Im Taifun
Es kam nicht gerade häufig vor, daß das Staatspostboot, welches den Verkehr zwischen der Stadt Bangkok und den vor der Flußmündung ankernden Schiffen vermittelte, Passagiere zu befördern hatte, es sei denn, daß irgend ein Kapitän persönlich sich in die Stadt begab oder von dort an Bord zurückkehrte; oder auch, daß ein Steuermann leichtsinnigerweise den Versuch wagte, in der fieberschwülen siamesischen Großstadt unter der „leichten“ Hafenbevölkerung einen genußreichen Tag zu suchen.
Daß aber jene Fahrt mit dem kleinen Postboot gar von einer Dame gemacht wurde, noch dazu von einer europäischen mit vornehmen Aeußeren, die nicht unter männlichem Schutz reiste, sonderst von zwei Dienerinnen begleitet war, das gehörte zu den außergewöhnlichen Ereignissen, und darum erlaubte sich das Dienstpersonal des offiziellen Fahrzeugs Sr. Majestät des Königs von Siam unverhohlenes Staunen.
Die Dame lag in einem niedrigen Bambussessel, wie sie, so recht zur Faulheit geschaffen, nur in Indien zu haben sind. Ihre großen Augen glitten mit unsäglich müdem Ausdruck über das seltsame, durch üppige Vegetation ausgezeichnete, doch drückend eintönige Panorama, das während der Flußfahrt vorüberzog. Bangkok, mit seinen aus kostbarem Teakholz erbauten Häusern, seinen bunten Dächern und vergoldeten Tempeln, lag bereits im Rücken und dem kräftigen Zug der abströmenden Ebbe folgend, schwamm das Boot auf dem ist den wunderlichsten Schnörkeln sich durch die indische Landschaft schlängelnden Menamfluß dahin. Wälder, Dickichte, Bambusröhricht und Dschungeln zogen vorüber, unterbrochen von Dörfern und Ortschaften, deren Häuser, weit in den Fluß hineingebaut, auf Pfählen ruhten. Unter oder neben jeder Hütte schaukelte ein Boot auf der trüben Fluth und unzählige dieser leichten Fahrzeuge mit oder ohne Segel trieben umher. Leben genug – und doch wieder ist es nur ein Scheinleben, nichts von dem kräftigen Treiben, der frischen Bewegung, die in anderen großen Häfen Indiens auf und nieder wogt. Träge schwingt sich ein langbeiniger Sumpfvogel aus dem Röhricht auf; ein Kahn voll nackter Malayenbuben hat ihn emporgescheucht. Ernsthaft schauen die gelben Gesichter der Kinder, und die eingeborenen Fischer mit ihren Weibern, die dem Fischfang obliegen, gebärden sich müde und verdrossen. Der Wind streicht mit feuchtheißem Hauche über das Land; es ist Februar, also Sommer ist Siam; da droht selbst dem Eingeborenen das Fieber.
Nun kommt Packnam am linken Ufer ist Sicht, die Küste zur Rechten dehnt sich in ansehnlicher Erhebung. Vorüber geht’s an den Hütten von Packnam, diesem wichtigen Hafenthor zu dem Innern Hinterindiens. Jetzt dehnt und weitet der mächtige Strom sich immer mehr, sein Leben wächst. Die zahlreichen Fischerboote tummeln sich frischer, kleine und größere Schiffe bewegen sich auf- oder abwärts. Von dem tönt ein amerikanischer Ruf herüber, von jenem schallt ein deutsches Kommando. Die Ufer weichen immer mehr zurück, die Luft wird reiner, den Lungen wohlthätiger, die See ist nahe. Da ist die sogenannte Barre, jener Querriegel, der vor solchen Flüssen sich bildet, welche viele seine Schlammtheilchen mit sich führen, die dort abgesetzt werden. Der Seemann bemerkt die Barre auch bei ruhigem Wetter an der auf ihr stehenden „See“: der Wellengang wird durch den Riegel unterbrochen und verursacht unruhige Bewegung. Größere Schiffe haben die Barre zu fürchten; denn der Wasserstand auf ihr wechselt mit der Jahreszeit, ja mit den Fluthen, von neun bis vierzehn Fuß. Innerhalb der Barre liegen einige Schiffe vor Anker, da eins, dort eins; sie warten auf Hochwasser, um alsdann die gefährliche Stelle zu passiren. Und wie gut sie thun mit solcher Vorsicht, das wird durch jene beiden schräg aus der athmenden Fluth hervorragenden Bäume bewiesen: die Masten eines auf der Barre leck gewordenen und gesunkenen Schiffes.
Dem siamesischen Postboot konnte die Barre nichts anhaben; das Fahrzeug hatte nur geringen Tiefgang und konnte über das gefürchtete Terrain hinwegtanzen. Nun thut sich die Außenrhede von Bangkok auf, der weite Ocean; in fernem blauen Dunst verschwimmen die Küsten. Kräftig athmet der Wind, ruhig und mächtig liegt das Meer. Da schießt ein kleines Fahrzeug mit einem einzigen, grotesk gestalteten Segel durch die Meerfluth; es trägt auf seiner Mastspitze einen blauen Wimpel: das ist der Lootsenkutter von Bangkok. Einige Punkte am schwankenden Horizonte werden kleiner und verschwinden oder wachsen mit dem Näherkommen: das sind ein- oder ausgehende Schiffe. Und da – richtig, da liegt der „Wotan“ vor Anker, ein elegantes, stolzes Segelschiff; dem gilt der Besuch des siamesischen offiziellen Fahrzeuges. Langseits des „Wotan“ liegt ein kleineres Schiff, ein „Lichter“, schwer beladen mit Reissäcken, welche durch die Mannschaft des großen Seglers mittelst der Schiffwinde aufgeholt und in den Raum des „Wotan“ befördert werden.
Weder die Landschaft, noch das große Seebild vermochten bei der Dame auf dem Postboot eine Regung der Theilname hervorzurufen. Freilich, wer fünf Jahre in Bangkok vegetiren mußte, verliert die Fähigkeit zum Naturgenuß, vielleicht auch für jeden andern Genuß – Mistreß Ellen Howard machte keine Ausnahme. Sie hatte fünf ihrer werthvollsten Lebensjahre, vom zwanzigsten bis zum fünfundzwanzigsten, unter Indiens erschlaffender Sonne zugebracht. Und das kam so:
Mr. Howard, der englische Konsul ist Bangkok, schrieb vor fünf Jahren an seinen alten Jugendfreund in London: „Ich bin einsam in diesem warmen Lande; Deine Ellen muß jetzt herangewachsen sein; gieb mir Ellen zur Frau!“ Der Jugendfreund entsetzte sich bei dem Gedanken, seine einzige Tochter so weit [368] fortzugeben; aber er war von jeher ein schwacher Vater gewesen, dessen Ueberzeugungen leider oft genug den Wünschen seiner schönen und verwöhnten Tochter hatten weichen müssen. Diesmal wollte durchaus das Töchterlein verheirathet werden. Nur ein wenig scharfsichtiger hätte er sein müssen, und der gute Papa hätte gar leicht sein Töchterlein festhalten können. Die ruhige Zustimmung allein: „Reise glücklich und grüße mir den trefflichen Mr. Howard,“ würde das Wunder zu stande gebracht haben. Das geschah indeß nicht und so gab es eine erregte Scene, in welcher der alternde Vater mit feuchten Augen seine Tochter beschwor, den Boden von Alt- England nicht zu verlassen, Miß Ellen aber, durch den Widerspruch gereizt, erklärte, Mr. Howard in Bangkok werde ihr Gatte oder kein männliches Wesen auf dem Erdenrund werde je ihr Antlitz wieder schauen. Sie hatte ihren Willen durchgesetzt, war nach Indien gereist und Mr. Howards Frau geworden.
Nun war der Vater gestorben und kurz darauf auch ihr Gatte, Mr. Howard, der verdienstvolle, humane und gerechte Förderer europäischer Kultur in Hinterindien, plötzlich dahingerafft worden.
Frau Ellen war Witwe; und da das indische Leben, aus dem raffinirtesten Luxus und der erschütterndsten Dürftigkeit zusammensetzt, ihren im Grunde gesunden Sinnen nicht behagte, wollte sie nach Europa zurückkehren. Der nächste Dampfer von Singapore nach London ging erst in zwei Monaten; die eigenwillige Frau wollte aber sofort die Reise antreten und so wählte sie den „Wotan“, ein deutsches Segelschiff erster Klasse, welches auf der Außenrhede seine Reisladung empfing, zur Reise nach London.
Der gesunden Schönheit von Frau Ellen Howard hatten die Fieberdünste Indiens nichts anhaben können. Wohl war das röthliche Kolorit ihrer Wangen einem durchsichtigen, plastisch wirkenden Blaßgelb gewichen und das köstliche goldblonde Haar hatte um ein weniges von seinem Glanz verloren – sonst blieb sie ganz die alte Ellen. Ja, vielleicht war die Dame im leichten weißen Batistkleide, die da im bequemen Bambusstuhl ruhte, noch selbstbewußter als die ehemalige Ellen von Alt-England; denn ein hoher Name und ein großes Vermögen stärken das Bewußtsein.
„Ho hoi! Vorsichtig! Fangt das Tau! Da fliegt es über die Reeling! Ho hoi! Habt Ihr etwas für den ‚Wotan‘?“
„Yes, da sind Briefe, Zeitungen und ein Packet Schiffspapiere; überdies ein Passagier; nein drei! He, Madam, wollen Sie gefälligst hier die Strickleiter hinansteigen?“
Die gelbbraunen Gestalten der malayischen Mannschaft bemächtigten sich des Gepäcks der Engländerin; einige Matrosen halfen ihr das Füßchen auf die erste Sprosse der Strickleiter bringen.
Die beiden braunen Dienerinnen, welche Frau Howard mitgebracht hatte, schauten melancholisch auf den schwachen dunklen Streif zurück, der nördlich den Horizont kränzte, ihr Heimathland. Als Frau Ellen Howard einige Sprossen der steilen Strickleiter erklommen, ward sie durch ein Rauschen und Wellenschlagen veranlaßt, den Kopf rückwärts zu wenden. Ein kleiner Schleppdampfer, in dessen Schlepptau drei der fruchtbeladenen Lichterfahrzeuge sich befanden, fuhr heran und wartete nur auf den Abgang des Postbootes, um bei dem „Wotan“ anzulegen. Auf dem Deck des Schleppers aber – und das war es, was Frau Ellen mit gerechtem Ingrimm erfüllte – stand ein schwarzbärtiger Herr in hellem Seidenanzug, den breitrandigen Palmenhut auf dem Haupte, offenbar im Begriff, ebenfalls den „Wotan“ als Reisekutsche zu benutzen. Mit leichter Lüftung des Hutes grüßte er sogar die am „Wotan“ emporklimmende weibliche Gestalt.
Ellen drückte das Haupt in den Nacken; sie fand es unverschämt, daß noch ein Mensch den Einfall hatte, mit dem „Wotan“ reisen zu wollen, und – „meine Kajüte!“ herrschte sie dem Mann zu, der, in würdiger Ruhe Befehle gebend, der Führer des „Wotan“ sein mußte.
„Steward, führe Madame zu ihrer Kabine, Nummer Zwei,“ befahl der Seemann einem vorübergehenden Schiffsjungen und schaute danach wieder in die Papiere, welche er in der Hand trug.
„Mein Name ist Mistreß Howard, Gattin des jüngst verstorbenen Konsuls Ihrer Majestät der Königin von England und Kaiserin von Indien,“ sagte die Dame mit einiger Schärfe.
„Bin mir der Ehre bewußt,“ antwortete der Kapitän, ohne mehr als flüchtig sich zu verneigen.
Frau Ellen verschwand in Nummer Zwei und die beiden dunklen Mädchen in Nummer Drei der längs der stattlichen Kajüte hergerichteten Passagierkabinen.
Das Postboot stieß ab, der Schlepper legte an und gleich danach schaute ein bärtiger Manneskopf über den Bord des „Wotan“.
„Walter Iversen“ begrüßte der Kapitän den neuen Ankömmling. Zwei Männerhände lagen für einen Moment kräftig in einander.
„Kabine Nummer Eins, Steuerbord,“ rief der Kapitän, und mit einem verständnißvollen Kopfnicken verschwand der neue Reisende unter Deck; er wußte offenbar auf Schiffen Bescheid.
Hoi ho, der letzte Sack Reis ist im Schiff, die Luken dicht! Die Anker auf, die Segel herunter!
Mit stolzer Wendung dreht das Schiff nach Südwesten; der Wind faßt die schräg gestellten Leinwandflächen, und dahin rauscht der „Wotan“ in freier Fahrt. Ade, du wunderbare indische Erde; ade, du ewiger Sonnenschein, ihr immergrünen Cedern und Palmen; ade, du entnervendes Schlaraffenthum und du altewige Sklaverei! Der Kiel folgt dem Zuge nach Westen, nach dem alten Europa. Sie jauchzen schon jetzt der Atlantik entgegen, die deutschen Seeleute des „Wotan“, obwohl kein anderer Laut an die freie Luft dringt, als das Kommando des befehlenden Kapitäns oder der eintönig rhythmische Gesang, mit welchem abendländische Seeleute schwere [370] Arbeiten sich zu erleichtern pflegen. Flott geht die Arbeit von statten; ein guter Geist beseelt die Mannschaft, und je mehr das Becken des Meerbusens von Siam sich öffnet, je länger und gleichmäßiger die Dünungen der südlichen Chinasee heranrollen, um so freudiger blicken die Gesichter: es geht der Heimath zu.
Ein kleines Intermezzo drohte freilich am zweiten Tage, den Frieden zu unterbrechen. Frau Howard, welche es nicht hatte erreichen können, daß Diner und Souper ihr allein servirt wurden, und die also gezwungen war, an den gemeinschaftlichen Mahlzeiten der Kajütentafel theilzunehmen, hielt sich streng abgesondert. Mit höflich kalter Frage erkundigte sie sich bei dem Kapitän nach einem Platze auf Deck, wo ihr Ruhestuhl vor jeder Annäherung der Schiffsleute gesichert sei.
„Madame, einen solchen Platz giebt’s nicht auf den Planken des ,Wotan‘, es sei denn Ihre eigene Kabine,“ antwortete der Kapitän. Darnach hielt sich Frau Howard vierundzwanzig Stunden in der Kabine. Aber das Bedürfniß nach frischer Luft nöthigte die Dame doch wieder hinaus an Deck. Die malayischen Dienerinnen lagen an der Seekrankheit darnieder.
„Befehlen Sie jemand zu meiner Bedienung!“ forderte Mistreß Howard. Doch ehe der Kapitän irgend einem Schiffsjungen winken konnte, kroch hinter den Fässern, die den „Wassergang“ entlang lagen, ein halbwüchsiger Bursche hervor; der form- und farblose Kittel des chinesischen Arbeiters umschlotterte seine Glieder. Dieser Mensch, von dem niemand wußte, wie er aufs Schiff gekommen, sank vor Frau Ellen in die Kniee und hob bittend die Arme zu ihr auf.
Eine unbeschreibliche Scene folgte. Die Dame fuhr mit einem lauten Schrei der Entrüstung und des Abscheus einige Schritte zurück; der Kapitän trat näher, packte den fremden Burschen derb an der Schulter und rief: „Ho, holla, Eindringlinge an Bord!“ und im Nu war die gesammte Mannschaft in höchster Aufregung auf den Beinen. Das kann nicht Wunder nehmen in den indischen Gewässern, wo jedes nicht aufs Schiff gehörige Individuum als mit Piraten im Bunde betrachtet werden muß. Das hastete durch einander und stieß leise Verwünschungen aus. Der bezopfte Uebelthäter aber stand zitternd wie Espenlaub in der Mitte und blickte nur immer nach der zürnenden Frau, welche das vom Kapitän begonnene Verhör mit dem energischen Ruf unterbrach: „Ich fordere Strafe für den frechen Uebelthäter, harte Strafe!“
„Das ist mein Amt, Madame,“ sagte nachdrücklich der Kapitän, und auf der braunen Stirn schwollen die Adern. Diese Frau würde ihm während der weiten Reise noch zu schaffen machen!
„Ich fordere harte Strafe!“ Ellen Howard war einige Schritte vorgetreten; sie schien es jetzt nicht zu beachten, daß ihr weißes Kleid von ganz gemeinen Matrosen gestreift wurde. „Ich fordere harte Strafe, denn der Bursche ist mein.“
„Ihr Sklave?“ fragte der Kapitän.
„Pfui, nein! aber einer meiner Gartenarbeiter, den ich wegen Diebstahls fortjagen ließ und der mir nun nachgelaufen ist. Die Peitsche dem frechen Burschen! Ich fordere es.“
Die Situation begann ernstlich zu werden. Die Mannschaft, von der Entrüstung der schönen Frau angesteckt, murrte unverhohlen, und es ward sogar die Bemerkung laut. „Ueber Bord mit ihm, über Bord!“
„Ein Wort, Kapitän!“
Das sagte alte tiefe Mannesstimme; Walter Iversen, der zweite Passagier des „Wotan“, legte seine Hand auf die Schulter des Chinesen.
„Widerspricht es der Disciplin oder der Etikette dieses Schiffes, wenn ich diesen Menschen als meinen Diener annehme?“
„Nein, dadurch wäre die Frage sofort gelöst.“
„Gut, so gehört er zu mir, und ich mache mich verantwortlich für seine Aufführung.“
Diese ruhigen Worte wirkten sichtlich wohltuend; die Wellen der Erregung legten sich und nach einer Viertelstunde kümmerte sich niemand mehr um den Chinesen. Der bezopfte Bursch lag in seines neuen Herrn Kabine auf den Knieen und putzte eifrig an einem Paar Pistolen herum, deren Ladung vorher entfernt worden war. Im Reiben und Wischen hielt der Mensch oft inne und drückte das kalte Eisen an seine Stirn, an seinen Mund; er streichelte auch die alten rothangelaufenen Stiefel, die neben der Koje standen – ein chinesischer Kuli hat eben auch an Herz.
Dieses Intermezzo hatte zur Folge, daß bei der Mittagstafel Frau Ellen sich zum ersten Male am Gespräche betheiligte.
Die Herren sprachen über Völkertypen und charakteristische Eigenschaften der asiatischen Völker. Walter Iversen, der schwarzbärtige Deutsche, welcher, um von einem schweren Schicksal sich zu erholen, einen „Spaziergang um die Erde“ machte, erwähnte, diese Eigenthümlichkeiten seien eine jedesmalige Wirkung der Natur, des Klimas, der Nahrung und so weiter. Das feine ironische Lächeln auf Frau Howards Gesicht veranlaßte ihn zu der Frage: „Sie scheinen anderer Ansicht, Frau Konsul?“
Sie winkte der braunen Nina, daß sie ihr einen Fächer bringe; denn drückend schwer lastete die tropische Temperatur auf allen Lebewesen, und dann mit unbeschreiblich stolzer, doch anmuthiger Bewegung des Kopfes erwiderte sie: „Natur, Natur! Sie werden doch diese braunen, gelben, schwarzen Geschöpfe mit zwei Armen und zwei Füßen nicht zu den ‚Menschen‘ im engeren Sinne zählen? Kultur, Gesittung, Bildung machen den Menschen.“
Halb betroffen, halb unwillig hielt die Dame inne; eben hatte sie Geschmack gefunden an der Unterhaltung mit diesen Männern – besonders der Deutsche mit seiner breiten Stirn über den blauen Augen und dem lächerlichen Idealismus gefiel ihr – da mußte derselbe Deutsche bei dem ersten längeren Satze, welcher von ihren Lippen kam, so fest und tief seine Augen in die ihren senken, als wolle er den letzten Grund ihrer Seele finden. Energisch wehte ihr Fächer. Nun kam es langsam von den Lippen Walter Iversens:
„Sie haben die Welt gesehen, Frau Konsul; kam Ihnen nie das Bedürfniß oder bester die Neugier bei, den tausendfältigen Lebenserscheinungen in der Natur – Verzeihung, da ist sie schon wieder – und im Menschendasein auf die Spur zu kommen? Kümmerten Sie sich nie um die Seelenregungen Ihrer Untergebenen, z. B. was den armen Schelm, der da drinnen“ – er deutete nach der Kabine Nr. 1 – „jetzt einen wahren Kultus mit todten Gegenständen treibt, zu dem ‚strafwürdigen‘ Benehmen von heut Morgen veranlaßte?“
„In der That, mein Herr, eine starke Zumuthung, die sie mir da stellen,“ lächelte die Engländerin abwehrend; „haben Sie vielleicht diese interessante Menschenseele schon ergründet?“
Unbeirrt durch den spöttischen Ton nickte der Deutsche vor sich hin und erwiderte gelassen:
„Ja, und ich fand auch in diesem Einzelfalle bestätigt, daß Furcht und Liebe die stärksten Triebfedern im Menschen sind.“
„Mein Herr –!“ Mit funkelnden Augen erhob sich die englische Dame, um sich zu entfernen. Doch Iversen deutete auf den Sessel zurück, den sie, wie von einem Bann gefangen, sogleich wieder einnahm. Er fuhr fort:
„Muß einer weichen, so bin ich’s, welcher die Kajüte räumt. Furcht und Liebe! Jawohl! Sie regierten auch die Handlungen Ihres ehemaligen Dieners! Die Furcht vor einer unbegreiflichen Macht führte den armen Jim zu einem Zauberdoktor. Sein alter Vater war wahnsinnig geworden, jener Zauberer hatte ihm aber gesagt, der Alte sei von einem bösen Geiste besessen, welcher nur dann von ihm weichen würde, wenn der dünne graue Zopf desselben mit dem Kamme der schönsten Frau von Bangkok gestreichelt werde. Die schönste Frau aber hatte der gute Junge ganz in der Nähe. Er glaubte auch, sie würde es nicht merken, wenn der kostbare Kamm aus ihrem Schlafgemach einen kleinen Spaziergang in die dunkle Chinesenhütte unternähme. Leider wurde der Schelm abgefaßt, als er, das eine Bein über die niedrige Fensterbrüstung geschwungen, mit langgestrecktem Leibe das Corpus delicti auf seinen alten Platz zurückbringen wollte. Der Rest ist Ihnen besser bekannt als mir, Frau Konsul. Der böse Geist wich in der That von dem Alten, denn dieser starb noch selbigen Tages. Wenn nun der dumme Jim, trotzdem er mit Schlägen fortgejagt wurde, immer wieder sich Ihnen zu nahen suchte und sogar die Gefahr, in Ihrer Gegenwart über Bord gesetzt zu werden, nicht scheute, so handelte er wieder getrieben von Liebe. Er liebte die schöne Frau, von welcher Hilfe für seinen Vater kommen sollte, wie man eine Gottheit liebt; er wollte sie anbetend verehren und sich rechtfertigen –“
„Mein Herr, Sie werden beleidigend,“ und nun stand die Engländerin wirklich, einer zürnenden Königin gleich, im niedrigen Schiffsgemach; „ich bin nicht gesonnen, Ihren Expektorationen [371] über Furcht und Liebe zum Mittelpunkt zu dienen. Furcht und Liebe sind mir ebenso fremde wie verächtliche Begriffe. Nina, Fächer und Sonnenschirm!“
Dahin ging sie, um in der freien Luft ihren Zorn verrauschen zu lassen. Dieser unerträgliche Deutsche verbitterte ihr die ganze Reise! Was sein Mund auch sprach, es waren Ueberspanntheiten oder Widerspruch. Und mit dem Menschen sollte sie noch während 16 000 Meilen Seefahrt zusammen sein? Unmöglich! Lieber wollte sie ganz das Feld räumen! Lieber den Bären von Kapitän bestimmen, sie in irgend einem vorderindischen Hafen zu landen oder einem vorübersegelnden Schiff zu übergeben. Für blankes Gold konnte alles erreicht werden. Indem Ellen Howard diesen Gedanken ausspann, überfiel sie plötzlich ein heftiges Herzklopfen; sie sah sich im Geiste am fremden Bord und hörte Walter Iversen sagen: auf Nimmerwiedersehen! Nein, nein sie mußte bleiben.
Während der Steward unten die Tafel abräumte, Kapitän und Obersteuermann wiederholt das schwebende Barometer prüften – um ein winziges Härchen breit zeigte sich das Köpfchen der Quecksilbersäule niedergedrückt – zündete sich Walter Iversen eine Manila an und brummte vor sich hin. „Schade, schade; sie kennt nicht Furcht noch Liebe und ist doch ein Weib! O Natur, warum schaffst du Meisterwerke und versagst ihnen die Seele? Wer diese Seele wecken könnte!“
„Mr. Iversen, dazu reicht keine Menschenkraft, das könnte nur die Natur; dieser Charakter biegt sich nicht, er müßte gebrochen werden.“
So sprach der Kapitän und deutete auf das Barometer. „Was ist’s damit? Gefallen?“
Der Seemann nickte stumm, setzte die Mütze auf und ging an Deck [381] Walter blieb allein und überdachte sein Schicksal und seine Lebenshoffnungen. Ersteres war grausam mit ihm umgegangen; vor Jahren hatte ihm der Verlust des besten Freundes und der Braut den Glauben an die Menschheit geraubt; um sich zu zerstreuen, hatte er eine Weltreise unternommen und war allmählich durch seine Beobachtungen und Erfahrungen wieder ruhig, mild und heiter geworden. Aber eine tiefere Empfindung, besonders eine solche für ein weibliches Wesen, war ihm seither fremd geblieben. Nun hatte die edle Erscheinung und eigenartige Schönheit Ellen Howards einen mächtigen Eindruck auf ihn gemacht, dem er sich vergeblich zu entziehen suchte. „Sie hat kein Herz, o, ich Thor, in jedem schönen Körper eine gleich schöne Seele zu suchen! O, ich Thor, der ich noch einmal von Glückseligkeit zu träumen wagte!“
Wohl sagte er sich das immer und immer wieder vor, aber das Schlagen seines Herzens, so oft er die schöne Feindin sah, schien gegen diese schwarzseherische Auffassung zu protestiren, und völlig unhaltbar wurde dieselbe seit einer Scene, die sich während eines kleinen Sturmes unter dem Aequator bei der Einsegelung in die Straße von Malacca ereignete und die Walter unvergeßlich geblieben war. Eine grobe See hatte das Schiff jählings in die Seite getroffen und durch den Ruck ward der auf der äußersten Kante hoch oben hangende Matrose mit weitem Bogen in die brausende See geschleudert. Unter unsäglichen Anstrengungen glückte es, den Mann aufzufischen; stumm, bleich, aus klaffender Kopfwunde blutend, lag er auf den Planken des Vorderdecks, ein Opfer seines Berufs. Da geschah etwas Unglaubliches: Ellen Howard, die wieder, von Langeweile getrieben, auf Deck gekommen war, riß den weißen Seidenshawl von ihrem Haupte, ballte ihn zusammen und preßte ihn dem quellenden Blutstrom entgegen. Alle Farbe war aus ihrem Antlitz gewichen, und als nach wenigen Augenblicken Kapitän und Steuermann mit Hilfsmitteln zur Stelle waren und ein regelrechter Verband angelegt wurde, wankte sie bebend der Kajütentreppe zu. Walter Iversen bot der Wankenden seinen Arm. Warum wollte der deutsche Mann ihr seine Hand reichen? Sie bedurfte keiner Unterstützung; kühl dankend neigte sie nur das Haupt.
In des Deutschen Gemüth aber sang und klang es und Frau Howard fragte sich im Stillen verwundert. „Warum mag der Deutsche so impertinent glücklich aussehen?“ –
Heute rollte nun der weite indische Ocean seine tiefblauen langen Wellenzüge dem „Wotan“ entgegen, welcher sie mit scharfer Brust durchschnitt. Glühend heiße Pfeile sandte das Himmelsgestirn hernieder, jedoch war die Atmosphäre nicht klar. Es lagerte vielmehr ein weißer Dunst über den Wassern, der die Sonne mit dichtem Schleier verhüllte, aber ihre Gluth zu erhöhen schien. [382] Der Wind führte die seltsamsten Reigentänze auf; bald blies er aus Nord, dann aus Süd; nun gar verhielt er sich gänzlich still, dann aus irgend einer Ecke unvermuthet hervorzubrechen. Dadurch ward die Schiffsmannschaft fortwährend in Athem gehalten; hier mußte ein Segel fortgenommen, dort ein anderes gesetzt werden. Gegen Abend hin, unter einem jähen Windstoß, dem ebenso jähe Stille folgte, flatterte der Dunst wie eine ungeheure Schar großer Raubvögel aus einander; im Westen, wo die niedergehende Sonne sich befinden sollte, hing eine Masse grell roth und grün gefärbten Gewölks. Das alles bedeutete den Passagieren des „Wotan“ nichts Merkwürdiges; aber die Mannschaft zeigte sich unruhig und Kapitän und Steuerleute machten eigentümlich ernste Gesichter und wichen nur von ihrem Posten, um Beobachtungen an den Instrumenten vorzunehmen. Durch den innigen Umgang mit der Natur sind die Sinne der Seefahrer derartig geschärft, daß sie nahende Veränderungen in der Naturphysiognomie schon ahnen, ehe bestimmte Vorboten erscheinen. Hier aber häuften sich bereits drohende Anzeichen, und so war es selbstverständlich, daß der Führer des „Wotan“ keine Zeit an Kavaliersdienste verschwendete, sondern kurz und bündig von Frau Howard forderte: „Madam, benützen Sie gefälligst die Bank mittschiffs. Ihr Bambusstuhl muß unter Deck, daß die Brassen am Steuerbord frei werden.“
Dies hatte Walter Iversen vernommen, er trat jetzt zu dem Kapitän, der mit seinen scharfen Augen das krause Meer, den drohenden Horizont musterte.
„Sie fürchten, Kapitän?“
„Fürchten? Da kommen Sie schlecht an, Herr, aber –“ was die beiden Männer jetzt halblaut redeten, drang nicht zum Ohr der Dame. Nina und ihre Gefährtin waren beordert, die beängstigende Schwüle der Luft für die Herrin erträglich zu machen mit duftenden Wassern und Fächerschlagen.
Die Nacht brach an. Um acht Uhr war alles zur Ruhe gepfiffen; jedermann hatte dem Befehle gehorcht und sich zur Koje begeben. Doch kein einziger Mensch am Bord fand Schlaf. Nach mehrstündiger vergeblicher Mühe, die Spannung der Atmosphäre und der Nerven durch festen Willen zu überwinden, erhob sich Walter Iversen und ging an Deck. Beim Passiren der Kajüte sah er Licht durch das Schlüsselloch der Kabine Nummer Zwei dringen. „Haha, sie kann auch nicht schlafen!“
Oben bot sich ein wunderbares Bild tropischer Seelandschaft. Fast ganz schwieg der Wind, aber das Meer bewegte sich in vibrirender Erregung und versetzte dadurch das Schiff in ungleiche hilflose Aufregung. Dabei schimmerte die See in stumpfem Weiß, ähnlich einer Schneelandschaft, doch ohne deren Leuchten. Die Himmelskuppel aber lag schwer, niedrig über der Erde; die Entfernung zwischen dem Wasserspiegel und den regellos herabhängenden Wolkenballen schien nach wenigen Metern zu bemessen. Dabei war das gleichmäßige elektrische Leuchten der Tropennächte einem grellen Lichtflimmer gewichen, der den engen Raum zwischen Wasser und dumpfer Wolkendecke unaufhörlich durchzuckte. An mehreren Stellen zeigte sich die Wolkendecke zerrissen und durch den Spalt sah man in die unergründliche Himmelswölbung, von wo die Sterne in grünem Lichte schimmerten. Kaum gestattete die elektrische Spannung einen vollen Atemzug; kalte Schweißtropfen standen auf jeder Stirn; mühselig rang jede Lunge nach Luft.
Iversen wagte nicht, die drei Männer, den Kapitän und die beiden Steuerleute, welche auf dem Hinterdeck stumm und reglos der Entwickelung eines grausigen Schauspiels entgegenharrten, durch Fragen zu belästigen. Er suchte die Region „vor dem Mast“, und er fand hier die aus zwanzig Köpfen bestehende Mannschaft schlaff auf den Planken ausgestreckt, theils in finsteres Brüten versunken. Er wankte zurück und wollte auf der Bank am Großmast seinen matten Gliedern Halt gönnen. Die Bank war inzwischen von Frau Howard eingenommen worden, zu deren Füßen je ein dunkles Mädchen in dürftigster Nachtkleidung kauerte, die Gesichter angstvoll in die Falten des weißen Kleides ihrer Gebieterin gedrückt.
„Auch Sie, Frau Konsul?“
„Drunten ist’s unerträglich warm.“
„Gestatten Sie mir, neben Ihnen Platz zu nehmen?“
Sie antwortete nicht, machte aber Anstrengungen, sich zu erheben, um dem Feind das Feld zu überlassen. Es gelang nicht; eine zitternde Schwäche in den Gliedern nöthigte sie auf den Sitz zurück. Er dagegen blieb stehen und mit prüfendem Auge verfolgte er die Vorgänge in Luft und Wasser.
„Was hat das seltsame Gebahren der Mannschaft zu bedeuten? Erst unvernünftiges Arbeiten an Schiff und Takelage und nun liegen sie wie die Fliegen?“ fragte die Engländerin, da der Deutsche beharrlich schwieg.
„Empfinden Sie nicht, daß etwas Außerordentliches in der Natur sich vorbereitet oder herannaht?“
„Bah, ein wenig Wind wird kommen, ich kenne das aus meinem indischen Leben.“
„Ein wenig Wind? Es dürfte leicht genug sein, um den ‚Wotan‘ mit allem drauf und dran spurlos zu verwischen,“ erwiderte Walter mit scharfer Bitterkeit.
„Furcht?“ spöttelte Frau Ellen, indeß grelle Blitze lautlos über ihr zuckten. In diesem Moment erschien ihm die schöne Frau wie ein Zerrbild. Er ging zu dem Kapitän, der im Heck mit seinen Steuerleuten lehnte und Vermuthungen aussprach über die Gegend, aus welcher das Wetter zu erwarten stehe.
Zwischen fünf und sechs Uhr Morgens hörten die grellen Lichterscheinungen auf, undurchdringliche Finsterniß hüllte das Schiff ein. Doch nicht lange. Mit zischendem Pfeifen raste her Wind heran und alsbald begannen die Taue zu schlagen, die Rundhölzer zu dröhnen, die See zu brüllen. Sechs Uhr. Das Dunkel lichtete sich zu aschfarbener Dämmerung. Die Morgenröthe hing oben im Zenit, wo aus grünschwarzen Wolken (der seemännische Ausdruck sagt: schmierige Luft), die wild durch einander gepeitscht wurden, röthlich angestrahlte Flecken und Fetzen umherjagten, aber vergebens suchte man im Osten die Sonne. In dem aufgeregten Meere arbeitete das Schiff unter Aechzen und Stöhnen.
Ein furchtbarer Sonnenaufgang.
„Madam, Sie werden sich nach unten verfügen müssen“ rief der Kapitän Ellen Howard zu, die nun doch mit fliegendem Athem und starren Augen in das wilde Schreckniß blickte und nicht mehr im Stande war, für die schwankenden Füße einen sicheren Halt zu gewinnen. Aber der Deutsche beobachtete sie und daher kam es gepreßt aus ihrem Munde. „Ich fürchte mich nicht, ich bleibe.“
„Sie werden nach unten gehen, nötigenfalls mit Gewalt,“ schrie der Seemann noch einmal durch den zunehmenden Tumult in Luft und Wasser. Da sprang Walter Iversen hinzu, faßte energisch zu und geleitete Ellen und ihre Dienerinnen die krachende Treppe hinab. Es war das erste Mal, daß er die schöne Frau berührte, sein Arm lag fest um ihren Körper, er trug sie fast. Ellen athmete schwer.
„Und Sie?“ fragte sie nun in offenbarer Angst, als er mit einer stummen Verbeugung die Kajüte wieder verlassen wollte.
„Mein Platz ist bei der Arbeit, bei den Männern in Gefahr“. Er ließ sie wirklich allein mit den beiden Mädchen, die sie ja „nicht zu den Menschen rechnete“.
Immer mehr schwoll das Getöse an und dazwischen tönte die Stimme des Kapitäns, der durch ein Sprachrohr seine Befehle gab. Mit übermenschlicher Kraft arbeiteten die Schiffsleute an den letzten Sicherheitsvorkehrungen: Stengen und Raaen doppelt zu stützen, die Segel, bis auf ein winziges Sturmsegel, welches dem gemarterten Schiffe Halt geben soll, fest einzubinden, die Boote, Fässer, alles was in Klampen und Schrauben ruht, mit starken Tauen an seinem Platz zu befestigen.
„Kapitän, ich stelle mich zu Ihrer Verfügung,“ hatte der Deutsche gerufen.
„Gut! Gut! Der Mann am Steuer muß festgebunden werden, daß er nicht fortgespült werden kann, besorgen Sie das.“
Und Walter Iversen arbeitete wie ein gemeiner Matrose.
Noch konnten die festen, seegewohnten Männer sich aufrecht halten, wenn sie einen festen Stützpunkt hatten.
„Das ist –?“ fragte Iversen.
„Ein Taifun“ antwortete der Kapitän, seinen Mund dicht an Iversens Ohr legend und an der Reeling sich haltend; das Gesicht voll dem Sturm zugekehrt, deutete der Seemann seitwärts über seine rechte Schulter: „Dort liegt das Centrum.“ In der angedeuteten Richtung lagerte tief auf dem Horizont eine blauschwarze Wolkenbank, mit schwefelfarbigen Streifen durchsetzt. Die Bank lagerte unbeweglich; alles andere Gewölk jagte aber in wilder Hast über die brüllenden Wogen dahin. Frühzeitig hatte der Kapitän das Schiff an den Wind legen lassen, die einzige Lage, in welcher ein Schiff den Taifun bestenfalls überstehen kann. Nun lag es in einer Stellung von 40 Grad schräg im Wasser – die Köpfe der hohl und wirr durch einander laufenden Wellen [383] brachen darüber hin; in den Blöcken und Tauen der Takelung heulte der wachsende Sturm und rüttelte wüthend an allem Festgefügten. Dazu stürzte Regen herab und die von rasender Gewalt geschleuderten Tropfen verursachten brennenden Schmerz auf den getroffenen Hautstellen.
Eine einzige bleifarbene Masse ist der Himmel; und das Meer, in rasender Wuth lebendig geworden, wird durch den Sturm mit dem Himmel zu einem Ganzen vereinigt. Menschensinne vermögen nichts mehr zu unterscheiden. Der Schrecken waltet.
Der Kapitän hatte die Mannschaft auf das Hinterdeck beordert, unter dem Schutz des Schanzkleides krochen die Leute an Deck entlang, um in die Nähe ihres Führers und Meisters zu gelangen, der durch geflissentlich zur Schau getragene Zuversicht ihre Hoffnung wach erhielt. Walter Iversen aber suchte die Frauen in der Kajüte auf. Die Malayinnen lagen, das Gesicht nach unten gekehrt, platt auf dem Boden in der am tiefsten liegenden Ecke; Ellen Howard aber – o Wunder! – hatte ihre weißen Arme krampfhaft um den Hals des armen Jim, des verachteten Chinesen, geschlungen. Der gute Bursche hielt sich und seine Last mit festgestemmten Füßen aufrecht; sorgsam und doch in scheuer Ehrfurcht glitt seine Hand tröstend über den Scheitel der geängstigten Frau.
Nahe genug gekommen, suchte der Deutsche Ellens Finger von dem Nacken des Chinesen zu lösen – ein Angstschrei brach von ihren Lippen, so gellend, daß er selbst das Krachen und Toben übertönte.
„Du armes Weib,“ flüsterte Iversen. Und nun nahm er sie in seine Arme, trug sie zu dem die Kajüte durchschneidenden Besanmast und suchte sie an diesen mittels eines von Jim geforderten Stückes Zeug festzubinden. Das sollte aber nicht so leicht gehen. Waren inzwischen oben an Deck schlimme Verwüstungen angerichtet, war das mit Ketten durch die Speigaten befestigte Schanzkleid fortgerissen, das Querschott der Back weggeschlagen, und war bereits über Bord geschwemmt worden, was an und unter der Back sich befand, so drückte jetzt eine ungeheure Welle die Steuerbordseite der Kajüte ein und – das Meer hatte den Weg in die Kajüte frei. Im Nu stand sie unter Wasser; tausend Gegenstände, Möbel, Kleider, Instrumente, schwammen in tollem Wirbel darin umher, bis eine neue See die Dinge hinausstieß.
In dem Einsturz der Kajüte verhallte ein zweiter Schreckensschrei; mit dem Ausdruck des Wahnsinns stierte Ellen in das Chaos. Walter Iversen aber nahm die Frau auf seine Arme und schleppte sie, von neuen Güssen überstürzt, aus dem Gewirr heraus auf die nach oben führende Treppe. Jim, die beiden Mädchen schleifend, folgte seinem Herrn. Auf der Treppe kauerten sie nieder. Ellens Gesicht ruhte an Walters Brust. Unter ihnen wogte ein Meer, die Wellen räumten aus; über ihnen ein Meer; rundum Meer, Brausen, Kreischen, Toben – Vernichtung.
„Sterben, sterben!“ schrie Ellen und warf die Arme in die Höhe.
„Nicht sterben, wir leben und werden leben.“
Das sprach eine ruhige Stimme. Sie fühlte den Hauch eines Mundes an ihrem Ohr, sie hörte Himmelsbotschaft. Und als müßte sie sich überzeugen, von wo der Ton gekommen, so fragend ernsthaft schaute sie in das dicht über sie gebeugte Mannesgesicht.
Walter Iversen war ruhig, keine Spur von Furcht; wahrlich, er lächelte, und doch – horch – im wüthenden Chaos ein neuer Ton, ein Brechen und Knattern wie Gewehrfeuer, ihr Blick fragt wieder: „müssen wir sterben?“ und doppelt fest klammert sie sich an ihren Beschützer.
„Da brach ein Mast,“ sagt Walter Iversen und lächelt ebenso ruhig wie vorhin und drückt die zarte Frauengestalt an sich. Jim und die braunen Dirnen murmeln Gebete. Von der Wucht des Orkans fest ins Wasser gedrückt, zittert jetzt das Schiff wie im Todeskampfe; die Salzfluth, zu Gischt gepeitscht, stürzt darüber hin – es ist nicht mehr zu erkennen, was Wolken sind und was Meer ist. Der Vernichtung, dem Verderben ist jedes Atom der Schöpfung geweiht.
„Fürchtest Du Dich nicht?“ kreischt Ellen bei einem neuen Wuthausbruch des Schrecknisses.
„Nein!“
„Warum fürchtest Du Dich nicht?“ begehrt sie zu wissen wie ein angstgefoltertes Kind.
„Weil ich die Natur verstehe.“
„Sie ist furchtbar, furchtbar!“ schreit das arme Weib wieder auf.
„Lerne sie verstehen und Du wirst sie lieben.“
„Liebe! Liebe! Ich habe Dich lieb! Verlaß mich nicht!“ wimmert Ellen leise, und Walter preßt sie fest in seine Arme und drückt auf ihre feuchtkalte Stirn einen Kuß.
In ungeheuren Haufen stürzte der Seegang von allen Seiten über das Schiff. Die Reeling in Lee lag vollständig unter Wasser. Reservehölzer, Boote, Fässer – alles war zerschlagen oder weggerissen, der Fockmast bereits preisgegeben und jetzt mußte auch der Großmast gekappt werden, um die Gefahr des Kenterns zu erschweren. An einer Seite wurden Wanten und stützendes Tauwerk des Mastes durchgehauen; kaum waren einige Stützpunkte hiermit hinweggeräumt, als der riesige, aus eisernen Röhren bestehende Mast wie ein Spielzeug in der Faust des Taifuns dicht über Deck abbrach; im wirren Durcheinander riß er nicht nur Tauwerk, Stengen und Hölzer mit hinab, sondern zerschmetterte auch das letzte Boot und schlug in die Deckplanken ein großes Loch. Dreißig Hände zugleich kämpften gegen die wüthenden Elemente, um den „Wotan“ von Wrackstücken zu befreien, die schlagend und scheuernd das Schiff zum Sinken reif machen mußten; die klaffenden Lücken des Mastabbruchs mußten schleunigst gestopft werden. Die Männer kämpften wie Ein Mann. Was that es, daß zwei Matrosen, von stürzenden Stücken getroffen, erschlagen und von der nächsten See hinweggespült wurden? Walter Iversen und Jim traten an ihre Stelle. Die Frauen, jetzt auch festgebunden, daß keine mehr als die Arme bewegen konnte, hatten das Schauspiel vor Augen: Menschenkraft gegen Naturgewalt.
Der Orkan hatte seinen Höhepunkt erreicht …
Nach vierundzwanzig Stunden ein anderes Bild. Mit ebenso kluger wie sicherer Berechnung hatte der Kapitän dem Centrum des Wirbelsturmes auszuweichen gewußt. Der „Wotan“, ein mastenloses Wrack, aber noch steuerbar, schwamm unter der indischen Sonne. Friedlich, in lächelnder Bläue athmete das Meer; das unglückliche Schiff glich einem mächtigen, kahlen Sarg, der schwerfällig schaukelnd im seltsamen Gegensatz zu dem heiteren Meeresfrieden stand. Auf dem schaukelnden Sarg befand sich ein Häuflein Menschen. Aber nicht in unthätiger Verzweiflung, sondern im Frohgefühl neuen Lebens bei frischer Arbeit. Da wurden Planken angenagelt und Löcher verstopft, an den Pumpen geschafft und die Kajüte gesäubert, und der Kapitän war vorn und hinten und überall zu gleicher Zeit, hier anfeuernd, dort lobend. Mitten unter den Matrosen befanden sich auch Walter Iversen und Jim, der Chinese, mit Nägeln und Werkzeug in den Händen; ihre Hammerschläge schallten nicht minder kräftig als die der andern. Die Noth und der Tod machen alle Menschen gleich; da kommt die wahre Brüderschaft zum Ausdruck. Einige von den Matrosen lagen freilich arbeitsunfähig mit gebrochenen oder zerschmetterten Gliedern darnieder; zu diesen gehörte auch der Obersteuermann. Des Kapitäns erste Aufgabe war es, diesen Unglücklichen Hilfe zu bringen. Mit dem primitivsten Verbandzeug ging er von einem zum andern, die zum Theil schrecklichen Verletzungen zu verbinden, die Qualen der Leute zu mildern. Dabei hatte er den schönsten, nein den besten, liebevollsten Beistand: Ellen Howard. Woher hatte die Frau diese Kenntniß der Krankenpflege? Sie schauderte nicht vor Blut, sie hielt sicheren Griffs den gebrochenen Arm oder den zermalmten Fuß. Sie netzte die Stirn eines Ohnmächtigen und bettete das wunde Haupt eines andern in ihren Schoß. O wunderschöne Menschenliebe, die sich nicht genug thun kann!
Frau Ellens blasses Gesicht ward selbst infolge der großen Anstrengung von Schatten der Ohnmacht überflogen; sie drohte der Anstrengung zu erliegen. Vorsichtig führte der Kapitän sie nach einem geschützten Plätzchen und ging dann, um Walter Iversen zu rufen.
„ Gehen Sie zu ihr, das ist ein herrliches Weib.“
Walter fand bereits ihre Dienerinnen um sie beschäftigt. Sie schlug die Augen auf und schickte dieselben fort, um mit ihm allein zu sein. Noch zauderte er, die sich ihm entgegenstreckende Hand zu erfassen.
„Verschmähst Du mich?“ rief Ellen erglühend. Da sank er vor ihr nieder und rief:
„Wie konnte es nur geschehen?“
„Ich habe fürchten und lieben gelernt!“ flüsterte Ellen.
„Hoi ho! Hoi ho! Schiff in Sicht!“ ruft eine Stimme und von einem Dutzend Männerstimmen schallt der Gesang über das blaue Meer: „Nun danket alle Gott!“