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Holland in Noth (Die Gartenlaube 1863/18)

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Textdaten
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Autor: Otto Moser
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Titel: Holland in Noth
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aus: Die Gartenlaube
Herausgeber: Ernst Keil
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1863
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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[287] Holland in Noth. Es ist bekannt, daß der Welthandel der Niederlande seit Jahrhunderten schon beständig im Abnehmen begriffen ist, trotzdem doch Holland nächst England das für den europäischen Handel am günstigsten gelegene Land ist, trotzdem es noch bis vor Kurzem das alleinige Monopol des japanesischen Handels besaß.

Dieser Rückschritt hat nun wohl zum Theil seinen Grund darin, daß andere Völker, wie z. B. England, die Niederlande dadurch überflügelten, daß sie neue Hülfsquellen entdeckten und neue Producte auf den Markt brachten, welche den Strom des Weltverkehrs von Holland abzogen und ihnen zulenkten. Doch muß man diese Abnahme auch gewiß mit dem Umstande zuschreiben, daß der Zugang nach Holland selbst nach und nach immer schwieriger, ja, was Amsterdam betrifft, für Schiff und Mannschaft sogar gefährlich wurde. So versandete schon vor 200 Jahren der frühere Wasserweg durch die Zuidersee in das Y (sprich Ei) kurz vor Amsterdam bei dem sogenannten Pampus bis auf 8 Fuß Fahrwasser. Um diesen Knotenpunkt zu überwinden, erfand man gegen Ende des 17. Jahrhunderts die sogenannten Kameele, die auf ähnlichem Princip beruhen, wie die in diesen Blättern jüngst besprochenen Bauer’schen. Man füllte damals große hölzerne Kasten mit Wasser, befestigte sie an beiden Seiten des Schiffes und pumpte dann das Wasser aus den Kasten wieder heraus, wodurch sich diese mit dem Schiffe um ungefähr 5–6 Fuß hoben. War diese Untiefe überwunden, so fand man dann wieder und findet noch heute vor Amsterdam 40 Fuß Tiefe, die auch beständig durch die Wirksamkeit sogenannter Moddermolen und Baggerschuiten (Baggerschiffe) erhalten werden kann.

Bei einer Durchfuhr von circa 4000 Schiffen jährlich ward die Unausführbarkeit dieser Operation auf die Dauer bald erkannt; man schaffte ein Auskunftsmittel, indem man 1819–25 mit einem Kostenaufwand von 12 Millionen Gulden den berühmten nordholländischen Canal erbaute, der in ziemlich gerader Linie in einer Länge von zwölf deutschen Meilen von Amsterdam nach der Rhede von Texel läuft.

Dieser hydraulische Prachtbau (jetzt noch der größte derartige in Europa bestehende) erregte damals die Bewunderung der ganzen Welt. 138 Fuß breit, 20–24 Fuß tief bietet er Raum für zwei Fregatten nebeneinander. Er würde auch heute noch von seinem Werthe nichts eingebüßt haben, wenn die Einfahrt in denselben nicht wieder durch die unheilvollen Versandungen versperrt, und dadurch der Canal unbrauchbar geworden wäre. So ist denn auch hier wieder die Passage von 5000 Schiffen auf die Hälfte geschmolzen, und die großen Ostindienfahrer werden immer seltenere Gäste in Amsterdam. Wenn sich auch die holländische Rhederei nolens volens diesen Gefahren unterordnet, so giebt es für die anderen Nationen doch immer noch Häfen genug, wo sie mit weniger Gefahr löschen können. Sie blieben also hier fort.

Jetzt kam Holland in Noth, denn Amsterdam ist so ziemlich Holland. Dazu sah man hier mit scheelen Augen das immer zunehmende Aufblühen von Hamburg, Bremen und Rotterdam, wovon namentlich der Hafen der letztgenannten Stadt wenn auch nicht bequemer liegt, so doch wenigstens ohne Gefahr zu gewinnen ist, weshalb viele Schiffe von Amsterdam sich nach Rotterdam wandten.

Es ward also zur Lebensfrage, wie man das Meer, den Lebensnerv von Amsterdam, wieder fahrbar bis vor seine Schleußen leiten könne. Zu dem Zwecke wurden der Regiernug Vorschläge gemacht. Den entschiedensten Gegner hierbei hatte man natürlich in Rotterdam mit seinen Verbündeten zu bekämpfen, und die Abgeordneten schlugen sich, ihrer sonstigen phlegmatiichen Natur ganz zuwider, in den Kammerverhandlungen mit ebenso feuriger Bravour, wie ihre Kollegen es noch in Berlin und Kassel thun und auch wohl noch lange thun werden. Hier ist aber jetzt der Antrag zu Gunsten Amsterdams in beiden Häusern durchgebracht, und demzufolge wird man noch in diesem Jahre mit der größten Arbeit beginnen, die Holland jemals unternommen, wogegen selbst die Trockenlegung des Haarlemer Meeres nur als Vorspiel erscheint.

Zum richtigen Verständniß des Folgenden wolle der Leser einen Blick auf eine gute Karte von Holland werfen. Das ganze Y wird trocken gelegt, mit Ausnahme einiger schmalen Küstenstriche, wodurch man die bequemere Verbindung der Küstenorte und der in das Y mündenden Flüsse unterhält. Dieses Trockenlegen (Poldern) erstreckt sich bis an die Zuidersee. Letztere wird dann von Westen nach Osten mit der Nordsee durch einen 33 niederländische Meilen langen Canal verbunden, der vor Amsterdam sich zu dem jetzt schon bestehenden schönen Hafen erweitert, an der nördlichen Küste des Y längs Saardam sich hinzieht, dann zwischen Haarlem und Beverwyk Nordholland durchschneidet, wo er sich zwischen den Dünen nochmals zu einem Vorhafen erweitert und alsdann, ungefähr 52° 20’ n. Breite und 4° 86’ östl. Länge von Greenwich, in die Nordsee ausmündet. Diese Mündung wird dann noch durch zwei starke, weit in das Meer hinausgedehnte Deiche geschützt.

Laßt Euch nun einmal durch einige Zahlen die ungeheueren Dimensionen des Unternehmens veranschaulichen. Der Canal erhält auf einigen Punkten eine Breite von 60 Ellen, die mittlere Breite ist 80 Ellen, auf mehreren Strecken erweitert sich diese bis zu 100 Ellen und darüber. (Der Canal von Suez ist nur 80 Ellen breit.) Wie an der Nordsee wird auch der Eingang in der Zuidersee durch zwei Deiche geschützt, Hafenköpfe genannt. Der Nordsee-Hafenkopf soll eine Länge von 2000 Ellen erhalten, bei einer Tiefe von 80 Fuß unter Wasser, die beiden Spitzen des Hafenkopfes eine Weite von 260 Ellen offen lassend. Der Zuidersee-Hafenkopf wird 1500 Ellen lang bei einer Tiefe von 27 Fuß unter Wasser. Die Wassertiefe des Canals wird 30–40 Fuß betragen und nöthigenfalls durch Dampfkraft geregelt, d. h. durch Pump- und Schöpfwerke dafür gesorgt werden, daß die Tiefe nie weniger beträgt.

Das durch Trockenlegung des Y gewonnene Land wird 6000 Bunders (1 B. = 1 franz. Hectare oder 1000 Quadrat-Meters) betragen. Der Vorhafen in den Dünen wird 300 Ellen Strahl groß sein, und dahinter werden zwei starke Schleußen gebaut, um nöthigenfalls einem übermäßigen Steigen des Wassers in dem Canale, wodurch Ueberschwemmungen entstehen würden, [288] Schranken zu setzen. Die größten Seeschiffe können alsdann mit unverminderter Ladung in drei Stunden den Zwischenraum von der Nordsee bis Amsterdam zurücklegen, wozu sie jetzt durch den nordholländischen Canal in der Regel mehrere Tage gebrauchen. Dieser alte Canal ist 79 Kilometer, der neue nur 23 Kilometer lang, eine günstige Differenz also von 56 Kilometer. Die Kosten der Ausführung, wozu ein gewisser J. G. Jäger in Amsterdam (beiläufig bemerkt, ein Deutscher) die Concession erhalten, werden auf 18 Millionen Gulden geschätzt, und die Zeit der Ausführung auf 7 Jahre ununterbrochener Arbeit. –

Wahrlich, wenn man diese Zahlen betrachtet und dabei bedenkt, daß Holland selbst keinen Stein, keine Planke besitzt, sondern nun erst den Rhein hinauf, um Holz, und nach Norwegen, um Granit zu holen, gehen muß – da möchte man wohl vor der Ausführung dieses kühnen Planes zurückschrecken. Nicht so der Holländer. Erfreut, daß nun endlich zur That reifen wird, was Jedermann sehnlichst erwartete, beeilt sich Jeder, nach seinen Kräften die nöthigen Geldmittel zu beschaffen. Die 18 Millionen werden im Nu gezeichnet sein, und ist erst diese Basis gesichert, so braucht man weiter keine Besorgnisse zu hegen. Die Baumeister in Holland verstehen ihr Fach und werden die Fundamente so kolossal massiv in den schlammigen Boden einsenken, werden die Deiche so fest stampfen, binden und kacheln, die Schleußen so bombenfest bauen, daß das Ganze auch nicht um einen Zoll breit dem ungeheueren Drucke des Wassers weichen wird. Man beginnt damit, das Wasser an der Zuidersee abzudämmen. Die Aufführung dieser Deiche ist das Mühsamste, das Auspumpen des Wassers läßt sich nachher vermittelst Maschinen leichter bewerkstelligen. Behufs Anlegung des Deiches werden zunächst drei Reihen starker Pfähle aus skandinavischem Greinenholz hintereinander in den Grund getrieben. Jeder Pfahl ist 35 Fuß lang und 1½ Fuß dick, diese drei Reihen werden durch starke Querbalken verbunden und mit Steinen ausgefüllt. Die äußerste Reihe wird noch gegen den Wellenschlag durch Faschinen und Felsblöcke geschützt. Hinter dieser Brustwehr kommt erst der eigentliche Deich, dessen Fuß wiederum aus Steinen besteht, worauf Lehm, Faschinen, ausgebrannte Coaks und Erde mit einander abwechseln, die zusammengehalten werden durch schwere Steinplatten und Weidengeflecht, das alle 3 bis 4 Jahre erneuert werden muß. Solche Deiche werden den neuen Canal überall umsäumen.

Von der guten Unterhaltung dieser Deiche, die man an den Küsten und mitten im Lande zu Hunderten zählen kann, hängt die Existenz des ganzen Landes, das Leben der Bevölkerung ab; deshalb wacht auch der Waterstaat (die hier für besonders angestellten Beamten) darüber mit der peinlichsten Aufmerksamkeit, die Unterhaltungskosten verschlingen jährlich an sechs Millionen Gulden. Trotzdem bricht das Wasser alljährlich das Joch und verheert ganze Strecken durch Ueberschwemmungen, die aber wenig mehr allgemein bekannt werden, wenn sie nicht eben so riesige Dimensionen annehmen, wie z. B. jene bekannte Ueberschwemmung von 1825. Diese, sowie ähnliche frühere und spätere traurige Episoden, ragen wie Leichensteine hervor aus der holländischen Geschichte, und leider gleicht ihre Chronik nur zu sehr einem Gottesacker.

Um so mehr muß man es anerkennen, daß das Volk im Kampfe mit dem mächtigen Feinde nicht erlahmt, beständig angreifend und vorrückend bleibt, immer zur Abwehr eines Ueberfalles gerüstet. Als man vor zwölf Jahren das Haarlemer Meer trocken legtem, tauchten schon Stimmen auf, die dasselbe mit dem Y vorgenommen wissen wollten. Jetzt geht man hieran, und schon richten sich Aller Augen unwillkürlich auf die Zuidersee. Sollte die wirklich zu groß sein? Ah bah! Probiren wir unsere Kraft erst einmal am Y, nachher wollen wir weiter sehen! Und die Geschichte wird es sehen, daß mit der Zeit auch dieser gefräßige Währwolf ausgetrieben wird, und dann geht’s zuletzt noch an die Arrondirung jener Inselkette mit dem festen Gestade.

Das ist nun wohl jetzt noch ein kühner Gedanke, und bis er zur That reift, darüber können noch Generationen hinsterben. Aber wir glauben doch, damit den heimlichen Gedanken manches Holländers auf den Kopf getroffen zu haben, ein Gedanke, der sich offen in der Devise ihres Landeswappens (ein schwimmender Löwe) ausspricht, womit wir in würdiger Weise diese Zeilen schließen wollen: Luctor et emergo! (ich ringe und bleibe oben!)

O. M.