Holländische Leute
Es war am 31. August. Morgens hatte ich noch in allem Behagen in Wiesbaden meinen Kaffee getrunken und Abends aß ich mit einem durch Fasten verstärkten Appetit in Rotterdam im Hôtel Sanct Lucas ein treffliches Beefsteak. Da die Welt durch Lob und Tadel, durch Belohnung und Strafe, durch Zuckerbrod und Peitsche regiert wird, so konnte ich mich nicht enthalten, dem Oberkellner etwas Schmeichelhaftes über das treffliche Fleisch zu sagen. Er war Holländer; das meiste übrige Personal bestand aus Deutschen. Mit einem triumphirenden Gesicht setzte er mir auseinander, das in den Branntweinbrennereien, wie in Schiedam etc., gemästete Vieh werde alles nach England geschickt, dagegen das auf der Weide gemästete, dessen Fleisch das „leckerste“ sei, das esse der Holländer selbst oder setze es den Gästen vor, die ihm die Ehre erweisen, ihn zu besuchen. Dabei machte er ein so selbstbewußtes und siegstrahlendes Gesicht, als sei er einer von den Meergeusen und habe mir soeben seinen Schutz gegen den grausamen Spanier gewährt. Darauf tauschten wir mit feierlich ernsthaften Gesichtern eine internationale Verbeugung aus.
Was den Viehexport nach London anlangt, so konnte ich mich später von der Richtigkeit der Angaben des Oberkellners überzeugen. Ich fuhr nämlich mit einem der großen Dampfboote der Rotterdamer Compagnie, „Fyenoord“ geheißen, von da nach London. Die Fahrt dauerte von elf Uhr Morgens bis den andern Tag früh neun Uhr. Abgesehen von einem Mißstande, dessen ich noch gedenken werde, ist diese Route nach London sehr zu empfehlen. Die Schiffe sind groß und die Maschine ist gut, so daß das Fahrzeug nicht rollt, das heißt nicht quer von links nach rechts schwankt, eine Bewegung, die weit unangenehmer ist als die Längsbewegung des Schiffes. Prachtvoll ist die Einfahrt Morgens früh von der hohen See herunter in die Themse hinein, während Sonne und Nebel mit einander kämpfen und die stattlichen Gebäude auf beiden Ufern (Woolwich, Greenwich etc.) sowie die Schiffe auf dem Strome, warunter auch das abgetakelte Kriegsschiff, welches jetzt als Hospital für Matrosen aller Nationen (for sailors of all nations) dient, abwechselnd verhüllen und enthüllen. Ich blieb wie gewöhnlich von der Seekrankheit verschont. Gute Nerven und guter Rum, eine contemplative Stimmung und eine horizontale Lage auf Deck sind die besten Mittel dazu. Ich wollte eben als die ersten Opfer der Seekrankheit in mein Tagebuch eintragen: erstens eine junge Governeß, welcher drei Kinder anvertraut waren, die nun durch den Zustand ihrer Führerin förmlich verlassen waren und unserer Fürsorge anheimfielen; zweitens einen jungen Engländer mit so riesenhaften Backenbärten, daß er sie unter dem Kinn in einen geschmackvollen Knoten hätte schlingen und so die Halsbinde sparen können; – da wurde ich darauf aufmerksam gemacht, auf dem Vorderdecke des Schiffes seien schon Hunderte der Krankheit erlegen. Als gewissenhafter Reisender begab ich mich sofort dahin, um mich durch Autopsie zu überzeugen. Und es war so. Die ganze andere Hälfte des Schiffes war angefüllt mit Kälbern, Rindern und Ochsen, die der Holländer in’s Ausland verbannte, weil sie mit den Abfällen der Branntweinfabrication gemästet und deshalb für ihn nicht „lecker“ genug waren. Mag ihnen dies traurige Schicksal, von ihren Compatrioten verschmäht zu werden, zu Herzen gegangen sein oder nicht – so viel ist gewiß: sie hatten die Seekrankheit weit früher bekommen als die Menschen, mitinbegriffen die blonde Governeß und das menschliche Anhängsel des riesigen Backenbartes. In Folge dieses Krankheitszustandes verbreitete das von der Strafe der Auswanderung und Landesverweisung betroffene batavische Rindvieh Ausdünstungen, welche gerade keine ästhetische Wirkungen hervorbrachten; und es ist möglich, daß, da im Uebrigen die See still und die Fahrt schön war, sich die Krankheit nur auf dem Wege der Ansteckung von dem thierischen Vorderdeck auf das menschliche Hinterdeck verbreitet hat.
Ach, was müssen Menschen und Vieh nicht ausstehen, um tagtäglich einen solchen Riesenmagen wie London zu sättigen! Indessen vermehrt man dort wenigstens nicht die Qualen durch Mahl- und Schlachtsteuer, wie dies immer noch in der Hauptstadt der preußischen Monarchie und des Norddeutschen Bundes geschieht. [135] Mahl- und Schlachtsteuer neben einer Communal-Einkommensteuer wie in Berlin, – das ist eine Einrichtung, wie sie nur selten in der Welt zu treffen ist und auf die die Metropole der Intelligenz wirklich stolz sein könnte, wenn sie sich nicht ihrer schämen müßte.
Kehren wir von dieser Abschweifung zurück nach Rotterdam in das Hôtel Sanct Lucas.
Der vornehm-feierliche Oberkellner, den seine Untergebenen Mijnheer anredeten, leuchtete mir die Treppe hinauf zu einem in der ersten Etage gelegenen Zimmer, welches etwa sechsmal so groß war als die in unseren deutschen Hôtels für Passanten bestimmten Zimmer, welche ich „Menschenfutterale“ nenne; denn wir armen Sterblichen werden förmlich hineingepreßt wie Löffel in das Löffelfutteral. Am hintern Ende des großen Zimmers befanden sich zwei durch Vorhänge davon geschlossen gesonderte Schlafräume oder Alkoven, jeder größer für sich als ein deutsches Durchschnitts-Hôtel-Zimmer. Auch die Betten haben dreifach so viel Flächenraum als die deutschen. Ich habe mir oft den Kopf darüber zerbrochen, warum wir Deutsche verurtheilt sind, in schmäleren und kürzeren Betten zu schlafen als die übrigen Völker Europas. In alten Patrizier- oder reichen Bauernfamilien finden wir auch in Deutschland heute noch Bettstellen, welche mehrere Jahrhunderte alt sind und uns durch ihre Dimensionen den Beweis liefern, daß diese Zurücksetzung in der nächtlichen Ruhe, unter welcher wir jetzt im Vergleich zu unseren Nachbarnationen leiden, neueren Datums ist und wir uns ehedem besserer Verhältnisse erfreut haben. Aber heut zu Tage ist es, trotz des Norddeutschen Bundes und seiner Reformen, in der Beziehung wenigstens immer noch schlecht bestellt im deutschen Vaterlande; und die Gelegenheit, diese Existenzfrage zu regeln, welche sich bei dem Gesetz über Maß und Gewicht vielleicht geboten hätte, ist leider versäumt worden.
Während ich in dem geräumigsten Alkoven des Zimmers Nr. 2 in dem Hôtel Sanct Lucas in Rotterdam mich in das ebenfalls sehr geräumige Bett legte, und zwar zunächst einmal quer, um mich zu überzeugen, daß es wirklich auch in der Breite mehr als sechs Fuß maß, dachte ich darüber nach, was ich im deutschen Vaterlande in Betreff räumlich allzusehr beengter Betten „schaudernd selbst erlebt“. Das Schlimmste war in Weimar, also in einer deutschen Residenz, die längere Zeit hindurch den Culminationspunkt des geistigen Lebens der Nation bildete, aber auch nur des geistigen. Es war, wenn ich nicht irre, im Herbste 1862 auf dem Abgeordnetentag oder einer der anderen politischen Versammlungen, in welchen damals das deutsche Volk umging, wie ein Geist, der seinen Körper verloren und ihn noch nicht wieder gefunden hat.
Da die Hôtels der kleinen Residenz nicht ausreichten, um ein paar hundert Fremdlinge zu beherbergen, so hatte ein Local-Comité mit dankenswerther Bereitwilligkeit für Privatwohnungen gesorgt. Ich hatte eine freundliche Wohnung bei einem ehrsamen Barbier am Markte gefunden und war anfänglich wohl damit zufrieden. Aber die Qual ging an, als ich spät in der Nacht zu Bette ging. Unter meiner sterblichen Hülle, die zwei Centner Zollgewicht wiegt, stöhnte das Bette fast so, wie ein allzuschwer beladenes Kameel ächzt. Außerdem hing entweder mein Haupt oder mein Fußgestell über, stets in Gefahr, wie unsere Bergleute sagen: „in’s Freie zu fallen“, und selbst auf beiden Seiten reichte der Raum nicht. Am andern Morgen machte ich meiner Wirthin gütliche Vorstellungen, ob sie mir nicht eine andere, etwas geräumigere Bettstelle beschaffen könne. Die gute Frau sah mich groß an; sie schien mich nicht zu verstehen. Als ich ihr nun unter Aufwand aller Beredsamkeit schilderte, wie wenig die Proportionen des Bettes denen meines ungeschlachten fränkischen Körpers entsprechen, lachte sie und sagte: „Ach, Sie sollten erst einmal das Bette sehn, in welchem der selige Schiller geschlafen, als er noch lebte.“
Ich ließ mir das nicht zweimal sagen und ging zur selbigen Stunde in das Schillerhaus. Ich fühlte mich beschämt, als ich die elenden Dachstübchen sah, worin unser großer Dichter gewohnt, und das schmale Brett, worauf er geschlafen, und das man meines Erachtens nur mit euphemistischem Unrecht ein „Bette“ genannt hat. Nachdem ich die nächtliche Tortur in Weimar überstanden und meinen politischen Pflichten als deutscher Reichsbürger genügt hatte, reiste ich zu meinem Vergnügen gen Süden. Die schlechten Betten begleiteten mich, so weit die deutsche Zunge klingt, das heißt bis Bruneck an der Rienz in Deutsch-Tirol. Dann überschritt ich die Sprach- und Wasserscheide, die hier durch riesenhafte und phantastische Dolomit-Felsen gebildet wird. Mein nächstes Nachtquartier war in Wälsch-Tirol, in Cortina d’Ampezzo, einem viertausend Fuß über Meer gelegenen Städtchen mit etwa dreitausend Einwohnern, die vom Holzhandel leben, von den „Schwarz-Gelben“ nichts wissen wollen und sich lebhaft der Zeit erinnern, da sie zur Republik Venedig gehörten. Ob sie Recht haben, für diese Zeit zu schwärmen, will ich dahingestellt sein lassen; denn der hohe Rath von Venedig regierte seine Vasallen nicht allzu milde. Gewiß aber ist, daß die Ampezzoer nach Sprache und Sitte Italiener sind und ihre wirtschaftlichen Interessen sie nach Süden und nicht nach Norden weisen. Sie empfinden es daher schmerzlich, daß sie von dem Venetianischen durch eine Landesgrenze getrennt sind. In Cortina d’Ampezzo war sofort das Bette wieder von derselben Ausdehnung, wie hier in Rotterdam. Warum?
Ich nahm in meiner Betrachtung (denn ich hielt es für passend, über diese culturhistorische Frage noch kurz vor dem Einschlafen zu philosophiren) als gewiß an, daß wir auch in Deutschland ehedem geräumige Betten hatten. In den fürstlichen Schlössern, in den wenigen alten und wohlconservirten Patrizier- und Bauernhäusern, welche bis heute übrig geblieben, finden wir sie noch. Der Masse der Bevölkerung aber sind sie abhanden gekommen in dem wirthschaftlichen Ruin, in welchen Deutschland vom sechszehnten Jahrhundert an immer tiefer versank. Wir verloren das Bewußtsein des vornehmen Mannes. Im neunzehnten sind wir wieder in die Höhe gekommen. Wir verdanken es zunächst dem Zollverein und der unzerstörbaren Tüchtigkeit des deutschen Bürgerthums. Aber häuslich eingezwängt sind wir doch vielfach auch heute noch. Und darum ist es Zeit, daß sich auch das deutsche Bürgerthum wieder breit mache, wie es in der That schon längst an Besitz und Intelligenz breit ist. Warum soll es nicht auch in seinen Lebensgewohnheiten wieder auf der Leiter der socialen Ordnung emporsteigen? Sind wir doch in Deutschland überall im Wiederaufstreben, in der Regeneration begriffen. Werde ich, obgleich im Alter schon Ende der Vierzig stehend, es auch noch erleben, daß man in Deutschland, in Weimar, in dem Ilm- Athen, in einem geräumigeren Bette schläft, als unser „seliger Schiller“? …
Deutsche Träume in einem holländischen Bette! – „Und ein Narr wartet auf Antwort,“ sagt Heinrich Heine. – Da ich es aber nach Möglichkeit vermeiden wollte, Argumente dafür zu liefern, daß man mich für einen Narren halte, und da ich ohnehin den ganzen Tag auf der Eisenbahn gefahren war, so schlief ich unter dem Schutze des heiligen Lucas ein, ohne jene wichtigen Fragen auszutragen. – –
Das Hôtel St. Lucas in Rotterdam ist das, was man in Graz in Steiermark auf gut Oesterreichisch „ein durchgehendes Haus“ nennt, womit man dort ein solches solides altes Haus keineswegs beschuldigen will, daß es wild geworden ist, wie ein Pferd, und im Begriffe steht, „durchzugehn“, sondern nur ausdrückt, daß es durch die ganze Häuserinsel hindurch sich erstreckt und sowohl auf die diesseitige, wie auf die jenseitige Straße aufstößt. St. Lucas stößt also mit seiner vorderen Façade auf die Hoogstreet (Hochstraße) und mit der hinteren auf die Torenstreet und den Groenmarkt. Auf letzterem liegt die Lorenzikirche, gewöhnlich die „groote Kerk“ (große Kirche) genannt. Ich glaube, es kam von dieser Kirche, nach welcher hin mein Zimmer lag, das seltsame Glockenspiel, das mich am andern Morgen aus einem erquickenden Schlaf weckte. Bei uns kennt man solche Schnurrpfeifereien nur noch bei Spieldosen. Es klingt merkwürdig feierlich prätentiös und doch dabei so außerordentlich verzopft und verschnörkelt. Aber es ist typisch. Kein richtiger holländischer Kirch-, Glocken- oder Uhrthurm darf seiner entbehren. Und überhaupt hat der Holländer, so ehrbar, gesetzt und phlegmatisch er ist, eine auffallende Liebhaberei an dergleichen kirchlichen Possen und Spielen. Diesen merkwürdigen Gegensatz hatte ich schon als Student kennen gelernt.
Mit mir zusammen studirte auf einer deutschen Hochschule ein junger Mann aus den Niederlanden, dessen Person und dessen Verhalten zu uns ein Vorbild war für das Wechselverhältniß zwischen Deutschland und Holland. Er hieß im Anfange – auf deutschen Hochschulen muß ja Jeder seinen Spitz- oder Kneip- oder Cerevis-Namen haben – „der fliegende Holländer“, weil seine außergewöhnlich langen Rockschöße beim Gehen hinter ihm drein exentrisch flaggenhafte Bewegungen machten. In Holland trugen [136] guter Leute Kind damals lange Röcke, während sie bei deutschen Studenten gar nicht kurz genug sein konnten, obgleich damals die Schützenfeste und die Schützenbrüder-Joppen noch nicht erfunden waren. Mein holländischer Freund studirte Naturwissenschaften, und zwar mit solchem Fleiße, daß er in der That eine, wenngleich etwas bestrittene, Autorität in seinem Fache geworden ist. Mit nicht minderem Eifer befleißigte er sich der deutschen Sprache. Dabei stellte sich aber die seltsame Erscheinung heraus, daß das Deutsche auf der einen und seine Muttersprache von der andern Seite bei ihrer großen Verwandtschaft so in einander überliefen, daß daraus ein Drittes entstand, das weder Deutsch noch Holländisch war. Als er zwei Jahre in Deutschland studirt hatte, kehrte in den Briefen seiner Eltern immer häufiger die Klage wieder, des Sohnes Schreiben nach Hause wimmelten von abscheulichen Germanismen und seien kaum noch zu verstehen. Wir Studenten dagegen wollten uns todt lachen über seine Hollandismen. Er seinerseits aber lachte über unsere Studentenstreiche, über unsere Senioren- und Corps-Convente, unsere Paukereien und Pro-patria-Skandäler, unseren Pauk- und unseren Bier-Comment – Dinge, die wir Alle als echte „Corps-Simpel“ mit der größten Ernsthaftigkeit betrieben, als hinge das Wohl der Welt davon ab. Er hatte im Vergleich zu uns etwas Gereiftes und Altkluges und, wie wir meinten, sogar etwas Altmodisch-Verzopftes. Er hieß deshalb später nicht mehr „der fliegende Holländer“ (denn dieser Cerevis-Name bezog sich doch nur auf eine Aeußerlichkeit, welche sich durch die Scheere beseitigen ließ), sondern, entsprechend seinem seriösen Charakter, „der Onkel aus Holland“ oder schlechtweg der „Onkel“. Dabei hatte aber dieser ernsthafte Onkel manchmal ganz pudelnärrische Einfälle und äußerte die kindischste Freude an studentischem Schabernack. Unter seiner Führung verstopften wir eines Nachts die Abflüsse des Stadtbrunnens, so daß Morgens der Markt unter Wasser stand; wir zogen ein ander Mal durch die nächtlichen Straßen, bewaffnet mit einem Topfe Kienruß und zwei Stangen, an deren einer ein Pinsel befestigt war; den Leuten, welchen wir nicht wohl wollten, klopften wir mit der einen Stange an einem Schlafzimmerfenster, und wenn der Geweckte den Kopf heraussteckte, wurde ihm das Gesicht schwarz angepinselt. Dabei war der Holländer rein des Teufels vor Tollheit; den andern Morgen aber ging der kaum erst so närrische „Onkel“, die Mappe unter dem Arm, in’s Colleg, mit der ganzen ernsthaften Gravität eines Mijnheer. Alle diese Streiche kamen ausschließlich auf unser Kerbholz; er war stets außer dem Bereich eines jeden Verdachts. Sein Betragen beruhte aber durchaus nicht auf Heuchelei, sondern in seinem Charakter lagen unvereinbar diese Gegensätze dicht neben einander, wie wir sie ja auch in dem Mittelalter finden, z. B. in einer und derselben Kirche heute fleischtödtende strenge Ascese, morgen die verrücktesten trunkensten und sinnlichsten Eselfeste. …
Ich befestigte mich immer mehr in der Meinung, daß der „Onkel“ ein Typus seines Volkes überhaupt und namentlich seines Verhaltens zu uns war. Ich glaube ihn hier in Holland stets um mich zu haben. Es geht mir darin, wie meinem Freunde Prince-Smith in Berlin. Er kam 1861 zum ersten Male in den Süden, nach Stuttgart. Er hatte bis dahin nie einen anderen Schwaben gesehen und gesprochen, als den württembergischen Handelsminister von Steinbeis. Nachdem wir einen Tag in Stuttgart miteinander verlebt, fragte ich ihn: „Wie gefällt’s Ihnen denn in dem schönen Schwabenlande?“
„Gut,“ sagte er, „nur kommt mir’s immer vor, als wär’ ich von lauter Herren von Steinbeis umgeben.“
So ging mir’s mit dem „Onkel“ aus Holland. Wirklich betrachteten wir einander so; der Deutsche den Holländer als einen sehr wohlhabenden und recht respectabeln, aber doch etwas wunderlichen und altmodischen Onkel in der Seestadt; der Holländer den Deutschen als seinen in den Flegeljahren befindlichen, etwas abenteuerlichen und leider auch nicht sehr vermögenden, aber hoffnungsvollen Neffen vom Lande, aus dem wohl noch etwas werden kann, der aber zur Zeit noch mehr unangenehme, als angenehme Eigenschaften hat.
Nun ist auf einmal über Nacht etwas aus dem Neffen geworden. Er ist baumlang dem Onkel über den Kopf geschossen und hat in der Welt einen merkwürdigen Credit gewonnen, fast mehr als der Onkel. Der gute Onkel weiß nicht recht, was er dazu sagen soll. Eigentlich freut’s ihn; aber der gottlose Neffe hätte doch, bevor er sich auf so gewagte Geschäfte einließ, zuvor den nächsten Verwandten väterlicher Seits zu Rathe ziehen sollen, es hätte ja doch auch schlecht gehen können; – kurz, der Neffe ist ein frecher Schlingel.
Nun, hoffen wir, daß die verwandtschaftlichen Gefühle obsiegen trotz der bösen Einflüsterungen der holländischen Kreuz-Zeitungs-Partei, an deren Spitze Mijnheer Groen van Prinsterer steht. Diese Partei ist ein Verhängniß für Holland. Sie hat es in wahrhaft unerträgliche Ausgaben gestürzt und kämpft im Namen der Freiheit wider die Cultur, wie die Moskowiter in Rußland. Sie nennt sich die conservative oder „antirevolutionäre“ und kämpft in Gemeinschaft mit den Ultramontanen, an deren Spitze Dr. Nuyens steht (gleich Groen van Prinsterer ein angesehener Historiker), wider die neutrale (confessionslose) Volksschule, welche jedoch glücklicher Weise hier auf einer so sicheren Grundlage ruht, wie irgendwo, nämlich nicht nur auf der eines unzweifelhaft klaren Gesetzes, sondern auch auf der einer localen Selbstverwaltung, die wir in Deutschland und namentlich auch in Preußen, anstatt ewig unsicher experimentirend hin und her zu tappen, einfach zum Muster und Vorbilde nehmen sollten.
Die an sich guten Schulen in Holland tragen doch nicht ganz die erwünschten Früchte. Denn auch auf diesem Gebiete kämpft man im Namen der Freiheit gegen die Cultur, nämlich gegen den Schulzwang. In Ermangelung des letzteren entbehren hier die unteren Volksclassen aller Kenntnisse und jeder Bildung. Dem Fremden, und namentlich dem Deutschen, der in dieser Beziehung verwöhnt ist, fällt die bestialische Rohheit und Zuchtlosigkeit der armen Bevölkerung in einzelnen holländischen Städten schmerzlich auf. Natürlich beeinträchtigt die Unwissenheit auch die Erwerbsfähigkeit. Ich habe in den verschiedenen europäischen Großstädten, namentlich auch in London, viel „Bassermannische Gestalten“ gesehen; auch in Berlin fehlt es ja nicht gänzlich daran; aber solche Proletarier, die mit viehischer Gier über weggeworfene Gemüse-Abfälle herstürzen, habe ich nur in Holland gesehen. –
Die Holländerinnen vermögen bei nur halbwegs kaltem und nassem Wetter – und dies ist in den Niederlanden das vorherrschende – eine uns Deutschen nur vom Markte und von den Verkaufsbuden her in ziemlich primitiver Form bekannte Vorrichtung nicht zu entbehren, welche sie das „Stoofje“ nennen. Es besteht in einem Topfe mit brennenden Kohlen zum Wärmen der Füße. Auch setzt man den Theekessel darauf. Der Topf, das heißt das irdene Gefäß, worin die Kohlen glühen, wird in ein zierliches hölzernes Fußbänkchen (dieses ist eigentlich das „Stoof“) gestellt. Letzteres bildet einen Kasten, welcher, sobald der Wärmestoff darin ist, von allen Seiten geschlossen wird und nur oben, wo man die Füße aufstellt, fünf Löcher hat, durch welche die Wärme ausströmt. Die Kohlen müssen natürlich öfter erneuert werden. Vornehme Damen treiben einen besonderen Luxus mit dem „Stoofje“; es zeichnet sich bei ihnen durch kostbare Holzarten und feine Tischlerarbeit aus. Aber auch die ärmsten Gemüse- und Waschweiber, sowie die Dienstmägde haben ihr „Stoofje“, wenn es auch nur aus glatt gehobeltem Tannenholze gebaut ist. Gesund soll übrigens diese Einrichtung nicht sein. Man schreibt ihr die hier herrschende Schwerfälligkeit im Gehen zu.
Wie unentbehrlich das „Stoofje“ für die Holländerin ist, beweist die Geschichte von zwei Damen aus dem Haag, die sich durch romantische Lectüre (namentlich durch E. L. Bulwer’s Pilger am Rhein) hatten verleiten lassen einen „Zug durch Deutschland“ zu machen. Sie kamen aber nur bis Rolandseck: denn als sie dort, von dem Ritt zur Ruine bei abscheulichem, naßkaltem Wetter in ihr Hôtel zurückgekehrt, von dem Kellner „Stoofjes“ wünschten, um dafür einen verhängnißvollen Stuhl zu erhalten; dessen nähere Beschreibung ich mir zu erlassen bitte, da reisten beide Damen am andern Tage schon in aller Frühe entrüstet wieder nach Hause und schworen, niemals wieder einen Fuß zu setzen in das Land der Barbaren, wo es zwar todte Ritterburgen und lebendige Esel, aber keine „Stoofjes“ gebe.
Während die Damen ihre Füße am Stoofje wärmen, thun es die Herren am Kamin, auch wenn es sonst noch so warm ist, daß man eigentlich kein Feuer nöthig hätte.
Es ist recht behaglich in so einem holländischen Gesellschaftszimmer. In der Mitte des geräumigen und hohen, mit Teppichen belegten Zimmers steht ein großer viereckiger Tisch. Die noch größere, ebenfalls viereckige grüne Decke, die ihn sonst bedeckt, ist dieses Mal abgenommen und ersetzt durch ein viereckiges silbernes [137] Kaffeebret mit seltsam geschnörkelten Rändern. Auf dem Kaffeebret steht ein altes Porcellanservice; je älter, je geschmackloser, je chinesischer oder japanesischer, das heißt verschnörkelter, desto respectabler, vornehmer und schöner. Um den Tisch stehen so viele Stühle, als Damen erwartet werden. Sagen wir einmal: fünf. Die Stühle haben möglichst hohe und gerade Beine, hohe Sitze und hohe steile Lehnen – Alles möglichst eckig, geradlinig und hölzern, so wie man es in Deutschland in alten Rathsstuben noch sieht, und wie es neuerdings wieder Mode werden zu wollen scheint. Der Stuhl und die Lehne aber sind mit einem alten großgeblümten Plüsch überzogen, von solcher Güte und Feinheit, wie man ihn bei uns nicht mehr kennt. Vor jedem Stuhl unter dem großen viereckigen Tische steht ein Stoofje. Jedes Stoofje hat oben fünf Löcher; und die fünf Stoofjes schauen mit großen leuchtenden neugierigen Augen, zusammen mit fünfundzwanzig Augen unter dem Dunkel des Tisches hervor, dessen harrend, was da kommen soll. Neben dem Stuhle der Wirthin steht das Theegeschirr und der blank lackirte Wasserkessel. Auf dem Tische steht außerdem noch ein Kunstwerk, ein schöner großer Elephant. Als Thurm auf seinem Rücken trägt er eine bronzene Petroleumlampe. Der gute Elephant ist aber nicht nur ein Lucifer, ein Lichtbringer, sondern auch „der Töne Meister“, gleich Arion, ein Spender musikalischer Unterhaltung. In seinem kolossalen Körper trägt er statt des Magens eine Spieluhr. Diese ist schon aufgezogen und gestellt; und wenn ihre Zeit gekommen ist, dann wird es losgehn. Zuerst „Wilhelmus van Nassawe“ (ein Lied auf den großen Befreier der Niederlande, Wilhelm den Schweigsamen), dann: „Où peut-on être mieux, qu’au sein de sa famille?“ und zum Schluß: „Ei du lieber Augustin, Alles ist hin.“ Hier verstehen sogar die Spieluhren drei Sprachen. Der gebildete Holländer selbst versteht deren wenigstens vier, nämlich außer Holländisch, Deutsch und Französisch mindestens noch Englisch, oft aber auch Italienisch oder Spanisch.
Das Geklimper der Spieluhr und das „Hersagen“ von Gedichten waren noch vor Kurzem Lieblingsunterhaltungen der holländischen Gesellschaft, wenigstens da, wo es etwas langweilig und altmodisch zugeht; und die meisten Holländer finden das auch heute noch amüsanter, als die sentimentalen, gekünstelten Lieder und die Athleten- und Seiltänzer-Bravourstücke auf dem Clavier, welche unsere deutsche Gesellschaft so geduldig über sich ergehen läßt.
Auf dem Kaminsims steht ein großer pechschwarzer Onkel Tom. Seine Schärpe glänzt in Gold, seine Augen in Weiß und seine Nasenlöcher in Roth; er stellt sonach die norddeutschen Bundesfarben und das achtundvierziger Schwarz-Roth-Gold zugleich dar, und würde recht gut zur Realisirung der Versöhnung dieser Gegensätze dienen können, für welche Versöhnung ja Gustav Freytag in seinem Buche über Karl Mathy so lebhaft plaidirt. Der Mohr trägt unter seinem rechten Arm das Zifferblatt der Uhr, die sich in seinem Innern birgt. Er thut dies mit einer Grazie, als wenn es seit Alters die alltägliche Beschäftigung aller Mohren der Welt wäre, Uhren unter dem Arme zu tragen. Den linken stemmt er höchst graciös in die Hüfte. Neben dem Mohren stehen kleine Vasen mit künstlichen bunten Blümchen, mit Glasglöckchen überdeckt.
Im Kamin brennt, obgleich wir erst im August sind, ein mäßiges Torffeuer. Es bildet offenbar nur den Vorwand, daß die Herren sich um das blank polirte glänzende Kamin schaaren, ihm die Beine zustrecken und den Damen halbwegs den Rücken zukehren. Und die Folge davon ist wieder, daß, während die Damen mit dem Thee beginnen, die Herren gleich mit einem sehr „leckeren“ Bordeaux anfangen – offenbar in Folge eines Mißverständnisses, das die gewandte Wirthin jedoch sofort dadurch wieder ausgleicht, daß sie anfangs die Miene macht, als wollte sie nach dem Kamin hin Thee anbieten, dann aber sich unterbricht und verbessert mit den Worten: „Ah, die Herren werden wohl lieber beim Weinstocke verbleiben.“ …