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Im Gottesländchen/In den Bergen bei Talsen

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Talsen und Umgegend Im Gottesländchen
von Edgar Baumann
Ein Ausflug nach Dondangen
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[24]
In den Bergen bei Talsen.

Auf die Berge will ich steigen,
Wo die frommen Hütten stehen,
Wo die Brust sich frei erschließet,
Und die freien Lüfte wehen.
               H. Heine, Harzreise.

29. Juni. Während die aus Süden von Hofzumberge kommende Hügelkette ostwärts im Hüningsberge ihre größte Höhe erreicht, findet eine andere, die ihr parallel läuft und von Autz über Frauenburg, Kandau und Zabeln nach Norden vordringt, ihren Höhepunkt in den Bergen bei Talsen, wo der Sukturberg dem Hüningsberge als Rival an die Seite gestellt werden kann[1]. Diese bewaldeten Berge bei Talsen ragen hoch über die Umgegend empor und nehmen, hauptsächlich zwischen der Tuckumer und Nurmhusenschen Landstraße, einen Raum von mehreren Quadratwersten ein. Von ihnen wurde erzählt, daß dort lohnende Fernsichten, eigen­artige Naturschönheiten das Auge des Wanderers erfreuten und ein Völklein lebe, das noch zum Teil unter dem Banne der alten Volkspoesie stehe. Diese Mär ließ für den Städter, [25] der ein großes Verlangen nach Natur und unverfälschtem Volkstum im Herzen trug, einen Besuch der Talsenschen Schweiz gar verlockend erscheinen.

Heiß war es beim Sonnenbrande und der herrschenden Windstille auf der Ebene vor Talsen. Mittagsschwüle umfing Feldhof und seine nach Regen lechzenden Felder. Schon lange hielt die Hitze an, und seit Wochen war kein Regen gefallen. In den Bergen dagegen sollten „freie Lüfte“ wehen und kühler Waldesschatten den Wanderer umfangen. — Nach längerem Gehen durch Wäldchen und Haine, über Wiesen und Felder, längs kleinen Gehöften — Antinji, Muhrnitiezinji (Antönchen, Mau­rerchen ; die lettische Sprache ist eine übergroße Freundin der Diminutiva) — gelangten wir, die Tuckumer Landstraße überschreitend, in die Berge, wo sich gar bald herrliche Ausblicke boten. Auf der ersten größeren Anhöhe, die wir durch dichtes Gebüsch emporklommen, befand sich ein Grünfestplatz, wo noch Bänke und Tische standen. Hier erholten wir uns ein wenig und begaben uns dann über Berg und Tal, durch Busch und Feld weiter, um einen noch höheren, frei daliegenden Berg hinanzuklimmen, der einen weiten Ausblick auf die Umgegend, besonders nach der Dondangenschen Seite hin, gestattete. Unten in nächster Nähe war sie hügelig und mit tiefen Taleinschnitten versehen, weiterhin eben, nur stellen­weise von sanften Bodenanschwellungen unterbrochen. Am Fuße unseres Berges befand sich rechts in einem kleinen, von wo­genden, grünen Kornfeldern umschlossenen Tale der Guowu-(Kuh-) oder Besdubbensche (grundlose) See, an dessen Ufer schöne Baumgruppen standen. Die Namen des Sees waren sehr bezeichnend; denn erstens kamen hier die Kühe zur Tränke, und zweitens sollte er so tief sein, daß noch niemand seinen Grund gefunden habe (?). Etwas weiter nach vorne lag inmitten grünender Anhöhen, nur auf der einen Seite von schönem Tannenwalde begrenzt, der Grickeja- (Buchweizenfeld-)See. [26] In dessen nächster Nähe erblickte man zwischen Feldern und buschreichen Hainen das Ahbel- (Apfelbaum-)Gehöft. Wenn man den Blick weiter schweifen ließ, lag geradeaus gar freundlich, hinter hellgrünen Anhöhen und dunkelgrünem Laube halb versteckt, Talsen, dessen Mühle, Kirchtürme und Häuserchen, weißgetüncht und rotgedacht, sich um den im Tale hellblinkenden Talsenschen See gelagert hatten. In Gestalt von Hainen, aus denen die Gutsgebäude hervorschimmerten, umgaben das Städtchen die Güter: Wolfshof, Feldhof, Althof, Grenzhof, weiterhin Rothfeden, Miegusen, Waldegahlen, Laidsen, Postenden und Vizehden. In der Ferne blinkten, in Mittagsglut verschwommen, die Fluren und Wälder des Saßmackenschen Gebiets. Links wurde die Aussicht von bewaldeten Bergzügen begrenzt. Weit, gar weit schweifte das Auge über die schöne Gegend. Ein frischer Wind, der über die bewaldeten Berge von der 4 Meilen entfernten See kam, umwehte uns labend nach der drückenden Hitze auf der Ebene. Unten im Tale vor uns erhob sich eine Lerche und stieg, Lieder schmetternd, über unserem Haupte hinauf in die Himmelsbläue.

Im nahen, hochgelegenen Berghofe erfrischten wir uns durch einen kühlen Trunk aus einem innen mit neuen Fichtenplanken ausgelegten Brunnen. Das Wasser hatte einen sehr angenehmen, milden, harzigen Geschmack. Beim Gehöfte befand sich ein wohlgepflegter Obstgarten, dessen zahlreiche Kirschbäume sich bis zum Besdubbenschen See hinabzogen. Ganz nahe bei der Tuckumer Landstraße erhob sich der bewaldete Willes-Berg. Wir erstiegen ihn, doch benahmen uns Gebüsche die Fernsicht auf die westwärts zum Usmaitenschen See hin gelegene waldreiche Gegend. Durch Gebüsch ging es wieder in ein Tal hinab und dort durch einen Wald zu einem Fahrwege, der wiederum bergan führte. Links säumten diesen Weg Felder, rechts Wald, wo saftige Erdbeeren winkten. Bergan steigend [27] bemerkten wir oben am Himmel silbern blinkende, streifenartige Lämmerwölkchen. Mein Führer K., ein Sohn dieser Berggegend, nannte sie „Gewitterwolken“ (lettisch pährkonja däbbeschschi) und sagte, daß sie auf Regen hindeuteten. Sie sollten sich nämlich später vereinigen, worauf Gewitterwolken entständen. In der Nacht glänzten sie wie Silber, und das seien sie auch, denn wo sie später als Regen niedergingen, da werde der Boden fruchtbarer als anderswo. Daher sei der Gewitterregen für den Landmann der beste. Der Berg, den wir jetzt bestiegen — K. nannte ihn nach einem Gesinde in der Nähe den Apfelbachberg — war noch höher als die bisherigen Höhen. Wieder hatten wir eine schöne Fernsicht nach Talsen hin. Ringsum tief unten, von den anderen Anhöhen umschlossen, breiteten sich große und kleine Felder und Wiesen aus. Sie glichen feingewirkten Teppichen: dort lagen gelbe, sammetartige — im Winde wogende Roggenfelder, dort hellgrüne — Gerste, Weizen und Hafer, dort ein dunkelgrüner — Klee, dazwischen auch braune — eben erst bepflügte Erdstrecken. Hin und wieder erhoben sich aus diesem teppichartigen Grunde kleine, bukettähnliche Wäldchen und Haine und blinkten seitwärts im Tale die schon genannten Seen, nur weiter als früher von uns entfernt. Über all’ diese von der Sonne lieblich beschienene Herrlichkeit blickte man hinweg auf die Ebene, welche die Berggegend umgab. Wieder waren die Güter in der Ferne zu sehen, wieder guckte Talsen mit seinem See hinter Gebüsch und Wald hervor. Auch das Trillern der Lerche ertönte, ein Loblied auf die Natur und ihren Schöpfer, hoch oben über uns. Mein Führer meinte, man könne sonst noch weiter, sogar bis zu den Höhenzügen beim Erwahlenschen See, ja auch diesen selbst sehen, jetzt aber hindere uns daran der Höhenrauch (lettisch buls), der sich auf den entfernteren Gegenden gelagert hatte.

Über Wiesen und längs Gebüsch bergab gehend, brachen [28] wir uns unten durch dichten Laubwald Bahn und gelangten zum hügelumschlossenen, waldumkränzten Kamparsee. Der dunkle Uferwald spiegelte sich in seinen Fluten. Im Walde waren viele Arten von Laubbäumen vertreten. Hier fiel mir ein Strauch auf, den mein Führer auf lett. „ßanßährschi“ nannte (nach Ulmanns lettischem Lexikon Striesenholz, Lonicera Xylosteum); um Pfingsten soll er blühen, wobei feine Bütendolden den ganzen Wald mit herrlichem Geruche erfüllten. Vom Ende des Sees gingen wir zu dem auf einem Hügelzuge inmitten eines breiteren Bergtales gelegenen Kampargehoft und dem hinter diesem auch auf der Anhöhe befindlichen Brendje-Gesinde. Eine Vertiefung unten rechts im Tale bezeich­nete K. als einen „Trekter“ (Trichter). Es war eine im Som­mer morastige Stelle, wo im Frühjahr die Berggewässer sich ansammelten, um rasch in den Boden zu verschwinden. Weiterhin kamen wir auf der Anhöhe, die wir entlang gingen, in einen schönen Laubwald hinein, wo mir die zahlreichen Eichen auffielen. Dennoch klagte mein Führer darüber, daß die früheren schönen Eichenhaine, die hier ringsum die Berge bedeckt hätten, immer mehr verschwänden. Tatsächlich haben wir auf unserer Wanderung in den Bergen oftmals riesige Eichenstümpfe gesehen, was seine Aussage zu bestätigen schien. Durch einen sehr tiefen, steinigen, jetzt trockenen Graben, der von der bewaldeten Anhöhe, wo wir uns befanden, bergab führte, gelangten wir in ein kleines, hübsches Tal, auf dessen Grunde sich eine blumenreiche Wiese mit einzelnen Baumgruppen befand und zu dessen Seiten sich recht steile, mit schönen Bäumen bestandene Bergabhänge erhoben. Das den Namen „Grebbes Grotte“ führende Tal konnte leicht in einen reizenden Naturpark verwandelt werden: es fehlten nur gepflegte Gänge und ein kleines Gartenhäuschen. Im Tale fielen mir die vielen blauen Nachtviolen auf, die schön aussahen und ange­nehm dufteten. Lustig zwitscherten, während wir unsere Vespermahlzeit [29] hielten, in den Bäumen die Vöglein. — Von der „Grebbes Grotte“ gingen wir über bewaldete Berge und durch finsteren Tannenwald zum morastigen Wiesengrunde im Mütterchen-Tale (lettisch Mahminjas lehja), wo sich an der tiefsten Stelle wieder ein „Trekter“ befand. Harmonisch umgaben ihn im Halbkreise Ellern-Gesträuch und Eichen, hinter denen hohe Tannen emporragten. Hier im waldigen Talgrunde war es jetzt zur späten Nachmittagsstunde schon recht düster geworden. Sein poetischer Name, die eigenartige busch- und waldreiche Umgegend, das Mädchen, welches Hirtenlieder singend am Rande des Morastes Vieh hütete, und die aufschwebenden Abendschatten trugen dazu bei, das Gemüt mit geheimnisvollem Schauer zu erfüllen. Alte Sagen schienen lebendig werden zu wollen; mir träumte von der Waldesmutter und anderen Gestalten des alten lettischen Volksglaubens, und gar wundersam ward es mir zumute … Beim nahen, bewaldeten Biedresberg fielen uns die vielen „puplakschi" (Dreiblatt, anthes trifoliata) auf. Jenseit dieses Berges gelangten wir zum Wehsenesberge, wo die Fluten eines Waldsees den Fuß alter Eichen bespülten. Der Bärenberg (lett. Lahtschakalns) mit dem Gesinde gleichen Namens, sowie die Wolfswiese (lett. Wilku danga), die sich in der Nähe fanden, zeigten deutlich, daß in diesen Bergen einst Bären und Wölfe gehaust haben mußten. Jetzt waren sie schon längst verschwunden, und gefahrlos durchstreifte der Mensch die Schluchten, Berge und Wälder der Gegend. Auf dem Bärenberge wuchsen viele „ßprahdsenes“ („Platzbeeren“, eine Erdbeerenart, Fragaria collina), die jedoch noch unreif waren. Auf einer anderen erhöhten Stelle bei einem anderen See stießen wir auf eine Art von Bäumen, die langsam wachsen und schwerer als das Wasser sein, d. h. im Wasser untersinken sollen. Ihre Äste waren zwischen den Blättern mit Nadeln versehen. Der lettische Name dieser Bäume war „mihklenes“ (Maulbeeren, wilde Korinthen, Ribes alpinum). [30] Als wir uns auf einer Anhöhe bei einem Gesinde, wo gerade Klee gemäht wurde, umwandten, sahen wir die Sonne über dem Walde hinter feurig-roten Wolken verschwinden. „Morgen ist wieder ein heißer Tag“, meinte mein Führer. In der Nähe gab es eine Stelle, wo man über eine gegenüberliegende Anhöhe hinweg die Kirche von Stenden, Postenden und die 6 Meilen entfernte Ugahlensche Kirche sehen konnte.

Nun ging es hinab zum Bährsen- (Birken-) See. Von Wiesen und dem Uferschilfe umrahmt, lag er schweigend da. Der Abend nahte. „Es ruhten alle Wälder.“ Jenseits befand sich das Talbären-Gesinde. Am Ufer fanden wir ein Boot und unternahmen eine kleine Fahrt auf dem See. In stillen Nächten muß hier Lenaus herrliches Gedicht „Auf dem Teich, dem regungslosen. Weilt des Mondes holder Glanz“ zur Wahrheit werden. Vielleicht verdienen diese Saphire (resp. Smaragde) der Talsenschen Schweiz nicht den Namen „Seen", da die Länge und Breite der meisten von ihnen nach Faden zu bemessen ist, so daß der Name „Teich“ passender wäre. Doch der Volksmund nennt sie „Seechen“ (lett. äserinji), und diese Bezeichnung ist gewiß poetischer als die andere. Auffallend ist, daß sie oft sehr tief sein sollen; so z. B. hätten, wie mir K. erzählte, einige Herren im Bährsen-See eine Stelle von 9 Faden Tiefe gefunden. In der Dämmerung ging es wieder über Wiesen und durch Wald weiter. Die Waldwiesen hatten hier ihre besonderen Namen. Schön war eine Partie von Baumgruppen bei Ihkainen, wo wir einen Eichenhain, den Rest eines früheren Eichenwaldes, durch­schritten. Durch große, in schweigender Majestät daliegende Tannenwälder, durch dichte Laubgänge, über Wiesen, wo der Nachttau unser Fußzeug durchfeuchtete, längs dem Linneju- (Flachs-) Gesinde gelangten wir spät abends zum Gehöfte Bullenieken, von wo uns der Wirt, ein Verwandter des Herrn R., zum nahen [31] Adlerkruge geleitete, wo wir übernächtigten. Die vielen in den Wäldern empfangenen Mücken- und Fliegenstiche machten sich in der Nacht störend bemerkbar.

30. Juni. In früher Morgenstunde standen wir auf. Der Wirt aus Bullenieken war wieder erschienen und freundlich um die beiden Gäste besorgt. Er war früher lange Zeit Seemann gewesen und aus fernem Weltmeere umhergefahren; unter anderem hatte er auch eine Fahrt von Newyork nach Sydney gemacht. Jetzt war er hier in der Heimat Landwirt und fühlte sich in dieser Stellung zufriedener als früher bei den Fahrten über den Ozean. Nachdem wir uns bei ihm und dem alten Krüger, seinem Vater, bedankt hatten, nahmen wir unsere Wanderung auf. Die Chaussee verlassend, gingen wir von neuem durch Wald und Wiese dahin. Heiß brannte die Sonne; Fliegen und Bremsen belästigten uns sehr. An Stellen auf Wiesen, wo sich um Baumstümpfe eine reichere Vegetation breit machte, fanden wir schöne, große Erdbeeren. Wir berührten die Gegend von Ihkainen. Als etwas Merkwürdiges erzählte K., daß hier im Walde um die Mitte des Tages wie mit einem Zauberschlage alle Vögel verstummen sollen, um am Nachmittage zur bestimmten Stunde ihr Konzert fortzusetzen[2]. Auf unserem weiteren Wege lag am Rande eines jungen, fast undurchdringlichen Erlenwaldes, in dem überall dichtes, niedriges Tannengehölz den Boden bedeckte, der halb ausgetrocknete, morastige Zigeunerteich. Hier müssen früher Zigeuner ihren Lagerplatz gehabt haben. Vielleicht stand das im Zusammenhang mit dem seitab gelegenen Pferdeteiche, wo sich ein Pferdeweideplatz befunden haben mag. Bekanntlich sind die Zigeuner große Pferdeliebhaber. [32] Mühsam brachen wir uns durch das dichte Tannengestrüpp des Erlenwaldes Bahn, denn ein Weg führte nicht hindurch. Im Walde fiel mir eine Gruppe schlanker Birken auf, die im Winter vom tiefen Schnee[3] ineinandergebogen worden waren, infolgedessen sich im Frühlinge und Sommer die sprossentreibenden Zweige ineinander verflochten und auf diese Weise eine natürliche Waldlaube gebildet hatten, aus der nur noch die kleinen, struppigen Tannen hätten entfernt werden müssen. Hinter dem Walde lag auf der Wiese, die „Discha atmatta“ (großes Brachfeld) hieß, der zur Hälfte aus dem Boden ragende Teufelsspurenstein (lettisch Wällna pähdu akmens). Es war einer von jenen erratischen Blöcken, die sich in den meisten Gegenden des kurischen Unterlandes zerstreut vorfinden. Sie sind vor Jahrtausenden durch Gletscher drüben auf den skandinavischen Felsengebirgen losgelöst und darauf über das Meer, das damals diese Gegenden bedeckte, hierhergetragen worden. Als das Wasser gefallen und der Gletscher unter der Einwirkung der Sonne zerschmolzen war, blieb der Stein auf dem morastigen Grunde liegen. Mit der Zeit war aus dem Moraste Wiesenland geworden, wo jetzt der Stein mit noch einigen kleineren im Grase gebettet lag. So ungefähr berichtet uns die Geologie. Der alte Volksgeist aber, dem diese Tatsachen verborgen waren, hat auch die Herkunft dieser Steine mit Sagen umwoben. An vielen Orten erzählt sich das Volk, daß einst der Teufel in der betreffenden Gegend gelaufen sei, wobei er seinen Sack mit großen Steinen habe fallen lassen, um besser vor dem guten Geiste fliehen zu können. Auf dem Steine, bei welchem wir standen, hat man früher den Abdruck des rechten menschlichen Fußes sehen können. Hier sei der Teufel [33] beim Fliehen aufgetreten, um einen neuen Anlauf zu nehmen. Noch konnten wir diese Spuren unterscheiden, doch waren die Zehen schon ein wenig abgebröckelt. Am Fuße des Steines fanden wir saftige Erdbeeren und lieblich geformte, blaue Glockenblumen. Jenseit der Wiese zog sich beim Dubburgesinde eine bewaldete Anhöhe hin, wo es noch oft spuken soll, infolgedessen der Wald als verrufen gelte.

Wieder gingen wir über Wiese und Feld und durch jungen Laubwald weiter zum einige Werst entfernten am Fuße der Berge von Libaggen (oder Lipsthusen) gelegenen Aklasdorfe. Von den Libaggern erzählte mir K., daß sie gleich den Tscherkessen in Bergen wohnten und sehr mutig seien. (So z. B. sollen die Libagger Burschen zum Markte in Talsen, der am Dienstage und Freitage stattfinde, im Kampfe mit denen aus anderen Gegenden stets die Oberhand behalten.) Auch seien bei ihnen noch viele alte Sagen und Lieder im Schwange, die sich in alter Form und Weise erhalten hätten. Leider war es uns nicht vergönnt, länger am Orte zu verweilen, und außer einem Hüterjungen erblickten wir beim Passieren des Dorfes niemand. Der Junge hütete am Wege vor dem Dorfe Schweine und mußte zugleich Obacht auf seine kleinen Brüderlein geben, die in einem Wägelchen saßen und uns neugierig anguckten. Von ihm erfuhren wir die Namen der sich hinter dem Dorfe erhebenden Berghöhen: Kutzenkalns (Hundeberg), Wilkukalns (Wolfsberg), Moritzkalns, Uosuolkalns (Eichenberg) und Puhteljukalns. Auch die Namen der Gesinde im Dorfe fielen durch ihre Zusammenstellung auf: Brendjis (eine Nebenform von Laurentius ?), Tuoms (Thomas), Sniegs (Schnee), Wahziets (Deutscher), Wetzwaggars (Altwaggar[4]), Luig, Swiedris (Schwede). — Nach [34] längerem Wandern über Berg und Tal, in Sonnenhitze und Waldesschatten, gelangten wir zum Kaddik- (Wachholder-) Gehöft beim Karjakalns (Kriegsberg), einem niedrigen, bewal­deten Bergrücken, der eine feldreiche Gegend umschloß, in welcher sich der alte Meschitensche Schloßberg, ungefähr 12 Werst von Talsen entfernt, befand. Im uralten, durch seinen Namen an die kampfreiche Vorzeit unserer Heimat mahnenden Kriegswalde mengten sich riesige Tannen und Eichen durcheinander. Beim Puhru- (Winterweizen-) Gesinde kamen wir aus dem Walde auf die Lichtung hinaus, wo sich, von wogenden Feldern umgeben, der alte heidnische „pilskalns“ (Schloßberg) erhob. Längs seiner einen Seite führte ein Fußpfad hinauf. Der Berg, ungefähr 50 Fuß hoch, oben 100 Schritt lang und 80 Schritt breit, war mit schönem Rasen bedeckt. Er hatte oben eine runde Form, und an verschiedenen Stellen waren dort kleine Erhebungen zu sehen, die den inneren Platz umgaben, wo wohl vor Zeiten die Behausung der Menschen gestanden haben mochte. Im Schatten von Gebüsch und einigen Eichen lagerten wir uns am Rande des Berges, um zu rasten und in die Gegend, die in einiger Entfernung vom Kriegswalde umrahmt wurde, hinauszuschauen. Wir sprachen von den alten Zeiten, wo diese Gefilde noch vom Kriegslärm widerhallten, von den heidnischen Kuren, die einst hier für ihre Freiheit und ihre Götter gekämpft, von Kurlands Herzögen und von verschiedenen Ereignissen aus der Vergangenheit der Heimat. Noch hätten sich, so erzählte K., im Volke dunkle Nachrichten von der großen Pest des Jahres 1709 erhalten; dazumal wären hier die Menschen wie die Heuschrecken gefallen: am [35] Strande von Markgrafen bis Domesnäs, auf einer Strecke von 16 Meilen, wäre nur eine einzige Familie übriggeblieben. Neben unserem Schloßberge befand sich eine andere kleinere Erhöhung, vielleicht eine gewesene Vorfeste. Um unseren Durst zu stillen, kehrten wir in das unten gelegene Delwer-Gesinde ein. Vom Schloßberge erzählte uns hier ein altes Mütterchen, das schon über die Achtziger hinaus war und im Frühjahre ihren 84 Jahre alten Mann begraben hatte, folgendes. Auf der anderen Seite des Berges sei früher eine Tür gewesen. Oftmals sei dort einem Hüterjungen, der in der Nähe sein Vieh geweidet, eine weiße, wunderschöne Jungfrau (lettisch: balta, dailja jumprawa) erschienen und habe ihm gutes Essen ge­bracht. Andere sollten erzählen, daß vor Jahren an einem Pfingstmorgen sogar drei Jungfrauen oben umherspaziert seien, die niemand vorher und nachher gesehen habe. Auch Schätze seien dort vergraben. Vorzeiten habe ein Bauer oben gepflügt und sei dabei auf etwas Hartes gestoßen. Als er jedoch gleich darauf mit der Schaufel nachgegraben habe, sei der Schatz mit einem Klange in die Tiefe versunken. Vom Mütterchen erhielt ich eine alte Ssakta (Fibel, Heftnadel), womit die Landleute früher die Kleidungsstücke auf der Brust zusammenhefteten. Jetzt sind schon in den meisten Gegenden Knöpfe an deren Stelle getreten.

Eine östliche Richtung einschlagend, kamen wir längs dem Eulenhaine und dem Ladsendorfe, wo man in der Ferne aus grünem Laube die Nurmhusensche Kirche hervorlugen sah, zum Ljubik-Gesinde und Puodniêkschen See. Im Gesinde wurde uns der erfrischende Tahping gereicht. Bei dem See, der auf zwei Seiten von Wald umrahmt wurde und lieblich im Sonnenscheine glänzte, betraten wir wieder einen größeren Wald. Durch junges Laub, hohe Tannen, mächtige Eichen, vorüber an jungen, schonungsbedürftigen Waldbeständen, aus lettisch Ssahrgumi („was geschützt werden muß“) genannt, wanderten [36] wir zur Prahwingschen Buschwächterei, wo sich am Fuße des Labbingberges die „von Gott herabgelassenen“ Kaln- und Lehjaslabbingschen Seen gelagert fanden. Bei klarem Wetter soll man vom Labbingberge sogar den Angernschen See und das Meer, auf dem Schiffe fahren, deutlich sehen können. Jetzt benahm der Höhenrauch die Fernsicht. In der Nähe erhob sich der schlanke, rote Schornstein der Odernschen Brauerei und Brennerei. Im See tummelte sich mit großem Hallo eine badende Kinderschar. Sehr freundliche Leute trafen wir im nahen am Waldesrande belegenen R.-Gesinde an. Der Sohn des Wirts zeigte uns einen schweren (französischen) Reitersäbel aus dem Jahre 1811. Auch hierher sollen im großen Jahre 1812 die Franzosen gekommen sein. Der Segenswunsch, den die lettischen Landleute einem Wanderer auf den Weg geben, lautet gewöhnlich: „Sstaigajiet laimigi!" („Wandelt glück­lich!“). Gar herzlich klang er mir hier beim Abschiede von diesen lieben Menschen, die so rein schienen, wie die Natur ihrer Heimat, mit der ihr ganzes Sein und Fühlen auf das innigste verwachsen war. Das waren noch Landleute vom alten Schlage, die ein kindlich frommes Gemüt ihr eigen nannten.

Nun wandten wir unsere Schritte Talsen zu. Hinter der Prahwing-Lichtung erreichten wir nach Durchquerung eines Waldes den schönsten von all den lieblichen Bergseen dieser Gegend, die wir gesehen hatten. Es war der Issutsee. Mit seinem glatten Spiegel und seinen hellgrünen hügeligen, windungsreichen Ufern glich er einem herrlichen Saphire in lichter Einfassung. Über mit Gebüsch bedeckte Höhen kamen wir darauf zu einer Stelle, wo der Boden einen sehr tiefen, von Bergen umschlossenen Kessel bildete, auf dessen Grunde sich ein sumpfiger „Trekter“ befand. Wir stiegen den mit Gesträuch bewachsenen Abhang hinab. Unten nahmen sich die grünen Laubwände mit dem blauen Himmel, der als Decke darüber gebreitet war, sehr eigen aus. Jenseits klimmten wir wieder [37] mit Mühe den steilen Abhang hinauf. Längs dem Bocksberge und durch den großen Bockswald, wo mir die riesigen Ameisenhaufen auffielen, gelangten wir zur Nurmhusenschen Landstraße und dann zum schon früher erwähnten stillen, runden Suktursee, der zur Hälfte von dunklem Tannenwalde, zur Hälfte von den grünen Abhängen des Sukturberges begrenzt wurde. Von diesem See geht die Sage, daß man um die Mittagszeit auf seinem Grunde die Sterne des Himmels sich spiegeln sehe. Unser letzter Besuch galt dem Talsenschen Friedhofe, der sich auf einem dem Städtchen zugewandten Abhange des Sukturberges befand und von einem hohen Tannengehege umzogen wurde. An seinem Rande hatte ein Mohammedaner, fern von der kaukasischen Heintat, seine Ruhestätte gefunden. Auf dem mit einem Halbmonde geschmückten, gußeisernen Grabmale las man die Inschrift: „Друзья и товарищи клястишскаго гусарскаго полка по-ручику Иссабекъ-Шаху, сконч. мая 5-го дня 1854 г.“[5] Bei einem hochgelegenen, blumengeschmückten Grabe genoß man eine herrliche Aussicht auf die Gegend bei Talsen. Lange saß ich auf der Bank bei den säuselnden Birken, die das Grab umstanden, und konnte meine Blicke nicht von der lachenden Gegend wenden. Über die Friedhofstannen sah ich hinab auf Talsen und die umliegenden Fluren bis nach Waldegahlen hin, wo die Wälder von Saßmacken flimmernd grüßten. Unten auf der Landstraße wurde gefahren; oben bei den Toten war es still, nur die Bäume rauschten im Winde und die Vöglein zwitscherten. Hier ließ es sich gewiß schön ausruhen, auf diesem Friedhofsberge! Stiefmütterchen, Vergißmeinnicht und gebrochenes Herz schmückten das Grab vor mir: Zeichen inniger Liebe und treuen Gedenkens!

  1. Als eine Fortsetzung und als Abschluß dieses Höhenzuges sind die Hügel bei Erwahlen (Saßmacken) und die Blauen Berge bei Dondangen anzusehen.
  2. Dieselbe Erscheinung wird nach einem Reiseberichte Erzherzog Maximilians, späteren Kaisers von Mexiko, im brasilianischen Urwalde beobachtet.
  3. Dieser soll hier noch im Juli in den Waldschluchten stellenweise zu finden sein.
  4. „Waggaris“ ist nach Ulmann ein ursprünglich livisches Wort und bezeichnet einen Dorfältesten oder Frohnvogt. Während der Leibeigenschaftszeit war der Wagger in Kurland „der Hauptaufseher über die Hofsarbeit“; in Livland hieß diese Persönlichkeit „Sstahrasts“ (vergl. das russische староста, Ältester).
  5. „Die Freunde und Kameraden vom Kljastischschen Husa­renregiment dem Leutnant Issabeg-Schach, gest. 5. Mai 1854.“