je zum Bewußtsein kommt. So mögen im Mittelalter die Ritter auf ihren Burgen gehaust haben, wie auf kleinen Inseln, ohne Verbindung mit dem nächsten Nachbar, bis ihnen nach Wochen ein Gerücht ein Ereignis zutrug, das wenige Meilen von ihnen geschehen war. Sie haben es nicht anders gekannt. Aber uns modernen Allerweltskindern ist es, als fehle uns plötzlich ein Sinn.


Przemysl, den 19. September 1914.

Heute ist der 2. Schabbes, seit ich hier bin. Ich ging um 1/210 Uhr in die Jagellonska, wo drei Synagogen nebeneinander stehen. So ein Schabbes ist das Seltsamste, was man sich vorstellen kann. Allein schon um seinetwillen lohnt es sich, hierher zu kommen. Hier gehen die Juden die ganze Woche im schwarzen Kaftan und schwarzen Käppchen. Am Schabbes aber tragen sie zu dem schwarzen Kaftan schwarze, runde Samtkappen, die rundherum mit dicken Marderschweifen eingefaßt sind. Wenn sie in die Synagoge gehen, tragen die verheirateten Männer am Arm graue Tücher mit dunkelblauen Streifen, heute trat einer aus der Hintertür der Synagoge, noch halb eingehüllt in das Tuch. Und wie ich dann an der Synagoge vorbeikam, sah ich durch die Fenster die alten Juden drin sitzen, bis zu den Marderkappen eingehüllt in die Tücher, es scheinen also Gebettücher zu sein. Es war ein sehr merkwürdiger Anblick. Die verhüllten Gestalten, von denen man nur die langhaarigen Marderkappen, die [19] lang herunterbaumelnden Paices und die langen, grauen und weißen Bärte sah. Sie saßen an den Wänden entlang und lasen in riesigen Folianten, vor dem einen stand ein Judenknabe und entrollte ein ungeheures Pergament. Es sind das wohl die heiligen Bücher, aus denen sie beten und im Chore lesen. Denn es drang ein lauter Chorus, in seltsamem Tonfall, bis auf die Straße heraus.

Ich möchte gern Näheres über ihren Ritus wissen. Wo immer ich hinkam, ist mir noch nie ein Volk begegnet, das mir so fern und fremd schien, wie sie. Diese langen, bleichen Judengesichter hier, mit den schwarzen, weißen, grauen oder roten Vollbärten, haben etwas von Masken, eine Unbeweglichkeit und Undurchdringlichkeit, wie sie mir nie vorgekommen. Das macht kalt, trotz der melancholischen Augen, die schön sind.

Auch die alten polnisch-jüdischen Häuser hier sind merkwürdig. Dunkle, alte Häuser, die so tief sind, daß sie oft von der einen Straße bis in die Parallelstraße sich ausdehnen. Viel gewölbte, dunkle Kellerräume, mit kleinen Boutiquen darin, wie schwarze, tiefe Höhlen, aus deren Grund die bleichen Judengesichter seltsam leuchten. Diese Häuser sind zum größten Teil aus Holz gebaut, haben viele Stockwerke und kein Stiegenhaus in unserem Sinn, sondern meist einen quadratischen Innenhof, von dem aus ungedeckte Holzstiegen nach allen vier Seiten auf Holzbalkone führen, die an der Innenseite des Hauses entlang laufen. Hier befinden sich auch die gewissen notwendigen Räume, von deren Primitivität ich nicht sprechen will. Kanäle keine, man wirft, schüttet oder kehrt alles, ob vom 1. oder 2. Stock, in den Hof herunter. Der Schmutz Italiens in verdoppelter Ausgabe, aber ohne den malerischen Hintergrund.

[20] Ein paar Namen muß ich ihrer Originalität wegen noch festhalten, die ich täglich auf den Schildern lese. Da ist ein Pinkas Stieglitz, ein Rubin Nacht, ein Pechtalt Verständig, Benzion Goldblatt, ein Leisor Gans, Hersch Schipper, Meiloch Klugmann, Baruch Schmalz, David Eisbart usw.

Auf etwas bin ich gespannt. Ob in die bleichen, unbewegten Judengesichter ein warmer Blutstrom der Freude steigen wird, wenn Gott uns siegen läßt! Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie diese Gesichter aussehen, wenn sie sich freuen, und ich glaube, man müßte ihnen mit einem Schlag menschlich näher rücken, wenn man sieht, daß die große Glückswelle auch über sie hinschlägt.

Heute spricht man davon, daß geplant ist, den Postverkehr durch eine Automobilverbindung zur nächsten Station der österreichischen Staatsbahn wenigstens teilweise aufrecht zu erhalten. Ich wäre glücklich, wenn sich das bestätigt!

Und noch ein anderes Gerücht verbreitet sich in der Stadt: daß man nachts, wenn alles still ist, den fernen Donner unserer schweren Geschütze hören kann!

Gott helfe unseren Tapferen!


Przemysl, den 21. September 1914.

Heute sind wir den dritten Tag ohne Post und ohne Zeitung. Zu meiner großen Beruhigung heißt es aber, daß Feldpost mit Auto befördert wird, und man hat meine Feldpostbriefe an Mama auf der Post angenommen. Wenn wir auch auf jeden Brief verzichten müssen, ist es mir doch ein großer Trost, Mama nicht ohne Nachricht zu wissen. Gestern sprachen wir mit einem Hauptmann, der mit einer Handwunde vom Felde kam und nun nicht [21] mehr zur Truppe zurück kann, weil jeder Bahnverkehr eingestellt ist. Es sind mehrere Herren auf diese Weise hiergeblieben. Der Hauptmann ist sehr zuversichtlich und erwartet sicher, daß wir in kurzem wieder die Offensive ergreifen und noch diesen Monat die Russen aus Galizien gedrängt haben werden. Herr, gib, daß er recht hat!

Auch davon sprach man gestern an verschiedenen Stellen, daß bei Jaroslau eine große Schlacht stattgefunden und einige russische Korps von Auffenberg geworfen worden sein sollen!

Ein anderer wieder sagte, die Russen seien in Jaroslau eingezogen! So ist das ein Chaos von Gerüchten, die plötzlich aufflattern und wieder verschwinden. Man kann nicht anders, als sich an das Gute klammern!


Przemysl, den 22. September 1914.

Heute früh um 1/210 Uhr, ich war gerade auf dem Ringplatz einkaufen, ist auf einmal ein leises Zittern und ein fernes, dumpfes Grollen in der Luft. Einmal — zweimal — dreimal — eine Pause, dann wieder und wieder.

Ich begriff sofort. Und wie ich dann nach Hause kam und am offenen Schlafzimmerfenster stand, alles um mich ruhig, da war es noch viel deutlicher zu hören. Ich stand und horchte und schickte den Unseren ein heißes Gebet, daß Gott sie segne.

Dann kam eine Magd und klopfte Teppiche, da war nichts mehr zu hören. Und der Alltag ging weiter, ich aß mein Gabelfrühstück, kochte unsere Limonade für Mittag und wunderte mich, daß ich so ruhig dabei war, als ob ich in Wien gewesen wäre. Kurze Zeit darauf kam unser Diener und putzte Besteck. Ob er den Kanonendonner gehört? Nein, er sei in der Küche [22] gewesen. „Aber“, fügte er in seinem klassischen Deutsch freundlich erläuternd hinzu, „das werd' wahrscheinlich schon hibsch in der Nähe sein!“ und putzte die Messerklinge blank.

Ich wünschte mir, daß mein Mann käme und mir sage, ob ich recht gehört. Und richtig trat er ein paar Augenblicke später ins Zimmer. Er wollte mich aufmerksam machen, aber ich wußte schon. Er erzählte, daß man es gestern abends noch viel näher, fast wie Donner gehört haben soll.

Und wie wir nach dem Essen eine kurze Siesta im Schlafzimmer hielten, grollte es fast ununterbrochen von dumpfen Schüssen. Auch jetzt hört man es noch, wenn man aufmerksam hinaushorcht, trotz des laut auf die Dächer klatschenden Regens.

Dieser Regen ist uns jetzt viel wert, denn die Flüsse schwellen an. Gestern schon, wie ich morgens den San entlang ging, war er ziemlich hoch. In Zeiten der Trockenheit ist er durchwatbar. Und das wäre schlimm für uns, denn die Russen stehen den ganzen San entlang, und er muß helfen, sie uns vom Leibe zu halten. Jaroslau ist tatsächlich von uns geräumt, weil es zu sehr dem russischen Feuer ausgesetzt ist. Aber die Russen haben den San noch nicht überschritten. Man meint, daß sie ihn bei Jaroslau zu forcieren suchen werden.

Hier hat man bereits eine Notbeleuchtung eingerichtet, falls das Elektrizitätswerk von Przemysl zerstört werden sollte. Gestern hat man in den Straßen hohe Kandelaber mit einem neuen Petroleum-Starklicht aufgestellt, um für alle Fälle gesichert zu sein.

Auch wir werden versuchen müssen, uns noch mit Petroleum und einer Lampe zu versorgen. Denn sollte wirklich das elektrische Licht versagen, so wäre es jetzt, [23] wo die langen Abende kommen, eine böse Sache, im Finstern zu sitzen. Es ist nicht zu sagen, wie schwer man sich hier jetzt schon alles erkämpfen muß. Wir bekommen oft tagelang keinen Spiritus, keinen Zucker, kein Salz, nicht einmal mehr Zündhölzer. Km schwersten ist es mit Milch und Brot. Gestern haben wir zum erstenmal wieder Milch bekommen, aber nur durch die Offiziersmesse, die sie vom Verpflegsmagazin hat. Vorher waren wir vier Tage ohne Milch und Gebäck. Und dabei geht es uns noch sehr gut. Die meisten Zivilbewohner der Stadt, die noch hier sind, haben seit 14 Tagen keine Milch mehr. Die Bauern, die den meisten die Milch gebracht haben, sind geflohen oder abgeschoben worden und das wenige, was da ist, wird für die Spitäler requiriert. Mit dem Brot geht es den Leuten ähnlich. Wir haben doch das Kommißbrot, anderes auch schon lange nicht mehr. Bis jetzt ist es mir noch immer gelungen, auf dem Markt, wo am ganz frühen Morgen noch einige Bauern zu finden sind, gute Äpfel, Eier, Salat und beim Konditor, wo man „von hinten“ hineingeht, ein paar Bäckereien für unser Frühstück aufzutreiben. Aber leider bekommt man längst schon gar nichts mehr, was man auf Vorrat kaufen könnte. So geht es einem leider mit allem. Die Leute geben kein größeres Quantum, von was immer es sei, ab.

Gestern und heute war das jüdische Neujahrsfest. Es ist nach der Versöhnungsfeier, die am 30. sein wird, das größte Fest der Juden. Demgemäß waren von vorgestern abends bis heute mit Einbruch der Dämmerung alle jüdischen Geschäfte geschlossen. Auch der jüdische Schabbes beginnt am Freitag abends mit Beginn der Dämmerung und dauert bis Samstag abends. Wenn es am Samstag abends zu dunkeln beginnt, [24] sperren sie die Geschäfte wieder auf. Ich ging wieder in die Jagellonska und sah mir die Sache an. Das kleine, niedrige, vernachlässigte alte Haus ist das „Bethaus“, wo die streng orthodoxen Juden ihren Gottesdienst halten. Es sind fast nur Greise. In die alte weiße Synagoge mit der Säulenhalle, die unmittelbar daneben steht, gehen auch orthodoxe Juden, aber sie sind nicht mehr so strenggläubig. In dem großen Tempel aus rotem Backstein dagegen beten die modernen, liberalen Juden, die Freigeister sozusagen. Da sah ich sogar einen mit Kaftan und hohem Zylinder, was sehr merkwürdig aussah.

Auch im Festungsspital hatte man den jüdischen Mannschaften ein Zimmer zur Abhaltung ihrer Gebete am Neujahrsfest zur Verfügung gestellt. Mein Mann fragte, ob sie nicht einen Rabbiner hier hätten? „Den brauchen wir nicht,“ sagte ein jüdischer Soldat. „Der Rabbiner predigt nur, aber beten können wir allein.“ Es waren einige Vorbeter unter ihnen, und der eine davon brachte eine Gesetzestafel Moses mit, die er von seinem Vater geerbt hat. Vor dieser Gesetzestafel beteten sie.

Es erscheint hier auch eine jüdische Zeitung in hebräischer Schrift.

Es regnet — regnet — regnet — der Geschützdonner hat aufgehört. Man lauscht mit allen Sinnen in diese nahe Ferne hinaus, wo die eisernen Würfel fallen.


Przemysl, den 24. September 1914.

Die ganze Nacht von vorgestern auf gestern währte das Geschützfeuer, bis in den Vormittag hinein. Dann war es still bis zum Abend. Wir saßen gerade beim Nachtmahl, da fiel der erste Schuß. In der vergangenen Nacht soll man es noch bis Mitternacht gehört haben. [25] Wir hörten es nur bis 1/210 Uhr, dann schliefen wir tief und fest ein. Man hat hier viel mehr Schlafbedürfnis als irgendwo anders. Die Unruhe des Tages, der Trubel in den Gassen, die Flucht der fremdartigen, erregenden Eindrücke macht müde.

Heute lag vom Morgen an etwas Freudiges in der Luft. Der Kanonendonner schwieg. Der Morgen war leuchtend blau und sonnig. Gestern hatte man davon gesprochen, daß wir die Russen wieder aus Jaroslau geworfen hätten, und heute erzählte man sich, daß eine Abteilung Pioniere nach Radymno abgegangen wäre, um die von uns gesprengte Brücke wieder instand zu setzen.

Auch die russische Artillerie, die im Begriff war, sich feste Stellungen zu bauen, soll durch das Feuer unserer Festungsgeschütze schwer gelitten haben und ihre Stellungen sollen gänzlich zerstört sein.

Natürlich ist das alles nur Gerücht, niemand weiß Bestimmtes, aber jeder klammert sich daran.

Der vorgestrige Abend dagegen war düster. Kanonendonner und zwei Dörfer in hellen Flammen. Der ganze Himmel blutigrot und schwere Rauchsäulen. Es sind die Dörfer Malkowice und Nowosiolki, und es heißt, daß wir sie selbst in Brand gesteckt haben.

Gestern, kurz vor Sonnenuntergang, war ich wieder auf dem Schloßberg. Der Himmel lag wie eine schwere, bleierne Kuppel über dem Land, drückte auf den Horizont herab. Nur wo die Wölbung die Linie des Horizontes schon fast berührte, brachen im Westen ein paar halbverschleierte, rote Sonnenuntergangsstrahlen unter dem Rande der Kuppel durch. Es war, als stände dahinter der ganze Himmel in Feuer und dieses Feuer bräche nur an dieser einen Stelle durch. In der Richtung gegen Lemberg aber, im [26] Wir hörten es nur bis 1/210 Uhr, dann schliefen wir tief und fest ein. Man hat hier viel mehr Schlafbedürfnis als irgendwo anders. Die Unruhe des Tages, der Trubel in den Gassen, die Flucht der fremdartigen, erregenden Eindrücke macht müde.

Heute lag vom Morgen an etwas Freudiges in der Luft. Der Kanonendonner schwieg. Der Morgen war leuchtend blau und sonnig. Gestern hatte man davon gesprochen, daß wir die Russen wieder aus Jaroslau geworfen hätten, und heute erzählte man sich, daß eine Abteilung Pioniere nach Radymno abgegangen wäre, um die von uns gesprengte Brücke wieder instand zu setzen.

Auch die russische Artillerie, die im Begriff war, sich feste Stellungen zu bauen, soll durch das Feuer unserer Festungsgeschütze schwer gelitten haben und ihre Stellungen sollen gänzlich zerstört sein.

Natürlich ist das alles nur Gerücht, niemand weiß Bestimmtes, aber jeder klammert sich daran.

Der vorgestrige Abend dagegen war düster. Kanonendonner und zwei Dörfer in hellen Flammen. Der ganze Himmel blutigrot und schwere Rauchsäulen. Es sind die Dörfer Malkowice und Nowosiolki, und es heißt, daß wir sie selbst in Brand gesteckt haben.

Gestern, kurz vor Sonnenuntergang, war ich wieder auf dem Schloßberg. Der Himmel lag wie eine schwere, bleierne Kuppel über dem Land, drückte auf den Horizont herab. Nur wo die Wölbung die Linie des Horizontes schon fast berührte, brachen im Westen ein paar halbverschleierte, rote Sonnenuntergangsstrahlen unter dem Rande der Kuppel durch. Es war, als stände dahinter der ganze Himmel in Feuer und dieses Feuer bräche nur an dieser einen Stelle durch. In der Richtung gegen Lemberg aber, im [27] Zahl der gefangenen Serben steigt schon auf 60 000! Neuerliche Beschießung von Cattaro durch die französische Flotte, zwei Leuchttürme von Lissa und Pelagosa zerschossen. 5 englische Kreuzer und 3 Panzerschiffe von deutschen Unterseebooten in Grund gebohrt. 6 Korps der russischen Wilna-Armee aufgerieben. Die geplante Umfassung des deutschen rechten Flügels hatte keinen Erfolg. Die Gegenangriffe der Franzosen aus Verdun und Toul wurden zurückgeschlagen, Varennes erobert. In Galizien unbedeutende Artilleriegefechte.

Viel Gutes, Freudiges von draußen! Über uns schweigt die Geschichte noch immer.

Seit zwei Tagen sind auch die Geschütze verstummt. Dafür stehen jeden Tag ein oder zwei Dörfer in Flammen. Es sind meist Dörfer, die in der Richtung nach Medyka liegen und die von unseren Truppen niedergelegt werden, um dem Feind keine Deckung zu verschaffen. Emil hat vom 3. Stockwerke des Festungsspitales einen weiten Blick dort hinunter. Dort sah er auch vor einigen Tagen, während des heftigen Geschützfeuers, Schrapnells krepieren. Bei Tag sind sie wie ein Rauchball anzusehen, der sich langsam auflöst, nachts aber wie Kugelblitze. Auch Flieger und Fesselballons kann man jetzt oft beobachten.

Aber es ist, nach dem Rückzug, ein gutes Ding, unsere Artillerie und Kavallerie wieder die Straße gegen Lemberg reiten zu sehen! Glück auf, ihr Tapferen!

Hart, hart wuchtet der Krieg auf dem armen galizischen Land. Die Dörfer mußten zum größten Teil in der näheren und weiteren Umgebung rasiert werden. Die Bauern kommen auf ihren kleinen Bauernkarren mit Kind und Kegel und Hausrat durch die Stadt und haben nichts — nichts als einen armseligen Zettel, auf dem steht, was man ihnen verbrannt hat. [28] Man verspricht es ihnen nach Beendigung des Krieges reichlich zu ersetzen. Aber jetzt — jetzt? Der Winter steht vor der Tür. Die Bauern in der Umgebung von Przemysl waren fast alle wohlhabend. Denn alles gedeiht hier gut, Getreide, Gemüse und Obst. Jetzt verkaufen sie Pferde, Kühe, Schweine, Geflügel um ein geringes, sie haben keine Zeit zu warten, müssen alles lassen, wie es liegt und steht.

Darum gibt es fast keine Eier mehr, keine Milch.

Przemysl hatte schöne, stundenweite Wälder. Es waren 25—30jährige Bestände. Jetzt wird alles von unseren Truppen niedergelegt, alles abgeholzt, um freien Ausschuß zu haben und dem Feind keine Deckung zu geben. Auf wie viel Jahrzehnte hinaus dieses unglückliche Land leidet! Man kann sagen, für eine ganze Generation. Wenn man das alles mit anschaut, begreift man erst, wie glücklich jeder ist, der im warmen, geschützten Herzen des Vaterlandes haust! Muß er auch hinaus, so weiß er doch Weib und Kind, Haus und Hof in Frieden daheim.

Merkwürdigerweise hört man diese armen Vertriebenen nicht klagen, und fast nie sieht man ein Weib weinen. Sie sitzen, in ihre Schaffelle gehüllt, unbeweglich auf ihren Karren mit den niedrigen, armseligen Pferden und starren stumpf vor sich hin. Man könnte fast meinen, es wäre diese Heimatlosigkeit ihnen nichts Neues, als läge sie ihnen von ihren Vorvätern her im Blute, eine alte Gewohnheit ihrer unsäglichen Armut.


Przemysl, den 28. September 1914,
     am 11. Tag der Absperrung.

Noch immer keine Post! Wenigstens ging bisher noch ab und zu Feldpost per Automobil über Sanok [29] weg. Heute wurde auch keine Feldpost mehr angenommen.

Seit einigen Tagen gehe ich jeden Nachmittag ins Spital. Wie ich das erstemal hinaufkam, bat ich den Sanitätssoldaten, mich zu denen zu führen, die sprechen und rauchen dürfen, denn ich hatte ihnen Zigaretten mitgebracht. Einstweilen hatte er schon die Tür zu dem Zimmer der Hoffnungslosen geöffnet, und ich warf einen Blick hinein.

Da lagen sie, die Gesichter mit weißen Tüchern bedeckt, und der, der der Tür am nächsten war, wand sich und röchelte, daß das ganze Stiegenhaus davon erfüllt war. Jeden Tag höre ich ihn wieder, wenn ich an dieser Tür vorbeikomme.

Jedes Wort verstummt hier.

Gott erlöse sie!


Przemysl, den 29. September 1914,
     am 12. Tag der Absperrung.

Gestern abends wurde ich mitten im Wort unterbrochen, mein Mann kam nach Hause. Er ging rasch über den Gang, es wetterte schauerlich, und er rief mir durch die Tür zu, schnell aufzusperren. Im selben Augenblick wußte ich aus seiner Stimme, daß irgend etwas vorgefallen war.

Er hing den triefenden Mantel an den Rechen. Dann nahm er mein Gesicht in seine beiden Hände:

„Wirst du tapfer sein?“ fragte er leise, „nicht wahr, du bist es?“

„Was gibt es?“ Meine Stimme war hart und kalt vor zurückgehaltener Erregung.

„Ich bin nach Krowniki kommandiert, eine Stunde von hier — in — die Cholerabaracken —“

Ich meinte, das Herz müsse mir stillestehen.

[30] „Aber wahrscheinlich nur für zehn Tage, Kind — hörst du, nur für zehn Tage! Ich trete schon morgen meinen Dienst draußen an.“

Es war eine düstere Nacht. Wir taten beide, als ob wir schliefen. Der Sturm rüttelte am Haus, daß Türen und Fenster zitterten, und der strömende Regen klatschte auf die Dächer. Dazwischen hinein dröhnten unablässig die schweren Salven von draußen — und ihre Stimme war näher, gewaltiger, drohender denn je zuvor.

Das alles war in meinem unruhigen Halbschlaf. Das Dröhnen der schweren Geschütze — die Absperrung, durch die kein Laut von außen hereindringt — das Toben von Sturm und Regen — und Emil — Emil in den Cholerabaracken — es lastete schwerer und schwerer.


Przemysl, den 30. September 1914,
     am 13. Tag der Absperrung.

Am nächsten Morgen hätte ich am liebsten die Augen nicht aufgemacht, so sehr graute mir vor dem Tag.

Der brach strahlend blau an, mit dem jähen Wechsel der hiesigen Wetterstimmung.

Ich ging den ganzen Vormittag wie betäubt herum, packte die Sachen meines Mannes und dachte nur das eine — wenn es doch wenigstens nur zehn Tage sind.

Mittags kam Emil mit frohen Augen heim.

Es waren wirklich nur zehn Tage!

Das war ein solches Glück gegen das Grauen der Nacht, daß wir jetzt ganz ruhig, froh und heiter sind.

Auch werden die Baracken jetzt erst aufgestellt, alles ist noch rein und die Gefahr einer Ansteckung ist jetzt weniger groß wie später.

Ich bete zu Gott, daß er seine Hände über uns hält.


[31] Przemysl, den 30. September 1914, abends.

Man hat hier gar nicht Zeit, an die Russen zu denken oder sich vor ihnen zu fürchten. Es sitzt einem zu viel anderes noch dichter an der Kehle. Die Sorge um Emil, die Absperrung und vor allem sind es die Verwundeten, die einen alles andere vergessen machen.

In den ersten Tagen war ich so aufgeregt, daß ich sie die ganze Nacht vor mir hatte. Da haben wir einen Triestiner dabei, vom Regiment meines Mannes. Man hat ihm den rechten Arm abgenommen und außerdem hat er noch einen Schuß in der Seite. Er ist so erschreckend gelb, sein Gesicht so klein, daß man es mit der Hand bedecken könnte. Er spricht fast nie mit den anderen, starrt mit zerquälten, unruhigen Augen zur Decke. Er spricht nur ein paar Worte deutsch und verständigt sich schwer, weil die Mehrzahl der Pflegerinnen nur Polnisch spricht. Erst sprach ich ihn deutsch an, und wie ich hörte, er sei ein Triestiner, kam ich fast unwillkürlich ins Italienische. Ich werde mein ganzes Leben glücklich sein, Italienisch gelernt zu haben, nur um dieses armen Teufels willen. Nie werde ich die hoffnungslose Gebärde vergessen mit der er auf den leer herabhängenden Hemdärmel wies und nichts weiter sagte als „e doppo – e doppo –? Und nachher –?“

Und dann sprach er, leise, hastig, sich überstürzend, seine ganze namenlose Angst, daß er nach dem Kriege unversorgt dastehen werde, als arbeitsunfähiger Krüppel, und die Frau – die drei Kinder – und das vierte, das auf dem Weg ist –? Einen Monat lag er nun schon da, diese Angst in sich, und diese ganze Zeit wußte seine Frau nichts von ihm. Ich sagte ihm, daß der Staat für ihn und seine Familie sorgen werde, daß ich gar nicht begreifen könne, [32] wie er zu dieser Angst käme, die ganz unberechtigt sei. Und wie ich seine zweifelnden Augen sah, zermarterte ich mir die Seele nach Worten, um ihn zu überzeugen. Ich blieb lange bei ihm und redete, und er wurde auch wirklich etwas ruhiger. Es war mir, als klammere er sich mit den Augen an mir fest, und es war mir jammervoll, jedes Wort in der schlecht beherrschten Sprache mühsam zusammenklauben zu müssen. Einmal ging ein kleines Lächeln über sein Gesicht, wie ich ihm sagte, daß die Nation immer genug haben wird, um die Tapferen zu erhalten, die ihre Gesundheit dem Vaterland geopfert haben. Und noch ein zweites Mal, als er mir unter Tränen diesen Brief an seine Frau diktiert hatte.

Cara Bice, ti faccio sapere, che mi trova in ospitale presso un mese. Sono ferrito nel braccio e nel fianco abbastanza grave. Speriamo che ci vedremmo in corto tempo! Darti coraggio!

Ti raccomandi i bambini e fammi sapere come stai. Riceve ancor un saluto di tuo marito - tanti baci ai bambini e a te. Saluti tutti parenti e fammi sapere quanto che ti tire a1 mese.

Una pronta risposta!

Non reste altro che di salutarti ancor una volta - addio Mario.

In deutschem Wortlaut:

Liebe Bice! Du sollst wissen, daß ich fast einen Monat im Spital bin. Ich bin im Arm und in der Seite verwundet - ziemlich schwer. Hoffen wir, daß wir uns in kurzer Zeit wiedersehen! Sei tapfer! Behüte mir die Kinder und laß mich wissen, wie es Dir geht.

[33] Noch einen Gruß von Deinem Gatten und viele, viele Küsse den Kindern und Dir. Grüße alle Verwandten und schreibe mir, wieviel Du monatlich bekommst.

Eine baldige Antwort!

Und nun grüße ich Dich noch einmal – lebewohl!
Mario.     
Mario.

Da sprach ich ihm davon, wie gut das Heimkommen sein werde zu einer Frau und Kindern, die ihn gern haben – und daß seine Frau stolz auf ihn sein werde!

Da ging ein zweites Lächeln über sein Gesicht.

Przemysl, den 2. Oktober 1914,
     am 15. Tag der Absperrung.

Heute bin ich den ersten Abend allein. Emil meinte, schon gestern nicht mehr zum Nachtmahl hereinkommen zu können. Doch wie ich abends bei der Schreibmaschine saß, um meinen ersten Brief an ihn zu schreiben, klopfte er plötzlich leibhaftig an der Türe. Es waren noch keine Kranken hinausgekommen und außerdem funktionierte die Feldküche noch nicht, so daß die Herren gezwungen waren, sich in der Stadt um ein Nachtmahl umzusehen. So feierten wir noch einen glücklichen Abend miteinander.

Gestern, kaum war Emil in die Baracken gefahren, begann das Geschützfeuer besonders heftig. Ich lief auf den Schloßberg und ging dort spazieren. Diese Schloßberg-Anlagen sind so schön, wie nicht viele Städte etwas Ähnliches haben. Der Blick auf den San, der sich wie eine silberschuppige Schlange in vielfachen kleinen Windungen gegen Westen schlängelt, der Abendduft über dem Wasser, die weichen Hügelketten, das ist ein so liebes, schönes Bild, daß es mich in Galizien [34] überrascht hat. Der Schloßberg hat wunderschöne alte Baumgruppen, besonders Silberpappeln, in denen der Wind mächtig orgelt. Dazwischen schöne Lärchen- und Tannenbestände. Und viele Roßkastanien, deren Früchte einem vor die Füße springen und zerplatzen.

Dann bin ich oft in meinem lieben Marburg, in der Heimat meiner Kindheit. Ich gehe an Papas Hand durch den lichten Jubel der goldig glühenden Kastanienalleen, die im letzten Herbstfeuer flammen. Und ich kann es nicht begreifen, wie es Menschen geben kann, die den Herbst traurig nennen. Mama ist da, und liebe, liebe Freunde nicken mir mit längst vertrauten Augen lachend zu.

Ich höre das Rollen der Böllerschüsse von Weinhügel zu Weinhügel gehen. Es ist Weinlesezeit.

Bis drüben, vor mir, in der Richtung von Lipowica, ein weißlich-grauer Rauchball in den Himmel tanzt, mit einem kurzen Aufblitzen und dröhnendem Schlag zerplatzt.

Das sind die Schrapnells, die Tod säen.

Und doch erfaßt mich kein Entsetzen.

Es dunkelt. Langsam gehe ich heim.

Draußen setzen alle Werke im Ring mit allen Lagen gleichzeitig ein, und die ganze Festung gleicht nur einem einzigen feuerspeienden Vulkan, der bis ins Innerste seines Kraters von der Gewalt der eigenen Explosion erzittert.

Unsere Getreuen wachen -!

Przemysl, den 3. Oktober 1914,
     am 16. Tag der Absperrung.

Gestern erschien bei unserem Festungskommandanten, F. M. L. Kusmanek, der russische Oberstleutnant Wandam und überreichte folgenden Brief:

[35]      Herr Kommandant!

Das Glück hat die k. u. k. Armee verlassen. Die letzten erfolgreichen Kämpfe unserer Truppen haben mir die Möglichkeit gegeben, die Eurer Exzellenz anvertraute Festung Przemysl zu umringen. Irgendwelche Hilfe für Sie von außen halte ich für unmöglich. Um das unnütze Blutvergießen zu vermeiden, finde ich es jetzt zur rechten Zeit, Euer Exzellenz die Unterhandlung über die Übergabe der Festung vorzuschlagen, da es in diesem Falle möglich wäre, für Sie und die Garnison ehrenvolle Bedingungen beim allerhöchsten Oberkommando zu erbitten.

Falls Euer Exzellenz die Unterhandlungen zu beginnen wünschen, so wollen Sie unserm entsprechend Bevollmächtigten, Oberstleutnant Wandam, Ihre Bedingungen gütigst mitteilen.

Ich benütze diesen Anlaß, um Euer Exzellenz meine Hochachtung auszusprechen. Das Kommando der Przemysl blockierenden Armee:

General Radko Dimitriew.     


Die sogleich schriftlich erteilte Antwort unseres Festungskommandanten war folgende:


     Herr Kommandant!

Ich finde es unter meiner Würde, auf Ihr schimpfliches Ansinnen eine meritorische Antwort zu erteilen.
Der Kommandant der Besatzung Przemysl.     


In jedem Auge flammt Begeisterung. Die ganze Besatzung jubelt ihrem Führer zu.

Nachmittags war ich wieder bei den Kranken. Sie haben gestern und heute gute Tage gehabt, den meisten war etwas besser. Ich durfte ihnen als Erste die große [36]      Herr Kommandant!

Das Glück hat die k. u. k. Armee verlassen. Die letzten erfolgreichen Kämpfe unserer Truppen haben mir die Möglichkeit gegeben, die Eurer Exzellenz anvertraute Festung Przemysl zu umringen. Irgendwelche Hilfe für Sie von außen halte ich für unmöglich. Um das unnütze Blutvergießen zu vermeiden, finde ich es jetzt zur rechten Zeit, Euer Exzellenz die Unterhandlung über die Übergabe der Festung vorzuschlagen, da es in diesem Falle möglich wäre, für Sie und die Garnison ehrenvolle Bedingungen beim allerhöchsten Oberkommando zu erbitten.

Falls Euer Exzellenz die Unterhandlungen zu beginnen wünschen, so wollen Sie unserm entsprechend Bevollmächtigten, Oberstleutnant Wandam, Ihre Bedingungen gütigst mitteilen.

Ich benütze diesen Anlaß, um Euer Exzellenz meine Hochachtung auszusprechen. Das Kommando der Przemysl blockierenden Armee:

General Radko Dimitriew.     


Die sogleich schriftlich erteilte Antwort unseres Festungskommandanten war folgende:


     Herr Kommandant!

Ich finde es unter meiner Würde, auf Ihr schimpfliches Ansinnen eine meritorische Antwort zu erteilen.
Der Kommandant der Besatzung Przemysl.     


In jedem Auge flammt Begeisterung. Die ganze Besatzung jubelt ihrem Führer zu.

Nachmittags war ich wieder bei den Kranken. Sie haben gestern und heute gute Tage gehabt, den meisten war etwas besser. Ich durfte ihnen als Erste die große [37] das ist ein Glück, sonst könnte man den Verstand verlieren.

Und dabei muß man ruhig und heiter sein. Die Verwundeten leben davon. Man sieht, wie ihnen heitere Ruhe wohltut, und ich freue mich, daß fast alle Schwestern lieb und heiter sind. Ich bewundere diese Märtyrer, wie anspruchslos, wie sanft und geduldig sie sind. Unsereins macht groß Aufhebens von einer kleinen Unpäßlichkeit, und die liegen da in unsäglichen Leiden und sind von einer heldenhaften Ergebenheit. Jeder, jeder hat ein Lächeln, wenn ich zu seinem Bett komme und ihm die Hand gebe.

Da ist ein Slowene aus Untersteiermark dabei. Der liegt am schwersten darnieder. Es wird ein Wunder sein, wenn er durchkommt. Der arme Junge hat fünf Kugeln! Eine durch die Brust, vorne hinein und am Rücken heraus. Eine andere hat die rechte Schulter zerschmettert, eine dritte den linken Arm gelähmt. Er spricht sehr schlecht Deutsch. Gestern war er sehr glücklich, und wie ich zu ihm kam, sagte er mir mühsam: „Es geht mir sehr gut! Zwei von den Löchern sind wieder zu! Jetzt sind nur noch drei – !“ Jeden Tag zeigt er mir seine lahme linke Hand, und dann wird er traurig, weil er fürchtet, daß sie tot bleiben wird. Jeden Tag sage ich ihm, daß sie ganz gewiß wieder beweglich werden wird, wenn er nur erst einmal wieder hergestellt ist. Gott, Gott, was sage ich alles! Dem einen fehlt der Arm, dem anderen das Bein, der dritte liegt von fünf Kugeln aufs jammervollste zugerichtet da, der vierte hat einen Schuß im Hals und kann nicht essen, überdies einen gebrochenen Arm, dem fünften ist Nase und Mund halb weggerissen und wahnsinnig verstümmelt – so geht es weiter – und ich rede – rede – verspreche das Blaue vom Himmel [38] herunter — und möchte aufschreien vor Herzweh!

Gott, Gott, schütze mir Emil – halte die Hände über ihn!


Przemysl, den 5. Oktober 1914,
     am 18. Tag der Absperrung.

Das sind schwere Tage. Heute bin ich den vierten Tag ohne Nachricht von Emil, trotzdem er mir bestimmt versprach, ein Lebenszeichen zu geben. Ich kann es mir nicht anders erklären, als daß sehr viele Kranke gekommen sind und er mich nicht der Ansteckungsgefahr durch sein Kommen oder Schreiben aussetzen will. Heute wollte ich schon ins Garnisonsspital schicken und anfragen, ob sie regelmäßig Nachricht von den Cholerabaracken haben. Dann habe ich aber doch noch zugewartet. Denn ich fühlte, daß ich ganz im Innersten, im Reiche des Instinktes, ruhig war.

Dazu kam noch heute ein schauderhaftes Wetter. Es schüttete, als ob es die Baracken da draußen wegschwemmen müßte. Nachmittags begann auch wieder das Geschützfeuer, rings im Kreis um die ganze Stadt. Vormittags hatte es geschwiegen.

Nachdem ich im Spital war, ging ich auf den Schloßberg. Ein schaurig schöner Sonnenuntergang. Die Wetterwolken, die den ganzen Tag über der Stadt gebraut hatten, ballten sich im Westen zusammen. Es blutete über den ganzen Himmel, und die Sonne schoß noch ein paar letzte feurige Pfeile durch die lastenden und sich übereinandertürmenden Wolkenballen. Im Nordosten stand eine dunkle Wand. Und wenn die ehernen Schlünde dort drüben zu reden begannen, dann stieg ein kleiner, weißer Rauchball in diese dunkle Wand, sich scharf abzeichnend vom Hintergrund. Ein jäher Blitz zerriß diesen Rauchball, ein kleines weißes [39] Wölkchen jagte dem Blitze nach und löste sich dann sanft auf wie ein Schäferwölkchen, das im Blau zerfließt. Das waren russische Schrapnells.

Das ist nun der 18. Tag der Einschließung und der 18. Tag, seit die Kanonen donnern. Manchmal kommt einem alles wie ein Alp vor, der sich einem im Traum auf die Brust legt, und man will sich aufrichten und ihn von sich schütteln.

Heute schrieb ich für Emil dieses Gedicht nieder:



Wenn die ehernen Schlünde reden:

Kein Laut von außen.
Die Tage schweigen.
Die Nächte schweigen.
Ein eiserner Ring umklammert uns in Gier,
Ein tausendfältig wimmelnd Leben,
Das mit Polypenarmen nach uns greift.
Kein Laut von außen.
Die Tage schweigen.
Die Nächte schweigen.
Nur eh'rne Zungen reden
Von alter Schuld,
Von altem Haß. –
Kein Laut von außen.
Die Tage schweigen.
Die Nächte schweigen.
Nur erzne Schlünde schleudern Blitze,
Die jäh, wie der Befreiung Licht,
In Siegerzorn den Ring zerreißen.


Przemysl, den 6. Oktober 1914,
     am 19. Tag der Einschließung.

Es lastet immer unerträglicher.

Wieder nichts von Emil gehört! Am liebsten möchte ich mich hinlegen und durchschlafen, bis er kommt. [40] Gott helfe mir, daß ich ihn am Freitag gesund wieder habe.

Ich kann nicht sagen, nicht niederschreiben, wie schwer ich auf Emil warte — kann nicht darüber reden. Denn wenn ich davon zu sprechen beginne, fühle ich, wie tausend Ängste nur auf mich lauern, um über mich hereinzubrechen.

Und ich muß mich gegen sie stemmen mit meiner ganzen Kraft!

Heute stand auf dem Schloßberg eine kleine Roßkastanie ganz in hellem Gold, so licht, wie ein liebes, süßes, goldenes Wunder.


Przemysl, den 7. Oktober 1914,
     am 20. Tag der Einschließung.

Heute — endlich — endlich — die Erlösung.

Um 8 Uhr früh kommt ein Sanitätsmann mit einem kurzen Brief. Ich war so selig, daß ich dem Polacken am liebsten an den Hals geflogen wäre, trotz aller Cholerabaracken der Welt! Gott hat mir mein Liebstes bis jetzt behütet und wird auch weiter seine Hände über ihn halten! Es war Emil nur bisher ganz unmöglich zu kommen oder zu schicken. Er ahnt ja, was ich gelitten habe! Hätte ich mich nicht mit aller Gewalt an meinen Instinkt geklammert, der mir sagte, Emil ist gesund, so hätte ich verzweifeln müssen! Aber es ist qualvoll schwer, nur von seinem Instinkt zu leben, wenn man seinen Mann in den Cholerabaracken weiß und ringsum schon die russischen Schrapnells einschlagen.

Heute ist ein furchtbares Dröhnen im Kreis um die ganze Stadt. Den ganzen Tag und die ganze Nacht stehen unsere Forts wieder in ununterbrochenem, heißem Kampf. Vormittags ging ich mit einer Bekannten [41] in eine Villa, die eine halbe Stunde außerhalb der Stadt, an der Lemberger Straße, liegt. Es war ein düsterer Weg. Schon in der Franziskanergasse trafen wir einen Herrn, der uns drei Schrapnellkugeln zeigte, die eben zwischen Garnisonsspital und Verpflegsmagazin eingeschlagen und das Straßenpflaster aufgerissen hatten.

Der Himmel schwarz, dräuend, schwerverhangen. Die sturmverwehten Wolkenfetzen flatterten am Horizont und hingen sich gleich Nebel an die lastenden Wolkenberge. Eine eisige Feuchtigkeit durchfröstelte mich.

Die kotbesudelten Fuhrwerke rollten in unabsehbarer Kette durch den Morast der Straße der Stadt zu. Sanitätswagen, die die Verwundeten der Nachtgefechte in die Spitäler brachten. Leichtverwundete zu Fuß, Kopf und Arm im Notverband, die Uniform blutbespritzt, eingehüllt in eine zähe Kruste von Schlamm.

Und rings in der Runde ohne Unterlaß der gewaltige dröhnende Donner der Geschütze, der die ganze Luft erfüllte. Von allen Seiten zischten am Horizont die Schrapnells wie weiße Schlangen herauf. Der Himmel so schwarz, daß man, wie nachts, deutlich den Blitz sah, wenn sie zerplatzten.

Auf dem Balkon der Villa standen die einquartierten Offiziere und sahen den Schrapnells zu. Dort draußen schienen sie so nahe, als kämen sie hinter dem Obstgarten des Hauses herauf. Die Villa liegt auf dem halben Weg nach Krowniki, und ich dachte zusammengepreßten Herzens an die Cholerabaracken, die der Feuerlinie noch näher liegen.

Nachmittags kam schon Befehl, die Straßen zunächst dem Garnisonsspital zu räumen, weil sie dem feindlichen Feuer zu sehr ausgesetzt sind.

Herr und Gott, laß uns siegen!

[42] Es wäre nicht denkbar, wenn wir zu aller Qual und Not auch noch das Schwerste auf uns nehmen müßten.

Das kannst du nicht wollen!

Eben die Nachricht, die Russen seien heute nacht in das Fort I eingebrochen und nur durch einen vehementen Bajonettsturm der Unseren hinausgeworfen worden.

Das Fort I liegt in der Nähe der Lemberger Straße, unweit der Cholerabaracken.

Herr — Herr — soll ich denn diese Tage nicht mehr überstehen — ?


Przemysl, den 8. Oktober 1914,
     am 21. Tag der Einschließung.

Morgen — morgen sollst du wiederkommen!

Fast bin ich schon so kindisch, daß mir bangt, man könnte dich morgen nicht ablösen!

Nun sind wir volle drei Wochen belagert, und es scheint noch nicht, als ob wir so bald Luft bekämen. Die Russen machen jetzt, solange die Deutschen in Frankreich gebunden sind, die alleräußerste Anstrengung, uns niederzuwerfen. Sie stürzen sich hier mit aller Wucht auf uns.

Heute nacht war wieder ein mörderisches Artilleriefeuer. Die Fenster bebten, das eiserne Balkongitter schüttelte sich klirrend und das langgezogene Rollen dröhnte dazwischen, als ob die Hölle los wäre. Jeden Abend sieht man die russischen Scheinwerfer aufsteigen. Die Russen beschießen besonders das Verpflegsmagazin; ein Teil der Slovackigasse ist noch gestern geräumt worden. Eine Granate hatte im Verpflegsmagazin gezündet, doch konnte glücklicherweise der Brand sofort unterdrückt werden. Bei vielen umliegenden Wohnungen sind die Fensterscheiben eingedrückt.

[43] Besonders ausgesetzt ist auch das Garnisonsspital, das am Ende der Slovackigasse, gegenüber dem Friedhof liegt. Dort hat in einem der Krankenzimmer ein russisches Schrapnell durch den Kamin heruntergeschlagen und einem Unglücklichen, der dort war, um gesund zu werden, beide Beine weggerissen.

Man erzählt mir, daß im selben Spital Schwester Irmgard, die Tochter unseres Armee-Oberkommandanten Erzherzog Friedrich, als Pflegerin beschäftigt ist.

Am Friedhof hausen die Schrapnells so arg, daß man, wie es heißt, schon seit zwei Tagen niemand begraben kann und die Leichenzüge gezwungen waren, wieder umzukehren.

Es ist erstaunlich, wie mutig die Bevölkerung hier ist. Kein Mensch läßt den Kopf hängen. Es ist wohl so ein Grenzervolk, das immer auf dem Sprung lebt, immer gefaßt sein muß. Wenn jemand im Festungsgebiet baut, muß er in den meisten Fällen einen Revers unterschreiben, daß er jederzeit, wenn es vom Festungskommando verlangt wird, sein Haus ohne Widerrede sofort und auf eigene Kosten selbst abreißen läßt. Das gilt von vielen Häusern im Stadtbezirk und von allen aus dem Lande. Dort dürfen an manchen Stellen nur Holzbauten aufgeführt werden. Andere Gründe dürfen überhaupt nie verbaut werden. Wir, aus dem sicheren Hinterland, können uns das gar nicht vorstellen, einen solchen Besitz, der jeden Tag in nichts zerrinnen kann! Wir anderen, Schwerblütigen, könnten hier nie zur Ruhe kommen, wir würden nie wagen, unser Herz an unser Haus zu hängen. Wir brauchen sicheren Boden unter den Füßen, Erbeingesessenheit und friedliches Behagen. Und doch baut hier jeder tapfer darauf los.

[44] Es liegt viel Optimismus und viel heitere Tapferkeit in diesem Völkchen! Und viel niedergekämpftes Leid, viel Entsagen, von dem wir Glücklichen nichts ahnen! Sie tun mir bis in die Seele hinein leid, wenn sie jetzt ihre Wälder und Dörfer in Flammen aufgehen sehen.

Heute schneit es zum erstenmal. Auch für hier ungewöhnlich früh. Aber das sachte, sachte Flocken war unsagbar wohltuend. Die Geschütze schwiegen mit kurzen Unterbrechungen fast den ganzen Tag, erschöpft von den Kämpfen der Nächte. Und es war wie eine kühle, linde Hand, die sich einem auf Stirn und Augen legte.

Komm mir gut heim morgen, mein Liebster!


Przemysl, den 9. Oktober 1914,
     am 22. Tag der Einschließung.

Jeder Tag hier wirft einen die ganze Skala der Gefühle auf und nieder.

„Himmelhoch jauchzend — zu Tode betrübt —“

Der Morgen begann grau, mit eiskaltem Frostwind, so dunkel, daß man in den Zimmern kaum sah. Ich drängte die Ödigkeit dieses Erwachens mit Gewalt von mir und malte mir aus, daß Emil spätestens im Laufe des Nachmittags da sein müsse. Ich wollte Blumen kaufen gehen, es sollte festlich aussehen, wenn er kommt.

Ich saß gerade beim Frühstück, klopft der Sanitätssoldat von den Cholerabaracken. Ich erschrak, wie ich einen Zettel von Emil sah. Meine Ahnung — er wird noch nicht abgelöst, wahrscheinlich Sonntag, weiß aber selbst nichts Bestimmtes. Und ein paar innige Trostworte.

Ich war ganz niedergeschmettert. Ich werde keine [45] ruhige Stunde haben, bevor er nicht gesund wieder hier ist!

Der Vormittag wurde besser. Ich ging aus, kaufte mir etwas zu lesen, damit diese Tage rascher vergehen. Auch die Blumen stehen auf dem Tisch und warten darauf zu feiern. Ich schaue sie oft an, und sie sind ein lieber, heller Fleck in der grauen Öde des frostigen Regentages.

Seit zwei Tagen gehe ich nicht ins Spital. Da der Mann von den Cholerabaracken hier war, fürchte ich eine Ansteckung hinauf verschleppen zu können. Auch wenn Emil kommt, muß ich Quarantäne halten.

Endlich zu Mittag ein Lichtblick. Allerdings zum Teil noch unverbürgtes Gerücht. Man erwartet schon seit einigen Tagen die Armee zum Entsatz von Przemysl. Heute nacht soll nun ein großer Zusammenstoß stattgefunden haben. Man erzählt auch, daß in den letzten drei Tagen mehr als 20 000 Russen bei Przemysl gefallen seien. Tatsache ist, daß man heute früh über 200 russische Gefangene brachte; was aber viel bedeutungsvoller ist: die Strecke nach Dynow ist vom Feinde gesäubert und die Feldpost verkehrt wieder per Automobil dorthin. Das ist eine große, große Freude! Man trifft auch in der Festung umfassende Maßnahmen für Einquartierung und Verproviantierung der erwarteten Armee. Also sind wir nach einer Seite hin wieder frei! Das ist ein herrliches Gefühl! Alle Gesichter sind hell geworden.

Erst wenn dieser furchtbare Druck von uns genommen sein wird, werden wir wissen, wie schwer er auf uns gelastet hat! Unter der Wucht der Ereignisse kommt man keinen Augenblick zur Besinnung und erst wenn alles vorüber sein wird, werden wir ganz begreifen. [46] ruhige Stunde haben, bevor er nicht gesund wieder hier ist!

Der Vormittag wurde besser. Ich ging aus, kaufte mir etwas zu lesen, damit diese Tage rascher vergehen. Auch die Blumen stehen auf dem Tisch und warten darauf zu feiern. Ich schaue sie oft an, und sie sind ein lieber, heller Fleck in der grauen Öde des frostigen Regentages.

Seit zwei Tagen gehe ich nicht ins Spital. Da der Mann von den Cholerabaracken hier war, fürchte ich eine Ansteckung hinauf verschleppen zu können. Auch wenn Emil kommt, muß ich Quarantäne halten.

Endlich zu Mittag ein Lichtblick. Allerdings zum Teil noch unverbürgtes Gerücht. Man erwartet schon seit einigen Tagen die Armee zum Entsatz von Przemysl. Heute nacht soll nun ein großer Zusammenstoß stattgefunden haben. Man erzählt auch, daß in den letzten drei Tagen mehr als 20 000 Russen bei Przemysl gefallen seien. Tatsache ist, daß man heute früh über 200 russische Gefangene brachte; was aber viel bedeutungsvoller ist: die Strecke nach Dynow ist vom Feinde gesäubert und die Feldpost verkehrt wieder per Automobil dorthin. Das ist eine große, große Freude! Man trifft auch in der Festung umfassende Maßnahmen für Einquartierung und Verproviantierung der erwarteten Armee. Also sind wir nach einer Seite hin wieder frei! Das ist ein herrliches Gefühl! Alle Gesichter sind hell geworden.

Erst wenn dieser furchtbare Druck von uns genommen sein wird, werden wir wissen, wie schwer er auf uns gelastet hat! Unter der Wucht der Ereignisse kommt man keinen Augenblick zur Besinnung und erst wenn alles vorüber sein wird, werden wir ganz begreifen. [47] Feind schließlich in einem gewaltigen Bajonettsturm uberrannten.

Der ausgehende Morgen bot ein Bild des Todes und des Entsetzens. Vor manchen Werken türmten sich die Leichen der Stürmenden meterhoch.

Wie furchtbar ist dieses Ringen. Dieses Blutopfer von Hekatomben.

Eine einzige warme, rote Welle umbrandet die Festung — Blut — Blut.

Und doch, Herr, sieh auf unsere Hände, sie sind rein.

Nicht unser die Schuld —!


Przemysl, den 10. Oktober 1914,
     am 23. Tag der Einschließung.

Der heutige Morgen begann wieder grau, regnerisch und kalt. Nach mehreren Sturzregen wurde es endlich etwas lichter. Emil hat nicht hereingeschickt. Ich hatte auch nicht sicher darauf gerechnet, denn ich hoffe bestimmt, daß er morgen selbst kommt.

Gegen Mittag ging ich auf den Schloßberg, meine kleine, lichte Kastanie besuchen. Ich habe mir ein paar goldige Blätter mit heimgebracht, und sie machen das ganze Zimmer hell. Eine Bekannte, die sich sehr lieb und warm unserer annimmt, brachte mir einige Bände Tolstoi. Nachmittags ging ich dann ein großes Stück den San hinab, und da begann es richtig blau zu werden. Es war wie eine Erlösung nach diesen düsteren Tagen.

Gestern und heute schweigen die Geschütze. Nur hie und da ruft ein einzelnes letztes Fort mit dumpfer Stimme herüber. Es liegt ein unendliches Aufatmen über der Stadt. Soldaten und Offiziere kommen in [48] Wagen vom Felde herein und machen Einkäufe. Sie haben heitere Mienen. Die Juden halten Schabbes, stehen in Gruppen beisammen, plaudern und feiern, die Hände in die rückwärtigen Taschen ihres pelzgefütterten Kaftans gesteckt. Es ist eine allgemeine Entspannung eingetreten, die unendlich wohltut. Wir wissen noch nichts Bestimmtes, aber wir wissen, daß es gut gehen muß, denn die Strecke nach Dynow ist wieder frei, unsere Pioniere arbeiten an der Wiederherstellung der Bahnlinie, und für Dienstag verspricht man uns die erste Post! Wie wird das gut sein! Nur Emil dann schon da haben und feiern — feiern —! Den ganzen Tag lausche ich nach dem Klirren eines lieben Säbels an unserer Türe.

Eines ist mir sehr schwer. Daß ich jetzt der Ansteckungsgefahr wegen nicht zu meinen Verwundeten ins Spital gehen kann. Ich weiß, sie warten auf mich, besonders der arme Siebenbürger Sachse mit dem Schuß in Arm und Hals. Ich bringe ihm oft etwas Weiches zu essen. Fast drei Wochen hat er nur von Milch und Suppe gelebt und kann auch jetzt noch nicht beißen und kaum schlucken, da ihm auf der einen Seite alle Zähne zerschmettert sind. Er ist ein gebildeter, sympathischer Mensch, landwirtschaftlicher Wanderlehrer, und hat Frau und Kind daheim. Oft spricht er mir von seinem dreijährigen Knaben. „Nach nichts", sagte er mir, „sehne ich mich so sehr, wie nach meinem Jungen!“

Neulich stellte sich heraus, daß der arme Teufel mit den fünf Kugeln, der Slowene, Winzer in der Nähe von Pettau ist. Da mußten wir beide daran denken, daß jetzt dort unten Weinlesezeit ist. „Jetzt werden die lustig sein!“ sagte er traurig. Er ist oft sehr drollig in seinem schlechten Deutsch. Wenn ich komme und [49] gehe, gibt er mir die Hand und guckt mir treuherzig in die Augen: „Servus!" sagt er.

Zu meinen besonderen Schützlingen zählt auch ein junger Fischer aus Porto rose. Der schwarze Matteo spricht nur Italienisch, und es hört sich gut an, wenn er mit dem Pathos und dem Feuer des Italieners vom Kriege erzählt und gleichsam alles lebendig werden läßt, was er erlebt. Er hat eine schwere Schrapnellwunde im linken Arm, und die Hand sieht böse aus. Wie ich ihn fragte, ob ich für ihn nach Hause schreiben solle, bat er mich, eine Karte an seine Schwester zu schreiben. Und dann bat er sich noch eine Karte aus. Doch die müsse er selber schreiben. Ich wollte ihm wenigstens die Adresse darauf setzen, aber er litt es nicht. „Perche vede,“ sagte er mit einem argen Spitzbubengesicht und suchte nach Worten, „quella, — quella èper la sposa!“ „Die — die ist für meine Frau!“ Oft erzählt er mir von Porto rose, vom Meer, vom Fischfang, von seinen vier Brüdern, die alle im Kriege sind, zwei davon bei der Kriegsmarine. Und dann vergessen wir die Russen vor den Toren und vergessen die brennenden Wunden und machen Pläne, daß er Emil und mich bald in Porto rose in seiner Barchetta zum Fischfang mitnehmen wird!

Eben fällt mir ein, da Dienstag schon die ersten Züge weggehen sollen, werde ich manchen von meinen Schützlingen nicht wiederfinden, wenn ich das nächste Mal hinaufkomme. Und ich hätte sie doch so gern noch gesehen, bevor man sie abtransportiert.

Einer ist oben, dem es einen Teil von Nase und Mund weggerissen hat. Die ersten beiden Tage habe ich einfach nicht den Mut gefunden, zu seinem Bett zu gehen. Er war grauenhaft anzuschauen. Am dritten Tag hat er mir mit der Hand gewinkt. Er konnte [50] kaum sprechen und bat mich, an seine Frau zu schreiben. Ich raffte meine ganze Beherrschung zusammen und ging zu ihm, mußte mich nah zu ihm beugen, um ihn zu verstehen, während er mir diktierte. Es war qualvoll. Ich bewundere Ärzte und Schwestern, die diesen Unglücklichen behandeln. Und ich denke an die arme, arme Frau und die sechs Kinder, wenn der Vater so grauenhaft entstellt heimkommen wird, daß sie ihn fast nicht wiedererkennen — sich vor ihm fürchten — o Marter! —

Dein Brief ist gekommen, mein Liebster! Vielleicht morgen — vielleicht übermorgen — aber bald — bald!

Und du weißt schon! „Freu dich mit mir, mein Kind, daß Österreichs Stern wieder im Aufgehen ist!“

8 Uhr abends. Große Proklamation: Wir sind vom Feinde befreit! Morgen, Sonntag, um 11 Uhr, Dankgottesdienst in allen Kirchen. Nach dem Gottesdienst feierlicher Zug der Bürger zum Festungskommandanten um zu danken. —

Jetzt lösen sich die Tränen, die wie erstarrt waren — Gott, gütiger Gott —!

Aus Anlaß der Befreiung Przemysls richtete Seine Exzellenz v. Kusmanek folgenden Festungskommandobefehl an die Besatzungstruppen.

     Offiziere und Soldaten!

Drei Wochen ist es her, seit der Feind vor den Wällen von Przemysl erschien und sich anschickte, die Festung einzuschließen.

Durch zahlreiche Vorstöße ist es uns gelungen, denselben bis in die jüngste Zeit von den Werken des Gürtels fernzuhalten.

In den letzten Tagen nun machte der Feind, aus seine Übermacht vertrauend, verzweifelte Anstrengunen, [51] um sich in den Besitz der Festung, dieses Bollwerkes der kämpfenden Armee, zu setzen.

In 72stündigem heißen Ringen haben wir denselben überall unter großen Verlusten zurückgeschlagen und dadurch, getreu unserem Eide, unserem allergnädigsten Kaiser und König und dem Vaterlande gedient. Stolz können wir auf diese dreiwöchige Periode zurückblicken, während welcher wir unter harten Mühsalen und Entbehrungen, gehoben aber durch unsere große Aufgabe, zahlreiche Kräfte des Feindes gebunden und schließlich siegreich zurückgeschlagen haben. Mit freudiger Genugtuung danke ich als Kommandant der Festung im Namen des allerhöchsten Dienstes, allen Kommandanten und Truppen für ihre an den Tag gelegte Ausdauer, aufopfernde Pflichttreue und Tapferkeit, welche zu diesem, uns alle beglückenden Erfolge geführt haben.

Bewegten Herzens wollen wir aber auch der auf dem Felde der Ehre gebliebenen Kameraden gedenken, welche ihre Treue für ihren Allerhöchsten Kriegsherrn mit ihrem Herzblut besiegelt haben.

Ehre ihrem Angedenken!

Kusmanek, F. M. L.     


Przemysl, den 11. Oktober 1914.

Heute läuten in Przemysl, seit zehn Wochen zum erstenmal wieder, die Glocken, zum erstenmal wird wieder in den Kirchen gesungen. Seit Ausbruch des Krieges wurde keine Glocke mehr geläutet. Selbst bei den Begräbnissen fehlte der Glockenklang. Heute morgen klangen sie nun zum erstenmal wieder über der Stadt.

Leider ertrank der Festzug in einer Flut von Regen und Morast. So geht es seit mehr als drei Wochen. Unsere armen Truppen, die vom Felde kommen, schauen [52] erbarmungswürdig, kaum menschlich aus, jeder in eine zähe Kruste von Schmutz und Kot gewickelt. Es waren Unmassen von Menschen in diesem Ovationszug. Man hätte in Przemysl gar nicht mehr so viele vermutet. Die Spitzen der Beamtenschaft, eine Handvoll Christen, die noch hier geblieben sind, und Juden, Juden aus allen Ständen, alle Abstufungen von Kaftans, von dem reichen, mit echtem Pelzwerk gefütterten, bis zu dem schäbigsten und zersetztesten. Dazwischen viel Militär. Eine armselige Zivilmusik. Natürlich war gar nicht nahe hinzukommen, und man verstand von den Ansprachen des Festungskommandanten und des Bezirkshauptmanns nichts.

Es kam in der Masse noch zu keinem so richtigen Durchbruch der Freude. Ich glaube wirklich, diese Menschen kennen das nicht. Es liegt etwas Scheues, Verhaltenes über ihrer Freude, etwas Unbefreites, das nicht reden kann. Ob das anders sein wird, wenn wir endlich den Friedensschluß feiern, und so Gott will, einen Friedensschluß, den wir mit Stolz feiern dürfen.

Wie ich so mitten zwischen ihnen stand, packte mich eine tolle Sehnsucht nach irgendeinem jauchzenden Ausbruch der Volksfreude.

Auch bei meinem Feiertag brach die helle, starke Freude nicht richtig durch. Emil kam wieder nicht.

Es ist entnervend, so Tag um Tag zu warten — umsonst zu warten.

Sie sind über alle Vorstellungen schwer, diese Tage.

Gegen Abend, nachdem Emil mir ein paar Zeilen hereingeschickt hatte, machte ich noch einen stillen Abendgang auf den Schloßberg. Der Regen hatte aufgehört. Es lugte wieder ein wenig Blau hervor. Es war um Sonnenuntergang. Und die Feuchtigkeitsnebel [53] legten sich blau und weich um die Stadt zu meinen Füßen. Es war etwas drinnen, wie es Küstenlandschaften am sehr frühen Morgen, vor Sonnenaufgang, haben.

Ich war ruhiger und stärker geworden. Und dachte an alle die Opfer, die jetzt jeder einzelne bringt. Und ich sagte mir, daß man sich diese große Zeit gar nicht so recht verdienen würde, wenn man nicht auch das Opfer bringt, das einem zu tiefst ans Herz greift.

Przemysl, den 13. Oktober 1914.

Zur allgemeinen Verlautbarung wird gemeldet, daß zum Entsatz der Kameraden in Przemysl die siegreichen Armeen Heraneilen.

„Vom 1.—9. Oktober verloren die Russen in Przemysl allein an Toten und Verwundeten über 40 000 Mann.“

Auch in Frankreich stehen die Schlachten auf dem Höhepunkt und die Entscheidung kann vielleicht in kurzem fallen.

Herr, Herr, segne unsere Waffen!

Schenke uns ein einziges großes, heiliges Siegerglück von Ost zu West, von West zu Ost!

Emil ist noch immer nicht da. Ich klammere mich an heute oder morgen. Ich kann nicht darüber reden — ich bin zu entnervt und müde — ich werde feige, wenn ich davon spreche.

Gott wird ihn mir gesund wiedergeben!

Przemysl, den 26. Oktober 1914.

Vierzehn Tage hat dieses Tagebuch geruht. Was für Tage! Die schwersten, die uns dieser Krieg bis her auferlegt hat.

[54] Am 13. abends kam Emil in Nacht und Nebel heim — krank! Mir löste sich ein Krampf von der Seele, wie er da war. Ich kam über der zitternden Freude, ihn wieder zu haben, gar nicht zum Bewußtsein, wie sehr ich gleichzeitig erschrak.

Die Nacht und der nächste Tag vergingen leidlich. Der Regimentsarzt kam sofort, sprach keine Befürchtung aus, verordnete Emil aber doch vorsichtshalber Cholerapulver und legte uns beiden Quarantäne auf.

Trotzdem war ich diesen Tag noch ganz heiter und ruhig. Ich desinfizierte am Morgen sofort alle Sachen, die Emil in den Cholerabaracken gehabt hatte, noch ein zweites Mal. Ich wollte es dem Diener nicht überlassen, weil er mir zu wenig verläßlich war. Emil lag zu Bett und der Tag verging ganz gut.

In der darauffolgenden Nacht jedoch fing ich mit denselben Symptomen an. Ich werde nie vergessen, wie mich Emil, im Bett aufgerichtet, entgeistert anstarrte !

Dieser 15. Oktober war ein jammervoller, grauenhafter Tag.

Wir sagten uns immer wieder, daß es bei mir nur die Reaktion der qualvollen Aufregung und als solche ganz natürlich sei. Die Nerven lassen eben einmal los.

Aber das Choleragespenst saß doch den ganzen Tag hohläugig zwischen uns. Dazu stand Emil noch unter den Eindrücken von Krowniki, dem furchtbaren Anblick der Kranken und Toten, von denen er jeden Tag einige, einmal sogar zehn an einem Tag, begraben. Er litt Todesqualen um mich.

Wir waren beide so schwach, daß wir kaum sprachen. Wir hielten uns nur bei den Händen. Am meisten quälte mich der Gedanke, daß man uns trennen würde, falls [55] wir wirklich cholerakrank werden sollten. Das war mir unsagbar qualvoll.

An diesem Tag fühlte man die Hand Gottes über sich.

Was war das für ein seliges, seliges Aufatmen, als die ersten 5 Tage, in denen bei einer Ansteckung die Krankheit zum Ausbruch kommt, überstanden waren.

Und als wir an einem goldenen Herbsttag unseren ersten Rekonvaleszenten-Spaziergang auf den Schloßberg machten, war der Tag so leuchtend wie keiner zuvor.


Przemysl, den 29. Oktober 1914.

Heute ist der Zugsverkehr über Chyrow-Sanok wieder aufgenommen worden. Es läuft täglich je ein Zug in beiden Richtungen. Auch die ersten Verwundetentransporte gehen ab.

Doch scheinen sich die Russen wieder an einigen Stellen an die Festung heranzudrängen, denn man hörte plötzlich untertags sehr nahen, lauten Kanonendonner.


Przemysl, den 31. Oktober 1914.

Heute um 1/25 Uhr nachmittags heißt es plötzlich, der Thronfolger kommt!

Eine Kompagnie mit Musik und Fahne zieht auf.

Man erzählt sich beunruhigt, daß die Russen bei Nowemiasto im Vorgehen sind, Bahn und Straße beschießen, das erzherzogliche Automobil dadurch zurückgehalten wird. Auch die Krankenzüge stehen auf der Strecke.

Endlich um 6 Uhr sausen fünf Automobile des Erzherzogs Karl Franz Josef, in eine Staubwolke gehüllt, durch die Franziskanergasse. [56] wir wirklich cholerakrank werden sollten. Das war mir unsagbar qualvoll.

An diesem Tag fühlte man die Hand Gottes über sich.

Was war das für ein seliges, seliges Aufatmen, als die ersten 5 Tage, in denen bei einer Ansteckung die Krankheit zum Ausbruch kommt, überstanden waren.

Und als wir an einem goldenen Herbsttag unseren ersten Rekonvaleszenten-Spaziergang auf den Schloßberg machten, war der Tag so leuchtend wie keiner zuvor.


Przemysl, den 29. Oktober 1914.

Heute ist der Zugsverkehr über Chyrow-Sanok wieder aufgenommen worden. Es läuft täglich je ein Zug in beiden Richtungen. Auch die ersten Verwundetentransporte gehen ab.

Doch scheinen sich die Russen wieder an einigen Stellen an die Festung heranzudrängen, denn man hörte plötzlich untertags sehr nahen, lauten Kanonendonner.


Przemysl, den 31. Oktober 1914.

Heute um 1/25 Uhr nachmittags heißt es plötzlich, der Thronfolger kommt!

Eine Kompagnie mit Musik und Fahne zieht auf.

Man erzählt sich beunruhigt, daß die Russen bei Nowemiasto im Vorgehen sind, Bahn und Straße beschießen, das erzherzogliche Automobil dadurch zurückgehalten wird. Auch die Krankenzüge stehen auf der Strecke.

Endlich um 6 Uhr sausen fünf Automobile des Erzherzogs Karl Franz Josef, in eine Staubwolke gehüllt, durch die Franziskanergasse. [57] müssen, zog er mich in seine Arme und fragte mich allen Ernstes, ob ich nicht noch morgen mit dem letzten Zug abreisen wolle.

Meine Antwort war kurz. Ich erwischte ihn nur beim Kopf und sagte: „Du —! Bin ich nicht gekommen um zu bleiben!“

Da lachte er mich mit stolzen Augen an und wir waren diesen Abend sehr glücklich.

Gestern gingen die letzten drei Züge weg und ab heute ist jeder Bahnverkehr wieder eingestellt. Es wurden in größter Hast alle Verwundeten, die nur einigermaßen transportfähig waren, weggeschafft, um die hiesigen Spitäler zu entlasten. Die Russen hatten vor einigen Tagen einen Vorstoß gegen die Bahnlinie Przemysl—Chyrow gemacht und den Bahnhof Nowemiasto zerstört. Unsere Verwundetentransporte mußten 40 Kilometer außerhalb der Festung aufgehalten werden, bis die Gefahr vorbei war.

Bei diesem Transport waren gerade die letzten meiner alten Freunde, der Triestiner ohne Arm, ein Welschtiroler von Castel Tesino, ein Cillier und der Winzer mit den 5 Kugeln. Ich war sehr erstaunt, wie ich ins Spital kam, auch ihn nicht mehr zu finden. Er war noch sehr elend und man fürchtet, daß er in Lungenschwindsucht verfallen wird. Aber er sehnte sich unsagbar nach Steiermark, und es war mir eine Erleichterung, ihn auf dem Weg dorthin zu wissen. Wenn er sich noch einmal aufrafft, so ist es am ehesten dort. Und stirbt er, so stirbt er daheim.

Solange die Verwundeten hier sind, hören sie immer noch den Kanonendonner in ihr Fieber hinein. Es ist schwer, gesund werden, wenn man vom Krankenbett aus die russischen Schrapnells heraufzüngeln und aufblitzen sieht. Es ist auch in unser Spital durchgesickert, [58] daß sich während der Belagerung im Garnisonsspital ein so gräßlicher Unfall ereignete.

Und hätte unsere Festungsartillerie nicht damals die feindliche Batterie sofort entdeckt und vernichtet, so wären wir nicht so leichten Kaufes davongekommen. Es ist herrlich und erschütternd zugleich, was diese treue Wacht da draußen Tag und Nacht für uns leistet!


Przemysl, den 7. November 1914,
     am 1. Tag der 2. Belagerung.

Heute erhalten wir Ziffern über die enormen Verluste des Feindes während des furchtbaren Ringens um die Festung in den ersten Oktobertagen.

Offiziell wird mitgeteilt, daß die Russen bei dem Sturm auf unsere Werke 70 000 Mann an Toten und Verwundeten zurückließen.

Gleichzeitig wird die Besatzung aufgefordert, bei einer zweiten Belagerung, die durch das notwendige Abziehen eines Teiles unserer Armee nach Russisch-Polen unvermeidlich geworden, denselben Heldengeist zu betätigen wie bisher.


Przemysl, den 8. November 1914,
     am 2. Tag der 2. Belagerung.

Nun sind wir schon wieder den zweiten Tag ohne Post und ohne Zeitung. Man sagt, das Postautomobil wird ab und zu hinausgehen, wenn die Strecke nach Sanok frei ist.

Die Russen sind im Süden der Festung schon sehr nahe. Von unseren verwundeten Offizieren wollten sich einige im Automobil abtransportieren lassen, aber das Festungskommando läßt es nicht zu, weil die Lage zu unsicher ist. Vorderhand schweigen die Geschütze, [59] nur hie und da dröhnt eine entfernte Salve über die Stadt.

Hier ergeht man sich in den verschiedensten Mutmaßungen. Die Pessimisten prophezeien eine zweite, monatelange Belagerung. Die Optimisten, wie wir, hoffen auf eine nicht zu ferne, große Entscheidung in Russisch-Polen, die auch auf den südlichen Flügel der Russen einen entscheidenden Einfluß haben und sie zwingen könnte, sich von Przemysl zurückzuziehen. Im übrigen scheint es, daß die Russen sich um Przemysl eingraben. Sie haben wohl das Nutzlose des letzten Sturmes eingesehen, wollen nicht noch einmal Hekatomben opfern und versuchen es diesmal, uns die Zufuhr abzuschneiden, um uns auszuhungern.

Heute wurden vom Festungskommando alle Geschäfte geöffnet, deren Inhaber nicht hier sind und der Inhalt für das Militär requiriert. Es fuhren ganze Züge von Wagen mit Tuchen, Schuhen, mit Herren-Zivilkleidern und den allerverschiedensten Dingen durch die Straßen. Auch die Privatwohnungen der Abgereisten wurden mit Ausnahme der Wohnungen der Offiziere noch einmal kommissionell untersucht auf Lebensmittel hin.

Neulich kamen mit Mamas Paket Wintersachen und Wäsche für die Mannschaft. Die Wäsche will ich für die Weihnachtsbeteiligung im Spital aufheben. Mit den Wintersachen aber ging ich in die Artilleriekaserne hinaus und schenkte sie der Besatzung unserer Werke. Wie hätten sich die Spenderinnen gefreut, wenn sie das Glück mit eigenen Augen mitangesehen hätten, das die warmen Wintersocken und Pulswärmer dort erregt! Schon unterwegs begegneten mir zwei Tiroler Landesschützen, mit beschmutzten erdbraunen Mänteln, müd und frierend, die Hände in die Ärmel gesteckt. Sie [60] kamen gerade aus dem Feuer. Ich gab jedem ein Paar Pulswärmer und ich habe nie Kinder zu Weihnachten glücklicher gesehen wie die beiden. Es war eine ordentliche Gier, mit der sie die Pulswärmer über die geschwärzten Hände zogen. Unmittelbar vor der Kaserne fand ich einen Mann vom Fort I, der hereingekommen war, Proviant zu fassen. Es ist das Fort, in das am 7. Oktober die Russen den tollkühnen Einbruch versuchten und wo sie von den Unseren mit Bajonettsturm hinausgeworfen wurden. Es war ein Ungar, wie ein großer Teil der Besatzung unserer Forts Ungarn sind. Doch haben wir außer den Polen auch die Landsturm-Artillerie des 3. Korps hier, Steirer, Kärntner, Krainer, Wiener und Tiroler. Wie der Mann die Wintersocken sah, wandte er kein Auge mehr von ihnen und flehte: „Sagen Sie mir, was sie kosten, ich zahl' alles, alles, so viel Sie wollen!“ Und dann dankte er mit Tränen in den Augen. „Gott wird sie Ihnen zahlen!" sagte er.

Es ist ganz merkwürdig, wie die Dinge hier ihren Wert verändern. Das Geld, das uns im Frieden so sehr beherrscht, ist hier eine fast geringschätzig behandelte Sache geworden. Jeder hat es, aber keiner kann es in das umsetzen, was er braucht. Ein paar Wintersocken, ein paar Pulswärmer, ein warmes Hemd, Dinge, die man sonst als selbstverständlich hinnimmt, werden jetzt zu kostbaren Schätzen. Denn in keinem Laden ist auch nur das geringste von Wintersachen mehr erhältlich.

Ein psychologisch interessantes Studium ist es auch, Offiziere, die ein Dutzend Hundertkronennoten in der Brieftasche haben, mitten im Gewühl sich drängender Menschen auf den Augenblick warten zu sehen, wo der einzige Zuckerbäcker, der noch Material zum Backen hat, die Hintertür öffnet und seine Päckchen zu 5 oder 10 Stück austeilt. Keiner weiß, was in diesen Päckchen [61] ist. Von Aussuchen ist schon längst keine Rede mehr. Man bekommt die Päckchen geschlossen, zu 5 oder zu 10 Stück. Keiner bekommt mehr oder weniger. Ich habe nur einen einzigen Ausdruck dafür. Die Leute zittern danach. Nie in meinem Leben hätte ich bei den raffinierten Genußmenschen des zwanzigsten Jahrhunderts dieses Zittern nach einem so primitiven Genuß für möglich gehalten. Das kann man sich nicht vorstellen. Das muß man gesehen haben.


Przemysl, den 10. November 1914,
     am 4. Tag der 2. Belagerung.

Bei der ersten Post, die uns nach der Belagerung zuging, war eine Karte einer meiner Freundinnen. Sie war von Ende September datiert. Meine Freundin schrieb mir verzweifelt, daß sie seit drei Wochen ohne Nachricht von ihrem Mann ist, der im Felde steht und ich suchen soll, hier etwas über ihn in Erfahrung zu bringen.

Es war wohl seit Ausbruch des Krieges kein Tag vergangen, wo ich nicht an die beiden gedacht hatte. Wir hatten uns schon oft nach ihm erkundigt, konnten aber lange Zeit nichts über ihn erfahren.

Wenige Tage nachdem die Karte meiner Freundin kam, finde ich in unserem Spital, schwerverwundet, einen Hauptmann desselben Regimentes. Es war ein merkwürdiges Zusammentreffen.

Ich fragte ihn um M.

„Oberleutnant Freiherr von M...,“ sagte der Hauptmann langsam und mühsam und nannte Regiment und Kompagnie, „Oberleutnant Freiherr von M... ist im September gefallen.“

Ich starrte ihn an, wie entgeistert. [62] Der Hauptmann griff nach seinen Aufzeichnungen. Dann gab er mir alle traurigen Details.

Ich war so erschüttert, daß ich in Tränen ausbrach. Ich dachte an meine Freundin, und das Herz wollte mir stille stehen.

Der Hauptmann fügte noch hinzu, wie Oberleutnant Freiherr von M... am Abend vor seinem Heldentod mit seiner Kompagnie als Verstärkung an eine schwer bedrohte Stelle herangezogen ward.

„Wie kann ich dir helfen?“ fragte er den Hauptmann.

„Geh an meinen rechten Flügel!“

Das waren die letzten Worte, die die beiden gewechselt haben. In derselben Nacht fiel Freiherr von M...

„Wir haben ihn tief betrauert," sagte der Hauptmann. „Wir haben ihn alle sehr gern gehabt — ein schneidiger junger Offizier.“

Ich war tagelang ganz wund —— immer sah ich meine Freundin vor mir und die beiden Kleinen.

Przemysl, den 11.November 1914,
     am 5. Tag der 2. Belagerung.

Ich hatte nicht den Mut, an meine Freundin zu schreiben. Immer noch klammere ich mich an den Gedanken, M. sei vielleicht nur schwer verwundet und liege irgendwo in einem Spital. Oder sei als Schwerverwundeter in Gefangenschaft geraten.

Es kommen in dieser Beziehung die seltsamsten und grausamsten Spiele des Zufalls vor. Der Hauptmann, der mir dies alles mitgeteilt, hat sich selbst in der Liste der Gefallenen gelesen. Ebenso ein Oberleutnant, den man bei seinem Regiment als „gefallen“ gemeldet. Sein Offiziersdiener sah ihn fallen und hielt ihn für tot. Er nahm alles, was er darin fand, aus den [63] Taschen seines Herrn und gab es beim Regimentskommando ab. Dort wurde der Oberleutnant als „tot“ ausgewiesen. Er erhielt jetzt die Briefe seiner Braut und seiner Eltern mit dem Blaustiftvermerk zurück „tot“.

Darum kann ich an meine Freundin nicht schreiben — immer wieder sage ich mir, es muß ein furchtbarer, grausamer Irrtum sein.

Doch schrieb ich sofort an den Fähnrich, der in jener Nacht, wo Freiherr von M... fiel, an seiner Seite gekämpft hat.

Und nun schneidet mir die 2. Belagerung wieder die Möglichkeit ab, diese Antwort zu erhalten.

Fast ist es mir eine Erleichterung, muß wirklich das Furchtbarste gesagt sein, so ist es noch früh genug.

Przemysl, den 11.November 1914,
     am 6. Tag der 2. Belagerung.

Seit einer Woche brennen 16 Dörfer. Sielec, Krasice, Brylince, Rokszyce, Olszany und wie sie alle heißen. Die Abende sind blutrot, und von der Sanbrücke aus kann man den Feuerschein sehen.

Auch diese Dörfer von unseren Truppen niedergelegt und angezündet, um freien Ausschuß zu haben oder dem Feinde keine Deckung zu geben.

Die meisten Bauern, die dort hausten, sind mit den letzten Zügen abgeschoben worden, aber manche irren noch herum und suchen ihr Dorf. In den verlassenen Dörfern verwildern die Katzen. Man soll nachts schon von weitem das Glühen ihrer Augen sehen, wenn sie durch die Trümmer der verbrannten Häuser irren. Wie oft bringen Offiziere, in ihren Mantel geschlagen, [64] verloren gegangene Kinder aus den Dörfern herein.

Da saß mitten im Schrapnellregen ein dreijähriger Junge mutterseelenallein, lachend und spielend im Feld. Die Soldaten, die ihn fanden, konnten nichts weiter aus ihm herausbringen als: „Babbo, Amerika!“ Man brachte den Kleinen einstweilen ins städtische Waisenhaus und später will man ihn in eine Militärerziehungsanstalt geben.

Ein anderer elfjähriger Junge ist fast täglich in Felduniform bei unseren Mannschaften zu sehen, wie er mit ihnen Menage fassen geht. Sein Vater ist Offizier, steht im Feld. Bei der Räumung Lembergs wollte die Mutter mit dem Kleinen aus Lemberg flüchten und erlag vor Aufregung am Bahnhof einem Schlaganfall. Nun vertritt einstweilen das Offizierskorps Vaterstelle an ihm.

Die Waisenhäuser sind voll von Kindern, die auf der Flucht ihre Eltern verloren haben. Ab und zu bringt man verwundete Kinder aus den Dörfern in die Spitäler herein.

Przemysl, den 13.November 1914,
     am 7. Tag der 2. Belagerung.

Heute war ich bei Sonnenuntergang auf dem Schloßberg. Es war ein düster-prächtiges Bild. Das Tal lag flußaufwärts in tiefvioletten Tinten. Dahinter stand der Himmel in dunklem Rot. In jeder Windung des San glomm dieses Rot auf wie Blut. Ein paar Gipfel türmten sich auf, von Wolken umdräut. Und im äußersten Westen ragten die Schanzen des Schloßberges in einen hellgelben Himmel. Ein Maeterlinck-Schloß — das Schloß des Tintageles, schwarz, überlebensgroß [65] lebensgroß, jäh abstürzend in die Tiefe, von den Einschnitten der Schanzgräben wie von einem Kranz gezackter Zinnen gekrönt. Ein Hintergrund für überlebensgroße Tragödien.

Przemysl, den 14.November 1914,
     am 8. Tag der 2. Belagerung.

Ich will hier eine kurze Beschreibung der Stadt Przemysl einflechten, um denen, die sie nicht kennen, einen allgemeinen Begriff davon zu geben.

Da man mit Ausbruch des Krieges alle Stadtpläne und Führer durch Przemysl konfiszierte und manches jetzt schwer oder gar nicht zugänglich ist, muß ich mich hier mit einem flüchtigen Bild begnügen.

Die Stadt Przemysl, die nach der Volkszählung von 1910 57 000 Einwohner zählt, liegt anmutig zu beiden Seiten des San, der sie von Westen nach Osten durchzieht. Das Bett des San ist breit, das Wasser seicht, im Sommer aufs vergnügteste von Badenden und Ruderern belebt. Da man Wassertemperaturen von 24 Grad Celsius und mehr hat, badet man bei schönem Wetter von Mai bis Mitte September.

Den San überwölben drei große Brücken, eine davon die Eisenbahnbrücke, und verbinden die Vorstadt Zasanie mit dem alten Zentrum der Stadt, am Fuße des Schloßberges. Von der Hauptbrücke aus hat man einen sehr anziehenden Blick auf die vielfach getürmte Stadt, die sich amphitheatralisch den Schloßberg hinaufbaut und deren malerische Türme und Kuppeln als harmonischer Abschluß in den blauen Himmel steigen.

Dort oben, an einem der höchsten Punkte der Stadt, steht die altertümliche römisch-katholische Kathedrale mit dem getrennt stehenden Glockenturm, etwas unterhalb [66] lebensgroß, jäh abstürzend in die Tiefe, von den Einschnitten der Schanzgräben wie von einem Kranz gezackter Zinnen gekrönt. Ein Hintergrund für überlebensgroße Tragödien.

Przemysl, den 14.November 1914,
     am 8. Tag der 2. Belagerung.

Ich will hier eine kurze Beschreibung der Stadt Przemysl einflechten, um denen, die sie nicht kennen, einen allgemeinen Begriff davon zu geben.

Da man mit Ausbruch des Krieges alle Stadtpläne und Führer durch Przemysl konfiszierte und manches jetzt schwer oder gar nicht zugänglich ist, muß ich mich hier mit einem flüchtigen Bild begnügen.

Die Stadt Przemysl, die nach der Volkszählung von 1910 57 000 Einwohner zählt, liegt anmutig zu beiden Seiten des San, der sie von Westen nach Osten durchzieht. Das Bett des San ist breit, das Wasser seicht, im Sommer aufs vergnügteste von Badenden und Ruderern belebt. Da man Wassertemperaturen von 24 Grad Celsius und mehr hat, badet man bei schönem Wetter von Mai bis Mitte September.

Den San überwölben drei große Brücken, eine davon die Eisenbahnbrücke, und verbinden die Vorstadt Zasanie mit dem alten Zentrum der Stadt, am Fuße des Schloßberges. Von der Hauptbrücke aus hat man einen sehr anziehenden Blick auf die vielfach getürmte Stadt, die sich amphitheatralisch den Schloßberg hinaufbaut und deren malerische Türme und Kuppeln als harmonischer Abschluß in den blauen Himmel steigen.

Dort oben, an einem der höchsten Punkte der Stadt, steht die altertümliche römisch-katholische Kathedrale mit dem getrennt stehenden Glockenturm, etwas unterhalb [67] durch moderne 2—3 Stock hohe Neubauten zu ersetzen.

Daneben wieder uralte Viertel. Da ist besonders das sogenannte Judenviertel, von dessen höhlenartigen, tiefen, dunklen Häusern ich bereits gesprochen habe. Die Häuser hoch, die Gassen eng und düster, mit kleinen Butiken und Kramläden. Auf einem unregelmäßigen kleinen Platz, unweit der Synagogen, eine große Zahl armseliger offener Holzbuden, wo die Juden mit den ruthenischen Bäuerinnen handeln. Hier wird alles gehandelt, womit man überhaupt handeln kann. Die schwarzen, zerrissenen Kaftans glänzen speckig und tragen die Spuren von all dem, womit der Besitzer hantiert. Hier geht es die ganze Woche sehr lebhaft zu. Die Bäuerin wählt, verwirft, feilscht, und der Jude preist an, marktet und schachert mit der ganzen Zähigkeit und Virtuosität, deren nur ein Jude fähig ist.

Einige Schritte weiter steht ein orthodoxes jüdisches Bethaus und noch ein zweites altertümliches Bethaus, das 600 Jahre alt ist und auf das ich noch näher eingehen werde. Daneben noch ein moderner Tempel aus rotem Backstein. Außerdem besitzen die Juden noch andere Bethäuser und eine neue, ziemlich prunkvolle, aber mit Geschmack erbaute Synagoge in mauretanischem Stil, in der Slovackigasse.

Przemysl hat schöne Anlagen und Spaziergänge. Der Franz-Josef-Kai am rechten Ufer des San bietet ein anziehendes Bild von Fluß und Stadt. Das schönste aber sind die sehr ausgedehnten alten Schloßberganlagen, von denen ich bereits wiederholt gesprochen habe und die einen ungemein anmutigen Blick aus den Oberlauf des San, gegen Westen und Norden, gewähren. Das alte Schloß aus der Polenzeit, mit dem malerischen Rundturm, wird in Friedenszeiten als Sommertheater, [68] jetzt aber zur Unterbringung der russischen Gefangenen benützt. Es geht im Volk die Sage, daß Attila hier begraben liegt.

Der Tartarenhügel mit den Tartarengräbern dominiert die Stadt im Süden. An seinem Ostabhang liegt der katholische und der israelitische Friedhof, mit schönen alten Bäumen, stellenweise so überwachsen und wuchernd, daß er einem Walde gleicht. Hier haben während des Sturmes vom 4. bis zum 7. Oktober die russischen Schrapnells besonders gehaust.

Przemysl ist der Sitz zahlreicher Behörden. Der Bezirkshauptmannschaft, des Kreisgerichtes, Bezirksgerichtes, eines römisch-katholischen Bischofs, eines griechisch-katholischen Bischofs, einer Finanzbezirksdirektion und der schon erwähnten militärischen Kommanden, des Festungskommandos, eines Platz-Korps- und Divisionskommandos. Auch in Friedenszeiten ist die Garnison groß.

Die Schulen und Bildungsanstalten sind der Verschiedenheit der Konfessionen und Sprachen zufolge, die sich hier begegnen, sehr zahlreich. Hier trifft sich West- und Ostgalizien, die Polen und die Ruthenen. Die Polen, zum Großteil römisch-katholisch, die Ruthenen dagegen gehören der griechisch-katholischen Kirche an. Dazu kommt die große Zahl der Juden und einige wenige Protestanten. Früher waren alle Schulen gemeinsam, und zwar polnisch. Doch als sich seit 10 bis 15 Jahren der Nationalsinn der Ruthenen, falsch beeinflußt von Rußland, zu regen begann, entstand eine Spaltung zwischen ihnen und den Polen. Sie bauten sich eigene ruthenische Gymnasien, theologische Lehranstalten, Mädcheninstitute und Studentenheime. Ja, diese Trennung geht so weit, daß die Ruthenen [69] nur mehr in ruthenischen Geschäften kaufen, und die polnische und die ruthenische Gesellschaft, die früher untereinander verkehrte, sich jetzt streng voneinander sondert. Es wird als Nationalsünde angesehen, wenn ein Pole eine Ruthenin heiratet oder umgekehrt.

Auf die moderne Ausbildung der Mädchen wird hier viel Wert gelegt. So besitzt Przemysl ein Mädchengymnasium, zwei Lehrerinnenbildungsanstalten, ein Lyzeum, einige Bürgerschulen, eine Mädchen- und Knaben-Gewerbe- und Handelsschule.

Daß die Bevölkerung und die Garnison wohlhabend und lebenslustig ist, sieht man sogar jetzt noch an dem wenigen, was in den eleganten Schaufenstern der gut ausgestatteten Läden geblieben ist.

Jetzt ist die freundliche Sanstadt mit dem orientalischen Einschlag, bisher in der Welt unbekannt, mit einem Schlag in den Mittelpunkt der Geschichte gerückt.

Und so Gott will, wird sie ihre 10. Belagerung — denn sie wurde im Laufe der Jahrhunderte von den Russen, Walachen, Siebenbürgern, Ungarn, Schweden, Rumänen, Kosaken und Tartaren belagert — im Angesichte der ganzen Welt, dank ihrer heldenmütigen Besatzung, glorreich bestehen!

Przemysl, den 14. November, abends.

Eben bringt mein Mann eine Freudenbotschaft nach Hause. Zwischen Jaroslau und Rzeszow soll eine große Schlacht stattgefunden haben, in der wir die Russen geschlagen und 25 000 Mann gefangen genommen haben.

Großer Jubel und gespannte Erwartung einer offiziellen Bestätigung dieser großen Nachricht!

[70] Przemysl, den 15. November 1914,
     am 9. Tag der 2. Belagerung.

Seit dem Sturm auf die Magiera haben wir in unserem Spital einen russischen Hauptmann liegen. Er hat einen schweren Schuß durch Hals und Wange und konnte längere Zeit nicht sprechen.

Neben ihm liegt ein österreichischer Leutnant, den man mit demselben Transport ebenfalls von der Magiera brachte. Er hat merkwürdigerweise fast dieselbe Verwundung wie der russische Hauptmann.

Unsere verwundeten Offiziere sind gut und warm zu dem Russen, und einem von ihnen fiel ein, dem russischen Hauptmann Obst zu schicken. Doch war derselbe noch nicht weit genug, um sprechen oder essen zu können. Er schickte daher das Obst wieder zurück und legte folgenden, mühsam mit Bleistift gekritzelten Zettel dazu.

Liber Kamerad! Ser Dank für köstliches Geschenk. Mir nicht nützen, söne Birne nicht essen können, erst bis mer gesund, viel Dank und Gruß

Dein russischer Hauptmann N. N.     

Einige Wochen später waren der russische Hauptmann und der österreichische Leutnant, die beide fast dieselbe Verwundung bei dem Sturm auf die Magiera davongetragen hatten, auf dem Wege der Besserung. Wie sie wieder sprechen konnten, begannen sie ihre Kriegserlebnisse auszutauschen. Da kamen vor allem die letzten Kämpfe auf der Magiera zur Sprache, wo beide verwundet worden. Und da stellten die beiden zur allgemeinen Überraschung fest, daß gerade sie sich während der letzten Tage des Gefechtes unmittelbar gegenüber gestanden, sich von Stellung zu Stellung [71] gefolgt waren und sich immer wieder von neuem wütend ineinander verbissen.

Auf beiden Seiten war der Kampf unter größten Verlusten, mit zähester Ausdauer und Tapferkeit geführt worden, bis der Hauptmann und der Leutnant verwundet fielen.

Nun fanden sie sich hier nebeneinander wieder. Es ging ein nachdenklicher Zug über beider Gesichter. Beide schwiegen eine ganze Weile.

Dann richtete sich der österreichische Leutnant ein wenig im Bett auf und reichte dem Russen die Hand hinüber:

„Hier endet jeder Kampf. Machen wir unseren Frieden, Kapitän!“ —

Was für sonderbare und herzerschütternde Spiele des Schicksals sieht man täglich hier mit an.

Eines Tages brachte man uns einen Honved-Offizier ins Spital. Durch jedes Bein einen Schutz, zwei Streifschüsse am Kopf. Er war zusammengebrochen und als tot liegen geblieben. Man hatte ihm seine Papiere abgenommen und ihn beim Regiment als „gefallen“ gemeldet.

In der Nacht kam er zu sich und fand sich allein, auf offenem Feld, im wütenden Kreuzfeuer russischer und österreichischer Schrapnells und Granaten. Niemand hörte ihn rufen. Keine Deckung weit und breit, zu der er sich hätte schleppen können. Wie die Schrapnells über ihn hinpfiffen, den Boden rings um ihn furchten, griff er nach der Offizierskappe, die neben ihm lag, begann fieberhaft Erde aufzuwühlen. Die Nägel bluteten ihm; er raffte die Erde mit der Mütze zusammen, und es gelang ihm, sich wenigstens teilweise einzugraben. Ein paar Augenblicke später schlug [72] eine Granate in nächster Nähe von ihm ein, daß das Erdreich, das er um sich aufgehäuft hatte, davonstob.

Dann liegt er wieder stundenlang, verliert ab und zu vor Schwäche das Bewußtsein. Endlich, am Morgen, findet ihn einer unserer Leute. Der Mann will den Offizier aufnehmen, zu unserem nächsten Schützengraben tragen. Der Leutnant ist zu schwer, der Soldat kann's nicht leisten und ruft einen zweiten. Sie nehmen den Leutnant in die Mitte, machen 20 Schritte mit ihm unserer Linie entgegen. Da beginnen wieder die Kugeln der Russen zu pfeifen. In die Brust getroffen stürzt der Soldat, der ihn gefunden, neben dem Leutnant zusammen.

Der zweite läuft um Hilfe.

Und wieder beginnt das fürchterliche, das einsame Warten, während rings die Kugeln einschlagen. Ewigkeiten dünkt es dem Verwundeten.

Dann kommen zwei auf ihn zu, der eine nimmt ihn unter den Armen, der zweite bei den Beinen. Sie schleppen ihn weiter, hastig stolpernd über die Schollen der Felder. So geht es ein paar Minuten. Granaten wühlen sich unweit von ihnen in den Boden. Schrapnells streuen ihren Todeskegel.

Eine vereinzelte Flintenkugel singt übers Feld. Der vordere Mann, der den Leutnant trägt, bricht lautlos in die Knie. Dann fällt er aufs Gesicht, in die Stirn getroffen.

Der Verwundete ist allein mit dem Toten. Und wieder beginnt das fürchterliche, das einsame Warten, während rings die Kugeln einschlagen. Ewigkeiten dünkt es dem Leutnant — unerträglich.

Ein herrenloses Pferd kommt an dem Verwundeten vorbei. Die Zügel schleifen am Boden. Der Leutnant greift nach ihnen, lockt das Pferd. Es wendet den Kopf [73] nach ihm und bleibt stehen. Mit letzter Kraft erfaßt er den Halfter, richtet sich auf, stützt sich mit der linken Hand auf den Säbel. So schleppt er sich weiter, unserer Front zu, Schritt um Schritt, mit zusammengebissenen Zähnen, von Zeit zu Zeit überfällt ihn eine jähe Schwäche, daß er zusammenzubrechen meint. Eiskalter Schweiß überrieselt ihn. Er muß weiter — er muß. Die Kugeln pfeifen.

Das Pferd bleibt stehen, rührt sich nicht vom Fleck. Der Leutnant ruft es, lockt es, es tut keinen Schritt nach vorwärts.

Dann wiehert es, geht um den Verwundeten herum und bleibt dicht an seiner anderen Seite. Wieder faßt er den Halfter, stützt sich mit der anderen Hand auf den Säbel und es geht weiter.

Ein Schrapnell reißt den Boden auf, streut seine Splitter. Das Pferd, das den Leutnant mit seinem Körper gedeckt, stürzt zu Tode getroffen.

Wie ihn die Sinne verlassen, fühlt der Leutnant Menschen um sich. Man bettet ihn auf eine Tragbahre, trägt ihn fort.


Przemysl, den 16.November 1914,
     am 10. Tag der 2. Belagerung.

Am Schabbes war ich in der Synagoge und im alten orthodoxen Bethaus. Ich hätte nicht von Przemysl weggehen dürfen, ohne das gesehen zu haben. Besonders der Gottesdienst im Bethaus war eigenartig und malerisch.

Erst gingen wir in die Synagoge. Hier halten die modernen, freigeistigen Juden ihren Gottesdienst. Das Gebäude ist ein ziemlich nüchterner, moderner Bau aus rotem Backstein. Der geräumige Tempel war fast leer, denn zu den modernen Juden gehören die meisten [74] reichen Juden, die Beamten, Ärzte, Advokaten, mit einem Wort die geistige Aristokratie. Und die haben fast alle noch vor der ersten Belagerung Przemysl verlassen.

Merkwürdigerweise sind die Riten ihres Gottesdienstes ganz dieselben wie im orthodoxen Bethaus. Nur sah man bei den Modernen zum schwarzen Anzug, Kaftan und Gebettuch den hohen Wiener Zylinder, was unkünstlerisch und störend wirkt, um so mehr, da sie während des Gottesdienstes den Hut auf dem Kopfe behalten.

Doch ich will in kurzem den Gang des Gottesdienstes festhalten.

Der Mittelpunkt des Gottesdienstes ist die „Thora“, das ist das alte Testament. Es ist auf einer gut meterhohen Pergamentrolle in winzigen hebräischen Lettern aufgezeichnet. Diese riesige Rolle, die auf zwei Stäben aufgerollt ist, befindet sich in einer roten Samthülle mit goldenen hebräischen Inschriften. An der Spitze der Rolle befindet sich ein silberner durchbrochener Aufsatz, in dem die Spitzen der beiden Stäbe stecken.

Der Gottesdienst beginnt damit, daß im Hintergrund der Synagoge, dem Hauptaltar, ein schwerer violettsamtener Vorhang zur Seite gezogen wird. Hinter diesem Vorhang erblickt man zwei weiße Flügeltüren, die sich öffnen. Der Kantor im schwarzen Anzug, in das Gebettuch, ein hellgraues Tuch mit dunkelblauen Streifen am Rande, gehüllt, entnimmt die Thora dem Altar. Er geht damit zu einem roten Samtpult, das erhöht auf einer Estrade steht. Dort rollt der Kantor mit Hilfe eines zweiten die Thora auseinander und beginnt das Stück aus dem alten Testament, das für den betreffenden Schabbes bestimmt ist, laut vorzulesen. Die Thora mutz nämlich im Verlaufe eines [75] Jahres einmal durchgelesen werden. So ist für jeden Schabbes ein bestimmtes Stück daraus zu lesen. Dieses Lesen aus der Thora ist eigentlich kein Lesen in unserem Sinn. Es ist eine Art eigentümlicher Gesang.

Nun folgt das „Opfer“. Jeder der beim Gottesdienste anwesenden Männer — die Frauen befinden sich auf der Galerie und sind vom Opfer und einer aktiven Beteiligung am Gottesdienste ausgeschlossen — kann, wenn er will, opfern. Dies ist der Hauptteil des Gottesdienstes. Nun begibt sich einer der Gläubigen nach dem anderen hinaus aus die Estrade, stellt sich neben dem Kantor an das Betpult und liest mit ihm ein Stück aus der Thora. Dieses Opfer besteht aber gleichzeitig in einem Geldopfer von mindestens 18 Kreuzern für den Ärmsten und unbestimmter Höhe für den Reichen. Es sollen oft Hunderte von Kronen von einem einzelnen gegeben werden. Doch wird das Opfer nicht sofort dort erlegt, sondern nachträglich zu Hause einkassiert. Von dem Alter von 13 Jahren an kann man sich am Opfer beteiligen. Der Gottesdienst kann überhaupt nur abgehalten werden, wenn mindestens zehn opfern. Nach jedem Opfer singt der Kantor einen kurzen Gesang und dann kommt der Nächste zum Opfer.

So hat der Gottesdienst keine vorgeschriebene Länge, sondern dauert verschieden lang, je nachdem wie viele opfern.

Nach dem Opfer wird die Thora wieder in die Samthülle gerollt und in eine Nische seitwärts vom Altar gestellt. Nach einigen Zeremonien und Gesängen wird sie von dort wieder geholt, noch einmal aufgerollt, und nun liest der Kantor noch einmal allein die Thora.

Hierauf macht der Kantor mit der Thora im Arm eine Runde durch die ganze Synagoge und bietet sie [76] Jahres einmal durchgelesen werden. So ist für jeden Schabbes ein bestimmtes Stück daraus zu lesen. Dieses Lesen aus der Thora ist eigentlich kein Lesen in unserem Sinn. Es ist eine Art eigentümlicher Gesang.

Nun folgt das „Opfer“. Jeder der beim Gottesdienste anwesenden Männer — die Frauen befinden sich auf der Galerie und sind vom Opfer und einer aktiven Beteiligung am Gottesdienste ausgeschlossen — kann, wenn er will, opfern. Dies ist der Hauptteil des Gottesdienstes. Nun begibt sich einer der Gläubigen nach dem anderen hinaus aus die Estrade, stellt sich neben dem Kantor an das Betpult und liest mit ihm ein Stück aus der Thora. Dieses Opfer besteht aber gleichzeitig in einem Geldopfer von mindestens 18 Kreuzern für den Ärmsten und unbestimmter Höhe für den Reichen. Es sollen oft Hunderte von Kronen von einem einzelnen gegeben werden. Doch wird das Opfer nicht sofort dort erlegt, sondern nachträglich zu Hause einkassiert. Von dem Alter von 13 Jahren an kann man sich am Opfer beteiligen. Der Gottesdienst kann überhaupt nur abgehalten werden, wenn mindestens zehn opfern. Nach jedem Opfer singt der Kantor einen kurzen Gesang und dann kommt der Nächste zum Opfer.

So hat der Gottesdienst keine vorgeschriebene Länge, sondern dauert verschieden lang, je nachdem wie viele opfern.

Nach dem Opfer wird die Thora wieder in die Samthülle gerollt und in eine Nische seitwärts vom Altar gestellt. Nach einigen Zeremonien und Gesängen wird sie von dort wieder geholt, noch einmal aufgerollt, und nun liest der Kantor noch einmal allein die Thora.

Hierauf macht der Kantor mit der Thora im Arm eine Runde durch die ganze Synagoge und bietet sie [77] Es war ein seltsam phantastisches Bild, wie aus einem Märchen von „Tausend und eine Nacht“. Ich kann es nur durch den Ausdruck „orientalisch“ kennzeichnen.

Aus einem engen Kirchenschiff stiegen vier Säulen auf, unmittelbar vor meinen Augen türmten sie sich auf in wuchtigen, gewaltigen Dimensionen. Diese Säulen, von einem matten, tiefdunklen Grünblau, trugen eine Art Kapelle oberhalb des Altares, der an einer Langseite ganz unregelmäßig im Betraum steht. In der Höhe meiner Augen verzweigten sich die Säulen in vielfach durchgearbeitetes, durchbrochenes Astwerk. Dazwischen Felder mit gut erhaltenen Fresken, die so alt sein sollen wie der Bau. Der ganze Plafond des Bethauses trägt diese Fresken und vielerlei Skulptur.

Unten fiel ein Lichtstrahl durch die Fenster auf den silbernen Aufsatz der Thora und ließ den roten Samt warm aufleuchten. Das übrige Kirchenschiff lag im Schatten. Die Gläubigen, in die hellen Gebettücher gewickelt, standen und saßen eng aneinander gedrängt. Fast grell erschienen die grauweißen Tücher gegen die dunklen Marderbaretts. Viele hatten das Gebettuch über die Marderkappe gezogen, hüllten ihr Gesicht hinein und nickten ununterbrochen mit den Köpfen.

Ich weiß nicht, was ich in diesem Augenblick darum gegeben hätte, Maler zu sein und dieses Bild festhalten zu können! Hier war alles stimmungsvoll, harmonisch, nicht das geringste Fremde, von außen hineingetragen. Es war echt bis in die Wurzel hinein und wurde mir hier sofort als Gottesdienst begreiflich.

In dieses Bethaus gehen fast nur die Armen. Unmittelbar bevor wir kamen, hatte der Rabbiner hebräisch, polnisch und deutsch zu ihnen gesprochen. Er sprach ihnen von der großen Not im Lande und wie [78] jeder sein letztes Hemd geben müsse, um die Soldaten zu kleiden und die Heimatlosen. Daß jetzt nicht die Zeit ist, Geschäfte zu machen und Kapital aus der Not zu schlagen. Weh dem, der einkauft um 30 Kreuzer, um zu verkaufen um 70!

Wie wir kamen, wurde gerade ein hebräischer Gesang angestimmt, und es war ein verzweifeltes Schluchzen in den Bänken der Frauen.

Und die gleiche wilde, unerlöste Klage war in ihren Sängen, wie in der Klage des Jeremias.


Przemysl, den 20.November 1914,
     am 14. Tag der 2. Belagerung.

Die große Nachricht von einem Sieg der Unseren bei Jaroslau und Rzeszow hat noch immer keine offzielle Bestätigung gefunden.

Dafür kam aber die Freudenbotschaft eines Sieges der Deutschen bei Plock und der Gefangennahme von 30 000 Russen. Damit scheint die Offensive in Russisch-Polen eröffnet zu sein.

Und gestern kam als schönes Geburtstagsgeschenk für mich noch die Nachricht von unserem großen Sieg in Serbien, der Einnahme von Valjevo und des nahe bevorstehenden Falles von Belgrad! Hurra!

Gestern flatterten unkontrollierbare Gerüchte auf, daß die Franzosen im Begriff seien, Friedensverhandlungen mit Deutschland einzuleiten. Aber niemand weiß Bestimmtes.

Przemysl liegt still und tief eingeschneit. Es hat die ganze Nacht geschneit und schneit noch fort. Das Gärtchen und die hohen Tannen vor unseren Fenstern sind dicht mit Schnee beladen, und die Türme der Franziskaner-Kirche haben scharfe, weiße Konturen.

[79] Hie und da dröhnt in diese weiße Stille eine Salve hinein. Das sind unsere Forts in der Richtung auf Kruhel wielki. Es scheint aber, daß die Russen noch nicht antworten. Sie liegen ruhig eingegraben und greifen nicht an. Die 70 000 Toten jenes grauenhaften Sturmes vom Oktober sind ihrem Bewußtsein noch zu lebendig.

Nur die Bahnen haben sie uns abgeschnitten, und so sind wir seit 14 Tagen wieder ohne Post. Man spricht davon, daß man in den nächsten Tagen einen Versuch mit einem Postauto wagen will oder eventuell einen Teil der wichtigsten Post mit Aeroplan befördern, wie es während der ersten Belagerung schon ab und zu geschah. Gestern konnte ich eine Karte an Mama einem Fliegeroffizier mitgeben, und es ist mir eine große Beruhigung, daß sie nun nicht so lange ohne Nachricht bleiben wird.

Gestern feierten wir meinen Geburtstag. Es war ein so überreicher Geburtstag, daß man sich wahrhaftig nicht in einer belagerten Festung hätte vermuten können. Mein Liebster trug in verdoppelter Liebe und Treue alles zusammen, was mir Freude machen konnte, um mir über die fehlenden eigenen vier Wände und über das Ausbleiben der Post hinwegzuhelfen.

Und so war es ein guter, schöner Kriegsgeburtstag, voll Dankbarkeit, daß uns Gott beisammen sein läßt in dieser schweren Zeit.

Am Morgen weckten mich Salven, und ich meinte im Halbschlaf, es seien die Kaisersalven, die vom Kalvarienberg in Marburg herunterbrummen, und die mich an so vielen Geburtstagen daheim geweckt hatten.

Nur war ihre Stimme schärfer und eindringlicher.

Ein ernster Gruß von treuen Wächtern!


[80] Przemysl, den 21. November 1914,
     am 15. Tag der 2. Belagerung.

Seit wir nun schon zum zweitenmal einzig und allein auf unsere eigenen Hilfsquellen angewiesen sind, sind wir damit dem Urzustand um einen guten Schritt näher gekommen.

Wir kaufen nicht mehr, wir tauschen!

Wenn der Menageoffizier eine Fahrt ins Festungsgebiet macht, um zu versuchen, in den wenigen Dörfern, die verschont geblieben sind, Kälber und Schweine, Geflügel, Eier und Butter aufzutreiben, so nimmt er aus dem Verpflegsmagazin dafür Zucker, Salz, Petroleum und Zündhölzer, eventuell auch Mehl zum Tausche mit. Denn er weiß sehr gut, daß ihm keiner im Dorf für Geld etwas gibt. Was sollen die Leute mit Geld, wenn sie nichts dafür bekommen? Denn das Verpflegsmagazin gibt in den ersten drei Monaten von seinen sehr reichen Vorräten nur an das Militär und die Spitäler ab. Erst später wird auch die Zivilbevölkerung mit Proviant unterstützt.

Ab und zu kommt noch eine Bäuerin mit ein paar Litern Milch oder einigen Eiern in die Stadt. Sie trägt sie versteckt, geht damit in die Häuser und fragt, wer tauschen will. Nur dann gibt sie ihre Sachen her. Das am meisten zum Tausche Begehrte ist Zucker, Salz, Zündhölzer und Petroleum.

Nur am Ringplatz stehen morgens noch ein paar Leute, die ihren Grund dicht an der Stadtgrenze haben. Sie bringen Gemüse und Äpfel und nehmen noch allerdings sehr hohe Bezahlung.

Ich bringe hier zur Erläuterung der Preissteigerung eine Preisliste. Sie bringt die Durchschnittspreise, die in Przemysl vor Ausbruch des Krieges bezahlt wurden [81] und die sehr niedere waren. Zum Vergleiche setze ich die Preise daneben, die während der 2. Belagerung, d. h. in diesem Augenblick gezahlt wurden.


Vor Ausbruch
   
Während der
 
des Krieges:
2. Belagerung:
       
1 kg Rindfleisch, vorderes 1 K 60 h    2 K 10 h
1 kg Kalbsbraten 1 K 20 h    2 K 10 h
1 kg Schweinsbraten 1 K 60 h nicht mehr zu erhalten
1 kg Schweineschmalz 1 K 80 h nicht mehr zu erhalten
1 kg Butter 2 K 40 h
10 K!
Teebutter
    nicht mehr zu haben  
1 kg Mehl       40 h    1 K 10 h
1 kg Reis       44 h    1 K 60 h
1 kg Salz       20 h    1 Kh
1 kg Würfelzucker       84 h    4 Kh
1 Ei         7 h          20 h
    nur mehr Kalkeier  
100 kg Kartoffeln 8 Kh   20 Kh
1 Laib Brot       56 h    1 Kh
1 l Milch       20 h          80 h
    sehr schwer zu bekommen  
1 l Bier       52 h nicht mehr erhältlich  
1 l Spiritus       56 h    3 K 20 h
    sehr schwer erhältlich  
1 l Petroleum       24 h    1 K 20 h
1 Packet Zündhözer       14 h    1 Kh
(10 Schachteln)
  sehr schwer erhältlich  
1 kg Äpfel       30 h    1 K 60 h
1 Meterzentner Holz 3 K 20 h nicht mehr erhältlich  
100 kg Kohle 3 K 50 h nicht mehr erhältlich  


Die Bemerkung „nicht mehr erhältlich“ bezieht sich nur auf den privaten Geschäftsverkehr und nicht auf das Militärverpflegsmagazin, wo reiche Vorräte sich befinden.

Gegen Ende der 1. Belagerung waren im Handeinkauf nicht mehr zu erhalten: Germ, Teebutter, Semmel, von Brot nur Kommißbrot, alle Wurstarten, Schinken und Käse, Weine, Bier, Schnäpse, Rum, Kognak, Zigaretten, Herren-Wintersachen jeder Art.


[82] Przemysl, den 24. November 1914,
     am 17. Tag der 2. Belagerung.

Eine Honvedkapelle marschiert auf den Ringplatz. Sie macht halt, reiht sich zu einem Kreis, und der Kapellmeister tritt in die Mitte.

Er hebt den Taktstock, die Musik setzt ein. Warm und voll schmettern die Klänge eines Marsches über den Ringplatz. Die Finger der Honveds sind steif von der kalten Luft. Aber in ihrer Musik ist das Feuer des Ungarn.

Monatelang hat die Festung keine Musik mehr gehört. Seit Ausbruch des Krieges spielt keine Militärmusik. Nun locken diese Klänge aus allen Gassen die Menschen. Wer zum Ringplatz geht, beschleunigt den Schritt. Und wer in entgegengesetzter Richtung geht, macht kehrt. Erst geht ein Verwundern, dann ein Aufblitzen von Freude über die Gesichter. Es wird zum Lächeln im Weitergehen. Es ist als ob ein mächtiger Magnet aus allen Gassen die Menschen an sich sauge. Sie stürzen in eiligen Scharen aus allen Straßen, die auf den Ringplatz münden. Und man wundert sich, daß noch so viele in der belagerten Festung sind.

Auf dem Platz, rings um die Musik, drängen sich die grauen Felduniformen. Dazwischen eingesprengt ein Häuflein Zivil, die wenigen Beamten, die hier geblieben sind. Viele schwarze Kaftans, die Marderkappen der Juden und hier und dort ein paar blaubemützte Gymnasiasten.

Einige wenige Damen; alle anderen haben bei Ausbruch des Krieges die Festung verlassen. Ab und zu noch ein elegantes Kostüm, ein kostbarer Pelz. Daneben das billige Feiertagsfähnchen der Arbeiterin, getragen mit dem Schick der Polin. Viele von ihnen, [83] die einen wie die anderen, tragen das Rote Kreuz am Arm. Ein paar Backfische sind auch noch da und schlendern seelenvergnügt an den jungen Leutnants vorbei.

Die Sonne lacht vom blauen Himmel. Stark und lebensprühend perlen die Töne der ungarischen Weisen. Hier und dort summt einer die Melodie mit. Die Jugend lacht, scherzt und flirtet. Offiziere begrüßen einander händeschüttelnd und bummeln in langen Reihen. Es ist ein Vergessen in aller Augen. Es ist als ob ein Alpdruck, der auf aller Brust gelegen, plötzlich in nichts zerränne.

Eine Bewegung geht durch die Menge. Offiziere und Mannschaften machen Front. Unser Festungskommandant, General v. Kusmanek, erscheint in einer Gruppe von Offizieren. Eine sehr sympathische Erscheinung. Ein intelligentes Gesicht, von harter Kriegsarbeit schmal geworden, in dem ein paar energische helle Augen stehen. Augen, die können, was sie wollen. Jeder sieht ihm heimlich nach. Jeder Mann in der Festung ist stolz auf ihn.

Die Menge flutet wieder zusammen. Eine ungarische Weise lacht und weint, sehnt und lockt und wirbelt über den Platz.

Das Leben — das schöne, frohe, starke Leben! Es ist in aller Augen und sprüht aus ihnen. Denn keiner weiß so gut, was das Leben ist, wie der, hinter dem der Tod steht.

Draußen vor den Forts liegt der Russe.

Salve auf Salve — hört ihr das harte Dröhnen seiner Faust?

Wieviel von dieser lachenden, blühenden Jugend wird wiederkommen, wenn die Honveds wieder spielen?

Wer wird fehlen —?

[84] Heute jauchzt das Leben noch einmal in uns auf!

Denn das Morgen ist ungewiß.

Heute kreist noch der heiße rote Pulsschlag — das Leben, das schöne, frohe, starke Leben!


Przemysl, den 25.November 1914,
     am 18. Tag der 2. Belagerung.

Was sieht man jetzt für heitere Adjustierungen in den Straßen. Wie fern sind die Tage, wo der inspizierende Vorgesetzte eine halbe Stunde Zeit fand, seiner Empörung über eine unvorschriftsmäßig hohe Kappe, über einen unvorschriftsmäßigen Halsstreifen, freien Lauf zu lassen!

Jetzt sind die Kappen wie der Krieg sie formt. Lehmfarben von der nassen Erde der Schützengräben, flach gedrückt von der pulvergeschwärzten Faust, die sie hastig fest auf den Kopf stülpt vor dem Vorwärtsstürmen. Und durchgeschlagen von russischen Kugeln — Siegestrophäen.

Alle warme Winterwäsche in der Festung ist längst aufgekauft. Man nimmt, was man findet. Die Offiziere, die von den Werken hereinkommen, sitzen auf den galizischen Bauernwagen in karierte Damentücher gewickelt. Andere gehen durch die Straßen wie sonderbare Marmorblöcke, die Beine bekommen haben. Sie haben das weiße, schwarzmarmorierte Wachstuch, das man als Waschtischeinlage benützt, aufgekauft und sich Wettermäntel daraus machen lassen. Ein wenig steif ist die Sache, gibt ihrem Besitzer ein übermenschliches Volumen und unerklärliche Formen, — aber es dauert nicht lange und der glückliche Besitzer wird doch von seinen minder rasch entschlossenen Kameraden aufs schmerzlichste beneidet.


[85] Przemysl, den 27.November 1914,
     am 20. Tag der 2. Belagerung.

Unsere Verwundeten zittern alle auf den Abtransport. Die meisten von ihnen waren sehr nahe daran; in wenigen Tagen wären sie transportfähig gewesen. Da kam die zweite Belagerung. Und eines Tages gingen keine Züge mehr weg. Es war zu traurig, diese namenlose Enttäuschung auf allen Gesichtern mitanzuschauen.

Drei von unseren verwundeten Offizieren gingen uns fast fluchtartig in der Nacht in einem galizischen Bauernwagen auf und davon. Der eine war schon für den Abtransport mit dem letzten Zug bestimmt gewesen, als er wieder in hohes Fieber verfiel. Er ist jung verheiratet, hat Frau und Kind daheim und verlangt unbändig nach ihnen. Als er einigermaßen wieder zu sich kam und begriff, daß der letzte Zug ohne ihn ab gegangen war, war er nicht mehr zu halten. Er stand auf, ließ sich von seinem Diener einen Bauernwagen besorgen und fuhr mit zwei anderen verwundeten Offizieren gegen Sanok, in der Hoffnung, dort einen Zug nach Ungarn zu erreichen. Zwei Tage später kam die Nachricht hierher, daß am Tage zuvor gegen Mittag die Russen Sanok besetzten, von unseren drei Verwundeten kam keine Kunde. Es ist fast sicher, daß sie in russischer Gefangenschaft sind.

Auch ein junger Fähnrich war kaum im Bett zu halten. Er fluchte seinem Schutz im Bein, der ihn daran verhinderte, davonzugehen. „Hätte ich nur einen Schuß im Arm,“ sagte er ingrimmig, „wo wär' ich da schon! Und jetzt lassen sie einen da liegen, weil man unfähig ist, sich zu rühren!“ Er war erst nach einigen Tagen wieder zu beruhigen, bis er eingesehen hatte, daß ihm ein Transport das Bein hätte kosten müssen.


[86] Przemysl, den 27.November 1914,
     am 20. Tag der 2. Belagerung.

Unsere Verwundeten zittern alle auf den Abtransport. Die meisten von ihnen waren sehr nahe daran; in wenigen Tagen wären sie transportfähig gewesen. Da kam die zweite Belagerung. Und eines Tages gingen keine Züge mehr weg. Es war zu traurig, diese namenlose Enttäuschung auf allen Gesichtern mitanzuschauen.

Drei von unseren verwundeten Offizieren gingen uns fast fluchtartig in der Nacht in einem galizischen Bauernwagen auf und davon. Der eine war schon für den Abtransport mit dem letzten Zug bestimmt gewesen, als er wieder in hohes Fieber verfiel. Er ist jung verheiratet, hat Frau und Kind daheim und verlangt unbändig nach ihnen. Als er einigermaßen wieder zu sich kam und begriff, daß der letzte Zug ohne ihn ab gegangen war, war er nicht mehr zu halten. Er stand auf, ließ sich von seinem Diener einen Bauernwagen besorgen und fuhr mit zwei anderen verwundeten Offizieren gegen Sanok, in der Hoffnung, dort einen Zug nach Ungarn zu erreichen. Zwei Tage später kam die Nachricht hierher, daß am Tage zuvor gegen Mittag die Russen Sanok besetzten, von unseren drei Verwundeten kam keine Kunde. Es ist fast sicher, daß sie in russischer Gefangenschaft sind.

Auch ein junger Fähnrich war kaum im Bett zu halten. Er fluchte seinem Schutz im Bein, der ihn daran verhinderte, davonzugehen. „Hätte ich nur einen Schuß im Arm,“ sagte er ingrimmig, „wo wär' ich da schon! Und jetzt lassen sie einen da liegen, weil man unfähig ist, sich zu rühren!“ Er war erst nach einigen Tagen wieder zu beruhigen, bis er eingesehen hatte, daß ihm ein Transport das Bein hätte kosten müssen.


[87] brachte! Diesmal wird es wohl noch eine Weile dauern. Die Russen beginnen jetzt erst die Beschießung der Festung. Und wenn wir sie auch zurückwerfen, werden wir doch nicht sobald eine Entsatzarmee zur Hand haben, da unsere Truppen ihre Hauptkräfte für die große Entscheidung in Russisch-Polen konzentrieren müssen. So wird uns wohl erst Befreiung werden, bis diese Entscheidung dort oben zu unseren Gunsten gefallen ist und die Russen auch hier zum Rückzug zwingt.

Leider ist der Winter besonders früh und streng angebrochen — wir hatten schon 10—15 Grad Kälte — und das bedeutet eine große Erschwerung unserer Offensive in Russisch-Polen.

Vorderhand sind noch große Vorräte in der Festung und man kann, wenn auch vielerlei fehlt, nicht von Entbehrung reden. Wir haben jetzt sogar noch Bier gehabt und aus dem Verpflegsmagazin Käse und Sardinen. Von dieser Woche ab werden allerdings die Rationen im Offizierskasino, für die Mannschaft und in den Spitälern wieder etwas herabgesetzt. Am fühlbarsten macht sich das in den Spitälern, wo es ganz ausgeschlossen ist, eine gute Krankenkost herzustellen und die Verwundeten essen müssen, was die Gesunden bekommen.


Abends.

Heute vormittag war ich auf dem Schloßberg. Das Winterbild dort oben ist ungemein hübsch. Sonne und Frost, kein Wind, so daß man die Kälte kaum spürt. Die Stadt liegt weich und weiß gebettet und die fernsten Häuschen sind zum Greifen nah.

Majestätisch zieht unser Doppeldecker seine Kreise über der Festung. Er späht nach dem Feind. Manchmal läßt er sich so tief herab, daß man jedes Detail der Verspreizung [88] der Flügel unterscheiden kann. Dann wird sein Rattern drohend und laut. Dann wieder schraubt er sich hoch, hoch ins Blaue, bis man nur mehr ein unbestimmtes Surren hört, wie wenn im Sommer aus einer Blütenwiese eine Hummel um eine Blume brummt. Sicher und kühn schwebt er dort oben, die Sonne beleuchtet seine Unterseite, daß sie hell aufblitzt wie ein weißer Vogelleib.

Und am Horizont hebt das große Dröhnen wieder an. Ein Fort gibt dem anderen die Hand und der Donner rollt von Hügel zu Hügel, rings um die einsame stolze Feste.


Przemysl, den 2. Dezember 1914,
     am 25. Tag der 2. Belagerung.

Das war gestern ein aufregender Tag! Vormittag und nachmittag kreiste ein russischer Aeroplan über uns und warf Bomben ab. Im Laufe des Vormittags etwa zehn, und noch einige am Nachmittag.

Vormittags hörten wir plötzlich eine ungewöhnliche, explosionsartige Detonation, die sich einige Male wiederholte. Mittags kommt unser Diener und erzählt, daß in der Slovackigasse von einem Flieger russische Bomben abgeworfen wurden. Än vielen Häusern sind die Fenster zertrümmert. Auch auf die Sanbrücke versuchte man ein Attentat, doch fiel die Bombe ins Wasser.

Wie ich nachmittags aus dem Hause trete, um ins Spital zu gehen, stehen unsere Soldaten zusammengerottet in der Straße, reden aufgeregt durcheinander und zeigen alle hinauf. Da höre ich auch schon das Knattern eines Aeroplans gerade über der Gasse. Ich halte mich ein bißchen an der Wand und gehe weiter. In der nächsten Straße dasselbe Bild. Unsere Leute [89] stehen festgenagelt und starren hinauf. Hier und dort Gruppen, die fluchend und drohend nach dem Flieger zeigen. Ein Soldat ruft mir zu: „Der Russe!“

Kaum gehe ich ein paar Schritte weiter und komme zur ruthenischen Kirche, hebt mit einem Mal von allen Seiten rings um mich ein tolles Geknatter an. Unsere Soldaten reißen die Gewehre von den Schultern und schießen nach dem Aeroplan. Im selben Augenblick setzt auch draußen von den Forts unsere Artillerie ein und beschießt den Aeroplan mit Schrapnells.

Von den Fenstern des Spitals aus sehen wir zu. Es ist ein prachtvolles Schauspiel, nur noch aufregender wie in Aspern! Eine echte, rechte Aeroplanhetze! Das Flintengeknatter wird immer höllischer, dazwischen dröhnt die Artillerie. Der Russe flüchtet sanaufwärts. Einen Augenblick steigt er, dann nach einer Salve scheint er zu taumeln und beginnt plötzlich in steilem Sturzflug zu sinken. „Er sinkt! Getroffen!“ Ein frenetisches Freudengebrüll unserer Leute!

Wie der Feind verschwindet, erzählt man mir, daß am Vormittag, gerade in dem Augenblick, wo Kadett N. operiert wurde, 200 Schritte vom Spital eine Bombe niederging. Die Detonation war so enorm, daß man meinte, die Bombe habe im Spital selbst eingeschlagen und daß Kadett N. sogar in der Narkose den Krach vernahm. Im Operationssaal wollten einige davonstürzen, nur der Operateur und die assistierende Schwester waren die Ruhe selbst. „Was immer geschieht, wir müssen das erst fertig machen!“ sagte mit eiserner Ruhe der Arzt.

Kaum hatte man mir das erzählt, taucht der russische Flieger von neuem auf. Wir sehen vom zweiten Stockwerk aus, wie einer unserer Doppeldecker aufsteigt und den russischen Aeroplan zu verfolgen beginnt. Da [90] mit einem Mal ein jäher Krach, daß das ganze Haus zittert. — Eine russische Bombe! Wir sehen einander an und wissen genug. Dem armen Kadetten N., angegriffen von der Operation, schießen fortwährend die Tränen in die Augen. Es ist nicht leicht, gesund zu werden in einer belagerten Festung.


Przemysl, den 4. Dezember 1914,
     am 27. Tag der 2. Belagerung.

Den nächsten Morgen besichtigen wir das Unheil, das die russischen Bomben angerichtet hatten. Zuerst gingen wir in die Slovackigasse. Hier hat die Bombe in den Hof eines Hauses eingeschlagen, ist ungefähr 50 cm tief in den hartgefrorenen Boden gedrungen und hat einem dort stehenden Pferde beide Vorderbeine gebrochen. Das Blut klebte noch an dem Loch im Boden, das übrigens kleiner war und weniger tief, als ich erwartet hatte. Es soll eine Bombe von 17 kg Gewicht gewesen sein. Ein 18jähriges Mädchen wurde leicht am Arm verletzt, und ein Kind, das im Zimmer spielte, wurde von den zersplitterten Fenstern leicht an der Wange verwundet. An allen Häusern im Umkreis ist kaum ein Fenster ganz geblieben. Hie und da ist sogar der Fensterrahmen herausgerissen. Ebenso in der Potockigasse, wo eine Front von 6—7 zwei Stock hohen Häusern zu beiden Seiten der Straße nicht ein einziges ganz gebliebenes Fenster aufweist. Der Luftdruck war enorm. Glücklicherweise ist hier niemand verletzt worden außer ein paar Offiziersdiener, die leichte Schnittwunden von Glassplittern davontrugen.

In der Dworskigasse geriet ein Haus in Brand. Doch wurde sofort gelöscht, so daß es ganz unversehrt, nur auf der einen Seite rauchgeschwärzt, dasteht.

[91] Die Russen scheinen hauptsächlich auf das Verpflegsmagazin zu zielen, darum ist dieses Viertel besonders gefährdet. Doch traf keine einzige Bombe die Magazine. Auch in Garbaze und in Zasanie gingen einige Bomben nieder. Aber im allgemeinen müssen wir noch Gott danken, daß er uns bis jetzt vor noch Schlimmerem behütet hat.

Abends erschien ein Festungskommando-Befehl, der unserer Mannschaft streng verbietet, in den Straßen auf Aeroplane zu schießen, weil sie erstens durch Flintenkugeln kaum erreichbar sind, und wir uns durch die herabfallenden Kugeln selbst noch mehr gefährden.


Abends.

Belgrad gefallen! Eine tiefe moralische Befriedigung für uns alle!


Przemysl, den 10. Dezember 1914,
     am 33. Tag der 2. Belagerung.

Gestern unternahm unsere Besatzung starke Ausfälle. Einen nach Norden und gleichzeitig einen noch wichtigern nach Süden, der dazu dienen soll, unserer Karpathen-Armee die Hand zu reichen.

Unsere Sache soll bis jetzt gut stehen, unsere Truppen sollen im Süden bereits 35 Kilometer vorgedrungen sein und bleiben dort zwei oder drei Tage, um für die von den Karpathen heranmarschierende Armee Luft zu machen und womöglich die Russen zwischen zwei Feuer zu nehmen.

Unsere Festungsartillerie unterstützt diesen Ausfall mächtig und besonders von unseren Südforts, von Kruhel wielki und Nizankowice, donnern unablässig schwere Salven herüber.

Ab und zu klopfen die harten, raschen Schläge der uns zunächst liegenden Batterie vom Tartarenhügel [92] dazwischen, die dort aufgestellt wurde, um die russischen Flieger zu beschießen. Denn die Russen schicken uns noch jeden Tag ihre Aeroplane, trotzdem unsere Flieger fast unablässig über der Festung kreisen. Doch gelang es ihnen bisher nicht mehr, Bomben abzuwerfen, d. h. zum mindesten nicht über der Stadt. Außerhalb der Stadt sollen noch Bomben niedergegangen sein. Wir beobachten jeden Tag Aeroplanjagden. Es ist ungemein spannend, zuzuschauen, wie die Flieger einander ausweichen, einander zu überfliegen, von oben zu fassen trachten. Einmal gelang es einem unserer wackeren Doppeldecker, mit einem einzigen Bombenwurf zwei russische Aeroplane zu vernichten. Gleichzeitig zischen unsere Schrapnells nach dem Russen hinauf und zwingen ihn, höher und höher zu steigen. Man schaut klopfenden Herzens zu, wie die weißlichen Rauchballen ihm nachschnellen ins Blaue, doch erreichen sie ihn fast nie, meist zerplatzen sie tief unter ihm mit einem kleinen Blitz.

Alle Herzen in der Festung zittern, bangen und hoffen mit diesem Ausfall. Denn geht alles gut, so können wir hoffen, bald frei zu werden.


Przemysl, den 11. Dezember 1914,
     am 34. Tag der 2. Belagerung.

Gestern sprach man davon, daß unsere Besatzung an einigen Stellen sehr weit vorgedrungen sein soll, ohne auf feindlichen Widerstand zu stoßen.

Man glaubt zu beobachten, daß sich bei den Russen im ganzen Umkreis der Festung eine Rückwärtsbewegung bemerkbar macht, daß sie ihre Telegraphenleitung abbrechen usw.

Andrerseits stoßen die Unseren wieder an manchen Punkten auf sehr hartnäckigen Widerstand, Wir haben viel Tote und Verwundete, da sich der Feind hinter [93] Stacheldrahthindernisse verschanzt, die wir stürmen müssen.

Es kommen ununterbrochen Wagen mit Verwundeten in die Spitäler.


Przemysl, den 12. Dezember 1914,
     am 35. Tag der 2. Belagerung.

Wir sind bereits daran, Pferde zu schlachten! Da Tausende von überzähligen Pferden da sind, für die kein Futter vorhanden ist, will man sie jetzt gleich schlachten, bevor sie noch mehr herunterkommen. Die Mannschaft soll vorderhand einen kleinen Teil ihrer Ration in Pferdefleisch erhalten, um sich daran zu gewöhnen.

Seit heute früh schweigen die Geschütze. Unsere Ausfälle scheinen beendet.

Unsere neuen, mit Maschinengewehren bewaffneten Aeroplane aus Wien sind hier eingetroffen. Es soll auch ein stark gepanzerter Apparat dabei sein. Jetzt werden wir hoffentlich die russischen Flieger damit ein für allemal in Schach halten.

Heute schneit's. Der Neuschnee liegt weiß und weich. Und wie die Kinder den Kopf an die Türspalte drücken und nach dem Christkind horchen, so horchen wir mit gespannten Fibern nach der Entsatzarmee.


Przemysl, den 18. Dezember 1914,
     am 41. Tag der 2. Belagerung.

Fast jedesmal, wenn man durch die Slovackigasse geht, die zum Friedhof führt, begegnet man einem Soldatenbegräbnis. Es schnürt mir immer das Herz zusammen, wenn mir solch ein trauriger kleiner Zug entgegenkommt.

[94] Voran ein Soldat mit einem selbstgezimmerten, schwarz gestrichenen Holzkreuz, hinter ihm ein Geistlicher, das Käppchen in der Hand.

Zwei Mann folgen. Sie tragen auf den Schultern den rohen, unbehobelten Holzsarg, dem ein paar Mannschaften das Geleite geben.

Oft tragen sie ihn auch ganz allein hinaus.

Gestern sah ich einen solchen Zug und kann ihn nicht mehr vergessen. Vor der Blumenhandlung in der Slovackigasse hielt ein elender galizischer Bauernwagen. Er kam von den Werken herein. Der ganze Wagen troff von einer zähen Masse von Kot und tauendem Schnee. Die Speichen der Räder waren damit bedeckt, von der Achse und der Deichsel hingen braune, triefende Lappen. Der Unrat war hinweggespritzt über den Boden des Wagens, über den schwarzen, geschnitzten Holzsarg, der darauf stand. Es war ein feiner Sarg, wie man ihn selten hier sieht, als hätte ihn einer gewählt für jemand besonders Lieben.

Zu beiden Seiten des Wagens waren hochragende, rohe Holzlatten genagelt, mit Kränzen behangen. Sie schwankten unter der Last der Kränze und Bandschleifen, und immer wieder reichte man aus der Blumenhandlung noch neue Kränze heraus. Sie wollten kein Ende nehmen. Es waren die letzten und schönsten Blumen, die Przemysl noch auftreiben kann. Eine Flut von Chrysanthemen. Breite Bandschleifen mit ungarischen Inschriften zierten die Blumengewinde. Ein Kamerad, geliebt vor allen anderen.

Ich sah dem elenden Wagen nach, als er endlich aus der tief ausgefahrenen Straße, die einem braunen Schlammstrom gleicht, knarrend davonschwankte. Die rot-weiß-grünen seidenen Länder schleiften mit den Enden im Schmutz, blieben hängen an den kotigen [95] Radspeichen. Und es war ein so greller Kontrast zwischen der reichen Pracht der Blumen und Bänder und dem kläglichen Gefährte, daß die Ohnmacht der Liebe, die da versuchen wollte, über den Jammer dieses Bildes hinwegzutäuschen, einem das Herz zerriß.


Przemysl, den 21. Dezember 1914,
     am 44. Tag der 2. Belagerung.

Die Festung trifft Weihnachtsvorbereitungen. Jede Kompagnie, jedes Spital, jede Offiziersmesse schickt ein paar Mann in die Wälder am Fortgürtel hinaus, an deren Abholzung noch zum Teil gearbeitet wird, um Weihnachtsbäume.

In den wenigen Geschäften, die vom Vorjahre her noch einen kleinen Vorrat an Christbaumbehängen, Kerzen und Kerzenhaltern haben, herrscht reges Weihnachtstreiben. Doch sieht man nur Militär. Die Juden feiern Weihnachten nicht, und von der katholischen Zivilbevölkerung ist so gut wie niemand mehr in der Festung. So sind es hauptsächlich Offiziere, Pflegerinnen und Unteroffiziere, die einkaufen. Jeder einzelne Mann soll bedacht werden. Und es kostet dem Sanitätsoffizier schweres Kopfzerbrechen und eine tagelange Jagd von einem Geschäft ins andere, von einer kleinen Judenbutike in die andere, um nur für jeden seiner 200 Mann Sanitätsmannschaft etwas aufzutreiben. In den meisten Geschäften sind heute schon nur mehr die leeren Bordbretter da.

Für die Bescherung der Verwundeten sorgen die Pflegerinnen, und in jeder Nachtwache wird eifrigst an Weihnachtsüberraschungen gearbeitet. Jeder ist dabei auf seine eigene Erfindungsgabe angewiesen, denn tausend kleine Dinge, die man sonst zu haben gewohnt ist, sind nicht da.

[96] Radspeichen. Und es war ein so greller Kontrast zwischen der reichen Pracht der Blumen und Bänder und dem kläglichen Gefährte, daß die Ohnmacht der Liebe, die da versuchen wollte, über den Jammer dieses Bildes hinwegzutäuschen, einem das Herz zerriß.


Przemysl, den 21. Dezember 1914,
     am 44. Tag der 2. Belagerung.

Die Festung trifft Weihnachtsvorbereitungen. Jede Kompagnie, jedes Spital, jede Offiziersmesse schickt ein paar Mann in die Wälder am Fortgürtel hinaus, an deren Abholzung noch zum Teil gearbeitet wird, um Weihnachtsbäume.

In den wenigen Geschäften, die vom Vorjahre her noch einen kleinen Vorrat an Christbaumbehängen, Kerzen und Kerzenhaltern haben, herrscht reges Weihnachtstreiben. Doch sieht man nur Militär. Die Juden feiern Weihnachten nicht, und von der katholischen Zivilbevölkerung ist so gut wie niemand mehr in der Festung. So sind es hauptsächlich Offiziere, Pflegerinnen und Unteroffiziere, die einkaufen. Jeder einzelne Mann soll bedacht werden. Und es kostet dem Sanitätsoffizier schweres Kopfzerbrechen und eine tagelange Jagd von einem Geschäft ins andere, von einer kleinen Judenbutike in die andere, um nur für jeden seiner 200 Mann Sanitätsmannschaft etwas aufzutreiben. In den meisten Geschäften sind heute schon nur mehr die leeren Bordbretter da.

Für die Bescherung der Verwundeten sorgen die Pflegerinnen, und in jeder Nachtwache wird eifrigst an Weihnachtsüberraschungen gearbeitet. Jeder ist dabei auf seine eigene Erfindungsgabe angewiesen, denn tausend kleine Dinge, die man sonst zu haben gewohnt ist, sind nicht da.

[97] Sein Nachbar lag regungslos, die Decke über dem Gesicht, schon seit Tagen besinnungslos mit einer Schädeltrepanation.

Nur zwei schauten auf und begriffen.

Der eine von den beiden richtete sich mühsam ein wenig im Bett auf, streckte den Arm nach den Lichtern und sagte: „Christkind —“

In den anderen Zimmern ging es besser. wir beschenkten die Mannschaften mit Wäsche, Zwieback und Zigaretten, sie waren gut und dankbar für jede Kleinigkeit und bemühten sich, heiter zu sein. Ein älterer Landsturmmann war dabei, der monatelang mit einem schweren Bauchschuß gelegen war und nur durch die aufopfernde Behandlung unseres Direktors dem Leben erhalten blieb. Er hatte Frau und Kinder daheim und hatte sein ganzes Herz an den Gedanken geklammert, zu Weihnachten daheim zu sein. Der schlich sich davon, stand am kalten finsteren Gang beim offenen Fenster und weinte bitterlich.

Die verwundeten Offiziere hielten sich tapfer, scherzten. Aber es zuckte um manchen Mundwinkel in verhaltenem Schmerz, wie das „Stille Nacht, heilige Nacht —“ zu dem Lichterbaum aufschwebte. Manche Hand krampfte sich in die Decke.

„Der Friede sei mit euch —!“


Przemysl, den 27. Dezember 1914,
     am 50. Tag der 2. Belagerung.

Unsere eigene kleine Weihnachtsfeier zu zweit war still und schön. Wir zündeten unseren Baum erst am Abend des ersten Weihnachtsfeiertages an. Am Heiligen Abend waren wir beide im Spital beschäftigt, Emil in dem seinem und ich in dem meinen. Wir [98] waren beide müde und abgespannt und wollten die Wehmut dieser Feier nicht in die eigene hinübertragen.

So brannte uns am Abend des 25. statt der heimatlichen Tanne eine galizische Fichte aus den niedergelegten Wäldern. Sie war hoch und schlank, reichte vom Boden bis zur Decke und strahlte so golden in ihrem Weihnachtsschmuck wie nur je ein Friedensbaum.

Auch das echte, frohe Lachen blieb nicht aus.

Die Stelle so manchen Geschenkes, das Belagerungsnöte nicht rechtzeitig eintreffen ließen, mutzte ein heiterer Vierzeiler als Anweisung auf die Zukunft vertreten. So hatte ich meinem Mann unter anderem Wäsche nähen lassen. Doch traf nur die Hälfte der bestellten Stücke zu Weihnachten ein. Der weiße Zwirn war der Näherin ausgegangen und in keinem Laden der Stadt auch nur mehr eine einzige Spule erhältlich. Doch war die Sache immerhin nicht ganz trostlos. Eine Bekannte, Freundin, Nichte oder Tante dieser Näherin befand sich noch in dem glücklichen Besitz einiger Spulen Zwirn und war bereit, sie unter gewissen Bedingungen an dieselbe abzutreten. Sie verlangte als Gegenleistung das sofortige Anfertigen von Wäsche durch unsere Näherin, und erst nach abgelieferter Arbeit sollte der Rest des schwer erkauften Zwirnes in den Besitz der Bittstellerin übergehen. Was uns einige Wochen mit der angenehmen Aufregung und Spannung erfüllen wird — und wenn dieser Zwirn nur für das Anfertigen der Wäsche dieser Bekannten, Freundin, Nichte oder Tante reichen sollte —?

So feierten wir unseren Weihnachtsabend froh und dankbar, im Glück des Beisammenseins — gesegnet vor Tausenden!

Und hätten nicht Kampf und Aufruhr, Not und Tod, Millionen Tränen als gigantische Woge brandend [99] an unser Fenster geschlagen, so wäre es ein stilles Friedensfest gewesen.

Przemysl, den 28. Dezember 1914,
     am 51. Tag der 2. Belagerung.

Von der Weihnachtsfeier unserer Tapferen draußen in den Werken und im Vorfeld erzählt man uns allerlei nette Geschichtchen.

An einer Stelle haben die russischen Mannschaften der Belagerungsarmee am Heiligen Abend eine große Proklamation an die Stacheldrahthindernisse gehängt. Darin hieß es ungefähr wie folgt: „An die Festungsbesatzung von Przemysl! Deutsche, Ungarn, Slawen, Italiener, welcher Nation ihr auch angehört, wir sind nicht euere Feinde: Ihr seid tapfere Soldaten! Wir wünschen euch gute Weihnachten! Friede! Friede! Friede!“

An einem anderen Posten im Vorfeld schwenkte der Feind die weiße Fahne und schickte eine Deputation von zwei russischen Offizieren zur Weihnachtsbeglückwünschung in unser Lager herüber. Sie brachten russischen Tabak und Zigaretten als Weihnachtsgabe.

Es soll oft vorkommen, daß unsere Vorposten russische Zigaretten in der Nähe ihrer Stellungen finden. Diese Zigaretten sind dann zumeist in einen Zettel gewickelt, auf dem gebeten wird, statt der Zigaretten eine Flasche Rum an derselben Stelle zu deponieren.

Przemysl, den Neujahrstag 1915,
     am 55. Tag der 2. Belagerung.

Ein großes Jahr bricht an! Ein goldenes Blatt in der Weltgeschichte. Das Jahr, das über die Zukunft ganz Europas entscheiden wird. Das Beben, [100] das gewaltige, dessen Herd Europa ist, macht alle Weltteile miterzittern.

Europa gärt. Wie werden wir aus diesem Gären hervorgehen, wie noch niemals eines gewesen in der Geschichte? Das ist die dunkle Rätselfrage, mit der dieses Jahr beginnt. Was werden wir sehen, wenn wir den Schleier lüften?

Nein, wir bleiben nicht stehen und grübeln nicht über diese Frage. Wir haben nicht Zeit dazu. Denn jetzt sind die Tage der großen Arbeit. Des Schaffens am Werke. Was wir heute tun, was wir heute versäumen, bedeutet Österreichs Sein oder Nichtsein.

Wir wissen nur eines: Daß wir uns durchringen müssen!

Eine gewaltige Schicksalswelle hat uns erfaßt und trägt uns aus dem Alltag empor. Gestern noch waren wir unbedeutende Alltagsschicksale, untergetaucht in der Masse.

Heute sind wir die, die Kindern und Kindeskindern die Zukunft schaffen.

Nehmen wir diese schwere Pflicht mit Stolz und Demut als Weihe auf uns und beten wir zu Gott um Kraft, sie groß zu erfüllen!

Przemysl, den 5. Jänner 1915,
     am 59. Tag der 2. Belagerung.

Seit gestern verlautet wieder ab und zu etwas über die Lage.

Leider hatte der letzte große Ausfall, von dem man sich schon für den Neujahrstag den Entsatz versprochen hatte, nicht den gewünschten Erfolg.

Ein schwerer Schlag für die Festung! Aber wir [101] werden auch noch das auf uns nehmen und durchhalten!

Gestern veröffentlichte man einen Radio-Neujahrsgruß, den uns die 2. und die 3. Armee schickt und der mit den Worten schließt: „Wir kommen!"

Doch bricht sich bei der Besatzung mehr und mehr die Überzeugung Bahn, daß wir vor dem Ende des Winters nichts mehr für uns zu erwarten haben.

Bis zum März mindestens müssen wir uns gedulden. Augenblicklich ist ein Vordringen in den Karpathen für unsere Armee fast ausgeschlossen.

So haben wir unseren Wünschen und Hoffnungen ein ferneres Ziel gesteckt.

Przemysl, den 9. Jänner 1915,
     am 63. Tag der 2. Belagerung.

Die Ruthenen feiern Weihnachten. Um 9 Uhr morgens zogen die ruthenischen Mannschaften mit klingendem Spiele zum Kirchgang.

Ich wollte mir gerne einen ruthenischen Weihnachtsgottesdienst anhören und folgte ihnen zur griechisch-katholischen Kathedrale hinauf. Die Militärmusik war unterhalb der Rampe zur Kathedrale angetreten und zu beiden Seiten der Straße standen die Mannschaften Spalier bis zur Garnisonskirche herab.

Es war ein farbenfrohes, interessantes Bild. Alles was noch an ruthenischen Bauern im Weichbild der Festung sich befand, war heute zusammengeströmt. Das Gedränge war so groß, daß an ein Durchkommen gar nicht zu denken war. Die Schafpelze der Bauern werden jetzt im Winter mit dem Fell nach innen gekehrt getragen, während sie der Bauer als einziges Zugeständnis an den Sommer nur umkehrt. Jetzt sieht [102] man die naturfarbene Lederseite, mit grüner, roter und blauer Wollstickerei verziert. Jede Naht sowie den Gürtel markiert eine bunte Bordüre. Von der Kapuze, dem Gürtel und den Armelaufschlägen baumeln rote, grüne, violette Quasten. Unter den hohen Schaffellmützen hängt das Haar in langen, schwarzen Strähnen auf die Kapuze herab und mengt sich mit den Zotten des Schaffelles. Es sind interessante Köpfe darunter, hart, unbeweglich, wie aus Holz geschnitzt. Der Blick fast immer stumpf.

Die Weiber schillern in allen Farben. Ihre Gesichter sind stumpf und unschön, noch stumpfer wie die der Männer. Selten sieht man eine weinen. Niemals eine lachen. Es ist als ob sie in diesem Hunger nach Farbe Ersatz suchten für die Heiterkeit des Gemütes. Denn ihre farbenfrohe Tracht bietet einen sonderbaren Kontrast zu ihren Gesichtern. Sie gehen zur Winterszeit in kurzen Schaffelljacken, manche auch in Jacken aus buntem Wollstoff, mit faltigen Schößen. Die Röcke sind weit, reich in Falten gereiht, aus blauem, rotem oder grünem Stoff, oft mit grellfarbigen Streifen besetzt. Sie reichen nur bis zum Knie, das heißt, bis zu den hohen Stulpenstiefeln, die bei den reichen Bäuerinnen meist aus rotem Leder sind. Im Winter sieht man sie mit zwei, auch drei großen bunten Wolltüchern übereinander auf dem Kopf, unförmig vermummt.

Das Gedränge vor der Kirche war so groß, daß ich mir nur auf einem Umweg den Zugang zum Hauptportal erzwingen konnte. Doch bald sah ich mein lebensgefährliches Unternehmen ein und mußte auf den Gottesdienst verzichten. Heraußen vor der Kathedrale knieten die Bauern an der Kirchenwand, warfen sich mit der Stirn auf die Erde und küßten den Schnee.

[103] Przemysl, den 12. Jänner 1915,
     am 66. Tag der 2. Belagerung.

Die Festungsbesatzung hat sich mit einer vornehmen Geste für die russische Weihnachtsbeglückwünschung erkenntlich gezeigt.

Offiziere, die von den Werken hereinkommen, erzählen, daß am russischen Weihnachtsabend österreichische Offiziere die russische Beglückwünschung erwidert haben, indem sie gleichzeitig als Gegenleistung für die Zigaretten der Belagerungsarmee — Sardinen und Salami überreichten!

Diese heitere Ironie wird in der ganzen Festung herzlich belacht.

Noch ein zweiter humoristischer Zwischenfall ereignete sich vor kurzem. Fährt da nächtlicherweile ein russisches Fuhrwerk in die Festung herein. Auf den Anruf unseres Postens hin bleibt der Wagen stehn. Auf dem Bock ein russischer Kutscher und ein Offiziersdiener. In dem Wagen ein russischer Oberstleutnant mit einer Dame in russischer Uniform. Allseits größtes Erstaunen. „Verflucht,“ sagt der russische Oberstleutnant, wie er endlich begreift, „wir wollten doch in die entgegengesetzte Richtung — !!!“

Przemysl, den 15. Jänner 1915,
     am 69. Tag der 2. Belagerung.

Das Pferdefleisch spielt eine täglich größere Rolle. Die Zivilbevölkerung ist so gut wie ganz auf Pferdefleisch angewiesen. Dazu kommt noch die Komplikation, daß die jüdische Religion den Genuß des Pferdefleisches untersagt und sich viele Juden aus diesem Grund nicht dazu entschließen können, es zu essen.

[104] Die Preise für Lebensmittel steigen wie auf der Börse. Hie und da bringt noch eine Bäuerin ein Huhn zu Markt. Sie bekommt 20 K und mehr dafür. Neulich hat ein Offizier eine Ente mit 72 K bezahlt. Trotz der enormen Preise greift jeder gierig danach und überbietet den anderen. Das Geld ist ganz wertlos geworden. Man zahlt für ein Ferkel 500 K, für eine Kuh, wenn man irgendwo noch eine auftreibt, bis zu 1000 K.

Die Mannschaften bekommen schon seit 3—4 Wochen nur mehr Pferdefleisch. Es wird stark gewürzt, womöglich als Gulasch zubereitet, oft jedoch nur kleingehackt in die Reissuppe geschnitten. Es gibt keine kräftige Suppe, und man sagt, daß es zwar augenblicklich sättigt, aber bei weitem nicht den Nährwert von Rindfleisch besitzt. Man macht jetzt sogar schon Versuche, mit Pferdeschmalz die Mannschaftskost zuzubereiten.

Die Offiziersmessen sind noch halbwegs versehen. Die meisten haben sich vor der ersten Belagerung einen Hühnerhof eingerichtet und halten auch Kälber und Schweine, wenn auch nur ein paar Stück.

Przemysl, den 19. Jänner 1915,
     am 73. Tag der 2. Belagerung.

Das war gestern wieder ein aufregender Tag. Den ganzen Tag ließen uns die russischen Flieger nicht zur Ruhe kommen. Es war ein prachtvoller, klarer, sonniger Tag, windstill, zum Bombenwerfen wie geschaffen.

Ich war vormittags auf dem Schloßberg, und gerade wie ich mich auf den Heimweg mache, höre ich zu wiederholten Malen den bekannten, kurzen, scharfen Knall vom Tartarenhügel herüber. Wir kennen das [105] schon alle. Unsere Batterien beschießen einen russischen Flieger! Irgendwo brummt dazu unser Albatros und verfolgt den Feind. Wie ich zur Kathedrale komme, rotten sich die Leute in den Straßen zusammen, die Schule ist gerade aus und die Jungen stehen in Gruppen zu 20—30, ein unverantwortlicher Leichtsinn, trotz dem Festungskommandobefehl, der, während Flieger in Sicht sind, vor allen Ansammlungen in den Straßen warnt. Der Russe war weit vor uns und unsere Schrapnells zischten zu ihm hinauf.

Um 4 Uhr 30 nachmittags gingen mit schauerlichem Getöse zwei Bomben nieder. Die erste in der Jagellonska, sie schlug vor dem Hause Nr. 14 in das Granitpflaster, von dem 4 oder 5 Würfel herausgerissen sind. An den Häusern, die zunächst standen, sind überall Löcher in den Mauern, Risse, heruntergefallene Simse und Ecken. Bis in den 2. und 3. Stock hinauf ist kein Fenster ganz. Die eisernen Rolladen vor den Geschäftsläden sind von Füllkugeln durchlöchert, die Firmenschilder halb heruntergerissen, wie Schießscheiben durchgeschlagen. Die Gewalt des Luftdruckes, der die Scheiben eindrückte, reichte vom Haus Nr. 14 bis zum Haus Nr. 5 und Nr. 6. Sogar in dem 150 Schritt entfernten Festungsspital Nr. 7 schlug eine Füllkugel noch den Rolladen durch und blieb im Doppelfenster liegen.

Leider sind auch wieder Menschenleben zu beklagen. Die Jagellonska ist eine der belebtesten Geschäftsstraßen. Die Juden, besonders die Frauen, stehen dort den ganzen Tag vor ihren Läden und plaudern. Es soll auch diesmal wieder die ganze Straße voll Menschen gewesen sein, die dem Aeroplan zusahen und selbst dann noch stehen blieben, als er schon über ihren Köpfen war. Zwei Fuhrleute und das 14jährige Mädchen [106] eines jüdischen Händlers wurden so schwer getroffen, daß sie während des Transportes ins Spital starben. Außerdem zahlreiche Leichtverletzte, die in den Spitälern verbunden wurden, fast lauter Zivilpersonen.

Wer sich in den Häusern hält, ist vor den Bomben so ziemlich sicher. Bis jetzt ist es noch nicht vorgekommen, daß das Dach eines Hauses von einer Bombe durchgeschlagen worden wäre, mit Ausnahme von niedrigen, schwach gebauten Bauernhütten.

Eine zweite Bombe ging fast gleichzeitig in Garbaze nieder, unweit des Elektrizitätswerkes. Sie schlug im Hofe des Festungsspitales Nr. 2 ein und richtete keinen Schaden an.

Da uns die russischen Bomben einige tausend Fensterscheiben gekostet haben, wird der Vorrat an Fensterscheiben täglich kleiner. Man rechnet eine Fensterscheibe schon zu 50 K und kann sie oft überhaupt nicht mehr bekommen. In manchen Häusern sind alle Fenster mit Papier verklebt oder mit Tüchern verhangen, im Jänner eine böse Sache.

Trotzdem klagen die Leute nicht. Ich bewundere oft den tapferen Gleichmut, mit dem sie alles tragen. Es bringt sie nicht leicht etwas Böses aus der Fassung, und sausen mittags ein paar Bomben vor ihrem Fenster herunter, so sind sie eine Stunde später obenauf, wenn irgendein frohes Gerücht ihnen einen Hoffnungsstrahl zuwirft.

Przemysl, den 21. Jänner 1915,
     am 75. Tag der 2. Belagerung.

Gestern besuchte uns einer unserer Honved-Offiziere im Spital. Er war nach Weihnachten als wiederhergestellt zu seinem Regiment eingerückt und steht nun [107] bei den Deckungstruppen am Fortgürtel. Er erzählte sehr heiter von seinem Leben draußen im Unterstand.

„Wie sind Sie denn untergebracht?“ fragten die Schwestern.

„Untergebracht? — O glänzend! Wir haben ein Schlafzimmer, einen Speisesaal, ein Musikzimmer, ein Badezimmer, ein Kino,“ schwärmte der Leutnant. „Ja, ja, lächeln Sie nicht, meine Herrschaften, Sie scheinen das für einen guten Scherz zu halten!“ fuhr er gekränkt fort. „Unser Unterstand ist das Wunder aller Unterstände! Alle Räume sind hoch und licht — ein Offizierskasino unter der Erde, versichere ich Sie — breite moderne Fenster, Oberlicht, die Wände mit Holz verkleidet. Jeder Offizier hat sein Schlafzimmer mit einem richtigen Bett, ja sogar mitunter noch mit einem Diwan eingerichtet. Und der Hauptmann“, fuhr er begeistert fort, „hat sogar ein Klavier, ein richtiggehendes Klavier, verstehen Sie ?“

„Wie konnten Sie es nur hinunterschleppen? Sind Sie damit nicht stecken geblieben?“ fragte kritisch eine Schwester.

„Stecken geblieben — stecken geblieben!! Sie muten uns eine bedauerliche Enge der Verhältnisse zu, liebe Schwester! Dieses Klavier ist aus einer leerstehenden Fabrik ausgeliehen. Wir brauchen es unbedingt als Begleitung zu unseren Kinovorstellungen.“

„Kinovorstellungen — ?“

„Ja, ja, Kinovorstellungen! Sehen Sie, wenn man nicht allzuviel gegessen hat, ist der Geist dafür um so reger. Wir hängen vor eine Azetylenlaterne ein weißes Leintuch — so besonders weiß muß es ja nicht gerade sein, und dann haben wir Ideen — Ideen —.“

„Sagen Sie, lieber Leutnant, gibt denn dieses Unglücksklavier noch einen Ton von sich?“ fing die kritische [108] Schwester wieder an, die ihre Gedanken nicht von dem Klavier losreißen konnte.

„Einen Ton — ? Töne, Schwester, Töne! Und zwar den ganzen Tag und die halbe Nacht, vielleicht nicht immer die richtigen — aber das kommt doch schließlich erst in zweiter Linie. Die Hauptsache ist, daß man darauf spielen kann!“

„Und das Badezimmer — das Badezimmer?“ drängte man den Leutnant, „vergessen Sie nicht das Badezimmer!“

„Glänzend eingerichtet,“ versicherte der Leutnant ernsthaft, „man nimmt einen Stock, stößt ihn tüchtig in den Erdboden, und überall, wo man will, kommt sofort das Wasser — !!“

Przemysl, den 21. Jänner 1915,
     am 77. Tag der 2. Belagerung.

Not macht erfinderisch; und da die Not hier groß ist, braucht es helle Köpfe!

Vor kurzem kam ein Leutnant in Pikulice auf den Gedanken, für die Mannschaft einen Ersatz für Pelzwesten zu schaffen. Man stelle sich eine lange Weste aus doppeltem Stoff vor, in die alles eingenäht wird, was warm hält und was der Mann draußen im Feld sich beschaffen kann, wie Heu, trockenes Laub, Papier, Fetzen usw. Man kann diese Weste so lang und so stark gefüllt machen, wie man will, und was die Hauptsache ist, sie ist billig und leicht herzustellen.

Ein Unteroffizier kam auf einen Schuhsohlenersatz. Es besteht nämlich schon lange ein schreiender Ledermangel, und Militär und Zivil läuft seit Wochen in zerrissenen Schuhen herum. So erzeugt man jetzt Schuhsohlen aus Hadern, 6—12 Lagen übereinandergesteppt [109] und mit einer Mischung von heißem Kolophonium imprägniert. Diese Sohlen sollen bereits versuchsweise in Gebrauch sein und sich sehr bewähren.

Außerdem haben die Wachstehenden Posten als Kälteschutz Holzsandalen, die sie über die Schuhe schnallen.

Das Merkwürdigste aber ist das neue Pferdefutter. Da einige Tausend überzählige Pferde in der Festung sind, hat man nicht genug Futter für sie. Ein großer Teil wird geschlachtet, und was nicht frisch gegessen wird, zu Konserven verarbeitet. Und nun ist ein erfinderischer Geist auf ein neues Pferdefutter verfallen. Man hat in der Konservenfabrik eine Maschine aufgestellt, die sehr feine Holzwolle erzeugt. Diese Holzwolle wird mit einer Salzlösung behandelt, zerkleinert, und das Futter dient als Ersatz von Strohhäcksel. —

Schon kurz nach Beginn der 2. Belagerung hat das Festungskommando begonnen, unseren kleinen Inselstaat, der wirtschaftlich ganz losgelöst vom Mutterland, von niemand Hilfe zu erwarten hat, auf eigene Füße zu stellen. Wo es immer möglich war, wurden Fabriken eingerichtet, um die wichtigsten Dinge selbst herzustellen. Diese Fabriken werden von Reserveoffizieren, von Fachleuten der betreffenden Branche, geleitet und haben sich bisher sehr gut bewährt. So haben wir eine Spiritusbrennerei, eine Benzin-, eine Seifenfabrik. Schon längst gibt es keine Toiletteseife mehr in der Stadt, und man kann die Wäsche nur dann waschen lassen, wenn man der Wäscherin Seife, Soda, Holz und Kohle dazu gibt, was das Militär zu diesem Zwecke vom Ärar bekommt.

Alles was nur einigermaßen verwendbar ist, wird gesammelt. Trotzdem geht auch das Rohmaterial schon zu Ende. Holzasche zur Herstellung der Soda, abgebrannte Zündhölzer zur Neuverwertung in der Zündholzfabrik. [110] Besonders die Zündholzfrage ist für Przemysl im tiefsten Sinne des Wortes „eine brennende Frage“. Macht sich denn ein einziger von den Millionen Menschen, die täglich gewohnheitsmäßig ihre Zündhölzer anreiben und fortwerfen, auch nur ein einziges Mal klar, was solch ein Zündholz für ihn bedeutet? Er hat es, das genügt ihm. Und er fragt nicht danach, was ihm alles mangeln würde, wenn er es nicht hätte. Ist das Zündholz nicht im letzten Sinne Licht, Wärme und — Nahrung! Müßte nicht Przemyzsl kapitulieren ohne Zündhölzer —! Jeder Festungskommandobefehl mahnt uns, Zündhölzer zu sparen. Die Abgabe der Zündhölzer vom Verpflegsmagazin ist so streng geregelt, daß beim Fassen für die Mannschaft auf zwei Mann im Tag — ein Zündholz kommt!

Das klingt lächerlich, klingt unmöglich, und doch ist es so. O, man wird praktisch! Jeder hat seine eigene Methode. Der eine versteht es, jedes Zündholz in zwei, auch in drei Teile zu spalten. Bei der Kompagnie wird am Morgen ein Zündholz angezündet, das wandert von Zigarette zu Zigarette, von Pfeife zu Pfeife, in den Spitälern von Bett zu Bett. Wozu hat man die Glut der Herde und Öfen, an der man jedes Zündholz drei-, viermal entfachen kann, bevor es auf die Finger brennt. Wir haben Künstler in diesem Fach. Jeder hat seinen ganz besonderen Vorteil beim Anfassen dabei, herausgebildet durch monatelange Praxis.

Wir lachen täglich von neuem darüber, machen gute und schlechte Witze und Scherzgedichte und sind im tiefsten Innern stolz darauf.

Und hast du auch das Zündholz nicht,
In Przemyzsl ist noch immer Licht.
[111]
Die Köpfe hell und hell die Herzen,
Ein gutes Lachen unter Schmerzen,
Und der Verdruß
Beim Ruß!


Przemysl, den 26. Jänner 1915,
     am 80. Tag der 2. Belagerung.

Das Druckpapier für „Die Kriegsnachrichten“ ist zu Ende. Man kauft das letzte Seidenpapier, Packpapier auf, und die „Kriegsnachrichten“, die „Tabori Ujsag“ und deren polnische Ausgabe fliegen in roten, blauen, grünen und gelben Exemplaren durch die Gassen.

Zu keiner Zeit war die Zeitung so viel wie heute, wo jede Stunde ein großes Geschehen bringt. Zu keiner Zeit war der Mensch so besessen von Hunger nach Nachrichten, von Gier nach Nachrichten.

Und Przemysl? Die belagerte Festung, die seit Monaten nur von den lakonischen Radiogrammen lebt, die von draußen hereindringen und die unter dem Titel „Kriegsnachrichten“ fast täglich in einem Einzelblatt veröffentlicht werden. Nur der kann fassen, was die „Kriegsnachrichten“ für Przemysl sind, der morgens, wenn sie ausgegeben werden, durch die Straßen geht.

Vom frühen Morgen an warten die Leute vor der Druckerei. Die ganze Straße ist abgesperrt von Menschen. Juden im Kaftan, mit traurigen Augen, Offiziersdiener, von ihrem Herrn geschickt, polnische Gymnasiasten, dienstfreie Offiziere und Schwestern und Mannschaften — Mannschaften.

Und wenn dann endlich die Zeitungsjungen aus der Druckerei gelaufen kommen, in jeder Hand ein Bündel Blätter, stürzt sich der Deutsche auf die „Kriegsnachrichten“, die Honveds entführen dem Jungen die „Tabori Ujsag“ über dem Kopf hinweg und die Gymnasiasten [112] ziehen ihm die polnischen Blätter unter dem Arm hervor.

Und dann rennen die Jungen die Straßen hinunter, wie besessen, durchdrungen von dem Bewußtsein, in diesem Augenblick die wichtigste Persönlichkeit in der Festung zu sein und brüllen ihren langgezogenen Ruf in die Gassen hinaus. Dieser Ruf elektrisiert die ganze Straße, die Leute eilen ohne Hut und Mantel aus allen Häusern auf die Gasse. Es regnet 10-h-Stücke.

Keiner nimmt sich Zeit, mit dem Blatt nach Hause zu gehen. Er bleibt ohne Hut und Mantel auf der Straße in Schnee und Kälte stehen, entfaltet mit nervöser Hand das Blatt, liest, liest, verschlingt es.

Der Junge ist weitergerannt. Schon tönt sein Ruf vom anderen Ende der Straße. Und als wäre seine Stimme die Stimme von Dornröschens böser Fee, so scheint gleichsam hinter ihm die Gasse zu erstarren. Die Fuhrleute haben ihre Wagen angehalten, sitzen auf und lesen. Jeder verbleibt in der Stellung, die er eingenommen hat, der eine mitten auf der Fahrbahn, im Begriff, dieselbe zu überschreiten. Der zweite im Haustor, zwischen Tür und Angel, wie er aus dem Hause treten will. Und Hunderte auf dem Bürgersteig, die beschneiten Kappen in die Stirn gedrückt, jeder hält mit den beiden dickbehandschuhten Fäusten das Blatt, das ihm der Schneesturm aus der Hand reißen will.

Nachrichten von der Entsatzarmee — Nachrichten von der Entsatzarmee — fiebert es aus allen Augen.


Przemysl, den 29. Jänner 1915,
     am 83. Tag der 2. Belagerung.

Schon seit längerer Zeit besteht in der Festung ein Fonds „Für die Witwen und Waisen der bei der Verteidigung [113] von Przemysl gefallenen Mannschaftspersonen“.

Diesem Fonds fließen reichliche Spenden zu, und obwohl er vorderhand einzig auf die Unterstützung der Przemysler selbst angewiesen ist, hat er doch schon beinahe die Höhe von 50 000 K erreicht. Unter dem Militär ist viel Geld und jeder gibt gern. Alle beteiligen sich. Selbst die Verwundeten geben. So sind bei einer Sammlung in einem einzigen der Offizierszimmer unseres Spitals 250 K gespendet worden.

Auch die Zivilbevölkerung gibt reichlich. Die polnische Gesellschaft veranstaltet Dilettantenvorstellungen zu diesem Zweck, die auch stets ein bedeutendes Reinerträgnis haben. Die Juden geben Wohltätigkeitsvorstellungen in jüdischer Sprache. So trägt jeder sein Scherflein bei zu dem gemeinsamen Werk.

Auch für andere Zwecke wird gesammelt. Die Kriegsnachrichten und die Festungskommandobefehle bringen fast täglich eine kleine Liste Bedürftiger, die vom Festungskommando zur Unterstützung vorgeschlagen werden, vor allem sind es die Angehörigen der von russischen Bomben Getöteten und Verletzten. Da kommen oft in 2 bis 3 Tagen ein paar tausend Kronen für eine Familie zusammen. Dann sind die vielen Flüchtlinge, die zwischen der ersten und zweiten Belagerung fort wollten und nicht mehr weiter konnten. Allein in Wapowce haben wir über 1000 Bauern, die dort einstweilen untergebracht und verpflegt werden müssen. Es ist nur traurig, daß die so reichlich fließenden Spenden, die zu anderer Zeit imstande wären, einen solchen armen Teufel reich zu machen, jetzt fast nichts sind, Was er braucht, ist Brot. Und wer ist heute noch imstande, ein Stück Brot, das kleinste Stückchen Brot verschenken oder verkaufen zu können? Wie [114] viele sind fast ohne Brot, und die, die noch welches haben, auf schmälste Ration gesetzt.

Die größte Förderung findet der Fonds für die Witwen und Waisen durch die von Exzellenz Kusmanek angeregten Wohltätigkeitskonzerte. Sie werden im polnischen Theater oder im Sokolsaal, mitunter auch im Offizierskasino abgehalten und haben stets ein sehr bedeutendes Reinerträgnis. Das Programm ist immer erstklassig und von Künstlern zum Vortrag gebracht. Ein glücklicher Zufall fügt es, daß die Festung unter den eingerückten Reservisten ausgezeichnete Pianisten, Geiger, Cellospieler und Sänger zählt. Um die künstlerische Ausgestaltung der Konzerte macht sich besonders ein Professor des Budapester Konservatoriums, ein hervorragender Pianist, verdient. Seine Rhapsodien von Liszt werden besonders gern gehört und rufen stürmische Begeisterung hervor. Ein Berliner und ein Münchner Opernsänger, die seit Kriegsausbruch in der „Feldgrauen“ stecken, haben sich ebenfalls in den Dienst der guten Sache gestellt und ihre Gesangseinlagen bilden mit einen Hauptanziehungspunkt dieser Konzerte.

Auch der Przemysler Oberkantor Freimann hat sich um das Zustandekommen derselben viel Verdienste erworben, leitet zum Teil die Orchestervorträge und einen Knabenchor. Besonders bekannt gemacht in der Festung hat er sich als Komponist des „Kusmanek-Marsches“, der den Schluß jedes Konzertes bildet, sowie sie jedesmal mit dem „Gott erhalte“, der ungarischen Volkshymne und dem „Heil Dir im Siegerkranz“ eröffnet werden.

Unser Festungskommandant, nicht nur bei den Truppen der Besatzung, die ihm auch schon mehrere Lieder gewidmet haben, sondern auch in allen Kreisen der Zivilbevölkerung aufs wärmste geliebt und verehrt, fehlt [115] bei keinem dieser Konzerte und das bildet ihren ganz besonderen Reiz. Während zum Schluß des Konzertes die Töne des „Kusmanek-Marsches“ erklingen, erhebt sich alles von den Sitzen, schwenkt mit Taschentüchern und Kappen zur Loge des Festungskommandanten empor: „Hoch Kusmanek! Heil Kusmanek! Zivio, Eljen Kusmanek, evviva !!“ braust es in allen Zungen Österreich-Ungarns als stürmische Ovation durch den Saal.

Przemysl, den 4. Februar 1915,
     am 89. Tag der 2. Belagerung.

Die Festung ist wieder erfüllt von erregenden Gerüchten. Gestern erzählte man sich, daß ein Flieger eine Zeitung aus Wien vom Jänner mitgebracht habe. Dieselbe soll eine Proklamation der Russen an die Einwohner von Lemberg bringen, in der die Russen denselben mitteilen, daß sie Lemberg vorübergehend räumen und die Bevölkerung auffordern, sich während ihrer Abwesenheit ruhig zu verhalten.

Ein zweites Gerücht besagt, daß eine starke österreichisch-ungarische Armee mit frischen Truppen über die Karpathen vorrückt und bereits Bolechow erreicht habe.

Hier strahlen alle Gesichter. Es ist herzzerreißend, wie sich jeder an den kleinsten Sonnenstrahl klammert. Sogar die Pessimisten werden dann für einen Augenblick zu überzeugten Optimisten und behaupten, sie wären es immer gewesen. Und das ist gut, denn es hilft uns wieder über ein paar Tage hinweg.

„Wenn Ostgalizien erst frei ist,“ träumt jeder glücklich vor sich hin, „so kann es mit Przemysl auch nicht mehr lange dauern!“

Wir wissen alle, daß der Februar noch ein harter Monat für uns wird. In Mannschafts- und Offiziersmenagen [116] wird aufs äußerste gespart, nur mehr das Allernotwendigste gegeben.

Wir müssen durchhalten!

Przemysl, den 9. Februar 1915,
     am 94. Tag der 2. Belagerung.

Der Februar bringt uns erst die eigentliche Winterkälte. Die Morgen sind kalt und hell und haben 8—10, bis zu 12 Grad Celsius. Die Tage sind blau und sonnig.

Für unsere armen Soldaten draußen im Vorfeld harte Zeiten. Trotz der nicht ungewöhnlich großen Kälte bringt man täglich Erfrorene in die Spitäler.

Sie essen sich seit vielen Wochen nie satt, ihr Körper hat nicht mehr die Widerstandskraft, den Einwirkungen des Frostes zu widerstehen. Selten meldet sich einer krank. Es soll vorgekommen sein, daß der diensthabende Offizier den wachstehenden Posten fragte: „Wirst du aushalten? Kannst du noch?!“ — „Zu Befehl, Herr Leutnant, ich kann noch!" Eine halbe Stunde später bricht der Mann auf dem Posten zusammen. Man bringt ihn ins Spital, den nächsten Tag ist er tot. Die Fälle derer, die an Erschöpfung zugrunde gehen, nehmen erschreckend zu. An einigen Punkten stehen unsere Feldwachen nur auf 300 Schritt Distanz den Russen gegenüber. Dort kann man sie nur bei Nacht und nach 24 Stunden Dienst ablösen.

Dazu kommt die übermenschliche Nervenkonzentration, die Anspannung bis zum äußersten, durch so viele Monate; das verbrennt den Menschen wie ein Licht, das an beiden Enden angesteckt ist.

Seit einigen Tagen gibt das Verpflegsmagazin wieder etwas mehr aus. Um die Ernährung der Mannschaft wieder besser zu gestalten, fassen sie in den nächsten [117] 10 Tagen nur zweimal Pferdefleisch, an den übrigen Tagen Gefrierfleisch und Rindfleischkonserven.

Will man damit einer allgemeinen Erschöpfung der Mannschaft vorbeugen, oder ist dies tatsächlich, wie allgemein behauptet wird, auch ein Zeichen unserer zunehmend günstigeren äußeren Lage?

Jedenfalls erwacht damit wieder in jedem einzelnen die Spannkraft und der Glaube an den baldigen Entsatz.

Man spricht davon, daß die Entsatzarmee schon ganz nahe sei und hofft noch diesen Monat auf Befreiung. Man erzählt sich sogar, daß unsere Armee schon in Chyrow stehe, aber ein ausgesandter Flieger hat sie nicht sichten können.

Seit einigen Tagen rollen ab und zu wieder vereinzelte Salven um die Festung.

Es ist ein unendliches Aufatmen unter der Besatzung und Bevölkerung. Wie gerne glauben Menschen, die monatelang leiden, an das Gute!

Einstweilen schreitet unsere Offensive in der Bukowina und in den Karpathen gut vorwärts, Schnee und Kälte zum Trotz.

Przemysl, den 11. Februar 1915,
     am 96. Tag der 2. Belagerung.

Nachrichten, die durch Flieger vom Hinterland her eingebracht werden, berichten, daß draußen auf der Strecke ganze Waggons voll Liebesgaben für uns stehen. Die Pilsner Bierbrauerei soll der Besatzung von Przemysl mehrere Waggons Pilsner gespendet haben, die nur darauf warten, wenn die Festung frei ist, hereinzurollen. Bier, Bier, die Soldaten lachen über das ganze Gesicht, wenn sie das hören. Es klingt wie ein Klang aus guten fernen Zeiten! Fast hätten sie vergessen, [118] was das ist, haben wir doch alle seit mehr als 3 Monaten keines mehr gesehen.

So geht es uns mit allen kleinen Dingen des täglichen Lebens. Wir lernen hier erst begreifen, was man alles, wenn es sein muß, entbehren kann! In jeder Küche werden hier täglich die kühnsten Erfindungen gemacht. Denn es gebricht an vielen Hauptsachen und an jeder Zutat. Wer im Hinterland aus dem Vollen wirtschaftet, wird sich kaum vorstellen können, wie man ohne Eier, ohne Milch, ohne Butter, mit einem Minimum an Salz und Zucker monatelang kochen kann.

So haben wir vergangenen Sonntag als besondere Feier ein „Milchbrot“ bekommen, das die Köchin der Offiziersmenage ohne Milch, ohne Ei und ohne Hefe bereitete. Es war nur aus Mehl, Wasser und Zucker, mit Sauerteig angerührt und hat uns doch gemundet, wie niemals der feinste Gugelhupf! Ist man doch „der Erdäpfelkatastrophe“ gegenüber — wie wir die täglichen gekochten, unabgeschmalzenen Kartoffel scherzend nennen und angesichts des allabendlichen Konservengoulasch, außerordentlich empfänglich für Abwechslung. Wenn auch besonders unser Menageoffizier das Menschenmögliche tut. Ein Menageoffizier oder ein Koch in Przemysl ist ein Stück von einem Märtyrer!

Die Zivilbevölkerung lebt hauptsächlich von Reis, Kartoffeln, Barszcz, einer polnischen Nationalspeise aus roten Rüben und Heidekascha, das ist gerösteter Buchweizen. Trotzdem hört man selten klagen. Jeder dankt Gott, wenn er überhaupt noch zu essen hat. Nach dem „was“ fragt schon lange niemand mehr.

Dabei ist die jüdische Bevölkerung gut zu unseren Mannschaften. Wenn einer noch irgend etwas an alter Wäsche hat, schenkt er es den Soldaten. Und es geht [119] kaum ein Hungernder an einer jüdischen Türe vorbei, ohne daß ihm nicht wenigstens eine Schale Tee gereicht wird, das einzige, was sie noch verschenken können. Einstweilen träumt jeder von dem märchenhaften Überfluß, der hereinströmen wird, wenn die Festung erst offen ist, und wer noch 100 Zigaretten hat — eine seltene Kostbarkeit und nur mehr bei den Offizieren zu finden — tauscht dagegen einen letzten alten Hahn für seine Küche ein.

Przemysl, den 12. Februar 1915,
     am 97. Tag der 2. Belagerung.

Gestern wurde, besonders im Laufe des Vormittags, das Geschützfeuer sehr lebhaft. Die Russen beschossen eines unserer Werke an der Südfront mit ihrem schwersten Kaliber. Man erwartet in der Festung noch einen Sturm der Russen, bevor sie sich zurückziehen. Sie sollen sich auch in den letzten Tagen an einigen Punkten unserer Befestigungslinie wieder genähert haben.

Hier erwartet man sie mit Ruhe. Man zuckt mit den Achseln und sagt: „Wenn sie noch einmal Tausende opfern wollen!“ Wir sind jetzt noch stärker bestückt als während der ersten Belagerung. In den drei Wochen zwischen der 1. und 2. Belagerung hat man viel neue Geschütze und Munition hereingeschafft.

Man erzählt sich hier, daß Przemysl in der russischen Armee sprichwörtlich geworden sei und daß sie sagen, der gute Geist sei mit der Festung und daher sei sie uneinnehmbar.

Ja, sie haben recht, es ist ein guter Geist, der mit Przemysl ist! Der gute Geist unserer gerechten Sache, der uns stark und fest macht und mit dem Gott ist!

Manchmal dringt von draußen durch Radiogramme, oder durch Flieger ein Wort herein. „An die Helden [120] von Przemysl“. Dann schauen unsere Leute verwundert auf und es kommt ihnen sonderbar vor, daß sie das sind! Hier tut jeder Mann jeden Tag einfach und still seine schwere Pflicht. Er hat seit vielen Monaten nichts von draußen gehört und er verliert sein Verhältnis zur Welt, ja er verliert sogar durch Gewöhnung das Gefühl für das Außerordentliche des Postens, auf dem er steht.

So kommt es, daß unsere Leute gar nicht wissen, daß sie draußen in der Welt Helden sind!

Przemysl, den 15. Februar 1915,
     am 98. Tag der 2. Belagerung.

Unsere Forts in der Runde halten wieder mächtige Zwiesprache. Dort dröhnen vereinzelte dumpfe, schwere Schüsse herüber, dazwischen rollen von der anderen Seite langgezogene Artilleriesalven, vom Echo des Schloßberges zurückgeworfen. Aus der Richtung von Lipowica knattern Maschinengewehre.

Die Kälte ist gebrochen. Es ist starkes Tauwetter eingetreten. Das Wasser rieselt in den Straßen und der letzte Schnee stürzt von den Dächern.

Fast jeden Tag sind noch ein paar Bäuerinnen mit Gänsen, Enten und Hühnern auf dem Markt, aber die Preise sind enorme. Man zahlt für ein Huhn 40 K, für eine Gans 60 K und mehr. Diese Preise verlocken immerhin noch manche, das letzte zu verkaufen, was sie selber haben. Jetzt bekommt auch die Zivilbevölkerung wieder ab und zu Rindfleisch zu kaufen, das Kilogramm zu 7—10 K! Den Liter frische Milch bezahlt man mit 2 K und es ist äußerst schwer, welche zu bekommen. Das Militär bekommt teilweise Trockenmilch, mit frischer Milch gemischt. Die Mannschaft frühstückt [121] schwarzen Kaffee oder Reissuppe. Wenn man ab und zu ein Ei erhalten kann, so kostet es 1 K bis 1 K 20 h. Am schwersten macht sich überall der Mangel an Brot fühlbar. Die Mannschaft bekommt nur mehr ein Viertel Brot pro Mann und Tag. Die Zivilbevölkerung überhaupt keines. Wer nicht noch Mehl hat, um selbst zu backen, kann kein Brot bekommen.

Przemysl, den 15. Februar 1915,
     am 100. Tag der 2. Belagerung.

Hier kreisen unablässig alle Gedanken um die Entsatzarmee, alles bezieht sich auf sie, wir reden, träumen, nur von ihr und alle unsere Wünsche und Gedanken klammern sich an sie!

Es sind manche dabei, die müde und stumpf geworden und das kann ihnen, weiß Gott, keiner verdenken. Seit 5 Monaten stehen sie da draußen auf der Wacht, unablässig dem Feinde gegenüber. Unablässig höchste Konzentration, Anspannung bis auf den letzten Nerv! Dabei essen sie sich nicht satt. Dazu die Kälte, die Nässe, das Wohnen in den Erdhöhlen, der Tod, der brüllend um die Festung geht. Und dabei warten sie von Tag zu Tag, von Woche zu Woche, von Monat zu Monat — warten — warten.

Przemysl, den 17. Februar 1915,
     am 102. Tag der 2. Belagerung.

„Unsere Truppen stehen vor den Stadttoren von Czernowitz. Kolomea wurde vom Feinde geräumt."

Nachmittags noch eine Extra-Ausgabe des „Tabori Ujsag“, der ungarischen „Kriegsnachrichten“:

„Die Armee Hindenburg hat neuerdings an den masurischen Seen einen großen Sieg erfochten. Die 10. russische Armee ist aufgerieben, auf Suwalki und Augustow [122] zurückgeworfen. 40 Geschütze, 60 Maschinengewehre und viel anderes Kriegsmaterial erbeutet, das sich noch nicht übersehen läßt. Bis jetzt mehr als 50 000 Russen gefangen genommen.“

Die Deutschen packen sie im Norden, wir packen sie im Süden.

Herrgott, es geht vorwärts!

Przemysl, den 18. Februar 1915,
     am 103. Tag der 2. Belagerung.

Im ersten Kaffeehaus der Festung bekommt man schon seit einem Monat nur mehr Tee, natürlich Tee ohne Rum, augenblicklich nur mehr mit einem Stück Zucker. Die Stammgäste kommen mit einem Stück Zucker in der Tasche hin, d. h. die wenigen Glücklichen, die noch eines besitzen. Wenn man genügend über die „Kriegsnachrichten“ debattiert hat, liest man dort, in Ermanglung von Zeitungen, das Konversationslexikon. Hie und da bringt ein menschenfreundlicher Flieger eine Zeitung aus dem Hinterland mit, über die alle so gierig herfallen, daß sie der Cafetier an die Wand nagelt. Dann drängt man sich tagelang davor, schlingt sie heißhungrig bis zum letzten Buchstaben, zieht ein Notizbuch hervor und schreibt sie für seine Kameraden ab.

Da alle Herren-Artikel schon vor der ersten Belagerung, in den Tagen des Durchmarsches unserer Armee so gut wie ausverkauft waren, kaufen Offiziere und Mannschaften zum Ersatz Damensachen. Man erlebt in den Geschäften die drolligsten Szenen. Von den Damen-Winterhandschuhen, Strümpfen, Tüchern, Spenzern, Wolljacken, Hausschuhen usw. will ich gar nicht reden.

[123] Aber ein anderes heiteres Geschichtchen muß ich erzählen. Kommt ein Offiziersdiener in ein Damenmodegeschäft, von denen es hier sehr elegante, reich assortierte gibt, und zieht ein Päckchen aus der Tasche. Er öffnet es und entfaltet mit ungeschickten, schmutzigen Fingern ein — spinnwebdünnes, weißseidenes Damentrikot — Kombination. Er hält es von sich ab, dreht es nach allen Seiten und betrachtet es mit unzufriedenen Blicken.

„Muß ich umarbeiten für Pani Leutnant,“ sagt er dann und kraut sich hinter dem Ohr, „wie soll ich machen?"

Przemysl, den 19. Februar 1915,
     am 104. Tag der 2. Belagerung.

Gestern nachmittags um 5 Uhr großer Alarm. Das Honvedregiment Nr. 5, das in der Stadt liegt, wird alarmiert. Die Russen stürmen das Fort II.

Auch im Südwesten der Festung, bei Pod Mazurani, stürmt der Feind. Doch unsere Tapferen sind schon bereit und empfangen ihn beim Licht der Scheinwerfer mit einem tödlichen Kartätschenregen. Man erzählt sich, daß die Stürmenden in ganzen Reihen hingemäht liegen.

Das Geschützfeuer nahm nachts an Heftigkeit zu und die schweren Lagen dröhnten bis in den Morgen hinein zu uns herüber. Man kann auch schon wieder russische Schrapnells krepieren sehen. Doch sind sie noch bedeutend weiter von uns entfernt, als zur Zeit des großen Sturmes im Oktober. Unsere Truppen halten jetzt die Vorfeldstellungen, von denen aus die Russen damals die Stadt beschossen.

Auch bei Lipowica wird heftig gekämpft. Man brachte uns wieder mehrere verwundete Offiziere und viele Mannschaften ins Spital. Unter den [124] schwerverwundeten Offizieren einen Wiener, dem eine Granate den Oberschenkel zerschmettert. Er leidet schwer und trägt mit einer bewunderungswürdigen Heiterkeit der Seele. Es tut uns allen das Herz weh, daß man ihm die Amputation des Beines kaum wird ersparen können, wenn auch vorher alles versucht werden wird, um es zu retten.

Przemysl, den 20. Februar 1915,
     am 105. Tag der 2. Belagerung.

Die Russen haben bei Pod Mazurani einen großen Angriff mit starken Kräften unternommen. Es war ein fürchterliches Hinschlachten. Die Unseren ließen sie an manchen Stellen kaltblütig bis auf 150 Schritt herankommen und feuerten dann mit Kartätschen, Schrapnells, Maschinengewehr- und Infanteriesalven hinein. Sie fielen zu Hunderten und Hunderten, in ganzen Reihen. An manchen Werken soll nicht ein einziger der Stürmenden mit dem Leben davongekommen sein.

Unsere Leute kämpfen mit der Wut der Verzweiflung. Ein Honvedregiment wurde kommandiert, einen russischen Stützpunkt mit Bajonettsturm zu nehmen. Es war ein Ringen Brust an Brust. Unsere Leute schlugen sich wie Rasende. Die Offiziere konnten sie nicht mehr halten, sie griffen zu den Gewehrkolben und schlugen die Russen damit nieder. Ein einziger Russe soll übrig geblieben sein, den einer unserer Offiziere seinen Leuten buchstäblich aus den Händen riß.

Erschöpft, die Nerven überreizt, sind sie durch die Leiden so vieler Monate bis zum äußersten gebracht.

Gott steh' ihnen bei!

„Unsere Truppen sind in Czernowitz eingezogen! Nördlich Kolomea und Nadworna sind größere Kämpfe [125] im Gange. Der Feind hat sich auf Novosielica zurückgezogen.

Die Zahl der Gefangenen an den masurischen Seen hat sich bisher auf 64 000 Mann erhöht.

S. M. der deutsche Kaiser stand selbst in der Schlachtfront.“

Przemysl, den 23. Februar 1915,
     am 108. Tag der 2. Belagerung.

Nach dem letzten Sturm scheinen die Russen erschöpft. Sie greifen nicht mehr an und haben sich stellenweise zurückgezogen.

Das Feuer der Unseren ist nicht gänzlich eingestellt, doch fallen nur mehr wenige Schüsse. Bei der Besatzung und der Zivilbevölkerung ist frohe Zuversicht, und die Hoffnung aus baldige Befreiung nimmt täglich zu.

Besonders mittags und abends sind die Straßen voll heiterer Menschen. Die ersten warmen Vorfrühlingstage locken alle hinaus und machen doppelt zuversichtlich. Jungen laufen durch die Straßen und verkaufen die ersten Schneeglöckchen, die jungen Mädchen stecken sich Schneeglöckchen, Veilchen und Föhrenzweiglein an die Brust und Offiziere und Mannschaften tragen den frischen Tannenbruch an der Feldmütze.

Seit vier Wochen sind wir in der Stadt von russischen Bomben verschont geblieben — im Augenblick, wo ich diese Zeilen niederschreibe, hört man Schlag auf Schlag drei Explosionen.

Nachmittags. — Die russischen Flieger haben uns wieder besucht. Eine Bombe ging in der Ulica Grodzka nieder. Sie fiel in den Hof des katholischen Heimes für arme Mädchen, gegenüber dem Offizierskasino. Sie zertrümmerte im Kasino die Fensterscheiben, warf [126] Anwurf von den Mauern, richtete aber weiter keinen Schaden an.

Eine zweite Bombe schlug in der Nähe des Bahngleises ein, auch sehr glücklich, ohne Schaden zu tun. Zwei weitere sollen in den San gefallen sein. Man spricht von 6 Bomben, auch in Zasanie will man einige beobachtet haben.

Es ist erstaunlich, wie kaltblütig, fast gleichgültig die Zivilbevölkerung und die Besatzung dergleichen Ereignissen gegenüber geworden ist. Schon eine halbe Stunde später hat man, wenn man durch die Straßen geht, den Eindruck, als wäre nichts geschehen. Manche werden es Leichtsinn nennen. Es ist teilweise Gewöhnung, teilweise Abspannung, zum allergrößten Teil aber jene gesunde Elastizität junger, begeisterter Menschen, die instinktive Selbsthilfe ist. Wir lernen sie erst begreifen, vom Schlachtensturm umbraust, vom Tode gestreift, dem Hunger nah. Und wir segnen sie, denn ohne sie wären wir hinweggefegt — sie ist es, die unsere Braven draußen am Bollwerk Tag um Tag, Nacht um Nacht wachen macht, sie täglich, stündlich ihre schwere Pflicht von neuem aus sich nehmen läßt, sie ist es, die uns mit einem Scherzwort über alle Dinge hinaushebt, die wir entbehren — und sie ist es endlich, die uns jeden Tag wieder von neuem glauben und hoffen macht!

Extra-Ausgabe der Kriegsnachrichten.

Die 10. russische Armee vernichtet. Bei den Gefechten im Bobr und Narewgebiet wurden bisher ein kommandierender General, 2 Divisionskommandeure, 4 andere Generäle und annähernd 40 000 Mann gefangen genommen, 75 Geschütze, eine noch nicht festgestellte Anzahl von Maschinengewehren und sonstiges Kriegsmaterial erbeutet.

[127] Die Gesamtbeute aus der Winterschlacht in Masuren steigt damit auf 7 Generäle, über 100 000 Mann, über 150 Geschütze und noch nicht annähernd übersehbares Kriegsmaterial aller Art.

Hurra den Deutschen!

Przemysl, den 25. Februar 1915,
     am 110. Tag der 2. Belagerung.

Seit gestern ist Przemysl wieder in ein Schneekleid gehüllt. Es schneite bei 0 Grad ziemlich heftig. Der Schnee liegt schwer und naß auf den Bäumen, biegt die Zweige tief zu Boden und verbreitet in den Straßen eine Sintflut.

Das Feuer hat aufgehört. Es ist eine vorübergehende Entspannung eingetreten. Man hofft, daß dies der letzte Sturm der Russen war.

In der Bukowina kämpft unsere Armee bereits südlich des Dniestr, hat eine starke Gruppe des Feindes nach längerem Kampfe geworfen und 2000 Gefangene gemacht.

Dazu der fortwährende Kampf mit den Unbilden des Wetters. Wir haben hier den ganzen Winter nur 14 Tage Frost gehabt und das war für unsere Truppen die leichtere Zeit. Die ganze übrige Zeit, vom Ende September an, waten unsere Soldaten in knietiefem Morast. Die Geschütze bleiben stecken und sind nicht vom Fleck zu bewegen. Unter nichts leiden unsere Truppen mehr als unter der Nässe, denn vor nichts schützt man sich schwerer.

Przemysl, den 27. Februar 1915,
     am 112. Tag der 2. Belagerung.

Der Donner der Kanonen schweigt, nur ab und zu halten russische Bomben Zwiesprache mit unseren [128] Festungsgeschützen. Schon heute vormittag schlug eine Bombe auf dem Bahngleise, unweit des Stationsgebäudes nieder und verletzte zwei Bahnbeamte, glücklicherweise nur leicht, durch zersplitternde Fenster.

Eine zweite Bombe ging unmittelbar darauf in der Nähe des Artillerie-Zeug-Depots nieder.

Nachmittags zwischen 2—3 Uhr erfolgten noch 4 oder 5 Detonationen, auf die unser Feuer antwortete. Gleichzeitig verfolgte unser Flieger den Feind. Es ist ungemein schwer, mit Schrapnells Aeroplane zu treffen, da die Berechnung der Höhe und Entfernung äußerst schwierig ist. Dazu kommt noch die Schnelligkeit des Aeroplans, die Leichtigkeit im Wenden, Sinken, Steigen. So gelingt es verhältnismäßig nur selten, einen herabzuschießen. Aussichtsvoller ist hingegen der Angriff durch den eigenen Flieger, der den Feind zu überfliegen trachtet und ihn durch abgeworfene Bomben oder durch Maschinengewehrfeuer unschädlich zu machen sucht. So gelang es einem unserer heldenmütigen Piloten, durch einen einzigen Bombenwurf zwei russische Aeroplane zu vernichten. Leider sind in der letzten Zeit vier unserer kühnsten Flieger verschollen. Sie sind von einem größeren Rekognoszierungsflug nicht mehr zurückgekehrt und man weiß nichts von ihnen. Mit ihnen ging auch einer unserer neuen, mit aufmontiertem Maschinengewehr ausgerüsteten Apparate verloren.

Przemysl, den 1. März 1915,
     am 114. Tag der 2. Belagerung.

Mit welcher Befriedigung schreibt man den „1. März“! Ist doch den ganzen langen Winter über der März jener Monat gewesen, auf den wir die größte Hoffnung für unsere Befreiung setzten. [129] „Im Winter wird es wohl nicht mehr möglich sein,“ sagte sich jeder, „aber im März!“

Nun bricht er an, der vielgerufene, heißersehnte, schwer erwartete. Sonnig, zuversichtlich und strahlend wie ein echter Frühlingstag.

Gott helfe, daß er uns Wort hält!

Das vorgestrige Bombenattentat hat wieder drei Opfer gekostet. Der 18jährige Sohn eines jüdischen Kaufmannes in Zasanie wurde schwer verletzt, als eine Bombe in der 3. Maystraße einschlug und ist bereits seinen Verletzungen erlegen. Ebenso starb ein Soldat, den eine Bombe in der Mickiewicza ereilte, wenige Stunden nach dem Unfalle. Auch einer Bäuerin in Blonie soll eine Bombe beide Beine weggerissen haben; auch sie soll schon tot sein.

So sind wir tagaus tagein von Gefahr und Tod umlauert. Man kann sich schon nicht mehr vorstellen, wie gut es sein muß, wieder beruhigten Herzens aus dem Haus gehen zu können, nicht immer mit angespannten Nerven lauschen und spähen zu müssen, ob der Totenvogel dort oben nicht wieder seine dunklen, unheilvollen Kreise zieht.

Przemysl, den 2. März 1915,
     am 115. Tag der 2. Belagerung.

Gestern sind die letzten Zigaretten ausgegeben worden. Was das für Offiziere und Mannschaften heißt, kann man nur ganz beurteilen, wenn man hier ist und sieht, wie den Leuten das Rauchen fast über das Essen geht. Sogar wer Nichtraucher war, hat sich hier das Rauchen angewöhnt. Es ist eine Art Stimulationsmittel, ein äußerer Anreiz sich aufrecht zu erhalten, auszuhalten!

[130] So steigt der Wert des Tabaks ins Fabelhafte. Bei einer Versteigerung von einer Schachtel Pursitschan, die im Werk I zugunsten des Fonds für Witwen und Waisen abgehalten wurde, erzielte man einen Preis von 260 K, für eine Schachtel Tabak, die sonst 2 K 60 h kostet! Im täglichen Tauschverkehr werden zwei Päckchen mittelfeiner türkischer Tabak, von denen normalerweise das Päckchen 32 h kostet, mit 10 K oder 1 kg Zucker berechnet.

Das Rindfleisch, nur äußerst schwer und selten erhältlich, ist auf 10 K das kg gestiegen. Das Pferdefleisch hingegen kostet nur 1 K 20 h — 1 K 40 h und die Leute beginnen sich daran zu gewöhnen. Das Verpflegsmagazin gibt nebst allen anderen Lebensmitteln auch Pferdefleisch an die Zivilbevölkerung ab, wie es heißt, 5 kg monatlich für die Person.

Immer schwieriger gestaltet sich auch die Unterbringung der Kranken, Rekonvaleszenten und Superarbitrierten, die auf den Abtransport warten. Man war sogar gezwungen, das polnische Theater als Spital für Rekonvaleszenten einzurichten und die Mannschaften liegen auf der Bühne, im Zuschauerraume, zu zwei und zwei in den Logen und auf den Galerien. Schwer fühlbar macht sich der große Mangel an Betten, Decken und Stroh, so daß man einem großen Teil der Kranken nur Strohsäcke mit Hobelspänen gefüllt, als Lager geben kann.

So warten wir von Tag zu Tag schwerer!

Przemysl, den 4. März 1915,
     am 117. Tag der 2. Belagerung.

Gestern wieder großer Alarm! Die Russen stürmen die Südfront! [131] Gegen Abend kamen die ersten Verwundeten. Doch scheinen sich die Russen bald wieder zurückgezogen zu haben, denn das heftige Feuer währte nur einige Stunden und noch am gleichen Abend kamen zwei unserer Bataillone vom Schlachtfeld zurück.

In Jaksmanice schlugen feindliche Granaten in das Bezirks-Marodenhaus, so daß die Kranken zum Teil in anderen Spitälern untergebracht werden mußten, was der Mangel an Betten täglich schwieriger macht. Auch das dortige Feldlazarett stand im gleichzeitigen Feuer von sechs feindlichen Batterien, so daß es geräumt werden mußte.

Seit drei Tagen ein echtes Aprilwetter. Mitunter schneit es so dicht, wie es den ganzen Winter nicht geschneit hat, eine halbe Stunde später strahlt die Sonne vom blauen Himmel. So geht es 5—6 Mal des Tages.

Man erzählt sich, daß unsere Armee bereits Stanislau erreicht hätte, die Russen dort Verstärkungen erhielten und daß jetzt südlich des Dniestr ein großer Zusammenstoß stattfinde. Letzteres bestätigen auch die „Kriegsnachrichten“.

Auch sonst schwirren noch unkontrollierbare frohe Gerüchte in der Luft, bei denen leider nur zu oft der Wunsch der Vater des Gedankens ist.

Besonders mangelt den Mannschaften auch das Zigarettenpapier. Alles Seidenpapier, sogar das farbige, ist längst schon aufgekauft. Man sieht Mannschaften mit Zigaretten aus rosa, blauem oder grünem Seidenpapier, in das sie zerschnittenen Pfeifentabak stopfen. In unserem Verwundetenzimmer traf ich zwei, von denen der eine ein braunes Wickelpapier, der andere ein gouffriertes, mit Blumen gepreßtes Hüllpapier für Blumentöpfe zum Zigarettendrehen benützte. Schon seit Wochen geht man in alle Privat- und Geschäftshäuser und kauft [132] auf, was man findet, Bücher, Papiere, Bleistifte, Federn, Zwirne, Nadeln, usw., besonders aber alte Kopierbücher, sogar beschriebene, die man zu Zigarettenpapier verschneidet.

Auch Spiele aller Art, besonders Kartenspiele und Schachspiele werden in den Spitälern leidenschaftlich begehrt. Da es längst schon kein Schachbrett mehr zu kaufen gibt, kam ein findiger Geschäftsmann auf die Idee, seine mit einem Schachbrettmuster bedruckten Linoleum-Tischdecken als Schachbrett im Auslagefenster zu empfehlen! Alle diese und ähnliche Dinge kann man nur mit viel Glück und im besten Fall unter der Hand bekommen. So brachte der Friseur unseren verwundeten Offizieren im Spital ein Kartenspiel, das 2 kg Zucker und 1/2 Liter Rum, oder 37 K kostet!

Przemysl, den 9. März 1915,
     am 122. Tag der 2. Belagerung.

Heute kam ein Teil unserer mobilen schweren Geschütze, 30,5 cm- und 24 cm-Mörser durch die Stadt, um gegen Süden verschoben zu werden. Es scheint, daß die Russen sich dort mit ihrer Hauptkraft konzentrieren, um unsere Entsatzarmee zu erwarten.

Wir wissen keine Einzelheiten über die Lage, doch schwirren ununterbrochen frohe Gerüchte durch die Stadt. Sie erfahren aber keine offizielle Bestätigung und es hat sich daraus die Anschauung gebildet, daß man keine Hoffnungen erwecken will, solange man nicht ganz sicher ist, sie nicht etwa wieder enttäuschen zu müssen. Es heißt auch, daß die „Kriegsnachrichten“ einige Tage nicht erscheinen werden, weil man keine Details veröffentlichen will.

Die ganze Stadt liest gespannt in dem Gesicht unseres Festungskommandanten und freut sich, wenn er mit [133] Divisionär F. M. L Tamasi heiter scherzend durch die Straßen geht, den frischen Tannenbruch an der Feldkappe.

Przemysl, den 11. März 1915,
     am 124. Tag der 2. Belagerung.

Die guten Nachrichten verdichten sich mehr und mehr. Die „Kriegsnachrichten" von gestern bringen keine Namen, aber sehr günstige Meldungen:

„In den Karpathen wurden starke russische Angriffe abgewiesen. Hunderte von toten Russen liegen vor unseren Stellungen. Angreifend eroberten wir eine Kuppe, wobei wir 10 Offiziere und 700 Russen gefangen nahmen. Auf benachbarten Höhen nahmen wir 1000 Russen gefangen.

In Südost-Galizien erlitten die Russen eine empfindliche Schlappe.

In Westgalizien eroberten wir eine Ortschaft und nahmen mehrere Offiziere und 500 Russen gefangen.“

Das ist eine Nachricht vom 9. März über Wien und etwa 4 Tage alt. Einstweilen will man aus zuverlässiger Quelle wissen, daß unsere Entsatzarmee bereits auf 70 km gegen Przemysl vorgegangen ist.

Was ist das hier für ein Auf und Nieder der Gefühle! Die einen jubeln und schließen Wetten ab, daß wir in 5 Tagen frei sind! Die Pessimisten schütteln die Köpfe, zucken die Achseln über den Leichtsinn der anderen und beharren hartnäckig auf ihrem Unglauben. Aber den Optimisten und den Pessimisten, der Zivilbevölkerung, den Offizieren und der Mannschaft gemeinsam ist das fiebernde, nervenzersetzende Warten, das allein gleichsam den ganzen Menschen ausmacht.

Da sind vor allem unsere heldenmütigen Soldaten, die seit Monaten darben, frieren, kämpfen und wachen, [134] immer auf dem Posten, immer im Angesicht des Feindes. Es kommen die traurigsten und seltsamsten Nervenpsychosen unter ihnen vor, verursacht durch Unterernährung und durch übermenschliche Anspannung. Nun kommt in die müden, vom Frost geröteten, starren Augen wieder ein Lebensfunke. Ein furchtbarer Druck beginnt sich langsam, langsam zu lösen.

Gott, Gott, sei mit uns, wirf uns nicht noch einmal zurück in den Abgrund!

Przemysl, den 12. März 1915,
     am 126. Tag der 2. Belagerung.

Heute nach 10tägigem ununterbrochenen Schneewetter, eisigem Wind und Frost zum erstenmal wieder ein Sonnenblick.

Besonders gestern und vorgestern schneite es ununterbrochen den ganzen Tag, türmte hohe Schneewehen auf und der trockene Schnee wirbelte, vom Winde gejagt, durch die Luft. Der Schnee liegt fast so hoch wie im Winter und heute früh hatten wir beinahe 10 Grad Kälte.

Dieser Nachwinter ist eine böse Sache für uns, und unsere Entsatzarmee und kann sie wieder um Wochen aufhalten.

Die Krankheiten nehmen in der Festung immer mehr zu. Gestern abend kamen gleichzeitig 80 Honved in das Spital, die meisten an übermäßiger Erschöpfung leidend.

Wir können nicht mehr lange warten!

Vorgestern abend sah man einen Riesenbrand in der Richtung auf Lemberg. Viele glauben, daß die Russen Medyka räumen und in Brand gesteckt haben, Dasselbe sagt man auch von Dynow.

[135] Przemysl, den 13. März 1915,
     am 126. Tag der 2. Belagerung.

Gestern steigerte sich das Geschützfeuer im Laufe des Tages immer mehr. In der Nacht zwischen 12—2 Uhr erwachte man von gewaltigen Lagen, die durch die Nacht herüberdröhnten. Man sah vom Spital aus das Aufblitzen beim Abfeuern der Geschütze und das Krepieren der russischen Schrapnells.

Wie man im Laufe des Vormittags erfährt, hat der Feind in der Nacht die höhe Na Gorach zu stürmen versucht, ist aber glänzend abgewiesen worden. Unsere todesmutigen Honved haben wieder heiße Arbeit. Das Geschützfeuer währte bis in den Morgen hinein, dann flaute es ab. Am Nachmittag aber und am Abend rollten noch einmal ein paar schwere Lagen herüber.

Endlich scheint der Frost gebrochen, doch immer schneit es noch ab und zu. Auf dem Schloßberg liegen die Schneewehen so hoch, daß ein Durchkommen gar nicht möglich ist. Wie muß es erst draußen im Felde sein! Und zu denken, daß unsere Entsatzarmee durch die Ungunst des Wetters sozusagen vor den Toren, wenige Kilometer von uns entfernt, zurückgehalten wird, während wir hier mehr sterben als leben!

Przemysl, den 17. März 1915,
     am 130. Tag der 2. Belagerung.

Was war das gestern für ein Tag des Grauens! Ich komme ganz ahnungslos ins Spital und finde allgemeine Bestürzung und eine furchtbare Konsternierung.

Die unheilvollsten Gerüchte gehen wie Körper gewordene Nachtgespenster bei hellichtem Tage um.

Man flüstert sich zu, daß unsere Entsatzarmee zurückgegangen sei — spricht von einem letzten Todesmarsch [136] der Honved, die sich kämpfend zur Entsatzarmee durchschlagen sollen — sagt, daß die Festung in wenigen Tagen fallen kann. Was diesen Unglücksgerüchten noch mehr Nahrung gibt, ist, daß man heute unseren verwundeten Offizieren die Waffen abverlangt.

Tatsächlich werden überall Sanitätsabteilungen ausgerüstet und es marschieren größere Truppenformationen durch die Stadt.

Auf allen Gesichtern liegt tiefster Ernst. Und auch die, die sich, wie wir, mit aller Macht gegen die Nacht stemmen, die uns von allen Seiten umlauert, um auf uns hereinzubrechen, auch diese fühlen die Wucht einer nahen Entscheidungsstunde.

Ave Caesar, Imperator, morituti te salutant!

Die Honved sind heruntergekommen durch Entbehrungen und Überanstrengung — am Ende.

Es wird ein letzter furchtbarer Verzweiflungskampf um Sein oder Nichtsein!

Gott, Gott, Du kannst uns nicht verwerfen!

Wenn Przemysl fällt, das ist jedem von uns der Stoß ins Herz.

Przemysl, den 18. März 1915,
     am 131. Tag der 2. Belagerung.

Der Schlußakt ist gekommen. Noch wissen wir nicht, welches sein Ende sein wird.

Das Brotmehl ist ausgegangen. Die letzten Pferde gegessen. Die Mannschaft kann nur mehr auf Tage hinaus verpflegt werden. Nichts ist dem Mann notwendiger als Brot. Und das Viertel Brot, das der Mann seit Wochen täglich faßt, hält nicht den Hunger ab.

Nun hat die Besatzung die Bereitschaftsstellungen am Fortgürtel bezogen. Dort wartet man auf einen [137] günstigen Augenblick zu einem gewaltsamen Durchbruch nach zwei Seiten mit den gesammelten letzten Kräften.

Die Gesichter der Offiziere, die von draußen herein kommen, sind düster. Die Leute stehen kaum mehr auf den Füßen vor Mattigkeit. Es ist stumme Verzweiflung in ihnen. „Durch! durch!“ sagen ihnen die Offiziere, „nach Hause — nach Hause —!“ Und sie ballen die Fäuste und beißen die Zähne zusammen.

Sie werden sich schlagen wie die Rasenden — ein furchtbarer letzter Todeskampf.

In der Festung ist fieberhafte Tätigkeit.

Man ist auf alles gefaßt. Alles wird vorbereitet. Das Papiergeld und die Dienstbücher werden gesammelt, um im letzten Augenblick verbrannt zu werden. Den Offizieren und Gagisten wird der Gehalt für April gezahlt, um keine zu große Menge von Bargeld angehäuft zu haben.

In den Werken wird Sprengstoff vorbereitet, um vor der Übergabe Geschütze und Forts zu sprengen.

Die Flieger und Ballonführer packen in Hast und halten sich zum Abfliegen bereit. Mit ihnen geht das Letzte, das uns mit unseren Lieben verband.

Am aufgelassenen Judenfriedhof kauern die Judenweiber vor den alten Grabmalen und weinen. Und dazu schneit es — schneit hoffnungslos und eintönig nun schon den 17. Tag.

Przemysl, den 19. März 1915,
     am 132. Tag der 2. Belagerung.

9 Uhr früh. Seit 7 Uhr früh schlagen russische Schrapnells in die Stadt herein. Es ist viel ärger als am 7. Oktober, wo sie nur vereinzelt kamen. Es ist ein sausendes Pfeifen in der Luft und ein schütternder Schlag nach dem anderen.

[138] Noch weiß ich nicht, in welchem Stadtviertel sie einschlagen, aber es ist wohl anzunehmen, daß sie wieder dem Verpflegsmagazin gelten.

In den Straßen nur wenige Menschen. Einige drücken sich rasch und scheu den Häusern entlang. Andere gehen gleichgültig ihres Weges, wieder andere stehen und schauen neugierig hinaus. Es ist ein Fatalismus in allen. Die Not dieser Monate hat uns abgestumpft.

Seit gestern dröhnt es im Kreis um die ganze Festung. Die schweren Mörser greifen von allen Seiten in den Kampf ein.

Die Bäume neigen die Äste zu Boden unter der Last des Neuschnees und es schneit noch immer weiter.

Heute sollen unsere Flieger abfliegen und werden bei diesem Wetter wieder nicht wegkönnen. Auch die Freiballons harren schmerzlich auf einen Augenblick des günstigen Windes. Zeit einigen Tagen haben sie Gegenwind. Und sie haben nicht mehr lange Zeit zu warten.

Draußen in den Bereitschaftsstellungen liegen in Kälte und Nässe unsere abgehetzten, verhungerten Leute und warten auf den Augenblick, wo es in den Tod hinausgeht.

10 Uhr vormittags. — Unsere Besatzung steht draußen und kämpft. Heute nacht sind unsere Truppen ausgebrochen.

Gott steh' uns bei! Die Würfel fallen.

Mittags. — Die Honved schlagen sich, jeder Mann ein Held! Man erzählt, daß Div. Tamasi mit ihnen durchgebrochen ist.

Nachmittags. — Die galizischen Regimenter sind zurückgeworfen worden. Sie kommen mit vielen Verwundeten zurück.

[139] Wie soll das Häuflein Honved sich allein durchschlagen?

Przemysl, den 20. März 1915,
     am 133. Tag der 2. Belagerung.

Die Honved sind zurückgeworfen worden — furcht bar dezimiert. Eine Unzahl Tote und Verwundete, ein Teil vermißt, ein anderer gefangen genommen. Uns brachten sie einen Honved-Fähnrich ins Spital, einer der schneidigsten jungen Offiziere des Regimentes. Er war allein von 7 Russen umringt. Sechs schoß er mit dem Revolver nieder, der siebente rannte ihm sein Bajonett in die Lunge.

So kämpfen wir hier — einer gegen sieben.

In den Straßen schleppen sich die zurückgekommenen Mannschaften herum. Sie sehen wie Gespenster aus und man meint, daß sie bei jedem Schritt zusammenbrechen. Sie bitten um Brot und man hat keines, um es ihnen geben zu können.

Es ist des Grauens kein Ende.

Vor den Spitälern, in denen seit Tagen kein einziges Bett mehr frei ist, obwohl man in der letzten Zeit eine große Zahl Privathäuser in Spitäler umgewandelt hat, liegen die ankommenden Verwundeten, die halbgeheilten, die Rekonvaleszenten, für die kein Platz mehr ist, stundenlang auf der Straße, bevor irgendein Winkel für sie frei wird. Die ganze Festung ist ein einziges Spital.

Am San arbeitet man fieberhaft, schüttet Benzin und Petroleum hinein, versenkt Waffen und Munition und bereitet alles zur Sprengung der Brücken vor.

Auch in den Werken sind die Minen überall bereit.

Heute früh schlugen noch einige Granaten und Schrapnells in die Stadt. Seither ist es wieder still. [140] Am meisten soll die Straße gegen Lemberg gelitten haben, wo niedere Vorstadthäuser stehen, die wenig widerstandsfähig sind.

Wie am Morgen das Bombardement der Stadt von neuem begann, erhielten unsere Flieger Befehl abzufliegen um jeden Preis. Das Wetter unsichtig. Seit 14 Tagen Gegenwind. Die Motore der Apparate zum größten Teil defekt und unverläßlich. Ebenso die Ballons, das Material verbraucht, die Ballons mühsam zusammengeflickt mit den letzten Resten von Ballonleinwand, die noch vorhanden.

Einige Apparate versagen sofort beim Aufflug. Zwei andere treiben in der Richtung gegen Rußland ab. Der nächste geht noch innerhalb der Festungswerke mit Motordefekt nieder. Ein einziger zieht ruhig und sicher seine Schleifen, verschwindet in den Wolken, der Heimat zu.

Das Schicksal der Ballons, die in einer Gondel unseren berühmten österreichischen Rekordflieger, Hauptmann Blaschke, mitführen, ist noch trauriger. Dem Gegenwinde preisgegeben, treiben sie dem Feindesland zu, unaufhaltsam.

Eben wird der letzte Proviant ausgegeben.

Wir werden uns halten bis zum Alleräußersten.

Heute wurde folgender denkwürdiger Festungskommando-Befehl erlassen:

Offiziere und Soldaten!

Ich habe gestern an Seine Majestät ein Telegramm gerichtet, in welchem ich von dem bevorstehenden Durchbruchsversuche Meldung erstattete und Seiner Majestät den Ausdruck unserer unentwegten Liebe und Treue zu Füßen legte.

[141] Heute den 19. ist hierauf folgendes Telegramm von Seiner Majestät hier eingelangt:

„Die Meldung des heroischen Ausfalles, den die bisher unbesiegte Besatzung von Przemysl zu unternehmen entschlossen ist, hat mich tiefstens ergriffen, und aus dem Grunde meines Herzens sende ich den Helden, die eine letzte große Tat zur Ehre des Vaterlandes und zum Ruhme unserer Waffen beginnen, meine Segenswünsche.

Was die Besatzung Przemysls geleistet, bleibt ewig denkwürdig, und jedem einzelnen gebührt ein Blatt aus dem Lorbeerkranze, den dankerfüllt Ich und das Vaterland der tapferen, opferfreudigen Besatzung von Przemysl weihen!

Des Allmächtigen gnädigster Schutz sei mit Euch!
Franz Josef I.“     

Auch an den Armee-Oberkommandanten F. M. Erzherzog Friedrich habe ich gestern radiographisch die Absicht gemeldet, daß wir heute den Durchbruch versuchen werden.

Auf diese Meldung ist die nachstehende Radioantwort eingetroffen:

„Der tapferen Festungsbesatzung und ihrem bewährten Führer für heldenmütiges Ausharren meinen Dank und meine vollste Anerkennung. Und ein herzliches „Glück auf!“ von mir und allen Kameraden der Armee zu ruhmvoller Tat!
F.-M. Erzherzog Friedrich.“     
Soldaten!
Wenn auch der heutige Versuch, den ehernen Ring zu durchbrechen, der uns umschließt, gescheitert ist, so wollen [142] wir doch, getreu unserem Eide und in grenzenloser Liebe und Ergebenheit für unseren Kaiser und König, ausharren bis zum Ende.
Kusmanek.     

Przemysl, den 21. März 1915,
     7 Uhr abends.

Ein Flieger aus Krakau ist eben eingetroffen. Er bringt sehr gute Nachrichten von der Armee.

Es geht wie ein Fieber durch die Festung. Wenn wir uns noch zehn — vierzehn Tage halten können — vielleicht, vielleicht —?

Wird der Befehl zur Sprengung zurückgezogen werden?

Es trifft jeden wie ein Blitzstrahl, geht ihm durch und durch, greift ihm ins Innere des Herzens.

Die Menschen klammern sich aneinander, die Augen des einen saugen sich an den Augen des anderen fest, verlangen von ihm das erlösende Wort.

Przemysl, den 22. März 1915,

Die Tragödie ist zu Ende. Oder beginnt sie erst jetzt?

O Grauen dieser Schicksalsnacht!

Abends um 9 Uhr beginnen unsere Werke mit dem Ausschießen der Munition. Ein Rollen um die ganze Festung, wie wir es nie zuvor gehört. Lage folgt auf Lage, alle Forts erheben gleichzeitig ihre furchtbare Stimme, alle Werke, alle Zwischenwerke. Es ist ein unausgesetztes, wellenförmiges Rollen in der Luft. Die Fenster klirren, die eisernen Balkengitter schütteln sich knirschend und schwingen unausgesetzt. Dazwischen Donnerschlag auf Donnerschlag, das Brüllen der schweren Mörser, die knatternden Salven der Schnellfeuerkanonen.

[143] Alle Urlaute der Hölle sind los. Man könnte sich aus einem feuerspeienden Berg mitten im Lavaregen glauben.

Wir haben begriffen.

Die Stunde ist gekommen.

Jeder Donnerschlag trifft uns mitten ins Herz. Die Hände krampfen sich zur Faust.

Jeder Donnerschlag ein Aufschrei der Toten, die umsonst geblutet, der Hungernden, die umsonst gehungert.

Jeder Donnerschlag ein Aufschrei der hunderttausend gemarterten Seelen, die ihr Herzblut für dieses Werk gegeben.

So geht es die ganze Nacht.

Von Zeit zu Zeit fliegt ein einzelnes gehetztes Automobil durch die Straßen. Ein Aeroplan rattert so dicht an unserem Fenster, daß man ihn im Zimmer meint. Der letzte Aeroplan, der heimwärts flieht.

Ab und zu schlummern wir vor Ermüdung ein. Ein Halbschlaf mit einem furchtbaren Alp auf der Brust, von dem man sich immer befreien will. Ein Halbschlaf voll unerklärlicher, grauenhafter Töne, wie ein wahnwitziges, grelles Auflachen der Hölle.

Um halb vier Uhr früh eilt Polizei durch die Straßen, dringt in die Häuser.

„Auf! Auf! Alles aus den Häusern! Alle Fenster öffnen! Man sprengt die Werke! Man sprengt die Brücken!“

Keine Zeit zum Waschen, keine Zeit zum Kämmen. Man springt in die Kleider und schließt sich dem unabsehbaren schwarzen Zug von Menschen an, der von dem Militär, das alle Straßen besetzt hält, in die Slovackigasse dirigiert wird.

In den Straßen totenbleiche Gesichter, im ersten fahlen Dämmerlicht des Morgens. Soldatenspalier. In [144] der Slovackigasse eine schwarze Menge zusammengedrängter Menschen. Judenweiber mit wirrem Haar, auf jedem Arm ein Kind, zwei andere hängen an den Rockfalten der Mutter. Sie weinen nicht, sie starren nur mit entsetzten, weit ausgerissenen Augen in die weißen, seltsam versteinerten Gesichter rings um sich. Der Vater geht im zerschlissenen Kaftan hinterher, die Hände auf dem Rücken, den Kopf gesenkt. Seit Monaten handelt und feilscht er nicht mehr, gibt dem hungernden Landsturmmann das Letzte, was er noch geben kann. Er denkt auch jetzt nicht, was aus ihm werden wird. Der gleiche übermenschliche Schmerz, der uns verzehrt, verzehrt auch ihn, verschmilzt uns alle in seinem lauteren Feuer.

Die Mannschaften treten an. Sie sind nur mehr Haut und Knochen, die zu weit gewordenen, abgenützten Uniformen schlottern an ihnen. Die Gesichter erdfarben, der Blick erloschen. Sie erhalten sich kaum mehr auf den Beinen. Ein Mannschaftskoch geht vorbei, auf der Schulter trägt er einen rohen Pferdeschlegel. Man hat die letzten Pferde, die Pferde der Adjutanten, geschlachtet. Die Leute sollen sich noch einmal satt essen. Es treibt einem die Tränen in die Augen, dieses Aufflackern in diesen armen, entzündeten Augen zu sehen, wie der Koch mit dem roten Pferdeschinken an ihnen vorbeikommt. Sie fühlen nichts anderes mehr, denken nichts anderes mehr, eine einzige Zwangsvorstellung hat von ihnen Besitz ergriffen — essen — essen. Sie haben sich bis zur allerletzten Kraft — bis zum Alleräußersten aufrecht erhalten. Sie können nicht mehr.

Schweigend harren die Tausende. Keiner klagt. Keiner spricht. Im kalten Morgenlicht scheinen diese tränenlosen, harten, weißen Gesichter wie aus Stein gehauen. Um vier Uhr früh lodert die erste Mine auf. Und [145] dann flammt es auf um die ganze Festung. Donnerschlag folgt auf Donnerschlag, Explosion auf Explosion. Die Gewalt des Luftdruckes faßt die Menschen, schüttelt sie, wie der Schlag einer hochgespannten elektrischen Batterie.

Fenster und Türen springen aus den Angeln und klirren zu Boden. Die herabgelassenen eisernen Rollladen der Geschäftsläden biegen sich wie dünnes Papier in spitzem Winkel nach außen. Im Augenblick sind die Straßen mit zersplitterten Fenster- und Türrahmen, mit Ziegeln, die es von den Dächern fegt, mit Teilen von Simsen und Dachrinnen bedeckt. Der Boden ist wie gepflastert mit einer einzigen Masse von feinem Glasstaub, Maueranwurf und Ziegelstaub. Dazwischen liegen, halb zertreten, ganze Lager von weggeworfenen Gewehrpatronen.

Ein Fort gibt dem anderen die Hand. Mine folgt auf Mine. Züngelnde Blitze, von furchtbarem Getöse begleitet, schwere, schwarze und weiße Rauchschwaden, von den ersten Strahlen der aufgehenden Sonne rosig beleuchtet.

Und während draußen im Kreis um die Festung der Flammenring der lodernden Forts rotglühend zum Himmel schlägt, steigen in den Straßen der Stadt die Flammensäulen auf. Die drei Sanbrücken fliegen in die Luft, die Innenwerke, die Dynamit- und die Pulvermagazine. Zwischenhinein knattern unablässig die Gewehrpatronenmagazine, wie sie langsam, Stockwerk für Stockwerk, durchbrennen.

Wir stehen unweit des Roten-Kreuz-Spitals, an der Mauer des alten Judenfriedhofes. Da zischt eine jähe Flammengarbe hinter der Mauer auf, eine enorme Detonation biegt durch die Gewalt des Luftdruckes die Äste der alten Friedhofsbäume bis auf die Erde [146] herab, daß sie uns ins Gesicht peitschen. Wir sind einen Augenblick eingehüllt in eine Wolke von Pulverdampf, von Pulverstaub geschwärzt, von Astwerk, Schutt und Ziegeln überschüttet. Im Augenblick des Schreckens denke ich an eine Beschießung der Stadt, an eine russische Granate, die unmittelbar neben uns eingeschlagen hat.

Es ist ein Pulvermagazin, das unweit von uns gesprengt wird.

Wir stehen auf einer kleinen Anhöhe mit weitem Horizont. Nach 21 Schnee- und Frosttagen leuchtet an diesem Todesmorgen zum erstenmal wieder die Sonne über der unseligen Feste.

Sie leuchtet der Majestät dieses Todes, dieses stolzen Todes in den eigenen, reinen Flammen.

Die Atmosphäre schwingt und zittert unausgesetzt von den sich unaufhörlich wiederholenden Explosionen. Die Mauern der Häuser erbeben bis in die Grundfesten. Grelle Blitze zischen auf, springen von Mine auf Mine über. Der Horizont ein einziger Flammengürtel, von schweren Rauchschwaden umschwelt.

Was sehen meine Augen so rot —? Siehst du das Blut, das Blut der Hunderttausend, das hier geflossen und das heute zu Flammen wird — ?

Ich denke in dieser Stunde nicht an dich — nicht an mich, nicht an die eigene Gefahr — nicht daran, was die nächste Stunde uns bringen wird — ?

Wir sind beide nur erfüllt von dem einen einzigen, furchtbaren: „Umsonst — !“ —

Um 9 Uhr vormittags übergibt unser Festungskommandant, G. d. I. von Kusmanek, die Festung mit den kurzen Worten: „Die Lebensmittel sind erschöpft. Die Werke sind geschleift. Ich übergebe die offene Stadt und erwarte Ihre Befehle. Bedingungen stelle ich keine.“

[147] Der Kommandant der 11. russischen Armee, der Kosaken von Orenburg, General Artamanow, übernimmt das Kommando der Festung. Er ehrt die heldenmütige Verteidigung von Przemysl, indem er unseren Offizieren auch in der Gefangenschaft den Säbel beläßt.

Przemysl, den 22. März 1915,
     abends.

Mittags sind die ersten russischen Truppen in die Stadt eingezogen. Es sind vorderhand nur einige Bataillone Infanterie und die Kosaken von Orenburg.

Ihr Einmarsch vollzieht sich in tadelloser Ordnung. Das Leben geht vorderhand weiter, als ob sie gar nicht da wären.

Während des Einmarsches hält sich die Bevölkerung in den Häusern. Doch schon wenige Stunden darauf, als alles ruhig bleibt, ist die ganze Einwohnerschaft in den Straßen.

Es ist ein seltsames, phantastisches Bild, das sich am Spätnachmittag und Abend am San entwickelt. Man greift sich immer wieder von Zeit zu seit an den Kopf, weil man zu träumen meint.

Ein wunderzarter, reiner Hiimmel spannt sich über der Stadt. Die schon tiefstehende Sonne trifft mit den letzten schiefen Strahlen die Schlangenwindungen des San und blitzt in jeder dieser Windungen von neuem golden auf. Die angeschwollenen übermütigen Wellen tragen das Sonnengold aus ihrem Rücken mit sich, rollen es mit zu den drei gesprengten Brücken hinab, die mit gebrochenem Rückgrat, wie abenteuerliche schwarze Lindwurmleichen, mitten in der Stadt über dem Flusse liegen. Bei der großen steinernen Straßenbrücke, die nach Zasanie hinüberführt, ist der Mittelteil gänzlich weggerissen, [148] Von den teilweise mitzerstörten Pfeilern des linken Ufers stürzt die Brücke jäh ins Wasser ab. Von dem rechten Ufer, der Stadtseite, ragt sie noch ein Stück auf dem ehemaligen Höhenniveau ins Leere hinaus. An den im Wasser stehenden, halbzerstörten Steinpilastern stauen sich Massen von Mannschaftsgewehren, die wir in den Fluß versenkten. Russische Soldaten sind mit Känen und Flößen bemüht, sie herauszuziehen.

Die mittlere, die Eisenbahnbrücke, ist auf der Stadtseite direkt am Uferpfeiler abgeknickt und bietet ein wüstes Gewirr von eisernen Rippen, wie das nackte Skelett eines vorsintflutlichen Riesentieres. Doch liegt sie so wenig tief unter Wasser, daß sie nur leicht überflutet ist und hunderte von Menschen sofort das Wagestück versuchen, von einer Eisentraverse zur anderen springend, ans jenseitige Ufer zu gelangen. Die dritte Brücke — die Holzbrücke ist gänzlich vernichtet, einer der steinernen Pfeiler geradezu zerbröckelt.

Alle den Brücken zunächst liegenden Häuser am Franz-Josefs-Quai sind von der Gewalt der Explosion abgedeckt. In das Sparkassengebäude, das Sozialistenhaus schaut durch die Dachsparren der blaue Himmel hinein. Keine Scheibe ist ganz geblieben. Hie und dort hängt noch ein zertrümmerter Fensterrahmen mit einer Angel in der Mauer und baumelt vom ersten Stock auf die Straße hinab.

Auf Bürgersteig und Fahrbahn haben sich feinpulverisierte Ziegel- und Glassplitter zu einem rötlichen Mehl vereinigt, durch das man watet.

Die herabgelassenen eisernen Rolladen der Feuerwehrschuppen sind hier und dort durchgeschlagen, eingerissen, das Wellblech hat sich gestreckt, nachgegeben und krümmt sich in den sonderbarsten Verzerrungen nach außen.

[149] Auf diesem phantastischen Hintergrund spielt sich das regste Leben ab, das man sich denken kann. Ganz Przemysl ist auf der Straße. Auch uns beide duldet es nicht im Hause. Man ist noch zu erregt, zu aufgewühlt bis ins tiefste, als daß man es ertragen könnte, im Zimmer zu sein. Was steht uns morgen bevor? Keiner weiß es.

In den Straßen und am Sanquai ein buntes Gewühl von österreichischen, ungarischen und russischen Uniformen, aus dem die hohen Pelzmützen der russischen Soldaten und Offiziere fremdartig hervorstechen. Hellgraue, kleingeperlte Krimmermützen mit dem Messingkreuz des russischen Landsturmes, schwarze, weiße und braune Schaffellmützen, deren lange Zotten bis zu den Ohrringen niederbaumeln, die man häufig bei russischen Soldaten findet. Dazwischen vereinzelte Tscherkessen in dunkelgrünem oder grellrotem russischen Kittel, den Revolver im Gürtel, auf jeder Brust eine Reihe Patrontaschen.

Man beobachtet merkwürdige Szenen. Dort steht eine Gruppe unserer Mannschaften in eifrigem Gespräch mit ein paar Russen, von denen einer den Dolmetsch macht. Sie erzählen sich ganz freundschaftlich ihre gegenseitigen Kriegserlebnisse. Hier sitzen einige österreichische Landsturmleute auf den Überresten des geborstenen Skelettes der Eisenbahnbrücke und schneiden sich Riesenstücke von einem Laib russischen Kommißbrotes, das der Kosak ihnen gutmütig hinreicht.

Daneben debattiert laut ein russischer Soldat mit einem unserer ruthenischen Mannschaften: „Du hast nicht schlecht gegen mich sein wollen,“ sagt der Russe, „ich will nicht schlecht gegen dich sein! Du hast mir nichts tun wollen, ich hab' dir nichts tun wollen. Das ist der Krieg!“ [150] Przemysl, den 23. März 1915.

Heute erscheint der erste russische Festungskommando-Befehl. Er ordnet an, daß alle österreichisch-ungarischen Offiziere und Mannschaften einstweilen in ihren Unterkunftsorten und Wohnungen verbleiben und ihren Dienst weiter versehen wie bisher.

Die Ärzte und die Sanitätsoffiziere werden wie die übrigen Offiziere in Gefangenschaft gehen. Jeder Offizier hat das Recht, seinen Diener mitzunehmen und 50 kg Gepäck.

Die Familien der österr.-ung. Offiziere und Unteroffiziere bekommen auf Verlangen einen Paß, mit dem sie sich zu einem späteren Zeitpunkte auf einem von der russischen Militärbehörde zu bestimmenden Weg in ihre Heimat begeben können.

Jene Schwestern vom roten Kreuz, die nicht in russischen Dienst treten wollen, haben sich zu melden und werden zu einem späteren Zeitpunkt als Transport unter russischem Geleit über Finnland nach Österreich geschickt werden. —

Man ist wie vor den Kopf gestoßen, müde, todmüde. Und durch dieses müde Hirn hämmern und hetzen tausend schmerzhafte Gedanken. Da ist einer vor allem, vor dem es kein Entrinnen gibt! Er geht in Gefangenschaft! Die Ärzte und die Sanitätsoffiziere gehen in Gefangenschaft — und die Genfer Konvention?“

Tausend Fragen brechen über einen herein, drängen sich, jagen sich, wollen beantwortet sein. Und gelangen doch gar nicht so eigentlich über die Schwelle unseres Bewußtseins, so stumpf ist man geworden. Manchmal meint man, man kann nicht mehr. Man ist müde zum [151] Umsinken. Nur nicht denken müssen. Sich ausstrecken und schlafen.

Und dann nagt der Wurm im Gehirn: „Auf! Auf! Man kann jede Stunde kommen, ihn holen. Ihr habt einander noch so viel zu sagen. Macht euch fertig! Seid jede Stunde bereit!“

Dann nimmt mich mein Mann in seine Arme: „Was wirst du tun, Kind?“

„Ich werde mit dir in Gefangenschaft gehen. Die Russen werden es mir erlauben. Ich habe gestern mit einem russischen Offizier darüber gesprochen. Er war sehr entgegenkommend und freundlich und hat mir gesagt, daß es nicht ausgeschlossen sei, daß ich die Erlaubnis bekomme, mit dir zu gehen."

„Mit dem Transport darfst du mir nicht mitkommen. Das ist zu anstrengend für dich. Du könntest nur allein nachkommen. Und wenn du mir krank wirst?“ Zwei liebe Augen schauen mich tödlich gequält an, eine liebe Hand streichelt meine erschreckend schmal gewordenen Wangen. „Ich weiß, du bist am Ende deiner Kräfte!“

„An Mamas Verzweiflung muß ich immerzu denken, wenn ich mit in Gefangenschaft ginge. Immer habe ich das vor Augen!“

„Geh' heim, Kind! Du kannst mit den Roten-Kreuz-Schwestern reisen, oder du bittest um einen Paß und schließt dich zur Heimreise einer zweiten Offiziersfrau an. Geh' heim und werde mir stark und gesund, bis ich wiederkomme! Laß mich dich mit hellen Augen und roten Wangen wiederfinden!“

Ich bin müde, todmüde, zu müde um zu denken und zu sprechen, so müde, daß ich selber weiß, ich müßte irgendwo unterwegs zusammenbrechen.

So wird beschlossen, daß ich heimfahre.


[152] Przemysl, den 24. März 1915.

Heute erfährt man, daß am 26. März der Abtransport der Gefangenen beginnt, und zwar macht man mit den Feldtruppen, der Besatzung der Werke und den Bedeckungstruppen der Forts den Anfang.

In den Spitälern bleibt einstweilen noch alles unverändert, so daß ich hoffen kann, Emil noch eine Woche bei mir zu haben. So klammere ich mich an den Augenblick, der uns noch beisammen sein läßt.

Vorderhand sind die Russen gut zu unseren Mannschaften und sehr taktvoll den Offizieren der Festungsbesatzung gegenüber. Man gestattet uns, unsere Angehörigen in der Heimat zu benachrichtigen, und das russische Platzkommando verspricht uns, diese Post zu befördern.

In den Straßen ist alles tadellos ruhig. Um 7 Uhr müssen alle Haustore gesperrt werden. Die Zivilbevölkerung und die österr.-ungar. Offiziere können bis 10 Uhr abends ausgehen. Nach 10 Uhr darf niemand mehr in den Straßen sein.

Heute wurde der Rubelkurs bekannt gemacht. Man hebt einen Kriegskurs von 3 K 30 h für den Rubel ein und jeder wird bestraft, der den Rubel billiger gibt!

Täglich sieht man in der Umgebung der Stadt noch Brände und riesige Rauchwolken, einzelne der von uns gesprengten Objekte sollen noch immer nicht ganz ausgebrannt sein!

Heute kam viel russischer Train und täglich kommen große Transporte zur Verproviantierung von Przemysl.


Przemysl, den 25. März 1915.

Mit dem heutigen Tag wurde in Przemysl die russische, das heißt die osteuropäische Zeit eingeführt, die gegen unsere um 1 Stunde vorgeht.

[153] Auch die ersten russischen Lebensmittel haben wir heute bekommen. Mittags in die Suppe russisches Dörrgemüse, das mit zur Militärausrüstung gehört. Dann sehr gute geräucherte Fischkonserven aus Kamtschatka, die auch die Mannschaft ab und zu als Nachtmahl bekommt. Hingegen steht das russische Kommißbrot und der Zwieback weit hinter der Güte des unseren zurück.

Nun kommen auch schon die ersten russischen Zeitungen. Die russische Zeitung, die in Lemberg erscheint und „Das vorkarpathische Rußland“, ein Blatt, das in Kiew herauskommt, und im besonderen die Ereignisse am galizischen Kriegsschauplatz bespricht.

Ich habe mich für den Transport der Roten-Kreuz-Schwestern gemeldet. Er soll in ungefähr 3 Wochen, nach dem Abtransport der Gefangenen und Verwundeten, weggehen und zwar über Finnland und Schweden. Eine phantastische Reise, um von Przemysl nach Wien zu gelangen! Der Transport geht unter russischem Geleitschutz, man sagt uns freie Fahrt und Verköstigung für 14 Tage zu.

Wir haben schöne, warme Tage. Das Geläute der Glocken, das während beider Belagerungen eingestellt bleiben mußte, erklingt wieder über der Stadt.


Przemysl, den 26. März 1915.

Heute wurde ein Befehl des russischen Festungskommandanten, General Artamanow, in deutscher, polnischer und russischer Sprache angeschlagen.

Der Befehl beginnt mit einer warmen Anerkennung der heldenmütigen Verteidigung der Festung, die nur durch Hunger zur Übergabe gezwungen worden.

Um diese heldenhafte Verteidigung der Festung in ehrenhaftester Weise anzuerkennen, ist den Offizieren der [154] ehemaligen Besatzung von Przemysl auch weiterhin das Tragen des Säbels gestattet.

Dann folgen Maßregeln zum Schutz der Zivilbevölkerung und der ehemaligen Besatzung.

Jeder Soldat, der marodiert, ob Russe, oder Österreicher, wird standrechtlich erschossen.

Jede Belästigung einer Militär- oder Zivilperson ist sofort dem russischen Festungskommando anzuzeigen und wird, ohne Rücksicht auf Rang und Stand des Schuldigen, strengstens geahndet. —

Das Leben in den Straßen ist seltsam bunt und bewegt. Ein Durcheinanderwogen von unseren lieben Feldgrauen und den lehmfarben Uniformen der Russen. Dazwischen Kosaken zu Pferd, die zottigen Schaffellmützen über die Ohren gestülpt, zwei Meter hohe Lanzen vor sich im Sattelknopf. Russische Troykas, mit drei Pferden bespannt, jedes Pferd hat über dem Kopf das mit Schellen besetzte, gebogene Holzjoch. Noch ein anderes, speziell russisches Bild überraschte uns heute bei einem Gang durch die Straße. Eben hielt der russische Polizeimeister seinen Einzug, von seinem Gehilfen begleitet. Eine gutgewählte Persönlichkeit für diesen Beruf, in der Hand — die Knute. Jeder russische Polizeimann trägt hier zum Zeichen seiner Würde die Knute, eine kurze Peitsche aus vielschwänzigen Lederriemen. Man sieht sie auch hie und da bei den russischen Offizieren.

Heute bekommt unsere Mannschaft zum erstenmal wieder frisches Fleisch. Auch wurden unsere Proviantdepots geöffnet und die letzten Reste an Militär und Zivilbevölkerung verteilt. Unsere armen Leute stürzten sich darauf und aßen so viel, daß 10 Honveds daran starben. Sie können nicht mehr so viel vertragen.


[155] Przemysl, den 27. März 1915.

Der Zugang auf das Schloß ist abgesperrt. Die Kosaken sind im Schloß, wo früher die russischen Gefangenen waren, einquartiert und reiten im Schloßpark ihre Kunststücke. Man sieht, daß sie auf dem Rücken ihrer Pferde aufgewachsen sind und diese sehr gern haben. Oft sieht man die Pferde in den Straßen ganz frei, wie Hunde hinter ihnen herlaufen, ja ich sah sogar schon einen Kosaken, den Gaul am Zügel, in einen Laden treten und einkaufen. Fast täglich ist in der Stadt ein russischer Leutnant zu sehen, der, das Pferd hinter sich, die Stiegen in den schmalen, steilen Gassen zum Schloß hinaufsteigt.

Im Schloßhof singen die Kosaken ihre Reiterlieder zu den Klängen der Balaleika, einem Instrument, das einer unten abgeschnittenen Mandoline ähnelt.

Nächste Woche sollen die Verwundeten abtransportiert werden. Nur die Nicht-Transportfähigen bleiben. Die Spitäler werden nach und nach geräumt und die hier verbleibenden Schwerverwundeten sollen in zwei oder drei Spitälern zusammengelegt werden. Einstweilen machen unsere Arzte und Sanitätsoffiziere ihren Dienst wie bisher und jedem Spital ist nur ein russischer Arzt zur Kontrolle beigegeben.

Gestern sickerten Gerüchte durch, daß unsere Armee bei Jaslo und nördlich Nadworna große Erfolge hatte, was die Russen selbst bestätigen. Heute spricht man von einem Sieg der Unsren bei Stryj.

Manchmal regt sich leise, leise, wieder ein Hoffnungsfunken in unseren müden Herzen.

Werden sie kommen?

Werden sie uns noch hier finden?

Es müßte bald sein. Der Koffer ist gepackt. Jede Stunde kann mir Emil nehmen.


[156] Przemysl, den 29. März 1915.

Gestern überreichte das gesamte Sanitätspersonal dem russischen Kommando ein Memorandum mit der Bitte, sich an die Bestimmungen der Genfer Konvention zu halten.

Die Russen bringen viel Lebensmittel herein. Sie sind gut zu den Hungernden und verteilen, um sich die Sympathien der Zivilbevölkerung zu gewinnen, täglich auf dem Magistrat reichlich Nahrungsmittel. Außerdem speist das russische Rote Kreuz dreimal täglich die Notleidenden auf dem Bahnhof.

Es ist durch Straßenanschlag bekannt gemacht worden, daß jedermann, ob der Besatzung oder der Zivilbevölkerung angehörig, den russischen Festungskommandanten, General Artamanow, auf der Straße zu grüßen hat.


Przemysl, den 1. April 1915.

Die Feldtruppen und die Truppen der Festungsbesatzung sind in Gefangenschaft abgegangen. Ein Teil ist nach Medyka marschiert und von dort aus mit der Bahn weggegangen, ein anderer Transport bis Jaroslau marschiert. Sie gehen alle per Bahn nach Kiew und werden von dort aus in den verschiedenen Internierungslagern aufgeteilt.

Jeder Offizier und jeder Mann, der in Gefangenschaft geht, bekommt einen Schein, auf dem außer Name und Truppenkörper die Religion und die Muttersprache vermerkt ist. Man nimmt an, daß dadurch eine Berücksichtigung der Slawen ermöglicht werden soll.

Gestern kam der Chauffeur von Exzellenz Kusmanek hierher zurück. Er erzählt, daß unser Festungskommandant derzeit in Kiew ist und daß es ihm gut gehe.

[157] Die meisten unserer Flieger, die auf russischen Loden verschlagen worden waren, sollen in Zentral-Sibirien, in Irkutsk, am Baikalsee, interniert sein.

Das Memorandum des Sanitätspersonals hatte keinen Erfolg. Vorgestern ist das entbehrliche Sanitätspersonal in Gefangenschaft gegangen. Die Ärzte bleiben noch hier.

Auch mein Mann bleibt als unentbehrlich hier, bis der größte Teil der österreichischen Verwundeten transportfähig ist. Wie lange dies dauern kann, weiß man nicht, ein paar Tage vielleicht, und doch bin ich glücklich und danke Gott, daß er ihn mir noch ein paar Tage läßt.

Hier verdichten sich immer mehr die Gerüchte, daß unsere Armee auf die Linie Lemberg-Tarnopol vorstößt und daß die Deutschen unweit Stryj stehen!

Und die Hoffnung schlägt mit den Flügeln — o Gott, Gott, ich rufe dich!


Przemyzsl, den 6. April 1915.

Heute früh hätte Emil in Gefangenschaft gehen sollen. Gestern nachmittags kam der Befehl, daß der Transport heute um 10 Uhr vormittag per Bahn vom Przemysler Bahnhof aus weggeht.

Wir legten gerade gestern abend die letzten Stücke in den Koffer, als es klopfte und der Vorgesetzte meines Mannes mit der Mitteilung kam, daß der Transport auf unbestimmte Zeit verschoben sei.

Ich atmete noch einmal auf.

Man weiß hier allgemein, daß die Russen augenblicklich das gesamte Waggonmaterial für große Truppenverschiebungen benötigen. Sie sollen ungeheure Verluste in den Karpathen haben. Auch der Abtransport der Verwundeten ist abgesagt.


[158] Przemysl, den 8. April 1915.

Heute war ich mit meinem Mann beim russischen Bezirkshauptmann, einem Obersten. Es war nämlich von der Bezirkshauptmannschaft die Aufforderung an alle Offiziersfamilien ergangen, sich dort zu melden, um die Frage der Verproviantierung und einer eventuellen Heimreise der Offiziersfamilien nach Österreich zu ordnen.

Der Bezirkshauptmann ist ein liebenswürdiger Mensch von vornehmem Auftreten, der uns äußerst freundlich entgegenkam. Er versprach, in jeder Hinsicht für meinen Schutz zu sorgen. Da die Frage der Verköstigung hier noch immer schwierig ist, wird man den Familien der Offiziere und Unteroffiziere Proviant zur Verfügung stellen. Man war sogar so freundlich, mir für den Bedarfsfall eine Wohnung anzubieten.

Auch versprach man, meinen Wunsch, sobald als möglich nach Österreich reisen zu können, zu berücksichtigen. Sollte der Abtransport der Roten-Kreuz-Schwestern sich aus irgendeinem Grund verzögern, so wird man mir einen Paß ausstellen, mit der Erlaubnis, mich über Rußland auf neutralen Boden zu begeben. Die Offiziersfamilien bekommen auch die Bewilligung, ihr Dienstpersonal mitzunehmen.

Außerdem wurden die Wohnungen der Offiziere angemeldet und das zurückbleibende Gepäck als Offiziersgepäck bezeichnet. Das russische Festungskommando verspricht die Garantie dafür zu übernehmen.


Przemysl, den 10. April 1915.

Heute haben Emil und ich zum zweitenmal Abschied genommen. Gestern kam der Befehl, daß der unlängst verschobene Transport heute weggeht. So waren wir [159] morgens schon auf dem Bahnhof, die Verwundeten waren bereits einwaggoniert, als der Transport plötzlich telegraphisch abgesagt wurde.

Ich hatte nur einen kleinen, halberstickten Schrei des Glücks. Eines törichten Glückes — ich weiß — denn das Damoklesschwert hängt über uns und wird niederfallen. Keiner wird es mehr wenden. Und dennoch des Glücks —!


Przemysl, den 11. April 1915.

Heute große, freudige Erregung! Seit Tagen kommen große russische Truppentransporte durch die Festung, die jedoch nur zum kleinsten Teil durch die Stadt selbst geleitet werden, heute kamen zwei größere Truppenabteilungen gleichzeitig von Süden und von Westen in die Stadt marschiert. Sie waren ersichtlich mitgenommen und sangen nicht wie gewöhnlich. Am San stießen sie aufeinander, wie es den Anschein hatte, ganz unerwartet, die Kommandanten wechselten einige Worte. Dann setzte die eine Abteilung auf Plätten über den San, die andere marschierte — gegen Lemberg!

Daraus folgert man in der Festung eine Rückwärtsbewegung der Russen, oder doch zum mindesten das Vorbereiten von Rückzugsstellungen nördlich des San.

Auch macht sich seit einigen Tagen hier unter den Russen eine auffallende Nervosität bemerkbar.


Przemysl, den 12. April 1915.

Man beginnt mit dem Räumen der Spitäler. Auch unser Spital, das so hübsch und frei, hell und freundlich in seinem Garten auf der Anhöhe steht, mußte geräumt werden. So übersiedelten wir mit den letzten, [160] nicht transportfähigen Verwundeten, die geblieben waren, in ein Festungsspital in die Stadt herunter, wo uns eine eigene Abteilung zugewiesen wurde.

Ein großer Schmerz für unsere Kranken, die die gut eingerichteten, verstellbaren Spitalsbetten und die freundlichen Räume schwer vermissen. Hier sind die Zimmer größer, aber weniger gut eingerichtet, vor allem viel düsterer.

Vor mehr als einem Spitalstor stehen schon die Wachen und wehren jedem Besuch den Eintritt. Flecktyphus, Bauchtyphus und Cholera beginnen ihren Einzug zu halten. Ist es doch wie ein Wunder, daß wir bisher fast gänzlich verschont geblieben. Die Cholerabaracken, die Emil Ende September aufgestellt hatte, waren jetzt lange Zeit nur für Rekonvaleszenten in Verwendung, da die Cholera schon im November erloschen war.


Przemysl, den 12. April 1915.

Heute früh um 1/24 Uhr rüttelt es an unseren Türen und an den Fenstern, die auf den Gang gehen. Wir fahren aus dem Schlaf auf, hören Stimmen, wissen nicht, was sie bedeuten. Dann sehen wir durch das Fenster russische Uniformen.

Erst glauben wir, es sei russische Einquartierung, die der leerstehenden Wohnung neben uns gilt und daß man sich in der Tür irrt. Doch es gilt uns.

Zwei russische Offiziere, von zwei Mann gefolgt, treten ein. Mein Mann wirft sich rasch in die Kleider, geht ihnen in das erste Zimmer entgegen und empfängt sie.

Sie verlangen in gebrochenem Deutsch die russische Legitimation, die jeder hier verbliebene Österreicher bei sich führen muß, und fragen nach Waffen.

[161] Dann danken sie und stehen von einer Untersuchung der Wohnung ab.

Am Morgen bieten die Straßen ein ungewohntes Bild. Alle Geschäfte sind gesperrt. Alle drei Schritt steht ein russischer Posten. Jeder männliche Bewohner der Stadt, der vorbeikommt, wird angehalten und um die russische Legitimation gefragt. Da man bisher ganz frei und ungehindert passieren konnte, haben die wenigsten eine russische Legitimation bei sich. Alle jene, welche keine Legitimation vorweisen können, werden auf der Stelle verhaftet. Es sind fast lauter Juden der verschiedenen Altersstufen, junge Burschen und weißhaarige alte Männer, die man in langem Zug durch die Straßen führt.

Die Frauen läßt man passieren. Nur hier und da hält man eine Schwester vom Roten Kreuz an, die sich ausweisen soll, ob sie die Berechtigung hat, die Armbinde zu tragen. Es erschien vor einigen Tagen ein russischer Festungskommandobefehl, daß alle Schwestern, die nicht unter den Russen Dienst machen wollen, die Armbinden beim Spitalskommando abzugeben haben und nicht mehr zum Tragen des Roten Kreuzes berechtigt sind.

Im Laufe des Tages erfährt man den Grund dieser Maßregeln. Die Russen behaupten, daß ihnen von den kriegsgefangenen Mannschaften der Festungsbesatzung fast 6000 fehlen. Diese Abgängigen werden nun in der ganzen Stadt gesucht. Die ganze Nacht fanden strenge Hausdurchsuchungen statt. Sogar im Nonnenkloster erschienen um 1 Uhr nachts die russischen Patrouillen und suchten nach verstecktem österreichisch-ungarischen Militär.

Da die Hausdurchsuchungen kein Resultat ergeben, hält man sich an die wegen mangelnder Legitimation [162] verhafteten Männer und führt sie als Geiseln hinweg. Nur einige von den Ältesten läßt man laufen.

Es ist ein langer, trauriger Zug, der da in der Richtung auf Lemberg abmarschiert. Die meisten sind Juden. Jeder in dem Anzug, wie er über die Straße gegangen war. Der eine im Kaftan, der andere im Arbeiterkittel, der dritte im eleganten, hellen Straßenanzug und ausgeschnittenen Lackschuhen. Frauen und Kinder laufen weinend neben ihnen her, wollen ihnen Mäntel, Kleider und Eßwaren zustecken und werden von den Wachen hart weggewiesen, mitunter mit einem Wink der Knute.


Przemysl, den 14. April 1915.

Vor einigen Tagen ist der russische Festungskommandant, General Artamanow, aus unbestimmte Zeit abgereist. Die Zivilbevölkerung und alles, was von der ehemaligen Besatzung noch hier ist, bedauert dies aufs lebhafteste, da Artamanow überall als gütiger, vornehm denkender Mensch gilt.


Przemysl, den 16. April 1915.

Heute erschien ein russischer Festungskommandobefehl, demzufolge die gesamte österreichisch-ungarische Festungsbesatzung strafweise den Säbel abzulegen hat.


Przemysl, den 17. April 1915.

Ich bin so erregt, daß ich kaum imstande bin zu schreiben. Meine Hände fliegen, von Zeit zu Zeit geht mir ein Schauer über den Rücken.

Es war 1/25 Uhr nachmittags. Ich war, wie gewöhnlich, im Spital im Zimmer der Schwerverwundeten. Wir waren gerade beim Nachmittagskaffee.

[163] Plötzlich ein furchtbares, unerklärliches Getöse. Die Querwand des Zimmers, an der wir sitzen, biegt sich, von einer ungeheueren Luftwelle erfaßt, nach innen, wie wenn ein Sturm in ein Blatt Papier bläst. Die gegenüberliegende Wand gibt ebenfalls dem Drucke nach, alles im Zimmer geht in der gleichen Richtung mit und schwingt dann wieder zurück. Dazu ein schweres wellenförmiges Rollen, von einem schlitternden Schlag gefolgt.

Wir brauchen lange, bis wir Worte finden. Jeder ist festgenagelt auf seinem Platz, wie erstarrt.

Dann sagt jemand: „Eine Bombe!“

„Die Unseren!“ ruft ein anderer, „eine 30,5 cm-Granate!“

„Eine Explosion!“ sagt ein Dritter.

„Ein Erdbeben — ?“

Im selben Augenblick kommt ein Offiziersdiener.

„Die Sanbrücke ist noch einmal in die Luft gegangen. Die Leute laufen die Straße hinunter, es ist ein Unglück geschehen.“

Ich eile, nach Hause zu kommen. Wieder sind die Straßen voll erschöpfter, bleicher Gesichter. Bei jedem Schritt splittern die zertrümmerten Fensterscheiben, die zum größten Teil wieder ersetzt waren, unter dem Fuß.

Mein Mann erwartet mich schon vor dem Hause. Es ist nichts geschehen, nur alle Türen, selbst die versperrten, sind aufgesprengt.

Es ist etwas Wunderbares um die Elastizität dieser Wände hier.

Vom San kommen Leute. Sie erzählen, daß die Russen an der Wiederherstellung der gesprengten Holzbrücke gearbeitet hatten. Dabei sind sie auf eine von uns gelegte Mine gestoßen, die am 22. März zufällig nicht mit explodiert ist.

[164] Ein russischer Ingenieuroffizier ist tot und viele Mannschaften mehr oder minder schwer verletzt. Der San ist sehr hoch und reißend. Schon vor ein paar Tagen riß er die Hälfte der Pontonbrücke weg, an der die Russen bauen, wobei 24 Mann ertranken.

Wir sind beide todmüde. Jeder Nerv zittert noch. —

Przemysl, den 19. April 1915.

Es ist da. Unaufhaltsam und unerbittlich.

Ich bin allein. Ich starre mit halb irren Augen ins Leere, und es ist plötzlich nichts als Grauen um mich.

In der Nacht, die auf die Explosion folgte, schliefen wir einen schweren Schlaf. Um 4 Uhr morgens klopfte es wieder an unsere Türe.

Wir fahren aus dem Schlaf, und im selben Augenblick begreife ich, daß unsere Stunde geschlagen hat. Da verlassen mich zum erstenmal die Nerven. Ein Schüttelfrost erfsaßt mich, und die Zähne schlagen mir so heftig aufeinander, daß man nicht versteht, was ich sage.

Es ist eine Ordonnanz vom Spital. Die Sanitätsoffiziere und Ärzte haben sich über Anordnung des russischen Sanitätschefs in ihre Spitäler zu begeben, die sie nicht mehr verlassen dürfen.

Nachmittags um 3 Uhr werden die Ärzte und Sanitätsoffiziere zum Platzkommando befohlen, von wo sie nicht mehr zurückkommen.

Ich warte — suche — frage — abends um 8 Uhr erfahre ich, daß man sie im Garnisonsarrest interniert hat. Gleichzeitig kommen die Diener um das Gepäck.

Ich gehe mit dem Diener hin, man erlaubt den Angehörigen, die Herren im Hof zu sprechen.

Es ist 9 Uhr, wie ich fortgehe. Ein weiter Weg im Dunkel. Die Straßen totenstill und öde. Nur ab und zu [165] eine Kosakenpatrouille. Es ist nicht die Spur von Furcht in mir, nicht einmal Schmerz. Ein einziges Furchtbares flammt in mir, das ich nie vorher gekannt. Ab und zu überfällt mich ein Taumel, daß ich mich an der Mauer des nächsten Hauses festhalten muß.

Heute vormittag war ich noch einmal dort. Wir haben Abschied genommen. Mittags ist der Transport weggegangen. —

Przemysl, den 21. April 1915.

Wenn ich mich hinlege und die Augen schließe, wälzt sich eine gelbe Lehmflut über mich und will mich ersticken.

Mein Körper tut noch automatisch, instinktiv, dies und jenes, und mein Ich liegt irgendwo begraben.

Przemysl, den 23. April 1915.

Heute schlagen die Russen in den Straßen eine polnische und russische Proklamation an.

Darin heißt es, daß ein österreichisch-ungarischer Soldat in den Karpathenkämpfen einem russischen Soldaten die Zunge ausgerissen und die Ohren abgeschnitten hätte.

Um diese Grausamkeit zu ahnden, entzieht man unseren Offizieren den Säbel, und damit rechtfertigt man auch das strenge Vorgehen gegen unser Sanitätspersonal.

Ich habe kein Wort zu dieser Anschuldigung.

Ich habe nur ein kaltes Lächeln —

Wozu — ?

Przemysl, den 24. April 1915.

Einige wenige Arzte sind hier geblieben. Sie sind fast ausschließlich slawischer Nation. Den Direktor [166] unseres Spitals haben die Kosakenwachen nachts aus dem Bett geholt und im Spital interniert. Die Russen sagen, daß ihnen Rekonvaleszenten abgehen, und man macht die Kommandanten der Spitäler für sie haftbar.

Przemysl, den 25. April 1915.

Es gibt Augenblicke, wo ich meine, ich kann nicht mehr, ich muß zusammenbrechen.

Manchmal ist mir nachts, als ob tausend Kosakenhufe über dich und mich hinweggingen, Hufschlag auf Hufschlag —!

O diese Tage, diese Nächte ohne dich —!

Ich werfe mich in die Knie und bete, bete, daß dich Gott mir wiedergibt, bete, bis ich vor Ermattung zusammensinke.

Und über dem fiebernden, todmüden Entschlummern und über der grauen Trostlosigkeit meines Erwachens stehst du — immer wieder du, schaust mich mit lieben Augen an: „Sei tapfer!“

Dann raffe ich mich auf zum Tagewerk.

Liebster, ich halte dir Wort!

Przemysl, den 26. April 1915.

Zu allem übrigen Grauen wird es auch im Spital immer düsterer. Das Gefühl der Gefangenschaft und der unsicheren Zustände lastet hart auf unseren Verwundeten. Wenn sie auch die Russen gar nicht zu sehen bekommen und für sie bis jetzt alles ziemlich beim alten geblieben ist.

Aber es kommt zu viel über sie. Wissen doch wir Gesunden oft nicht mehr, wie uns aufrecht erhalten. Und sie liegen in qualvollen Leiden, monatelang, und haben nach allen Schmerzen und Entbehrungen der Belagerung [167] auch noch die Gefangenschaft auf sich zu nehmen.

Dazu schleicht der Flecktyphus sich heimtückisch näher und näher. Fast jeden Tag bringt man nachts ein paar fort in die Epidemiebaracken.

Da kommt wohl über den einen oder den anderen die Verzweiflung.

Und man steht dabei. Ist selbst am Ende.

Manchmal möchte man ausschreien: „Gott, wo bist du?"

Przemysl, den 27. April 1915.

Der Transport der Roten-Kreuz-Schwestern ist wieder auf unbestimmte Zeit verschoben.

So habe ich mich entschlossen, allein nach Österreich zu reisen. Eine Schwester will mich begleiten.

Mir brennt der Boden unter den Füßen.

Ich fiebere, wegzukommen.

Przemysl, den 28. April 1915.

Wie doch die tiefste, gemeinsame Not alles Warme und Edle im Menschen aufblühen macht. Das ist das Schöne an dieser furchtbaren Zeit. Seit mein Mann in Gefangenschaft ist, kommen fast täglich Menschen zu mir, die ich wenig oder gar nicht kenne. Sie geben mir die Hand und haben Tränen in den Augen. Die einen bitten mich, hier nicht so ganz allein zu bleiben und bieten mir ihre eigene Wohnung an. Die anderen gehen nach Lemberg, laden mich ein, mit ihnen im Automobil hinzufahren und dort, solange ich will, bei ihnen zu bleiben. Sie reden in gutmütiger Verlegenheit davon, daß es seit so vielen Monaten ausgeschlossen war, Geld aus Wien zu bekommen und rücken [168] schließlich stockend damit heraus, daß sie mir jede beliebige Summe mit tausend Freuden für die Heimreise zur Verfügung stellen wollen.

Es sind Juden. Keine Juden, die bei mir Geschäfte machen könnten. Sie wissen, daß ich über Rußland allein und unbeschützt heimfahre. Und sie wissen von sich selber, daß sie morgen hinausgestoßen sind ins Ungewisse.

Der Schmerz hat diese Gesichter, die mir einst so unbewegt und kalt erschienen, schön gemacht. Und er hat mir den Weg zu ihnen gezeigt.

Przemysl, den 30. April 1915.

Der Zar war zwei Tage hier in Begleitung des Großfürsten Nikolai Nikolajewitsch.

Es wurde vom russischen Festungskommando der Befehl erlassen, daß die hier zurückgebliebenen österreichisch-ungarischen Kranken und Verwundeten sowie das wenige Sanitätspersonal, das noch hier ist, vier Tage in den Spitälern interniert bleiben. Alle straßenseitigen Fenster der Spitäler sind zu verkleben oder zu verhüllen. Es ist streng verboten, sich an einem straßenseitigen Fenster zu zeigen, widrigenfalls die russischen Posten nach dem Betreffenden schießen.

Die Straßen der Stadt waren rot-blau-weiß beflaggt, vor der Bezirkshauptmannschaft, wo der feierliche Empfang stattfand, waren Triumphpforten errichtet.

In allen Straßen russisches Soldatenspalier. Die Zivilbevölkerung läßt man passieren. Doch zeigt sich niemand von der Einwohnerschaft in den Straßen, wie der Zar, zu seiner Linken den Großfürsten Nikolajewitsch, im offenen Automobil seinen Einzug hält.

[169] Przemysl, den 2. Mai 1915.

Ich habe um meinen Paß zur Heimreise gebeten. Man hat mir sehr freundlich versprochen, in den nächsten Tagen Schritte deshalb zu tun. Ich zähle fieberhaft die Stunden bis zur Abreise.

Heute war eine Offiziersfrau bei mir, mit der ich einen Teil der Reise gemeinschaftlich zu machen gedachte. Ein lieber, bewundernswert tapferer Mensch, diese junge Frau. Sie hat ein Kind erwartet und in diesem Zustand die ganze Zeit der Belagerung hier mitgemacht und noch dazu in einer Straße gewohnt, die besonders von Fliegerbomben heimgesucht war. Was ist der Mensch alles imstande zu ertragen! Einige Wochen, bevor das Kind kam, nähte eben die Weißnäherin an der Kinderwäsche am Fenster der jungen Frau. Da geht unmittelbar vor dem Fenster eine Bombe nieder, die Fensterscheiben splittern der Näherin ins Gesicht, und die junge Frau bemüht sich um die Blutüberströmte. Im selben Augenblick ein zweiter donnernder Schlag, die zweite Bombe geht an der anderen Seite des Hauses nieder und zertrümmert die hofseitigen Fenster der Wohnung. Sofort nach der Übergabe der Festung bat ihr Mann um Audienz beim russischen Festungskommandanten, General Artamanow. Derselbe ist selbst Vater, empfing das junge Paar warm und liebenswürdig und versprach der jungen Frau und dem erwarteten Kleinen in jeder Hinsicht seinen Schutz. Überdies stellte er ihr sofort einen Paß aus, mit der Erlaubnis, später mit ihrem Kinde und dem Dienstpersonal ihrem Mann in die Gefangenschaft folgen zu dürfen.

Die meisten hohen russischen Offiziere haben viel persönliche Güte und Ritterlichkeit. Und es ist für unser Gefühl unbegreiflich, wie neben diesem stark ausgeprägten [170] Zug der Ritterlichkeit Dinge wie die Judenverfolgungen bestehen können. Als ihr Mann in die Gefangenschaft gegangen war, wartete die junge Frau die Ankunft des Kleinen in einem hiesigen Kloster ab. Und General Artamanow unterließ nicht, solange er in Przemysl war, sich von Zeit zu Zeit durch einen russischen Hauptmann von ihrem Befinden unterrichten zu lassen. Im Augenblick der zweiten unglücklichen Explosion der Sanbrücke stand die junge Frau auf der Stiege, im Begriff, die Treppen hinaufzusteigen. Sie erschrak so heftig, daß sie nach rücklings die Treppen hinabstürzte und kurz darauf ein Knabe verfrüht zur Welt kam. Das Kind ist gesund und ganz überraschend kräftig. Am achten Tag räumten die Russen das Kloster, die junge Frau mußte aufstehen, mit dem Kind über die gesprengten Sanbrücken und sich eine Wohnung suchen. Und heute steht sie vor mir, ruhig, heiter, mit tiefen, von innen heraus leuchtenden Augen.

Wie viele wirft das Leben jetzt wie einen Spielball hinauf, hinab, hinab, hinauf. Was für Schicksale sehe ich hier mit an!

Der Direktor einer Schule übernahm, da dieselbe geschlossen war, mit Ausbruch des Krieges die Verwaltung eines Spitals. Die Russen kamen. Das Spital wurde evakuiert. Der Verwalter wird wegen mangelnder Legitimation auf der Straße verhaftet, ist ein, zwei Tage interniert, kommt dann wieder los. Sein Gehalt läuft nicht weiter. Wovon soll er leben? Vor ein paar Tagen finde ich ihn in einem Nahrungsmittelgeschäft wieder, wie er Käse aufschneidet. Er hat mit einem zweiten Schulleiter ein Lebensmittelgeschäft eröffnet, um leben zu können.

„Was will man tun?“ sagt er achselzuckend, „anderen geht es schlechter!“

[171] Przemysl, den 3. Mai 1915.

Jeden Tag hoffe ich, meinen Paß zu bekommen und muß mich immer wieder gedulden. Die Evakuierung der Juden schiebt jetzt alles andere hinaus. Die Russen machen bekannt, daß in einer russischen Festung keine Juden sein dürfen und daß daher die gesamte israelitische Bevölkerung innerhalb acht Tagen Przemysl zu verlassen hat, widrigenfalls zu Gewaltmitteln gegriffen werden müßte. Einstweilen ist auch ein großer Teil der Juden bereits einzeln weggeschickt worden.

Die Stellen, wo die Passierscheine nach Lemberg ausgegeben werden, sind vom Morgen bis zum Abend so belagert, daß an ein Hineinkommen gar nicht zu denken ist.

Von meinem Mann noch keine Zeile, obwohl ich weiß, daß er keine Gelegenheit, mir zu schreiben, vorbeigehen läßt! Das ist qualvoll hart. Ich muß meine allerletzte Kraft zusammenraffen, um mich oben zu erhalten. Ich darf jetzt nicht zusammenbrechen, um seinetwillen, denn breche ich zusammen, so schlingt mich der Strudel hinab.

Przemysl, den 8. Mai 1915.

Ich packe ein. Morgen früh soll ich meinen Reisepaß bekommen. Schwester Mania begleitet mich bis Wien.

Wie furchtbar anders ist dieser Abschied von Przemysl, als ich ihn mir einst geträumt!

Und dennoch! Nicht wahr, du, wenn man uns heute vor die Wahl stellte: Seid ihr bereit, die tausend Schmerzen, die eure Seele hier bluten gemacht, noch einmal auf euch zu nehmen, alle Herzensqual und Todesnot? Wir denken nur der großen, flammenden [172] Zeit, die unsere Seele weit und glühend gemacht und fassen uns an den Händen:

„Wir sind bereit! Gott helfe uns!" —

Lemberg, im Mai 1915.

Gestern früh um 9 Uhr sollten wir von Przemysl abreisen. Man hatte entgegenkommenderweise diesem Zug einige Wagen zweiter Klasse angehängt, und so reisten wir für Kriegszeiten überraschend gut. Allerdings rollte der Zug statt um 9 Uhr erst um 11 Uhr ab, und da wir immer wieder auf der Strecke halten mußten, erreichten wir Lemberg erst um 10 Uhr abends, eine Fahrt, die man in Friedenszeiten in vier Stunden macht.

Der Przemysler Bahnhof bot ein trauriges Bild. Der Platz davor, alle Warteräume eine Karawanserei von fliehenden Juden, die nur mehr wenige Tage Zeit zum Verlassen der Stadt haben. Die Leute bringen Tag und Nacht hier zu, mit Kind und Kegel, Sack und Pack. Die wenigen Züge sind so überfüllt, daß immer nur ein kleiner Teil der Evakuierten mitkommen kann. Sie sitzen auf den hochaufgetürmten Bündeln von Federbetten, essen einen Rest Brot mit Knoblauch, die Kinder kugeln ungewaschen durcheinander, weinen und streiten. Ein paar Weiber keifen. Andere wieder sind ganz zerbrochen, hoffnungslos, ein Bild stummer Verzweiflung.

Endlich um 11 Uhr setzt sich der Zug in Bewegung. Schwester Mania und ich atmen tief auf. In dieser Vorwärtsbewegung liegt eine namenlose Erleichterung. Nur vorwärts — vorwärts — fort — fort —! Man möchte die Arme breiten, irgendwo den Alpdruck von der Brust wälzen wie einen furchtbaren Fiebertraum! Du törichtes Herz, du! Was nützt dir zu fliehen? Solange [173] du dein Liebstes nicht geborgen weißt, entgehst du dir nicht!

Wir sind noch nicht weit außerhalb der Stadt, als plötzlich aus einem offenen Frachtwagen neben uns ein russischer Soldat herunterstürzt und vor unseren Augen den Bahndamm hinabkollert. Ich sehe ihn hinabkollern und zucke auch nicht mit der Wimper. Der Zug fährt weiter, als wäre nichts geschehen, und mein Herz liegt schwer und kalt in der Brust wie ein Stein. Ich muß mich erst besinnen, daß ein Unglück geschehen ist. Und dann wandern meine Gedanken in eine Zeit zurück, wo ich keinen Käfer und keinen Vogel sterben sehen konnte. Wie lange mag das her sein —? Ein Jahr —? Ein einziges Jahr? Mir graut, bin das noch ich —?

Wir fahren über die gesprengten, zerstörten Brücken. Manchmal läuft der Zug über hölzerne Notbrücken, die die Russen neben der gesprengten Eisenbahnbrücke errichtet haben, ein anderes Mal fahren wir über die gesprengte Brücke selbst, die man teilweise ausgebaut und wieder tragfähig gemacht hat.

Wir kommen an den zerstörten Werken vorbei, an deren Wiederherstellung fieberhaft gearbeitet wird. Unsere abmontierten, gesprengten schweren Geschütze stehen da noch in Reihen nebeneinander. Habt Dank, ihr Treuen, Unbesiegten, habt Dank!

Ab und zu wieder ein Blick auf die Straße, die nach Lemberg führt. Ein einziger schwarzer Zug von hochbepackten Wagen, Streifwagen mit jeder Art von Hausrat beladen. Das sind die Juden, die zu Wagen, zu Fuß auswandern. Vor einigen Tagen hat man ein paar gefangene deutsche Soldaten durch die Straßen von Przemysl geführt. Wie sie an solch einem langen, trauriegen Auswandererzug vorbeikamen, sollen sie den [174] Juden zugerufen haben: „Weint nicht, bald sind wir da!“

Man kommt an wenig Dörfern, wenig Gehöften vorbei, da so vieles niedergelegt und verbrannt wurde. Die Häuser, die noch stehen, sind halbwegs erhalten, nur hier und da ein Dach teilweise abgedeckt, eine Mauer durchgeschlagen. Mitunter sieht man noch die verkohlten Reste eines verbrannten Anwesens. An manchen Stellen beginnt man schon wieder neu aufzubauen.

Um Sonnenuntergang kommen wir nach Grodek. Eine weite Ebene zu beiden Seiten des Zuges und in dieser Ebene Hügel an Hügel, Kreuz an Kreuz. Das ist das Schlachtfeld von Grodek. Das ist das Totenfeld von Grodek. Zu der einen Seite liegen die Österreicher, zu der anderen die Russen. Die Schützengräben sind zugeschüttet und zu Grabstätten geworden, auf denen die weißen, rohgezimmerten Holzkreuze stecken. Sie stehen schief und halb umgestürzt am Bahndamm, wo man noch den Abdruck des Körpers zu sehen vermeint, der sich zu letzter Todeswehr hier eingegraben. Man meint noch die zuckenden Fäuste zu sehen, die im Erdreich wühlen, die blitzenden Augen, die aus der Deckung nach dem Feinde spähen.

Sie haben ausgekämpft! Der Mantel der Nacht und des Schweigens, der Mantel des ewigen Friedens breitet sich über sie.

Schwarz, überlebensgroß, ragt das gewaltige Holzkreuz in der Mitte dieses gigantischen Hünengrabes und reckt seine Arme, die Arme des Gekreuzigten, in den hellen Abendhimmel!

Nur ein einziger, schwerer Schuß rollt herüber wie ein Ehrensalut: „Die Saat eures Blutes ist aufgegangen —!"

[175] Lemberg, im Mai 1915.

Die Stadt Lemberg ist unversehrt, doch herrscht wenig Leben. Solche, die die Stadt von früher kennen, finden sie beinahe ausgestorben. Fast alle Geschäfte tragen russische Aufschriften.

Den Nachmittag verbringen wir im schönen Kilinskiego-Park. Auch hier wenig Leute. Einige russische Militärs mit ihren Familien, ziemlich viel Halbwelt.

Nachdem wir uns von 7 Uhr früh bis 11 Uhr vormittags vergeblich beim Schalter angestellt hatten, um Karten für den Expreßzug nach Kiew zu bekommen, der einmal des Tages läuft, entschließen wir uns, nachts mit dem Personenzug weiterzufahren. Die russische Eisenbahnverwaltung gibt nämlich für jeden Zug nur so viel Fahrkarten aus, als tatsächlich Sitzplätze vorhanden sind. Eine gute Einrichtung, die uns vor überfüllten Wagen sichert, aber unangenehm werden kann, wenn man sich im letzten Augenblick zu einer Reise entschließen und einen bestimmten Zug benutzen muß.

Unterwegs, im Mai 1915.

Vor der Abreise in Lemberg eine unangenehme Szene auf dem Bahnhof. Wir stehen stundenlang eingekeilt am Schalter und warten auf das Ausgeben der Fahrkarten. Hier wird sehr streng darauf gesehen, daß jeder beim Anstellen seinen Platz in der Kette behält, und niemandem wird erlaubt, sich vorzudrängen. Da wir sehr früh gekommen sind, haben Schwester Mania und ich einen der ersten Plätze. Vor uns steht eine junge, hübsche Russin, scheinbar dem Mittelstande angehörig. Hinter uns russisches Militär, Offiziere, Offiziersdiener, die für ihre Herren die Karten lösen, Tscherkessen, Kosaken, alle Waffengattungen und Volksstämme. Dahinter [176] lagern in der Halle die auf den Abtransport wartenden russischen Soldaten. Ein Gewühl, daß keine Stecknadel zu Boden fallen könnte.

Durch eine Unvorsichtigkeit meinerseits wird die junge Russin vor mir auf uns aufmerksam. „Österreicherinnen, Österreicherinnen! aus Przemysl, aus Przemysl!“ sagt sie laut und höhnisch zu ihrem Nachbar. Sie spricht russisch, und ich verstehe nicht, was sie sagt. Aber ich höre den Namen Österreich, Przemysl und Kusmanek und fühle die Flut von Hohn, die sich über uns ergießt!

Ich werde totenbleich. Aber ich will nicht begreifen. Das ist ja Wahnsinn. Kann diese Gemütsroheit mich treffen? Schwester Mania neben mir steht mit trotzigem Mund und mit flammenden Augen. Doch die Russin wendet sich immer feindlicher gegen uns. Sie spricht jetzt zu den russischen Offizieren und Soldaten, die uns umstehen, höhnt und spottet: „Österreicherinnen, Österreicherinnen, die nach Rußland fahren wollen!“

Ich sehe um mich. Eine russische Uniform an der anderen. Wenn jetzt dieser Funken Haß zündet, einschlägt —!

Aller Augen sind aus uns gerichtet.

Einen Augenblick ist Totenstille um uns.

Und dann etwas Unerwartetes.

Dicht hinter uns stehen zwei Tscherkessen, im roten Kittel, den Revolver im Gürtel, auf der Brust die Patronentaschen, ein Bild kühner Wildheit. Sie haben die Arme auf der Brust verschränkt, stehen erhobenen Hauptes und schauen uns unverwandt mit dunklen Augen an.

Sie hören die Worte des Hohnes und des Hasses, die aufreizend zu ihnen herüberspringen. Und sie hören sie nicht. Ihre edel geschnittenen Gesichter zucken mit keiner Muskel. Sie reagieren mit keinem Wort. Aber [177] sie treten mit ausdrücklich betonter Höflichkeit zurück, um uns Platz zu machen, wie Schwester Mania und ich an ihnen vorbei wollen. Die Kosaken rings herum grinsen breit und gutmütig. Einer zuckt mit den Achseln und sagt etwas aus russisch zu der Spötterin, was genau so klingt wie: „Was geht das dich an?“

Kaltherzigen Hohn kennt nur der Gedankenlose, der nicht weiß, was kämpfen und leiden heißt. Die, die selber bluten und heute nicht wissen, ob sie morgen noch sind, lernen Ehrfurcht vor dem Schmerz.

Kiew, im Mai 1915.

Die Reise hierher gut und bequem. Die russischen Bahnen sind für weite Strecken eingerichtet und so gut ausgestattet, daß man die weiten Entfernungen und die Nachtfahrten kaum spürt. Jeder Platz zweiter und dritter Klasse kann in ein Liegebett umgewandelt werden. So haben wir die ganze Nacht durch fest geschlafen. Auch die Verpflegung ist gut, und man bekommt auf Wunsch das Mittagessen im Wagen.

Die Fahrt hierher trotz der großen Ebene nicht eintönig. Viel blühende Obstbäume, dazwischen Windmühlen und kleine Dörfer mit grünen Dächern. Die ganze Landschaft abgetönt und mattfarbig wie ein blasses Pastell. Auffallend die orthodoxen Friedhöfe, die, von keinem Gitter und von keiner Mauer umgeben, ganz offen im Feld liegen. Man sieht die Gräber kaum vor blühenden Obstbäumen.

Da wir in Paßangelegenheiten hier zu tun haben, bleiben wir einige Tage hier.

Wenn man nicht den vielen Verwundeten in den Straßen begegnete, wüßte man in Kiew wenig vom Krieg. Das Leben in den Straßen ist außerordentlich [178] lebhaft und elegant. Den ganzen Tag über wogt es in den Straßen, eine Unzahl Menschen, „Droschkis“, Autos usw. Nur in den Preisen, die zwar immer sehr hoch sein sollen, merkt man den Krieg. Was bei uns in Friedenszeiten eine Krone kostet, zahlt man hier mit einem Rubel. Das gilt für alles, für Nahrungsmittel ebensogut wie für Kleider, Wohnungen, Hotels und alles übrige.

Ich war überrascht, daß Kiew eine so helle, freundliche Stadt ist. Sie ist auf mehreren Hügeln erbaut und liegt außerordentlich schön. Besonders prächtig ist der Blick von den Höhenanlagen auf Stadt und Fluß herab. Der Dniepr hat hier eine ganz bedeutende Breite, teilt sich in mehrere Arme und umschließt einige Inseln, auf deren einer, der Wispa, ein Teil der Stadt liegt.

Einige Straßen dieses Stadtteils sind lagunenartig gebaut, die Häuser stehen teilweise auf Pfählen im Wasser. Der Dniepr hat ein schönes, helles Blau, und das Leben am Fluß ist rege. Unaufhörlich verkehren kleine Lokaldampfer, die die Wispa mit der Stadt verbinden. Warendampfer und Schlepper gleiten langsam flußabwärts, und Ruderboote fliegen hin und her. Wir sehen von unserer Höhe herab den größten Teil der Stadt sich vom Fluß herauf aufbauen. Ein Meer von grünen Dächern und blühenden Obstbäumen, überragt von einer Unzahl von Kirchen und Kapellen, von goldenen und silbernen Kuppeln gekrönt. Von einem einzigen Aussichtspunkt aus zähle ich gegen vierzig goldene Kuppeln. Das macht mit den grünen Dächern das Stadtbild hell und heiter.

Besonders interessant sind die Kirchen; zu den schönsten und größten gehören die Sofien- und die Laurakirche. Diese russischen Kirchen umfassen einen ungeheuren Komplex von kleinen und größeren Kirchen [179] und Kapellen, untereinander verbunden durch große Höfe. Diese Höfe sind teils von alten Bäumen bestanden, teils als Arkaden gedacht, haben wundervoll malerische Winkel mit alten Brunnen, Nischen mit Heiligenstatuen, Irrgänge und Schlupfwinkel. Hier lagert das wallfahrende Volk in ganzen Karawansereien und verbringt oft Tage und Nächte hier, um vor den Heiligenbildern zu opfern.

Kiew ist in erster Linie vornehme Diplomatenstadt. Nur im bessarabischen Viertel begegnet man dem Volk. Hier wimmelt es von buntgestickten Bauernkitteln. Man kennt die russischen Trachten. Die Weiber haben meist lange, dunkle Samtjacken ohne Ärmel, reich mit Goldtressen benäht. Darunter hervor schauen die weißen Hemden, am Halsausschnitt und am Oberärmel mit roten Kreuzelstichborten breit bestickt. Dazu den kurzen Rock, bauschig, mit vielen Falten und buntem Besatz und die schmale, mit Kreuzelstich gestickte Schürze. Auf Hals und Brust hängen vielreihige Ketten aus riesigen Glasperlen in allen Farben. Die meisten tragen auf dem Kopf ein Seidentuch, doch sieht man ab und zu auch junge Mädchen mit einer Krone aus künstlichen Rosen, von der rückwärts bunte Seidenbänder herabfallen, die so lang sind wie der Rock. Die Männer tragen alle den russischen Kittel mit dem Ledergürtel darüber. Dieser Kittel läßt Brust und Hals frei, und man sieht darunter das rot gestickte Hemd, das ebenso wie bei den Weibern Kreuzstichbordüren trägt.

Eine Eigentümlichkeit dieses bessarabischen Viertels ist auch der an allen Straßenecken betriebene Verkauf von Sonnenrosen- und Kürbiskernen. Jeder Mensch, der vorbeigeht, hat die Taschen voll Sonnenblumenkörnern und ißt unaufhörlich. Daher sind die ganzen Straßen von den schwarzen Schalen übersät.

[180] Kiew, im Mai 1915.

Man kommt uns hier überall sehr freundlich, ja zuvorkommend entgegen. Niemand macht uns Schwierigkeiten oder legt uns das geringste in den Weg. In einigen Tagen hoffen wir unsere Papiere in Ordnung zu haben und abreisen zu können!

Ich hatte mit meinem Mann verabredet, daß wir uns postlagernd hierher schreiben wollten, und ich hoffte zuversichtlich, endlich Nachricht von ihm zu finden. Jeden Morgen ist mein erster Weg auf die Post, und ich habe noch immer keine Zeile. Auch meine an ihn gesandten Briefe liegen noch hier. Es ist ein Glück, daß man noch immer nicht Zeit hat, zur Besinnung zu kommen. Solange man sich durch Feindesland kämpft, spannt man die letzte Fiber an und hat keine Zeit, seinen Schmerzen nachzugehen. Ich fürchte jetzt schon die Stille daheim, wo alles über mich hereinbrechen wird, was vorläufig nur im Unterbewußtsein da ist und dort unablässig am Lebensnerv nagt.

Russisch-rumänische Grenzstation, im Mai 1915.

Diese letzte Nacht in Rußland wird mir unvergeßlich bleiben! Wir beabsichtigten, direkt Kiew—Bukarest zu reisen, sind aber durch eine Verspätung gezwungen worden, uns hier eine Nacht aufzuhalten. Wir waren recht unzufrieden über diesen unangenehmen Zwischenfall, aber noch ahnten wir nicht, was für Überraschungen uns hier erwarten sollten. Wir traten also noch ziemlich gefaßt und in unser Schicksal ergeben aus dem Bahnhofsgebäude und riefen dem Träger zu: „Führen Sie uns in ein gutes Hotel!“ „Ja, ja,“ sagte der Russe, „schönes Hotel, sehr schön!“

Dann lud er auf und trabte voran.

[181] Schwester Mama und ich hinterher. Wir sehen uns erst beide ein wenig erstaunt im Kreise um.

„Der Bahnhof scheint weit außerhalb des Ortes zu liegen!“ bemerke ich harmlos.

Wir traben schweigend weiter. Eine flache Sandwüste mit niedrigen, schmutzigen Holzhütten. Das, was die Straße vorzustellen scheint, hat zu beiden Seiten, den Holzhäusern entlang, hölzerne Stege mit einem Geländer. Diese Holzstege liegen ziemlich hoch über dem Straßenniveau. Unser Träger steigt hinauf und trabt oben weiter. Ach so, das ist der sogenannte Bürgersteig, der Großstadt-Asphalt! Später wird uns eine Erklärung dafür, warum dieses merkwürdige Trottoir so hoch oberhalb der Straße angelegt ist. Es ist nämlich gleichzeitig die Rettungsinsel für Regengüsse, die die Straße hier unüberschreitbar machen, der sichere Molo, von dem aus man in den Schlammabgrund der Straßen blickt, in dem überdies die Schweine wühlen.

In eines der letzten Häuschen des Ortes will unser Träger abschwenken. Ich erfasse ihn verzweifelt an der Falte seines russischen Kittels:

„Mensch,“ sage ich entgeistert, „ich will in ein Hotel!“

„Ja, ja,“ nickt er wieder, „schönes Hotel, sehr schön!“

Und verschwindet im Haus, oder besser gesagt in einem niedrigen Zimmer, das direkt auf die Straße führt.

In einer anstoßenden Kammer sitzt die Judenfamilie in tiefster Aufgelöstheit auf ihren Betten, zwischen hoch aufgetürmten Polstern. Der Vater sieht mein ratloses, entsetztes Gesicht: „Wern Se's gut hier haben,“ sagt er in einem fast unverständlichen Jüdisch-Deutsch, „wern [182] Se sehen, meine Gnädige, daß Sie wern gut haben! Hier ist das erste Hotel, alle de Herrschaften steigen nur ab bei mir! Hier kännen Se schlafen —“ er zeigt auf das Bett, von dem er sich soeben erhoben. Mir wird so schwach, daß ich mich auf den nächsten Stuhl setzen muß. Und die ganze Familie umringt mich und benutzt den Augenblick meiner Wehrlosigkeit, um mich mit den seltenen Vorzügen dieses Hotels bekannt zu machen.

„Wir wollen einen eigenen Eingang,“ sage ich endlich schwach, „das geht hier absolut nicht, wir wollen zwei Betten, einen Waschtisch, Kasten!“ — „Kennen Se haben das erste Zimmer, haben Se den Eingang direkt von der Straße, kennen Se haben diesen Eingang ganz allein, nur werden Se erlauben, daß meine Töchter werden holen ihr Sach in der Früh zum Anziehen.“

„Was soll dieses Zimmer kosten?" fragt Schwester Mania.

„O, nicht viel! Weil Sie sein, vier Rubel!“

Jetzt finde ich meine Kräfte wieder. „Vier Rubel, 14 Kronen für eine Nacht!?“ Ich bin so empört, daß ich schon zur Tür draußen bin. Schwester Mania bleibt einstweilen bei den Sachen. Die ganze Familie läuft mir auf der Straße nach und wird bei jedem Schritt, den ich mache, um 20 Kopeken billiger. Ich laufe eine Stunde lang durch das ganze Nest und kann, weiß Gott, nichts Besseres finden!

Schließlich bin ich so müde und stumpfsinnig, daß mir alles absolut gleichgültig ist. Einstweilen hat sich auch noch eine Leidensgefährtin, eine Dame aus Kiew, die hier auf ihren Paß warten muß, eingefunden. So nehmen wir in Gottes Namen jede ein Zimmer. Wir das große, straßenseitige, sie das kleine nebenan.

[183] Wir sind beide todmüde und bitten unsere Wirtin, die Betten herzurichten.

„Recht, recht,“ sagt sie, und man schiebt ein merkwürdiges Etwas auf vier hohen Beinen in das Zimmer. „So, da ist das Bett!“

Das „Bett“ ist ein Brett auf vier hohen, dünnen Stelzfüßen. Die Töchter des Hauses eilen herbei und bringen schmutzige Polster aller Art und Größe. Diese Polster werden auf das Brett gelegt, hübsch unregelmäßig durcheinander, ein dünnes, ein dickes, ein kurzes, ein langes, ein großes, ein kleines, ein viereckiges, ein rundes. Darüber wird ein Leintuch gespannt, ein alter Diwanüberwurf dient als Decke, ein Polster kommt obenauf, das Bett ist bereit!

„Mania!“ sage ich zwischen Lachen und Weinen, wie wir endlich allein sind, „Mania, was tun wir?!“

Mania ist, wie ich, halb besinnungslos vor Müdigkeit. „Niederlegen —!" sagt sie kleinlaut.

Was soll ich noch über die Nacht berichten?

Sie brachte alles, was man sich unter diesen Umständen von einer Nacht erwarten kann — und noch mehr —!!

Hätte mich nicht die körperliche und seelische Erschöpfung niedergehalten, ich wäre unbedingt aufgesprungen und ins Freie hinausgelaufen.

Es war eine Nacht des grauen Elends. Ich konnte keinen Schlaf finden und war doch zu erschöpft, um mich wach zu erhalten. Alle Gespenster der Tiefe waren in diesem Dämmerschlaf.

Die Sandwüste — du und ich, getrennt, auseinandergerissen, verloren in dieser Sandwüste, durch die wir waten, ohne zueinander kommen zu können, die uns verschlingt, erstickt —!

[184] Rumänien, im Mai 1915, unterwegs.

Endlich erlöst uns der nächste Abend. Ein furchtbarer, sintflutartiger Wolkenbruch. Ein kleiner rumänischer Bahnhof, in dem der Zug wartet, der uns hinaus in die Freiheit führen soll. Das ist unser Abschied von Rußland.

Wir suchen einen Wagen und wollen einsteigen. Doch unser Träger grinst und schüttelt hartnäckig den Kopf! Dann läuft er durch den Wolkenbruch zu einem uralten Kasten dritter Klasse und wirft unser Gepäck hinein. „Evakuierte“ steht groß auf dem Wagen. Wir hören ringsum liebe, deutsche Laute, wir sind in einen Evakuiertentransport geraten, der verbannte Deutsche und einige Österreicherinnen nach der Heimat bringt. Es sind 24 „Verbannte“, von denen fast alle schwere Zeiten hinter sich haben.

Und wie sich der Zug in Bewegung setzt und über die Brücke rollt, wo neben den russischen Farben die Farben Rumäniens flattern, da packt es jeden von diesen 24 in seiner Weise. Die junge Frau neben uns, mit den drei Kindern, wirft die gefalteten Hände in die Höhe, dann küßt sie unter Lachen und Weinen ihre Kinder.

In der Ecke ein alter Herr. Eine elegante Erscheinung, ein großzügiges, geistvolles Gesicht, mit dem müden Ausdruck eines seelisch Schwerleidenden, starrt schweigend in den Regenguß hinaus, wortlos, nur die zusammengekrampfte Hand am Fensterrahmen bebt leise. Sein Nachbar, ein gemütlicher, beweglicher alter Herr, hat feine, intelligente Züge, das jugendliche Feuer einer Künstlernatur. Er schlägt laut klatschend in die Hände: „Kinners, Kinners, nu können sie mir alle den Buckel raufsteigen!“

Ich spreche nicht. Aber meine Augen stehen voll Tränen.

[185] Ich könnte glücklich sein und kann es nicht.

Ich bin bei dir —!

Der Zug gleitet langsam über die Brücke und bleibt auf rumänischem Boden stehen. Ein rumänischer Detektiv, Soldaten und Gendarmen kommen in den Wagen. Es wird genau aufgeschrieben, wieviel Evakuierte, wieviel Österreicher, wieviel Reichsdeutsche. Wir hatten die Absicht, nach Bukarest zu fahren, doch sagt man uns, daß es nicht gestattet ist, sondern der ganze Transport direkt an die ungarische Grenze abgeschoben wird. Auch darf während der ganzen Reise niemand den Waggon verlassen.

Wieder eine schlaflose Nacht, die man aber gern in Kauf nimmt im Bewußtsein, morgen früh auf ungarischem Boden zu stehen.

In Jassy kommen der österreichische und der deutsche Konsul und die Herren der Gesandtschaft in den Wagen. Man empfängt uns herzlich, labt uns, fragt uns nach unseren Wünschen.

Ungarn, im Mai 1915, unterwegs.

Die Heimaterde hat uns wieder! Was ist das für ein Zittern im Herzen, die erste rot-weiß-grüne Flagge, der erste Honved auf der ersten ungarischen Brücke!

Daheim bin ich wieder, du — daheim — und — daheim ohne dich —!

Ich danke dir, du Vater droben, ich danke dir, und schick ihn mir bald heim!

An der ersten ungarischen Station übernehmen uns wieder ein Detektiv, zwei Gendarmen, zwei Honveds. Diese Ehrengarde, die uns bis Wien bringen soll, überrascht einen im ersten Augenblick, wenn man mit reinem Gewissen und als gute Patriotin heimkommt. Auch das [186] Heimkommen erkauft man sich nicht so leicht! Aber man wäre keine gute Patriotin, wenn man nicht die Notwendigkeit strenger Schutzmaßnahmen gegen Spionage und gegen das Einschleppen von Seuchen anerkennen wollte.

So findet man sich mit mehr oder weniger Galgenhumor in die notwendigen Freiheitsbeschränkungen und fährt noch ein paar Nächte dritter Klasse möglichst langsam gegen Wien. Allerdings gibt es Augenblicke, wo man fürchtet, unterwegs liegen zu bleiben, so erschöpft ist man. Aber es geht doch vorwärts!

In einem wunderschönen kleinen Marktflecken Siebenbürgens machen wir am Pfingstsonntag halt. Eine Handvoll schneeweißer Häuschen, eingebettet in grüne Felder, in das üppige Saftgrün der Wiesen. Dicht hinter ihnen stehen die hohen schwarzen Waldberge, die mit steilen Hängen aufsteigen, Kulisse hinter Kulisse, Kette hinter Kette, bis sie, blauer und blauer werdend, am Horizont verschwinden.

Wir stehen auf einem Hügel in der Nähe des Dorfes und schauen in die Runde. Da überfällt mich, so mächtig wie nie zuvor, die Schönheit dieses Vaterlandes, für das wir kämpfen.

Hinter mir steht der alte Mann mit den gramdurchfurchten, leidvollen Zügen. Er steht still da und schaut hinaus. Seine Augen sind feucht. „Wir wissen doch, wofür wir bluten!“ sage ich ihm leise. Da nickt er und lächelt.

Mittags feiern wir mit Champagner das Wiedersehen mit der Heimat! Der liebe, heitere alte Herr läßt uns nicht aus. „Kinners!“ sagt er, „den Russen kommt man nur einmal aus! Dat muß gefeiert sein!“

Und dann klingen die Gläser aneinander.

Ein bunter Kreis. Jedes Gesicht hat seine Geschichte.

[187] In solchen Stunden wächst man rasch zusammen, und jeder erzählt seine Schicksale.

Da ist der Fabriksdirektor aus Riga, der mit Frau und drei kleinen Kindern aus der Verbannung, aus Wjatka kommt. Er erzählt, wie er schon im August, kurz nach Ausbruch des Krieges, in Untersuchung gezogen und nach Wjatka, dem Gouvernement, das an Sibirien grenzt, verbannt worden war. Die junge Frau schildert ihre Todesangst und wie sie ihrem Mann mit den drei kleinen Kindern nach Wjatka gefolgt ist. Dort hat sie tapfer mit den Kindern, von denen das kleinste kaum ein Jahr zählt, neben ihm ausgeharrt, bis ihm jetzt, im Mai, die Russen die Heimkehr nach Deutschland bewilligt.

Dann erzählt der alte, müde Mann. Wie er vor Ausbruch des Krieges für den deutschen Flottenverein gezeichnet, im August verhaftet worden sei und dann vom ersten ins zweite, vom zweiten ins dritte und vom dritten ins vierte Gefängnis gewandert, bis zu seiner endlichen Ausweisung. Er hat seine Frau, seine Tochter in Rußland gelassen.

Er geht allein von der Stätte seiner Arbeit, ein alter, gebrochener Mann.

Die Tafelrunde schweigt.

Dann kämpft der heitere alte Herr die aufsteigende Bewegung nieder: „Kinners,“ sagt er, „tut doch nicht so. Vier Gefängnisse, was ist das heutzutage! Ich war in zehn!“

Es ist kein Scherz. Er war wirklich in zehn Gefängnissen. Oft kommt es auch über ihn und würgt ihn. Aber er verliert den Boden nicht unter den Füßen. Sein goldener Humor hält ihn oben.

Das sind Männer, die ein Menschenalter lang in Rußland gearbeitet haben, an der Spitze der deutschen [188] Kolonie ihrer Heimat stehen, die Schenkungen und Stiftungen geschaffen haben.

„Ja, ja, Kinners, ne dolle Geschichte! Und dat döllste daran ist, daß ich doch eigentlich von Geburt ein Russe bin! In Rußland geboren, in Rußland studiert, in Rußland ein Menschenleben gearbeitet. Jetzt schieben sie mich in meine „Heimat“ nach Deutschland ab. Ich habe nie in Deutschland gelebt. Vor 60 Jahren ist mein Vater eingewandert. Aber, Kinners, ich sag' euch doch, mir kann's nur recht sein!“

Hell klingen die Champagnerkelche aneinander.

„Heil Österreich-Ungarn! Heil Deutschland! Heil unserer stolzen Waffenbrüderschaft!“


Wien, den 1. Juni 1915.

Wien finde ich wieder am Tage der Kriegserklärung Italiens! Ernster als zu Kriegsausbruch, wie ich es verließ, leidgereift, sturmerprobt, aber noch glühender und inniger zusammengeschweißt.

Es ist als ob die furchtbare, übermenschliche Belastungsprobe dieses Kriegsjahres unsere Sehnen und Muskeln noch gestärkt und widerstandsfähiger zum Tragen gemacht.

Und die Schmach der Kriegserklärung Italiens trifft keinen Gebrochenen und hetzt ihn in die Verzweiflung, nein, diese Schmach ist der züngelnde Peitschenschlag, der uns auf die Füße stellt wie einen einzigen Mann, der ganz Österreich-Ungarn, ganz Deutschland zu einer einzigen lodernden Flamme verschmilzt!


Im österreichischen Hauptquartier, den 4. Juni 1915.

Die Glocken läuten, die Fahnen wehen, Musik braust durch die Gassen. Die Menschen auf der Straße lachen [189] und weinen. Meine Augen sind feucht. Meine Gedanken sind bei dir. Ich gehe durch die Menge wie eine Traumverlorene!

Wir haben Przemysl wieder — du —!

Ob du schon weißt — dich freuen kannst mit uns?

Die letzten Tage von Przemysl erstehen noch einmal vor mir, schauen mich mit schmerzensgroßen Augen an hinter den wehenden Fahnen. —

Vor der Rampe zum erzherzoglichen Schloß hat sich eine unabsehbare Menschenmenge zusammengefunden. Die engen Gassen fassen nicht die Zahl der Herbeigeströmten. Von allen Dächern winken Fahnen, schwarz-gelb, rot-weiß-grün, schwarz-weiß-rot, schwarz- rot-gelb und die Farben der Stadt neben den Farben des Landes, und mitten darunter der weiße Halbmond im roten Feld.

Eine strahlende Sonne brennt heiß in die engen Gassen. Aus allen Fenstern beugen sich die Menschen. Alle Blicke gehen wartend die Straße hinab. In der schwarzen Menge, die sich Kopf an Kopf drängt, gibt es viel galizianische Flüchtlinge. Da sieht man elegante Polinnen neben dem schwarzen Kaftan des polnischen Juden. Heute ist ihr großer Feiertag vor allen anderen.

Eine Musikkapelle zieht mit klingendem Spiel zum Schloß. Die Mittelschüler und die Vereine der Stadt treten zum Spalier an.

Seine Majestät Kaiser Wilhelm kommt aus dem deutschen Hauptquartier, um unseren Armee-Oberkommandanten, Erzherzog Friedrich, und unseren Thronfolger, Erzherzog Karl Franz Josef, zu der Wiedereroberung Przemysls zu beglückwünschen.

Die ersten Automobile sausen die Rampe hinauf.

Das ist ein Jubel, ein Tücherschwenken, ein Hurra!

[190] Die Rückwärtsstehenden heben ihre Kleinen auf die Schulter: „Siehst du den deutschen Kaiser, siehst du ihn?“

Und der kleine Soldat schwenkt die kleine Fahne vor dem großen Kaiser.

„Unser Thronfolger!" sagen die Leute, „schau, wie lieb er ist, den mag ich wohl besonders gern!“

Und „unser Conrad von Hötzendorf!“ so geht es weiter. Man kennt jeden General und ist stolz auf ihn.

Erzherzog Friedrich empfängt den deutschen Kaiser im Schloß. Er feiert heute seinen 59. Geburtstag, einen stolzen Tag!

Und dann tut sich die Türe zur Schloßterrasse auf. Die Hoheiten erscheinen auf dem Balkon.

Dröhnend setzt die Musik ein, und das „Gott erhalte“ braust vielhundertstimmig zum Schloß auf.

Die Menge entblößt das Haupt, die Fahnen senken sich zum Salut.

Auf der Terrasse steht Kaiser Wilhelm, das Haupt erhoben, das Adlerauge stolz und kühn, die Hand salutierend am Helm. Neben ihm Erzherzog Friedrich und hinter ihm unser Thronfolger lächelnd im Türrahmen.

Feierlich und ernst wie ein Gebet, gewaltig aufrauschend wie Waffengeklirr und Kampfgetöse und heilig wie ein Schwur schwebt das „Gott erhalte“ über die Menge.

Der Segen Gottes und unseres greisen Kaisers ist um uns.


Und ich fasse nach deiner Hand. „Nicht umsonst,“ rufe ich dir zu in die Gefangenschaft, „unser Leiden nicht umsonst —!“