Hamburger Bilder/Hohes Wasser
Hamburger Bilder
„Wenn es noch ein paar Stunden so fortweht, giebt es Hochwasser.“ Diese oder ähnlich klingende Worte hört man in Hamburg und weiter elbabwärts im Frühjahr, Herbst und Winter zu verschiedenen Malen. Selbst die Sommermonate bleiben nicht immer ganz davon frei. Der Bewohner des Binnenlandes fragt mit Recht: Was hat man darunter zu verstehen? Auch bei uns, und zumal in gebirgigen Gegenden, giebt es zuweilen Hochwasser, der Wind aber hat damit nichts zu schaffen. Plötzlich hereinbrechende [636] Unwetter, Wolkenbrüche mit Hagelschlag verbunden machen die Gießbäche und Wildwasser anschwellen, und die reißend aus Bergschluchten und Thalklüften hervorstürzenden Gewässer überschwemmen dann binnen wenigen Stunden fruchtbare Saatfelder, Wiesen, Dörfer und Städte, und verbreiten weithin Schrecken und Verderben.
In Hamburg, wie überhaupt in den Niederungen zwischen Ems, Weser, Elbe und Eider hat das Wort „Hochwasser“ eine andere Bedeutung. Für gewöhnlich flößt dasselbe, wie oft es auch gebraucht werden mag, Niemand Furcht ein. Man ist daran gewöhnt und weiß, wie man zu sagen pflegt, Bescheid damit. Allein es treten doch Fälle ein, wo auch dem Erfahrensten die Haare vor Angst zu Berge steigen, und wo im drängenden Augenblicke der furchtbarsten Gefahr selbst der Gleichgültigste und Phlegmatischste nur an die Rettung des eigenen Lebens und der ihm Angehörigen denkt. Hamburg würde entweder gar nicht gegründet worden oder bis auf den heutigen Tag ein ganz unbedeutender Ort mit Fischerei und dürftigem Handel geblieben sein, wenn nicht Fluth und Ebbe den Unterbau seiner Häuser bespülte. Fluth und Ebbe sind auch die Grundursachen des Hochwassers, von welchem ein beträchtlicher Theil der gewaltigen Stadt alljährlich zu verschiedenen Malen heimgesucht wird, das aber, wenn es die gewöhnlichen Marken der Hochfluthen nicht übersteigt, mehr Anlaß zu heitern Auftritten als zu haarsträubenden Schreckensscenen giebt.
Zweimal innerhalb des kurzen Zeitraumes von vierundzwanzig Stunden ebbt und fluthet die Meereswoge. Unter normalen Witterungsverhältnissen dauern im Allgemeinen Ebbe sowohl wie Fluth etwa sechs Stunden, doch darf man diese Frist nicht gar zu buchstäblich nehmen. Die Dauer von Ebbe und Fluth hängt mehr oder weniger von örtlichen Verhältnissen, und insbesondere von geringerer oder weiterer Entfernung eines Ortes von dem Weltmeere ab. An den Küsten des großen atlantischen Oceans steigt die gewöhnliche Fluth doppelt so hoch, ja an einzelnen Stellen noch höher, als etwa bei Cuxhaven. In Hamburg und den zunächst gelegenen Orten der Niederelbe schätzt man die Höhe einer gewöhnlichen Fluth auf fünf Fuß, und die Zeit des steigenden Wassers wird auf reichlich fünf Stunden berechnet, während die Ebbe oder die Zeit des fallenden Wassers sieben Stunden dauert. Ohne dieses regelmäßig sich wiederholende Anschwellen und Sinken der Meereswoge, das hier nicht weiter erklärt werden soll, würde die Schifffahrt auf der Elbe gleich Null sein, das Flußbett des Stromes trotz seiner großen Breite und seiner gewaltigen Wassermasse in wenigen Jahren versanden und seine Mündung höchst wahrscheinlich sich in ein aus zahlreichen Inseln bestehendes, von Sümpfen umgebenes ungesundes Delta verwandeln. Fluth und Ebbe allein sind es, denen Hamburg seine Größe, seine Handelsblüthe, seinen Reichthum, seine Wichtigkeit als Welthandelsstadt verdankt. Die mit steigender Fluth aufrollende Meereswoge trägt die schwerbefrachteten Handelsflotten auch ohne Mithülfe des Windes den Strom hinauf und läßt sie ungehindert die Untiefen passiren, die sich in großer Menge in der Elbe vorfinden und das Ab- und Aufsegeln stark beladener Seeschiffe erschweren. Die Ebbe leistet ähnliche Dienste, indem sie das Auslaufen der Schiffe aus dem Hafen erleichtert und die enormen Massen von Sand und allerhand faulen Stoffen dem Meere zuführt, das sie in seinem ewig bewegten Wallen und Sieden zu Atomen zerschlägt.
Heftig wehende oder lange anhaltende Winde bleiben niemals ohne Einfluß auf Ebbe und Fluth. Starker Ostwind schwächt z. B., wenn er längere Zeit in gleicher Richtung fortweht, in Hamburg die Fluth dergestalt ab, daß sie sich nur wenig bemerklich macht. Die Wassermasse der Elbe ist zu solchen Zeiten mächtiger als die aus der Nordsee heraufrollende Fluthwoge, die ihrerseits von der Gewalt des Ostwindes zurückgehalten wird. Sie kann den Ebbestrom nicht überwältigen und kämpft so lange mit ihm, bis dieser die Fluth überwindet und sie in’s Meer zurückdrängt.
Zu solchen Zeiten, die häufiger im Sommer als im Winter eintreten, sind die zahlreichen Fleethe (Canäle) Hamburgs fast wasserlos, und der Verkehr zu Wasser im Innern der Stadt, so wichtig für die handeltreibende Bevölkerung derselben, wird in höchst empfindlicher Weise gestört. Der Kaufmann kann weder Waaren vom Bord der Seeschiffe auf leichte Weise mittelst großer, flacher Kähne, Schuten genannt, in seine an den Fleethen gelegenen Speicher schaffen lassen, noch durch dieselben Vehikel Schiffe mit Kisten und Ballen, die in den Speichern aufgestapelt liegen, befrachten.
Das umgekehrte Verhältniß tritt ein, wenn der Wind in entgegengesetzter Richtung, also aus Westen weht. So lange er eine gewisse Stätigkeit behält oder, wie der Seemann sich ausdrückt, „frische Brise“ bleibt, wirkt er wohlthätig auf Schifffahrt und Handelsverkehr. Unter frischer Brise aus Westen ist die Elbe lebhaft bewegt; sie rollt und wogt, und trägt auf ihrem breiten Rücken zahlreiche Nachen, Jollen, Ewer, kleinere und größere Seeschiffe mit und ohne Segel. Die Fleethe wimmeln von sich durch einander drängenden Schuten; viele tausend Hände sind auf den Fahrzeugen wie in den Speichern beschäftigt, und im Hafen, wie am Hafenquai herrscht vom grauenden Morgen bis in die sinkende Nacht hinein lebhafte Thätigkeit und fröhlichstes Leben.
Unbequem und nicht selten zum Verderben wird aber der West- und insbesondere der Nordwestwind, sobald er sich zum Sturme steigert. Dann thürmen sich die Wogen der Nordsee zu Bergen auf, und bei steigender Fluth treiben sie die Gewässer der dem Meere zustrebenden Flüsse mit solcher Gewalt zurück, daß sie, in ihrem naturgemäßen Laufe behindert, sich ebenfalls aufstauen und nunmehr zugleich mit den eindringenden Meereswogen rückwärts fluthen. In solchen Fällen wächst die Fluth zur Sturmfluth, die Sturmfluth aber erzeugt immer hohes Wasser. Wie die Bewohner der Alpen mit Lawinen, so sind die Bewohner Hamburgs vertraut mit hohem Wasser. Heißt es doch sogar im Sprüchwort, es dürfe nicht zuwintern, ehe die Keller gespült seien!
Was ein solches „Kellerspülen“ sagen will. das muß man mit ansehen, um sich einen Begriff von der Herrlichkeit desselben machen zu können. Wir nehmen an, es tritt Hochwasser ein oder das Kommen desselben wird erwartet. Die ganze Nacht schon wehte es stark, d. h., wie man im Binnenlande sich ausdrückt, es stürmte, daß die Wetterhähne umknickten, von den Firsten der Dächer Ziegelsteine herabprasselten, und hie und da ein alter Baumstamm, der das Beugen und Nachgeben verlernt hat, mit sammt dem Wurzelwerk aus dem Erdboden gerissen ward. Das nennt man an den Seeküsten „starkes oder hartes Wehen“.
Trotz des furchtbaren Tobens in der Luft aber war die Sache nicht bedenklich, und kein Mensch kümmerte sich um das Pfeifen und Heulen des Sturmes. In einer der niedrigsten Straßen der Stadt im St. Katharinenkirchspiel befindet sich eine sehr besuchte Barbierstube. Fünf Sandsteinstufen, jede beinahe einen Fuß hoch, führen von der engen Straße zu derselben, doch muß der Eintretende, der hier Geschäfte hat, zuvor die „Diele“ (Hausflur) eines Mannes passiren, der mit alten Mobilien handelt. Zum Zeichen seines Geschäftsbetriebes hat der Mobilienhändler auf eine der Steinbänke an den Seiten der Treppe zwei alte Stühle über einander gestellt. Die Hausthür selbst steht offen. Durch dieselbe erblickt man im dunkeln Innern der Diele allerhand Urväterhausrath: eine Kommode mit Messingbeschlag; darauf eine Stutzuhr, die nicht mehr geht; einen Spiegel mit halb blindem Glas; eine Moderateurlampe, die man aufpumpen kann, so viel man will, ohne den Docht darin zum Brennen zu bringen. Tief im Hintergrunde Kleiderschränke von unsicherer Farbe, und ganz vorn im hellsten Tageslicht, schräg an die Kommode gelehnt, das Portrait einer ehrsamen Bürgersfrau, das hierher gewandert ist, weil beim letzten Umzug der Familie in dem neu gemietheten Logis kein Platz zu finden war, um es aufzuhängen. Unter der Barbierstube, fünf Stufen tief, ist der Eingang zu einer jener zahllosen Kellerwohnungen, welche Hamburg eigenthümlich sind. In dieser wohnt ein gealterter Schuhmacher, Meister Pech sen.. Er wohnt schon lange in diesem engen, dunstigen Keller; denn es lebt sich da gut, weil er eine starke, viel verbrauchende Kundschaft hat, die, was in Hamburg über Alles geliebt wird, prompt bezahlt und gar nicht dingt. Fast sämmtliche Arbeitsleute aus den nächsten sechs bis sieben Straßen, eine Menge Ewerführerknechte und andere Personen, die starkes Fußzeug brauchen, laßen bei Meister Pech sen. arbeiten, und allen diesen strammen, wohlgenährten Leuten fehlt es nicht an Geld. Bei ihnen gilt an jedem Sonntage und nicht selten auch nach Feierabend in der Woche der Grundsatz: „Geld spielt gar keine Rolle!“ In gewöhnlich verständliches Deutsch übersetzt heißt das: es kommt uns nicht darauf an, einen Thaler mehr oder weniger auszugeben. Gehen sie etwas spät vergnügt nach Haus, so trösten sie sich wohl gegenseitig mit den Worten: „Wat deiht’s, wi hebbt et man ja!“
Zwischen zehn und elf Uhr Vormittags springt ein Küper eilig die fünf Stufen zur Hausflur hinauf, tritt in die Barbierstube [637] und setzt sich zurecht. „Man flink!“ ruft er dem Dienst habenden Gehülfen zu, der schon Seife in seinem Messingbecken zerschlägt. „Ich habe an den „Vorsetzen,“ am „Baumwall“ und am „Stubbenhuk“ zu thun, und muß mich eilen. In zwei, drei Stunden giebt’s Hochwasser.“
Der Gehülfe hält dem Eiligen das Becken schon unter das Kinn, da kracht ein Kanonenschuß von der Bastei Erikus, daß die Scheiben klirren. Diesem folgt gleich darauf ein zweiter und dritter. Der Gehülfe vergißt das Einseifen.
„Man flink!“ wiederholt ungeduldig der Küper. „Ick heff’ keen Tid to verleeren! Der Wind is umloopen; weiht Nordwest zu Nord!“
Der Barbier beeilt sich, daß der Küper unter dem flimmernden Wasser mit den Augen blinzelt. Der geschickte Mann aber versteht sein Geschäft, und glatt, wie er es nur wünschen kann, steht der Eilige auf und wirft seinen Doppelschilling auf den Tisch.
„Wird’s schlimm?“ fragt der neugierige Gehülfe und wirft einen Blick auf die Straße, die sich bei den Kanonenschüssen mit höchst unnützen Jungen von neun bis zwölf Jahren füllt, die alle in Holzpantoffeln über das schlechte Pflaster klappern und dabei ununterbrochen in den jauchzenden Jubelruf ausbrechen:
„Hurrah! Hochwater, keen School! Hurrah! Hochwater, keen School! Een, twee, dree, Hurrah!“
Meister Pech sen., den Knieriemen in der Hand, die Mütze stark nach hinten gerückt, taucht aus seiner Kellerwohnung auf und sieht sich mit bedenklichen Blicken um. Die jubelnden Jungen sind verschwunden. Man hört nur noch das Geklapper ihrer Pantoffeln und unarticulirte Töne aus der Ferne. Sie haben den kürzesten Weg zum nächsten Fleeth eingeschlagen, wo sich ein Fluthmesser befindet, um zu sehen, wie hoch das Wasser steht und wie hoch es wohl bis zu Eintritt der Ebbe noch steigen könne.
Da die wilde Jugend der Keller, Gänge und Sähle nicht mehr zu sehen ist, richtet Meister Pech sen. seine Augen nach dem Himmel, wo die dunkelgrauen, fliegenden Wolken, die von Nordwest in rasender Eile über die spitzen Giebel fortziehen, ihn höchst nachdenklich stimmen. Er kehrt sich um und ruft seiner Frau zu, in möglichster Schnelligkeit Betten und Alles, was keine Nässe vertragen kann, nach „bawen“ (nach oben) zu schaffen, ehe das Wasser komme. Gleichzeitig zeigt sich die klappernde und schreiende Jugend wieder in der Straße, unter der sich auch ein hoffnungsvoller Enkel des gut situirten Meisters befindet. Der Großvater jagt ihn mit einem Hieb seines Knieriemens in den Keller, ruft ihm zu: „Hilf Großmutter aufpacken!“ und springt dann selbst nach in die dunkle, halb unterirdische Wohnung.
Die Alarmkanonen krachen auf’s Neue, und in den Rinnsteinen der niedrigsten Straßen, beim Zippelhause und seiner nächsten Umgebung zeigt sich urplötzlich Wasser, als ob verborgene Quellen der Erde sich öffneten. Nun beginnt ein Laufen und Rennen, ein Eilen und Hasten, als gälte es, einem grausamen Feinde zu entfliehen. Alles, was niedrig wohnt, besonders die Inhaber zahlloser Keller, räumt aus. Wer nicht ausräumen kann, schiebt die größeren Mobilien zusammen und improvisirt auf diesen inmitten des Zimmers einen erhöhten Wohnraum. In Straßen, welche bei gewöhnlicher Sturmfluth – und eine solche ist im eiligsten Anzüge – wasserfrei bleiben, während sich die tiefer gelegenen Kellerwohnungen mit dem fatalen Element füllen, retten sich die Leute mit ihren besten Sachen auf das Pflaster und führen hier, so lange das Hochwasser andauert, ein ganz zufriedenes Lagerleben, wobei es an Scherz- und Witzworten selten fehlt.
In der ersten Zeit der steigenden Hochfluth giebt es Vergnügen und Lust die Menge. Die unbändige Jugend sammelt sich an den zunächst vom Wasser bedrohten Orten, springt über die mit jeder Minute breiter werdenden Bäche, lärmt, schreit, balgt sich und durchwatet zuletzt die ganz überfluthete Straße, bis die Bewegung [638] des Wassers selbst unheimlich wird, und auf der Oberfläche des jetzt zum Strome angeschwollenen Baches die Spuren einer Wellenbildung sich zeigen. Spurlos zerstreut sich der lärmende Schwarm, und an die Stelle der lauten Lust tritt jetzt die Ruhe des bittersten Ernstes. Gurgelnd, schäumend, brausend ergießt sich die Hochfluth aus allen Fleethen durch jeden Spalt, jede kleinste Oeffnung in die angrenzenden Wohnungen. Der Strom zieht mitten durch Hausfluren, durch bis vor Kurzem bewohnte Zimmer, und auf Straßen und Plätzen, wo noch vor wenigen Stunden Kinder spielten, gleiten jetzt Nachen und Jollen, geführt von stämmigen Männern, die zum Schutz gegen die Wuth des rasenden Nordweststurmes den echten Hut des Seemannes, den wetterdichten Südwester, tragen.
Je höher das Wasser steigt, desto störender wirkt es auf den Verkehr ein. An allen lebhaften Uebergangspunkten bilden sich Gruppen harrender, unruhiger, oft verdrießlich werdender Menschen. Viele lockt nur die Neugierde herbei, Andere aber haben jenseits des heftig durch die Straßen wogenden Stromes unaufschiebbare Geschäfte und wissen nicht, wie sie über das zwei bis drei Fuß tiefe Wasser kommen sollen. Eine Zeit lang behilft man sich mit Wagen. Aber diese Wagen müssen mit einer hinreichenden Anzahl Menschen besetzt sein, damit sie der Kraft des Stromes Widerstand leisten können. Später, wenn die Fluth immer mehr anschwillt, kann die Verbindung der überflutheten Straßen mit den vom Hochwasser frei gebliebenen nur noch durch Kähne vermittelt werten.
Bei solchen Vorgängen macht die Spekulation, welche in Hamburg den meisten Menschen angeboren ist, sofort ihre Rechte gellend. Bei jedem Hochwasser, das immer mehrere Stunden lang anhält, ist auf bequeme Weise ein Stück Geld zu verdienen. Droschkenkutscher haben ihre Taxe, die sie einhalten müssen, wenn ihre Passagiere die Sätze derselben ebenfalls ihrem Gedächtnisse gut eingeprägt haben. Zu Fuhren durch’s Hochwasser aber giebt es weder für Droschken noch für Jollen und andere Fahrzeuge festgesetzte Preise. Deshalb wird der Preis nach den Personen, welche übergesetzt zu werden begehren, nach der Eile des Geschäftigen, nach der wirklichen oder vorgeblichen Schwierigkeit der Passage und nicht selten nach bloßer Laune bestimmt.
„Betalen!“ (bezahlen) das ist das Wort, das mit fester Stimme und trotziger Miene von Jedem unzählige Male ausgesprochen wird, der so glücklich ist, an einem der besuchtesten Uebergangspunkte den Fährmann zu spielen. Zu diesem Dienst stellen sich die verschiedensten Individuen ein, und da der Begehr nach beschleunigter Passage allgemein ist, so findet in der Regel Jeder seine Rechnung dabei. Nicht ungewöhnlich ist das Tragen Eiliger durch’s Wasser. Besonders kräftige und schmucke Männer, deren Körperformen die beste Empfehlung für ihre Anerbietungen sind, legen sich vorzugsweise auf das „Uebertragen“. Aus Galanterie bieten sie ihre Dienste natürlich zuerst dem weiblichen Personal an, das ängstlich trippelnd an der schmutzig gelben Wasserfläche, die so ungastlich durch die Straßen fluthet, hin und wieder geht. Junge, hübsche Kleinmädchen und gewandte Köchinnen leisten selten der freundlichen Einladung langen Widerstand. Ist es doch immer besser, einem Einzelnen sich anzuvertrauen, als mit Mehreren zugleich in einem meistentheils zu schwer beladenen Nachen die Ueberfahrt zu unternehmen. Ohnehin hat der stämmige Mann in seinen gewaltig hohen Wasserstiefeln bereits dargethan, daß er an Kraft und Ausdauer dem heiligen Christophorus wenig nachgeben dürfte.
„Was kostet’s?“ fragt eine sauber gekleidete Köchin, die sehr feines Schuhzeug trägt, und die ihre blendendweiße Mütze mit breitem Rosa-Bindeband vortrefflich kleidet, den sie ansprechenden Christophorus.
„Veer Schilling, Köksch (Köchin)“, lautet die Antwort, indem er der ängstlich auf das wallende Wasser Blickenden die offne Hand hinhält.
Die Köchin hat sich verspätet. Das prächtig farbige Tuch, welches den schmalen Korb unter ihrem Arme bedeckt und das ihr die Herrschaft zum Anzüge erst neu gekauft hat, damit sie auf der Straße gehörig damit prahlen kann, streift fast das schmutzige Pflaster. Schnell entschlossen zieht sie das Portemonnaie und entnimmt demselben ein Vierschillingsstück – morgen beim Handel mit der Vierländerin läßt sich die kleine Ausgabe wohl wieder verdienen – und vertrauensvoll reicht sie dem schmunzelnden Manne die Hand.
Ein lautes „Hurrah!“ der gaffenden Menge begleitet den Abzug des Trägers mit seiner schönen Last. Mitten im Strome, der dem starken Manne bis über die Kniee strudelt, seufzt das junge Mädchen ängstlich und klammert sich fest um den Hals des Retters. Christophorus bleibt stehen und blinzelt die Aengstliche mit verliebten Augen an.
„Lüttje Köksch, hat Se Bange?“
„Man to! Man to!“ antwortet die Geängstigte.
„Ick mut erst en Trinkgeld hebben.“
„Drüben … gern,“ stottert das Mädchen.
„Nee, mien lütt Deern, glick up de Stell’!“
Die Köchin will abermals ihr Portemonnaie ziehen, der schreckliche Mann aber lacht kopfschüttelnd und fährt fort:
„Geld hebb’ ich genog, ich will, dat mi de lüttje Köksch enen Söten (Kuß) gift. Will Se oder will Se nich? Veer Foot Water sün hier; ich smiet Se glick dal (nieder).“
Das erschrockene Mädchen faßt sich ein Herz und erfüllt, um wieder auf’s Trockene zu kommen, das Verlangen des Unerbittlichen. Dieser lacht wie ein Kobold und setzt unter lautem Gekreisch der drüben Stehenden die Erröthende auf festem Boden ab.
Scenen solcher und ähnlicher Art kommen bei Hochwasser am hellen Tage häufig vor, in der Nacht ist man weniger geneigt zu Scherzen. Dann überwiegt das Gefühl der Bangigkeit auch bei den an Hochwasser Gewöhnten jede heitere Regung. Man kann nicht wissen, welchen Verlauf die Sturmfluth nimmt, und um sich auch gegen das Schlimmste zu sichern, sind alle Bedrohte nur auf Rettung ihrer Habe und ihrer Familien bedacht. Je häufiger die Lärmkanonen sich hören lassen, die das Wachsen des Wassers verkündigen, desto schweigender arbeiten die Menschen in den überflutheten Quartieren. Man hört nur vereinzelte Zurufe und Commandoworte, und sieht rothen Laternenschein über den zitternden Wellen schimmern.