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Im Kampf um einen Königsthron

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Autor: Eduard Schulte
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Titel: Im Kampf um einen Königsthron
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 14 und 15, S. 237–239, 246–248
Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1891
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
Die Herzogin von Berry und ihre Gefangenschaft in Blaye
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[237]

Im Kampf um einen Königsthron.

Die Herzogin von Berry und ihre Gefangenschaft in Blaye.
Von Eduard Schulte.

Die Revolution im Juli 1830 vertrieb den König Karl X. von Frankreich und seine Familie, den älteren Zweig der Bourbonen, zum dritten Male vom französischen Boden. Die flüchtige Königsfamilie begab sich zunächst nach England und dann nach Schottland, wo sie zu Edinburgh im Schlosse Holyrood, das einst von Maria Stuart bewohnt wurde, ihren Aufenthalt nahm. Die Flüchtlinge waren außer dem Könige dessen ältester Sohn, der Dauphin, der den Titel eines Herzogs von Angoulême führte, und dessen Gemahlin, die als Tochter Ludwigs XVI. zugleich ihres Gatten Cousine war; ferner die Herzogin von Berry, Marie Karoline, die Witwe des zweiten Sohnes des Königs, des im Jahre 1820 ermordeten Herzogs von Berry, mit ihren beiden Kindern, der im Jahre 1819 geborenen Prinzessin Louise und dem um ein Jahr jüngeren Prinzen Heinrich, der „Herzog von Bordeaux“ und später meist „Graf von Chambord“ genannt wurde.[1] Zu Gunsten dieses Enkels, der als König „Heinrich V.“ heißen sollte, hatte der König Karl auf seine Krone verzichtet, indem er zugleich den Herzog von Orleans Louis Philipp zum Generalstatthalter des Königreichs ernannte. Nachdem Louis Philipp aber selbst den Thron bestiegen hatte, zog Karl X. die Ernennung zurück und bestimmte dafür die Mutter Heinrichs, die Herzogin von Berry, zur Regentin. Karls Erbe würde nach bestehendem Gesetz und Herkommen zunächst der Herzog von Angoulême als Dauphin gewesen sein. Aber dieser fühlte sich der Aufgabe nicht gewachsen, unter schwierigen Verhältnissen eine Krone zu tragen oder, da diese seiner Familie entrissen war, auch nur die Rolle eines Prätendenten zu spielen; überdies lebte er in kinderloser Ehe. Der greise Karl X. führte den Königstitel fort und blieb das maßgebende Oberhaupt der entthronten Herrscherfamilie, aber auf eine Wiedergewinnung des Thrones hoffte er kaum noch; jedenfalls war er ebenso wie sein Sohn einem kühnen und entschlossenen Eintreten für das legitime Königthum durchaus abgeneigt.

Die Partei der „Legitimisten“ oder „echten Royalisten“ in Frankreich sah die Entthronung ihres angestammten Königshauses natürlich als eine frevelhafte Ungesetzlichkeit und als etwas Vorübergehendes an. Ihre einzige Hoffnung war, wie die Dinge einmal standen, der junge Herzog von Bordeaux und mit ihm, da er bei der Entthronung erst zehn Jahre zählte, seine Mutter, die Herzogin von Berry. Ohne sonderlich gebildet und begabt zu sein, war sie eine entschlossene Frau, die bei der geringen Willenskraft der älteren männlichen Mitglieder der Familie es für ihre heilige Pflicht hielt, alles zu wagen, um ihrem Sohne den französischen Thron zu sichern. Sie stand erst im zweiunddreißigsten Lebensjahre und schien als Tochter des neapolitanischen Königshauses südliche Leidenschaftlichkeit geerbt zu haben, wenngleich ihr Aeußeres die Südländerin nicht verrieth; bei kleiner und voller Gestalt hatte sie auffallend weiße Hautfarbe, blondes Haar und blaue Augen.

Marie Karoline Herzogin von Berry.

Die Lebendigkeit und hoffnungsfreudige Thatkraft der Herzogin stimmte nicht zu der Stille und Entsagung, die in Karls X. Umgebung herrschte. So trennte sie sich vom Hofe und lieh denjenigen Legitimisten ihr Ohr, welche eine gewaltsame Erhebung gegen die Regierung Louis Philipps planten. Die Reden ihrer heißblütigsten Anhänger, welche sie in England aufsuchten, und die brieflichen Darlegungen der Royalisten in Frankreich selbst ließen in ihr den Entschluß reifen, nach dem Festlande zu gehen und die Erhebung in Person zu leiten.

Die Einbildungen und Selbsttäuschungen des Emigrantenthums sind sprichwörtlich geworden, und die Herzogin erlag ihnen ebenso wie ihre nähere Umgebung. Trotzdem würde man nicht sagen können, daß die in diesen Kreisen gehegten Hoffnungen völlig unbegründet und ihre Voraussetzungen sämmtlich irrig gewesen wären. Die Phantasiegebilde hatten einige wirkliche Grundlagen. Louis Philipp war nicht bloß den Legitimisten und den mit ihnen verbundenen Ultramontanen, sondern auch den Republikanern tief verhaßt, und er hatte Mühe genug, seinen Thron gegen diese seine zahlreichen und mächtigen Feinde zu behaupten. Hatte nicht die alte Königsfamilie überall in Frankreich, besonders im Süden und im Westen, Anhänger, von denen man erwarten konnte, daß sie ihre Treue nicht bloß durch stille Theilnahme für das Haus Bourbon und durch eine in den Schranken der bestehenden Ordnung sich haltende Opposition gegen das Haus Orleans, sondern im Nothfall mit Gut und Blut zu bethätigen bereit waren? Lebten nicht in der Vendée noch Hunderte von Adligen und Bauern, die unter der ersten Republik und noch im Jahre 1815 für den rechtmäßigen König die Waffen ergriffen hatten? Hatte nicht Napoleon, als er von Elba kam, gezeigt, wie man bei opferwilliger Anhängerschaft im Lande und bei kühnem Vorgehen eine Regierung stürzen konnte? Und das Ausland stand dabei auf Seiten dieser Regierung. Jetzt betrachteten umgekehrt die Höfe von Rußland, Oesterreich und Preußen und die fast aller kleineren Länder den König Louis Philipp mit Mißtrauen. Sie wollten nicht gelten lassen, daß er die Krone nur angenommen habe, um der mißlichen und wahrscheinlich unwirksamen Vormundschaft über ein königliches Kind zu entgehen und der Errichtung der Republik vorzubeugen; in ihren Augen war er ein Thronräuber. Die Herzogin hoffte, daß diese Herrscher ihr beim Verfechten eines legitimen Rechts mehr oder minder offen zur Seite stehen würden. Ueberdies schien die Lostrennung Belgiens von Holland, die der Julirevolution unmittelbar gefolgt war, zu einem europäischen Kriege führen zu sollen. Vielleicht wurde eine legitimistische Erhebung in Frankreich dadurch erleichtert, daß die französischen Heere jenseit der Grenze zu kämpfen hatten; vielleicht brachte dieser Krieg die angestammte Königsfamilie wieder auf den Thron.

Im Juni 1831 verließ die Herzogin von Berry, unter dem Namen einer Gräfin von Sagana reisend, in Begleitung einiger Herren und Damen England. Nach einem Besuche bei dem Könige von Holland fuhr sie rheinaufwärts, durchreiste die Schweiz und traf in Turin und bei Genua mit König Karl Albert von Sardinien zusammen. Von ihm empfing sie eine Million Franken; auch aus dem Haag und aus Lissabon flossen ihr größere Summen zu. Bei den Fürsten Mittelitaliens und sogar bei ihrem königlichen Bruder von Neapel fand sie nicht die gewünschte Unterstützung, da die französischen Gesandten Vorstellungen erhoben und selbst Drohungen anwandten. Zuletzt, vom Dezember 1831 an, fand sie eine Zuflucht nur noch in Massa, dessen Landesherr, der Herzog von Modena, die Regierung Louis Philipps nicht anerkannt hatte. Von hier aus sandte sie den Herzog von Blacas, [238] der im Auftrage Karls X. ihre Schritte überwachen und ihre Unternehmungslust zügeln sollte, mit irgend einem bedeutungslosen Auftrage nach Holyrood znenck, um seiner ledig zu sein. Verhandlungen mit der bonapartistischen Partei zerschlugen sich, da die Legitimisten die Trikolore nicht anerkennen wollten. Die größeren Höfe in Europa zeigten sich zurückhaltender, als man gehofft hatte. König Ferdinand VII. von Spanien verbot der Herzogin, obwohl sie seine Schwägerin war, den Eintritt in sein Land.

Dagegen schienen mehrere örtliche Unruhen in Frankreich selbst, sogar in Paris, einer umfassenden Schilderhebung günstig zu sein. Die kriegerischen Royalisten im Lande rührten sich. Der Baron von Charette bereitete in der Vendée einen größeren Aufstand vor, indem er das Land in aller Heimlichkeit in Bezirke theilte, in deren jedem ein kampftüchtiger Adliger das Kommando über die waffenfähigen Royalisten führen sollte. Zu Anfang des Jahres 1832 war in sechsundzwanzig von diesen Bezirken je eine Compagnie von durchschnittlich achtzig Mann kampfbereit und mit Waffen und Schießbedarf versehen. Die Besucher und die Briefe aus Frankreich, welche die Herzogin in Massa empfing, stellten die Verhältnisse im Lande so dar, als begehe sie ein Unrecht gegen ihren Sohn, wenn sie nicht alsbald auf französischem Boden erscheine.

Sie zögerte nun nicht länger. In ihrem Auftrage übermittelte einer ihrer einflußreichsten Anhänger, der Marschall Bourmont, der zu ihr geeilt war, den Kommandanten im Westen den Befehl, sich für den 3. Mai bereit zu halten. Am 26. April bestieg sie mit einigen Getreuen, unter denen die Herren von Bourmont, von Kergorlay, von Mesnard und von Brissac die vornehmsten waren, bei Livorno ein Dampfschiff, das sie sich dank der stillen Begünstigung des Königs von Sardinien hatte verschaffen können, und in der Nacht vom 28. zum 29. landete sie an der Küste der Provence bei Carry. Ihre Begleiter waren als Fischer gekleidet, und mit ihnen verbarg sie sich in einer Fischerhütte nicht weit von Marseille. Sie ließ Proklamationen verbreiten, welche die Generalstaaten nach Toulouse beriefen, und wartete den Erfolg des Aufstandes ab, der am 30. April in Marseille beginnen sollte.

Aber die politische Polizei der französischen Regierung war der Herzogin von Berry, seitdem sie England verlassen hatte, meist dicht auf den Fersen geblieben. Auch von jener Einschiffung erfuhren die spanischen Agenten, konnten jedoch nur feststellen, daß eine Gruppe von Personen, welche zur Begleitung und Dienerschaft der Herzogin gehörten, jenen von Livorno nach Barcelona bestimmten Dampfer bestiegen hatte; daß die Herzogin selbst an Bord gegangen war, blieb den Behörden unbekannt, und noch viele Wochen später wußten sie nicht, ob sich die Frau in Italien, in Spanien oder in Frankreich befinde. Indessen waren sie auf ihrer Hut und hatten sich längst auf einen Aufstand in Marseille gerüstet. Am 30. zogen einige bewaffnete Legitimisten unter aufrührerischen Rufen durch die Straßen, und ein paar Stunden wehte die weiße Fahne der Bourbonen auf dem Thurme der Matrosenkirche von Saint-Laurent, aber die Aufständischen wurden sehr bald theils gefangen genommen, theils zerstreut und verjagt. Der Aufstand war kläglich gescheitert. Die Herzogin empfing in ihrem Versteck von dem Herzog von Escars (richtiger „Des Cars“) die Nachricht: „Der Streich ist mißlungen. Verlassen Sie Frankreich!“

Marie Karoline war nicht gewillt, diese Weisung zu befolgen. Das Ausland hatte sie im Stich gelassen, die Regierung hatte eine überwältigende Thatkraft entwickelt, die Royalisten im Süden hatten viel mehr versprochen als gehalten; vielleicht glich die erprobte Treue der Vendéer alles wieder aus. Zu ihnen wollte sie eilen, um eine zweite Erhebung an Ort und Stelle persönlich zu überwachen. Sie reiste zunächst westwärts mit einem Passe, der sie als Frau von Méry bezeichnete, und nur eine Kammerfrau begleitete sie. Von ihren Schicksalsgefährten trennte sie sich und traf nur an einzelnen vorher festgesetzten Punkten auf kurze Zeit wieder mit ihnen zusammen. Von Toulouse wendete sie sich nordwärts, bis sie in die Vendée kam. Sie legte die Kleidung einer Dame ab und zeigte sich, um den Nachforschungen mißtrauischer Gendarmen zu entgehen, in der Tracht einer Bäuerin, eines Bauernburschen oder eines Dieners. Sie reiste bald mit Begleitung, bald allein, heute zu Fuß, morgen zu Wagen und übermorgen zu Pferde. Ein Unterkommen fand sie bald in den Schlössern der Edelleute, bald in den Hütten der Bauern, bald im Walde oder auf freiem Felde. Drei- oder viermal wöchentlich wechselte sie ihren Aufenthalt. Hunderte von Personen wußten oder vermutheten, wer sie war; niemand verrieth sie. Ihre Abenteuer glichen einem zu Geschichte gewordenen Kapitel aus einem Walter Scottschen Romane, und Talleyrand durfte sagen: „In der Herzogin von Berry verkörpert sich die ganze Poesie unserer Zeit.“

Aber in dem Frankreich Louis Philipps war für diese Romantik kein rechter Platz, und dem Gelingen einer royalistischen Erhebung stellten sich auch in der Vendée große Hindernisse entgegen. Die Vendée von 1832 war nicht mehr die Vendée von ehemals. Die neue Regierung hatte eine Maßregel Napoleons zu Ende führend, die Vendée mit Heerstraßen durchzogen und starke Besatzungen in die Städte gelegt. Die städtische Bevölkerung mit ihrer größeren Anhänglichkeit an die jetzt bestehenden Zustände war mehr gewachsen als die ländliche. Auf einer Zusammenkunft der zu Kommandanten bestimmten Parteiführer, die unter dem Vorsitz der Herzogin am Abend des 21. Mai zu Meslier stattfand, widerriethen die meisten die Eröffnung des Kampfes. Viele erklärten offen, daß sie den Erfolg des Aufstandes im Süden als unerläßliche Vorbedingung für den Aufstand in der Vendée angesehen hätten und sich nun, da jene Bedingung nicht eingetreten sei, nicht mehr für gebunden erachteten.

„Herr Marschall,“ äußerte einer zu Bourmont, „wenn Sie über zwei Regimenter verfügten, würden wir nicht schwanken.“

„Zwei Regimenter!“ sagte Bourmont; „wenn ich zwei Bataillone hätte, wollte ich nicht nach Ihnen fragen.“

Bourmont hielt den Kampf für aussichtslos. Berryer, der berühmte Advokat, ein eifriger Legitimist, der auch erschienen war, rieth in seinem Namen und in dem der Pariser Parteiführer, die Unternehmung, die ohne Zustimmung besonnener Männer begonnen worden sei und zur Zeit unmöglich gelingen könne, sofort aufzugeben und außer Landes zu gehen. Die Herzogin ließ sich zunächst bereden und verfügte am 23. Mai, daß kein Aufstand stattfinden solle. Aber als einige Edelleute sie versichert hatten, daß sie ihr unter allen Umständen und jederzeit ihren Degen zur Verfügung stellten, da besann sie sich am 24. eines anderen und befahl die Waffenerhebung für die Nacht vom 3. zum 4. Juni.

Die Regierung war inzwischen nicht unthätig. In den ersten Tagen des Juni verhängte sie den Belagerungszustand über die Vendée und die benachbarten Landschaften. Die Besatzungen in den Städten standen marschbereit. Gleichzeitig erhielt sie durch polizeiliche Auffindung und Ausforschung eines Boten, den die Herzogin nach Paris gesandt hatte, die erste sichere Kunde davon, daß die Herzogin in der Vendée weilte. Es wurde nun das Signalement der Dame und ihrer namhaftesten Anhänger an die örtlichen Behörden geschickt. Die entschlossenen Royalisten wiederum, die zum Theil von Frauen geleitet wurden, wie von der erst im Jahre 1883 verstorbenen Gräfin Auguste von la Roche-Jacquelein, ließen sich durch die Vorkehrungen der Regierung nicht abhalten, den Befehl der Mutter ihres Königs auszuführen. Am 4. Juni warfen sich etwa 1000 Bauern, die weiße Fahne entfaltend, auf das Städtchen Aigrefenille. Charette kämpfte am 5. an der Spitze von 400 Mann bei Chêne; die Herzogin war mit einer Begleiterin zugegen und verband und pflegte die Verwundeten. Am 7. wurde um das Schloß Pénissière ein mörderischer Kampf geführt. Die Vendéer kämpften mit Muth und Erbitterung, aber die Uebermacht der Regierungstruppen war so groß, daß der Kampf schon nach wenigen Tagen mit dem völligen Siege derselben endete.

Die Herzogin hatte nun ihr Spiel verloren. Trotzdem beeilte sie sich nicht, den Boden Frankreichs zu verlassen. Eine letzte Aussicht schien sich ihr auch jetzt noch zu bieten, die Möglichkeit, daß die belgische Frage zu einem großen Kriege führte und mittelbar dem Schicksale des legitimen Königthums eine gunstige Wendung gäbe. In diesem Falle wollte sie schnell zur Hand sein. Am frühen Morgen des 9. Juni kam sie. von einer Dame begleitet, nach Nantes, wo ihre Freunde ein Unterkommen für sie ausgemittelt hatten. Beide Damen waren als Bäuerinnen gekleidet. Auf der Loire-Brücke begegnete ihnen ein junger Offizier mit seinem Truppentheil. Er faßte die Herzogin scharf ins Auge und sah ihr einen Augenblick nach, als sie an ihm vorüberschritt. Er hat im Jahre 1875 bekannt gegeben, daß man im Irrthum [239] gewesen sei, wenn man berichtet habe, die Herzogin sei ihm von früher her bekannt gewesen und er habe sie jetzt trotz ihrer Verkleidung wiedererkannt; sie sei ihm vielmehr zum ersten Male begegnet; nur durch ihre für eine Bäuerin auffällig elegante Haltung und durch die Weiße und Kleinheit ihrer nackten Füße sei sie ihm aufgefallen, und er habe allerdings vermuthet, wer sie sei. Er habe aber an ihrer Verhaftung keinen Antheil haben wollen und deshalb seine Vermuthung für sich behalten. Es ist dies nicht der einzige Fall, daß Offiziere und Beamte der neuen Regierung sich durch überkommene Anhänglichkeit an das alte Königshaus zu besonderer Rücksicht für die Herzogin bestimmen ließen. König Louis Philipp selbst hat um diese Zeit Legitimisten, von denen er voraussetzen durfte, daß sie Beziehungen zu der Herzogin unterhielten, den aufrichtigen und dringenden Wunsch ausgesprochen, sie möchten sie zum Verlassen des Landes bewegen, denn wenn sie in die Hände der Behörde falle, so werde dies zu Weiterungen führen, die ihm nicht weniger unangenehm sein würden, als der Herzogin, die dann aber aus politischen Gründen sich nicht würden vermeiden lassen.

In Nantes blieb Marie Karoline einige Tage in einem Frauenkloster, siedelte dann aber in das für sie ausgewählte Haus zweier Fräulein von Guiny über, auf deren Ergebenheit und Verschwiegenheit sie unbedingt zählen konnte. Sie bewohnte eine mit einem besonderen Versteck versehene Dachkammer im dritten Stockwerk und verschwand in diesem Versteck, wenn sie irgend ein verdächtiges Geräusch im Hause hörte oder wenn die Damen auf irgend einen Verdacht oder eine Befürchtung hin die in der Dachkammer angebrachte Klingel in Bewegung setzten, was von allen Stockwerken aus möglich war. Ihre Wohnung kannten nur wenige ihrer Anhänger, und nur einzelne Auserwählte empfing sie zum Besuch. Ihre Beschäftigung bestand darin, daß sie mit den Legitimisten im Lande Verbindungen unterhielt; sie hat in fünf Monaten etwa 900 Briefe geschrieben.

Im Herbst nahm im zweiten Stockwerk desselben Hauses der Advokat Achille Guibourg Wohnung, der bei der Erhebung der Vendée als „Civilkommissar“ der Herzogin gedient hatte und sich vor der Polizei ebenfalls verborgen hielt. Im Jahre 1799 geboren, war er im Jahre 1889 noch am Leben und lebt vielleicht jetzt noch. Er war „der fürstlichen Witwe Freund und wohl mehr als Freund.“

Das Schalten der Herzogin in Frankreich war auch nach ihrer Niederlage eine ernste Gefahr für den Bestand der Regierung Louis Philipps. In demselben Maße, wie die Herzogin auf einen auswärtigen Krieg hoffte, war die Regierung durch einen solchen bedroht, wenn der Herzogin die Aussicht blieb, sich die Minderung der Streitkräfte im Lande, die infolge eines Rheinkrieges nothwendig eintreten mußte, durch einen neuen Aufstand zu nutze zu machen. Thiers, der seit dem Oktober 1832 Minister des Innern war, erkannte, daß Louis Philipp fallen oder die Herzogin in seine Gewalt bekommen mußte, und er betrieb die Nachforschungen mit verdoppeltem Eifer. Längst und schon vor seinem Amtsantritt war die Treue der Anhänger Marie Karolinens auf eine gefährliche Probe gestellt: sie wußten, daß der Lohn, den die Regierung für einen Verrath bezahlen werde, der Wichtigkeit entsprechen müsse, den der Verrath für dieselbe hatte.

Unter den Agenten der Herzogin, die freiwillig oder gegen Bezahlung Aufträge für sie ausführten, befand sich einer, der Deutz hieß. Er stammte aus Köln und war seinem Berufe nach Buchdrucker. Im Judenthum geboren, war er in Rom zur katholischen Kirche übergetreten, und der Papst Gregor XVI. selbst hatte ihn der Herzogin empfohlen. Sie hatte ihn schon im Jahre vorher während ihres Aufenthalts in Italien von Massa aus zu Sendungen verwendet, und auch jetzt, wo er in Madrid und Lissabon weilte, war er in ihren Diensten thätig. Dieser Mann beschloß, die Herzogin zu verrathen, und er hoffte, am besten belohnt und am rücksichtsvollsten behandelt zu werden, wenn er sich mit dem Minister selbst in Verbindung setzte. Er kam im Oktober nach Paris und stellte sich noch dem Vorgänger von Thiers, dem Herrn von Montalivet, vor, der jedoch auf seine andeutenden Anerbietungen nicht einging und wenige Tage darauf sein Amt niederlegte. Deutz wandte sich nun schriftlich an Thiers und versprach, ihm wichtige Enthüllungen zu machen, wenn der Minister sich mit Einbruch der Nacht an einer bestimmten einsamen Stelle der Champs-Elysées einfinden wollte. Thiers kam, in einiger Entfernung von zwei Polizeiagenten begleitet. Er traf niemand. Am folgenden Tage erhielt er einen Brief, worin ein zweites Zusammentreffen vorgeschlagen und gesagt war, er müsse allein kommen. Thiers fand sich nun mit zwei Pistolen in der Tasche allein ein. Deutz trat zu ihm, gab sich zu erkennen und erbot sich, die Ergreifung der Herzogin zu ermöglichen. Thiers beschied ihn dann für den andern Tag zu sich. Der Verräther wies sich aus durch Vorzeigung von 22 Briefen, die ihm von dem Banker der Legitimisten in Paris zur Beförderung an die Herzogin übergeben waren; sie rührten von Legitimisten her und waren mit einer nur durch ein besonderes Verfahren sichtbar werdenden Tinte geschrieben. Der Lohn für den Verrath wurde auf 500 000 Franken festgesetzt. Auf die Bedingung, daß der Name des Verräthers ungenannt bleiben sollte, ging Thiers nicht ein. Deutz mußte sich bequemen, die Thätigkeit der Polizei persönlich zu unterstützen, und die Beamten, die mit ihm zusammenwirkten, wurden angewiesen, ihn nicht aus den Augen zu lassen. Die Regierung vermuthete die Herzogin seit einiger Zeit in Nantes, erhielt aber die Bestätigung dieser Vermuthung erst durch Deutz.

Am 22. Oktober kamen Deutz und der Polizeikommissar Joly in Nantes an. Deutz kannte die Wohnung der Herzogin selbst nicht, und er würde sie auch nicht erfahren haben, wenn er nicht den damaligen Berathern der Dame, den Herren Guibourg und von Mesnard, in längeren Verhandlungen den Beweis geführt hätte, daß er die Herzogin persönlich sprechen müsse. Endlich wurde die Audienz für den 31. Oktober auf 7 Uhr abends festgesetzt. Der Bruder der Damen, bei denen die Herzogin wohnte, führte ihn, ohne ihm den Namen der Straße zu nennen. Er traf in dem Zimmer, in welches man ihn wies, nur den Grafen von Mesnard, und als er diesen nach der Herzogin fragte, trat sie aus einem Nebengelaß mit den Worten: „Hier bin ich, mein lieber Deutz.“ Der Verräther fiel vor ihr nieder, küßte den Saum ihres Kleides und heuchelte Thränen der Rührung. Nach einer fast dreistündigen Unterredung, welche die von Deutz besorgten und noch zu besorgenden Aufträge zum Gegenstande hatte, verließ er sie. Der Polizeibeamte, welcher ihm und seinem Führer ohne des letzteren Wissen gefolgt war, hatte aber in dem Gewirr enger und schlecht beleuchteter Straßen seine Spur verloren; sonst würde die Behörde schon jetzt in das Haus eingedrungen sein. Deutz selbst behauptete, als er sich auf der Polizei wieder einstellte, er könne die Wohnung nicht genau bezeichnen und nicht wiederfinden; ob es nicht genüge, den Marschall Bourmont auszuliefern, dessen Versteck er kenne. Deutz zögerte entweder in einer Anwandlung von Reue, indem er sich scheute, den Verrath wirklich durchzuführen, oder er war seiner Sache noch nicht sicher; vielleicht hatte er keine Gelegenheit genommen, sich das Haus behufs Wiederfindens näher anzusehen, um nicht Verdacht zu erregen; vielleicht war es ihm auch nicht gewiß, ob die Herzogin da, wo er sie getroffen hatte, auch wohne oder nur besuchsweise verweile, denn er hatte sie mit bestaubten Schuhen in das Zimmer treten sehen; sie hatte solche absichtlich getragen, um derartige Zweifel zu erregen. Thiers antwortete durch den damals noch allein üblichen optischen Telegraphen, er wolle über Bourmont nichts erfahren, denn er kaufe niemand, den er erschießen lassen müßte.

Deutz entschloß sich nun, seinen Verrath zu Ende zu führen. Er suchte noch einmal eine Audienz nach, indem er vorgab, er habe in der Aufregung des Wiedersehens eine wichtige Angelegenheit zu berühren vergessen, die sich schriftlich nicht erledigen lasse. Die Herzogin schwankte, ob sie die Audienz gewähren sollte, nicht weil sie ihm mißtraute, sondern weil sie fürchtete, die Polizei, deren Verdacht er erregt haben könnte, würde ihm heimlich folgen und so ihr Versteck erspähen. Doch willigte sie endlich ein und berief ihn auf den 6. November um 4 Uhr nachmittags zu sich. Die Einladung nannte diesmal unvorsichtiger Weise die genaue Adresse, und Deutz theilte sie sofort der Polizei mit. Als er, von der Herzogin empfangen, die Versicherung seiner Ergebenheit erneuerte, wurde ihr ein Brief gebracht. Sie übergab ihn dem Herrn von Mesnard, und dieser überreichte ihr ihn wieder, nachdem er die mit sympathetischer Tinte geschriebenen Schriftzüge lesbar gemacht hatte. Sie las mit lauter Stimme: „Seien Sie auf Ihrer Hut; es verräth Sie jemand, dem Sie Vertrauen schenken.“ Lächelnd auf Deutz blickend, fragte sie: „Sie vielleicht?“

„Wohl möglich,“ antwortete Deutz in denselben Ton.

[246] Als Deutz sich entfernt hatte, unterhielt sich die Herzogin im Zimmer der Fräulein von Guiny im Kreise der wenigen Herren und Damen, für die sie in der Regel allein zu sprechen war. Zufällig trat Guibourg ans Fenster; mit Schrecken nahm er wahr, wie ein Bataillon Infanterie möglichst geräuschlos auf das Haus zuschritt und es rings umstellte. Er verständigte die Anwesenden in aller Eile, und nun wurde von der Herzogin, dem Fräulein Stylite von Kersabiec, die ihr seit längerer Zeit Gesellschaft leistete, und den Herren Guibourg und von Mesnard das oben bereits erwähnte Versteck aufgesucht. Es bestand in einer Nische, welche sich in der Mauer hinter einem Kamin befand. Der Hintergrund des Kamins war durch eine große eiserne Platte abgeschlossen, und wer den Kamin betrachtete, konnte nicht annehmen, daß die Platte einen anderen Zweck habe als den, die Mauer vor der unmittelbaren Berührung durch das Kaminfeuer zu schützen. In Wirklichkeit war die Platte die Thür zu jener Nische. Diese war nach Guibourgs Angaben an dem einen Ende etwa 50 cm, an dem anderen 20 bis 30 cm tief, einen Meter breit und der schrägen Richtung des unmittelbar darüber befindlichen Schieferdaches entsprechend an der einen Seite höher als an der anderen; an der höchsten Stelle konnte ein Mann mittlerer Größe mit Mühe aufrecht stehen, und zwar nur, wenn er den Kopf zwischen die Dachsparren hielt. Die Tiefe der Nische war so gering, damit es scheinen sollte, als wäre der ganze Raum hinter der Platte nur durch die Mauer ausgefüllt, die an dieser Stelle zugleich die Außenmauer des Hauses war; niemand konnte hier eine Zufluchtsstätte vermuthen. Die genannten vier Personen nahmen diesen Raum, über die Feuerstelle des ungeheizten Kamins hinwegsteigend, in einer bereits vorher festgestellten, ihrer Körpergröße angemessenen Ordnung ein; die Herzogin stand an der niedrigsten Stelle. Kaum hatte die Platte, die von außen und von innen zu öffnen war, sich hinter ihnen geschlossen, da betraten Polizeibeamte und Soldaten auch diese Dachkammer, wie sie in alle Räume des Hauses eindrangen.

Die vom Präfekten und Kommissar Joly geleitete Haussuchung wurde mit großem Eifer betrieben. Die Damen von Guiny spielten mit Geistesgegenwart die Unbefangenen und verbargen ihre Erregung, da sie sich eben zum Essen niedersetzten, hinter angeblicher Eßlust. Die Köchin, welche man sofort auf die Polizei führte, behauptete, nichts zu wissen und nichts aussagen zu können, und blieb standhaft, auch als man eine Summe, die auf 200 000 Franken angegeben wird, in Goldstücken verlockend vor ihr aufzählte. Daß man die Herzogin nicht fand, überraschte die leitenden Beamten, entmuthigte sie jedoch nicht. Sie ließen, ehe sie sich spät abends entfernten, in jedem Stockwerk Soldaten und Polizisten zurück. Zwei Gendarmen, die in der Dachkammer blieben, zündeten im Kamin ein Feuer an, und nun wurde die Platte auf beiden Seiten glühend. Wiederholt geriethen die Kleider der Eingeschlossenen in Flammen und wurden nur mit genauer Noth gelöscht. Sie selbst erhielten Brandwunden. So verging die Nacht. Am Morgen wurden die Nachforschungen im ganzen Hause fortgesetzt. Arbeiter mit Hämmern, Hacken und Eisenstangen hoben Dielen aus und schlugen Wände ein. Die Nische blieb unentdeckt, obwohl prüfende Hammerschläge auch gegen sie geführt wurden. Nachdem das Feuer erloschen war, heizten die Gendarmen zum zweiten Mal und mehr als am Abend vorher. Obgleich das schadhafte Schieferdach etwas Luftzug eindringen ließ, war die Gefahr, daß die Eingeschlossenen in der glühenden und verdorbenen Luft erstickten, ebenso groß wie die, daß sie bei lebendigem Leibe verbrannten. Die Lage wurde unerträglich, und die Herzogin befahl, die Platte zu öffnen; diese war durch die Gluth ausgedehnt und klemmte in ihrem Rahmen; um sie aufzustoßen, mußten die Herren Fußstöße anwenden. Die Gendarmen fragten: „Wer ist da?“ Man antwortete: „Gefangene, die sich ergeben“. Die Gendarmen beseitigten das Feuer und halfen den Armen, wieder ans Tageslicht zu kommen. Diese hatten Unbeschreibliches erduldet. In einem Raume, der kaum die Größe eines gewöhnlichen Kleiderschrankes hatte, waren sie unter den erschwerendsten Umständen siebzehn Stunden zusammengepfercht gewesen!

„Ich bin die Herzogin von Berry,“ sagte Marie Karoline hervortretend; „Sie sind Militärs und Franzosen, und ich vertraue mich Ihrer Ehre an.“ Der General von Dermoncourt, den man herbeigerufen, führte die Erschöpfte zu einem Stuhl und ließ ihr ein Glas Wasser reichen. Die Mutter Heinrichs V. war in der Gewalt Louis Philipps. Man bewachte sie und Fräulein von Kersabiec zwei Tage im Schlosse der Stadt und führte sie dann zu Schiff die Loire abwärts über das Meer in die Mündung der Gironde bis zur Festung Blaye, wo sie am 15. November ankam. Die Citadelle von Blaye wurde ihr als Aufenthaltsort angewiesen.

Deutz erhielt den Lohn für seinen Verrath nunmehr ausgezahlt. Man überreichte ihm die beiden Packete, welche die Banknoten enthielten, mittels – einer Feuerzange. Er starb bald darauf, nachdem er sein Geld in ausschweifendstem Genusse verschwendet hatte.

Die Papiere der Herzogin wurden nach Paris geschickt. Einen Theil davon verbrannte Thiers in Berryers Gegenwart; einige Briefe scheinen in König Louis Philipps Hände gekommen zu sein, namentlich diejenigen, welche für die Könige von Holland und Sardinien Belastendes enthielten. Die Begleiter der Herzogin und einige andere damals ebenfalls verhaftete Personen, welche ihr Dienste geleistet hatten, wurden vor Gericht gestellt und meist freigesprochen; die Verurtheilten fanden baldige Begnadigung.

Die Frage war nun, was mit der Herzogin selbst geschehen sollte.

„Glauben Sie mir, man wird verlegener sein als ich,“ hatte die fürstliche Gefangene in Hinblick auf die Regierung zu einem dienstthuenden Offizier gesagt, als sie in Nantes zu Schiff ging, und in der That war die Verlegenheit in Paris groß genug. Am liebsten hätte man die Gefangene sofort über die Grenze gebracht, aber man meinte, sich an die gesetzlichen Vorschriften halten zu müssen und davon nur mit Genehmigung der beiden Kammern abweichen zu dürfen. Schon am Tage nach der Verhaftung wollten die zuständigen Beamten die Gefangene dem von den Gesetzen geforderten Verhör unterziehen. Sie wurden daran durch die vom Könige und vom Minister Thiers unterzeichnete Ankündigung verhindert, daß ein besonderer, diesen Fall ordnender Gesetzentwurf zu verfassungsmäßiger Erledigung an die Kammern gehen werde. Die Feinde der Regierung verlangten ein in Paris durchzuführendes Gerichtsverfahren; von den Aufregungen und Zwischenfällen, die damit nothwendig verbunden gewesen wären, versprachen sie sich viel, vielleicht den Sturz der Regierung. Gerade deshalb wußte diese es durchzusetzen, daß die ihr ergebene Mehrheit in den Vertretungskörpern sie ermächtigte, mit der Herzogin nach eigenem Ermessen und ohne Eingreifen der Gerichte zu verfahren. Die Regierung hatte nun, durch Kammerbeschlüsse gedeckt, freie Hand, aber sie erhielt diese Ermächtigung erst im Januar 1833, und vorläufig hatte sie dafür zu sorgen, daß die Herzogin in sicherer und doch rücksichtsvoller Haft gehalten wurde.

Der Gefangenen waren im Dienstgebäude des Gouverneurs von Blaye mehrere Zimmer eingeräumt, auch ein Garten stand zu ihrer Verfügung. Thiers selbst hatte gleich nach der Verhaftung angeordnet, daß ihr im Punkte der Verpflegung und materiellen Behaglichkeit kein Wunsch versagt werden sollte. Für die Möblirung ihrer Zimmer und derjenigen ihrer Begleitung und Bedienung wurden sofort 3000 Franken verausgabt. Man schaffte ein Klavier und sogar einen Schoßhund und einen Papagei für sie an. Die Küche wurde auf dem Fuße einer fürstlichen Hofküche geführt. Daß die legitimistischen Zeitungen gleichwohl über Bedrückungen und Entbehrungen klagten, denen die erlauchte Gefangene ausgesetzt sei, und daß diese Klagen Glauben fanden, konnte die Regierung natürlich nicht hindern. Ein ungenannter Anhänger der Herzogin sandte eine wollene Decke für sie ein, und auf einem daran befestigten Zettel standen die Worte: „Ihre Hoheit möge die erstarrten Glieder damit wärmen.“ Ein andermal kam ein Paar dicker, mit Nägeln beschlagener Schuhe und dazu die Notiz: „Um Madame vor dem feuchten Boden ihres Kerkers zu schützen.“

[247] Zur Gesellschaft blieben der Herzogin anfangs der Graf von Mesnard und Fräulein von Kersabiec beigegeben, die mit ihr verhaftet worden waren. Diese beiden Personen wurden zu Ende des Jahres 1832, als die Gerichte sie reklamirten, durch Herrn von Brissac und die Gräfin von Hautefort ersetzt, die der legitimistischen Partei angehörten und sich zu diesem Dienst freiwillig erboten hatten. Zu ihnen gesellten sich noch zwei namhafte Aerzte, die Doktoren Deneux und Ménière. Die Niedergeschlagenheit, welche die Herzogin anfangs zeigte, verlor sich bald, und alle fünf Personen fanden sich in die Beschränkungen, welche selbst die mildeste Haft auferlegt, mit gutem Humor. Wie wir aus dem Tagebuche Ménières wissen, vereinigten sie sich häufig zu heiterer Gesellschaft und waren zuweilen sogar recht übermüthig.

Der geplagteste Mensch in der Citadelle war offenbar der Gouverneur. Kurze Zeit versah der Oberst Chousserie diesen Posten; dann trat der General Bugeaud an seine Stelle, derselbe, der nachher infolge seiner Siege in Algier Marschall von Frankreich wurde. Bugeaud brachte seine Gemahlin und seine beiden Töchter mit, und allmählich gelang es ihm, zu der Gefangenen erträgliche und selbst freundschaflliche Beziehungen herzustellen. Er hatte das Amt, das die Legitimisten und die Republikaner voll Hohn und Grimm das eines Kerkermeisters nannten, mit Widerstreben übernommen, und die Herzogin ließ ihm, im Gegensatz zu jenen beiden ihm verfeindeten Parteien, damals und noch nach Jahren die Gerechtigkeit widerfahren, anzuerkennen, daß er ihr gegenüber alle Rücksichten genommen habe, welche sich mit seinen Pflichten gegen die Regierung vertrugen. Erst seit der Veröffentlichung der Schriftstücke, welche zwischen Bugeaud und den Ministern gewechselt wurden, kann man ganz übersehen, was alles von Bugeaud verlangt wurde. Während der sieben Monate, welche die Haft dauerte, ist kaum ein Tag vergangen, an dem nicht eine – durch den optischen Telegraphen vermittelte – Depesche von Blaye nach Paris oder von Paris nach Blaye ging. Bugeaud sandte zum Theil sehr umfangreiche Berichte, Anfragen und Vorschläge, und die Depeschen aus Paris wurden alle paar Tage durch ausführliche Weisungen erläutert und ergänzt, welche vom Minister des Innern oder vom Ministerrath festgestellt waren. Ein genauer Grundriß der Citadelle und der Wohnung der Herzogin und ihres Gefolges befand sich in Paris, und das Ministerium selbst schrieb in gut französischer Reglementirungssucht vor, ob, wo, wie und wie lange ein Offizier, Unteroffizier, Soldat oder Polizist im Wacht- und Beobachtungsdienst zu stehen hatte.

Die Stellung zwischen der Regierung und der Herzogin war für Bugeaud, den alten Soldaten und Landwirth, eine überaus dornenvolle. Das nicht unbegründete Gerücht, daß von den Legitimisten ein Handstreich auf die Citadelle behufs gewaltsamer Befreiung der Herzogin wenigstens in Erwägung gezogen werde, machte ihm am wenigsten Sorge; sie wären übel angekommen. Was ihn beunruhigte, war die Befürchtung, daß die Herzogin während der Haft erkranken, vielleicht gar sterben könnte; er wußte, daß ihr Tod ihm und der Regierung zur Last gelegt werden und dem Könige unabsehbaren Nachtheil bringen, vielleicht seinen Sturz nach sich ziehen würde. Und wenn sie am Leben und gesund blieb, war wiederum mit der Möglichkeit zu rechnen, daß sie, entschlossen und geübt wie sie war, in einer Verkleidung entkomme oder wenigstens durch briefliche Weisungen neue legitimistische Umtriebe anzettele.

In der That war der Verkehr der Gefangenen mit der Außenwelt ziemlich lebhaft, und Bugeaud hat zwar einige Wege dieses Verkehrs sperren, ihn aber nie ganz verhindern können, wenn auch alle Briefschaften, die von den Bewohnern der Citadelle abgeschickt wurden oder für sie einliefen, durch seine Hände gehen sollten. Anfangs hatte er selbst es zugelassen, daß Legitimisten, welche die Herzogin besuchen wollten, sie auf einige Minuten ohne Zeugen sprachen; man wollte durch ein vertrauensvolles Entgegenkommen dieser Art den Beschwerden der legitimistischen Zeitungen den Boden entziehen. Diese Absicht wurde nun freilich nicht erreicht, aber wohl hatte die Herzogin so Gelegenheit, Wünsche und Anordnungen nach außen gelangen zu lassen. Ein anderer Weg für solches Verkehren, den die Herzogin zu benutzen wußte, ist erst im Jahre 1886 durch die Schrift des Abbé Bellemer bekannt geworden. In ihrem Zimmer wurde häufig und wenigstens einmal in der Woche Messe gelesen. Der Geistliche, der sie las, und der Seminarist, der ihm dabei diente, wohnten nicht in der Citadelle und waren in ihrem Verkehr mit der Außenwelt nicht behindert; sie betraten die Citadelle nur, wenn ihre Dienste gewünscht wurden, und hatten dann keine allzu scharfe Kontrolle zu bestehen. Kurz vor Beginn der Messe legte der Seminarist zu den priesterlichen Gewändern, die auf einem Nebentische ausgebreitet waren, die priesterliche Schulterbinde, und in diese waren die Briefe eingenäht, welche der Herzogin von außen her zugingen. Nach Beendigung der Messe vertauschte „eine verständige Hand“ diese Binde schnell mit einer andern, welche die für die Außenwelt bestimmten Briefe der Herzogin enthielt. Der Seminarist, der diesen Verkehr vermittelte, lebt als angesehener Geistlicher noch jetzt.

Inzwischen würde die Regierung, die ihr von den Kammern ertheilte Machtvollkommenheit benutzend, die Haftentlassung Marie Karolinens längst verfügt haben, wenn nicht die persönlichen Schicksale der Herzogin eine besondere Wendung genommen hätten. Sie sah sich gezwungen, mit der Eröffnung hervorzutreten, daß sie ein zweites, geheimes Ehebündniß geschlossen habe. Nach langen Verhandlungen mit ihr gab sie unter dem 22. Februar 1833 folgende Erklärung ab:

„Durch die Umstände und die von der Regierung angeordneten Maßregeln gedrängt, glaube ich es mir selber schuldig zu sein – obschon ich die gewichtigsten Beweggründe hätte, meine Ehe geheim zu halten – zu erklären, daß ich mich während meines Aufenthaltes in Italien heimlich verheirathet habe.“

Am 26. Februar stand diese Erklärung im „Moniteur“, der amtlichen Zeitung der Regierung. Es ist nicht ermittelt, ob die Geheimhaltung dieses Aktenstückes vielleicht zugesagt war. Die Herzogin glaubte damit ihre Freilassung zu erkaufen; aber darin irrte sie sich. Die Regierung hatte immerhin Grund, zu befürchten, die Herzogin werde, wenn sie freigelassen war, die Erklärung als erzwungen hinstellen. Unbesonnene Legitimisten sagten jetzt schon, die Erklärung sei erzwungen und nichtig, während die Feinde der Legitimisten triumphirten. Die Frage erregte ein ungeheures Aufsehen, und zwischen den Legitimisten und ihren Gegnern fanden zahlreiche Duelle statt. Die Regierung, die durch den von der Herzogin erregten Aufstand so schwer bedroht worden war und neuer Aufstände gewärtig sein mußte, wollte sich die Gelegenheit nicht entgehen lassen, die Wahrheit ans Tageslicht zu bringen und damit der Sache der Legitimität einen schwer zu verwindenden Stoß beizubringen. Ritterlich war dies Verfahren nicht, aber man kann nicht leugnen, daß es nach Lage der Dinge sehr begreiflich und politisch geboten war.

Am 10. Mai erfolgte in Blaye die Geburt eines Mädchens. Der Präsident des Tribunals von Blaye fragte vor Zeugen in feierlicher Weise die Herzogin, ob sie die Herzogin von Berry und die Mutter dieses Mädchens sei. Ihre bejahende Antwort wurde zu Protokoll genommen. Sie erklärte dann noch freiwillig, der Dr. Deneux werde den Vater des Kindes nennen. Die Zeugen versammelten sich noch einmal in einem andern Zimmer, und Dr. Deneux eröffnete ihnen, die Herzogin sei die legitime Gemahlin des Grafen Hector Lucchesi-Palli aus dem fürstlichen Hause Campo-Franco, Kammerjunkers des Königs beider Sicilien, wohnhaft in Palermo. Die Namen des Kindes seien Anna Marie Rosalie. Diese Erklärungen wurden in das Civilregister von Blaye aufgenommen. Abends erhielt das Kind die Nothtaufe, wobei seine Namen aber nicht genannt wurden. Die Regierung veröffentlichte die Akenstücke im „Moniteur“.

Die Herzogin verkannte nicht, daß damit ihre politische Rolle zu Ende war. Im Februar schon hatte sie der Herzogin von Angoulême beschrieben, sie gebe ihre Entlassung als Regentin. Ihre treuesten Anhänger wurden kühl und zurückhaltend gegen sie. In Royalistenkreisen konnte man das Geständniß vernehmen, daß man sie am liebsten todt wünsche, denn lebend schade sie jetzt der Sache Heinrichs V. nur, während ihr Tod als eine Waffe gegen die Regierung hätte dienen können. Am Hofe Karls X., der gegen Ende des Jahres 1832 von Holyrood nach Prag übergesiedelt war, fiel sie in Ungnade, und Chateaubriand, der in ihrem Auftrage dorthin reiste, um sie zu vertheidigen, hatte zunächst wenig Erfolg. Er soll dem Könige Karl eine Bescheinigung darüber vorgelegt haben, daß die Herzogin am 26. April 1832 den Grafen Lucchesi zu Massa geheirathet habe; das Original oder eine beglaubigte Abschrift ist nicht bekannt geworden. Karl sagte zu Chateaubriand: „Möge die Herzogin nach Palermo gehen [248] und ihren Hausstand mit dem Grafen Lucchesi theilen. Dann sollen ihre Kinder erfahren, daß ihre Mutter verheirathet ist, und dann mag sie zu uns kommen, um ihre Kinder zu umarmen.“

Schon vor dieser Entscheidung König Karls hatte die Herzogin selbst die Nothwendigkeit eingesehen, sich zunächst mit dem Grafen Lucchesi zu vereinigen, und deshalb gab sie dem Gouverneur Bugeaud auf die Frage, wohin sie entlassen zu werden wünsche, Palermo als Ziel an. Die Regierung ließ die Fregatte „Agathe“ für die Ueberfahrt der Herzogin und ihrer Tochter herrichten, und die Herzogin traf ihre Reisevorbereitungen. Für Herrn von Brissac und Frau von Hautefort, die sie nicht begleiten wollten, fand sie nicht ohne Mühe in Herrn von Mesnard, ihrem alten Gefährten, und in dem Fürsten und der Fürstin von Baufremont Ersatz. Der General Bugeaud und die Doktoren Deneux und Ménière begleiteten sie in amtlichem Auftrage. Ueber die Einschiffung, die unter Zulauf einer großen Volksmenge stattfand, wurde wiederum ein amtliches Protokoll aufgenommen. Am 8. Juni trat die Fregatte ihre Fahrt nach Palermo an.

Die nach Blaye gedrungene und von der Herzogin freudig aufgenommene Nachricht, daß der Graf Lucchesi sie in Blaye aufsuchen und vielleicht abholen werde, hatte sich nicht bewahrheitet. Ueber die Beziehungen, welche bis dahin zwischen ihm und ihr bestanden, haben immer einige Zweifel geherrscht. Es blieb nicht unbemerkt, daß eine legitimistische, im Verhandeln sehr gewandte Dame, Frau von Cayla, bald nach der Verhaftung der Herzogin im Haag erschien, wo der Graf Lucchesi damals als Geschäftsträger des Königs von Neapel weilte. Die Tochter dieser Dame war mit der in Blaye mit eingeschlossenen Frau von Hautefort befreundet. Die legitimistischen Geschichtschreiber sprechen von dieser Ehe so, daß sie sie als eine jener morganatischen Ehen bezeichnen, „welche die offizielle Stellung der Fürsten nicht beeinflussen“, oder sie schweigen ganz darüber.

Ueber die am 5. Juli erfolgte Ankunft der Fregatte in Palermo und den Empfang, der den Reisenden dort bereitet wurde, liegen Berichte von Bugeaud, von seinem Adjutanten Saint Arnaud und von Ménière vor. Wir erfahren, daß der Graf Lucchesi, ein stattlicher Mann in den dreißiger Jahren, zugleich mit einigen hohen sicilianischen Beamten, unter denen sich ein Kammerherr und ein Admiral des Königs beider Sicilien befanden, zur Begrüßung an Bord der „Agathe“ kam. Er blieb längere Zeit mit der Herzogin allein. Die sicilianischen Herren unterhielten sich indessen mit den Begleitern und dem Gefolge. Man meinte, ihnen eine gewisse Verlegenheit anzumerken; sie versicherten, von der Heirath nur durch die Zeitungen unterrichtet worden zu sein und für die Unterkunft der Herzogin nichts vorbereitet zu haben. Als dann der Graf und die Herzogin auf dem Verdeck erschienen, fiel es allen drei Augenzeugen auf, daß der Graf sich um das Kind nicht kümmerte. Die Herzogin verabschiedete sich kühl von den Franzosen und fuhr mit dem Grafen ans Land; die Wärterin mit dem Kinde folgte in einem zweiten Boot. General Bugeaud ließ sich von dem Minister für Sicilien, Fürsten von Campo-Franco, dem Vater des Grafen, die Ablieferung der Herzogin und ihres Kindes bestätigen und fuhr dann sofort nach Toulon.

Die französische Regierung war einer schweren Sorge ledig. Billig war ihr der Zwischenfall nicht zu stehen gekommen; die Kosten für die Auffindung, die Haft und die Reise der Herzogin beliefen sich auf mehrere Millionen Franken.

Die Herzogin und der Graf begaben sich mit dem Kinde von Palermo nach Neapel, aber weil man sie dort nicht gerne sah, blieben sie nur wenige Wochen. Vom 20. August bis zum 3. September weilten sie in Rom. Dort soll in aller Stille die kirchliche Einsegnung der Ehe stattgefunden haben. Der Papst Gregor XVI. empfing wiederholt den Besuch der Herzogin und taufte das Kind in der Peterskirche eigenhändig. Es starb im November desselben Jahres in Livorno. In Leoben erfolgte eine Art Aussöhnung der Herzogin mit dem alten Könige Karl X. und ein Wiedersehen mit ihren beiden Kindern erster Ehe. Doch wurde das Verhältniß der Herzogin zu den übrigen Mitgliedern der Königsfamilie kein freundliches mehr, und sie lebte fortan meist getrennt von ihnen.

Das Lucchesische Ehepaar ließ sich erst in Graz nieder und wohnte dann auf dem von ihm angekauften Schlosse Brunnsee in Steiermark. Der Ehe entstammten noch vier Kinder, nämlich drei in den Jahren 1835, 1836 und 1838 geborene Töchter, die sich mit italienischen Adligen verheiratheten, und ein im Jahre 1840 geborener Sohn. Die Spielsucht des Grafen brachte die Familie, deren Mittel nicht bedeutend waren, zuweilen in Geldverlegenheit. Er starb im Jahre 1864 zu Brunnsee, und die Herzogin folgte im Jahre 1870. Die Kinder sind alle noch am Leben, und der Sohn, der den Titel eines Herzogs della Grazia führt und mit seiner Familie meist in Venedig wohnt, ist noch Besitzer von Brunnsee.




  1. Derselbe, welcher am 24. August 1883 zu Frohsdorf bei Wien starb.